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Die sonst stets makellos saubere und aufgeräumte Hightech-Kommandozentrale von Bullet Catcher sah aus wie ein Saustall.
Akten, Papier, Karten, Kalender und vergilbte Zeitungen bedeckten den Tisch, und mitten auf dem Haufen prangte der Chefin liebstes Hassobjekt: eine Schachtel Donuts.
Jack sah zu, wie sich die Tür zu Lucys Büro langsam öffnete, und versuchte ihre Körpersprache zu deuten. Hatte sie tatsächlich getan, worüber sie vor wenigen Stunden gesprochen hatten?
Doch sie stand nur reglos im Türrahmen. Ohne ihre anmutig geschwungene Oberlippe zu schürzen oder eine sarkastische Danke-vielmals-Braue über ihren dunklen Mandelaugen zu heben. Ohne mit den Fingern durch ihr samtschwarzes Haar zu fahren, um in der einzelnen weißen Strähne zu verweilen, und angesichts des Chaos vor ihr verächtlich zu schnauben.
Dann ging sie einfach zu ihrem Stuhl am entgegengesetzten Ende des massiven Konferenztisches, begrüßte stumm die anderen und faltete ihre Hände auf einem dicken Aktenordner, der so makellos und neu aussah wie Lucys winterweißes Seidenjackett.
Jacks Blick wich sie jedoch aus. Das konnte zweierlei bedeuten: Entweder sie hatte, nachdem sie auseinandergegangen waren, ihren Turm erklommen und sich die innere Hitze aus dem Leib und in die zerknüllten Laken geschwitzt, so wie er. Oder sie war in ihr Büro gegangen und hatte einem anderen Verlangen nachgegeben: die Wahrheit herauszufinden.
Jack setzte auf ihre legendäre Neugier. Wobei ihre Lust auch nicht zu unterschätzen war.
Hatte sein Plan funktioniert?
Er wollte, dass sie sich die Akten ansah, und sie auf seinen Kurs bringen. Dann würde sie seine Idee nicht mehr absurd finden. Oder besser noch, sie würde sie gar als ihre eigene betrachten.
Die Meisterin der Manipulation zu manipulieren, das war ein echtes Wagnis. Aber: No risk, no fun.
»Guten Morgen, Ms Sharpe.« Er lächelte sie an.
»Jack«, sagte sie knapp, ohne ihm in die Augen zu sehen. Kein gutes Zeichen.
Seine Tischnachbarn warfen ihm verstohlene Blicke zu. Lucy hatte Roman Scott eingeladen, der früher bei der Staatssicherheit gewesen war und in dieser Sache eine große Hilfe sein konnte. Außerdem Donovan Rush, einen Neuen, den sie seit einiger Zeit in der Ausbildung hatte und der aussah, als könnte er es gar nicht abwarten, sich auf seinen ersten großen Auftrag zu stürzen.
Gegenüber saß ein stämmiger Typ namens Owen Rogers, hinter dessen kühler Distanziertheit sich ein brillanter Kopf verbarg. Mit im Boot waren auch Lucys Assistentin Avery Cole und ihre Nichte Sage Valentine, die die ständig wachsende Ermittlungsabteilung von Bullet Catcher leitete.
Von Dan Gallagher, dem Wunderknaben, war gottlob nichts zu sehen. Wenn er nicht dabei war, bestand für Jack tatsächlich eine Chance auf Erfolg.
Ob sich von den anderen jemand fragte, warum Jack erneut Zutritt zu diesen heiligen Hallen bekommen hatte, und das auch noch mit einem persönlichen Fall, war nicht zu sagen. Sie waren alle darauf trainiert, keine Gefühle zu zeigen. Ohne jede Vorrede begann Lucy mit einer ausführlichen Zusammenfassung.
»Jack Culver arbeitet seit ein paar Monaten an einem privaten Fall. Er hilft einer Frau bei der Suche nach deren Töchtern, die sie 1977 über eine illegale Organisation zur Adoption freigegeben hat. Die Kinder gingen als Sapphire-Trail-Babys durch die Presse. Bullet Catcher hat sich peripher an der Suche nach ihnen beteiligt.«
So konnte man es auch ausdrücken. Lucy hatte an dem Fall zunächst nicht das mindeste Interesse gezeigt. Jack hatte Adrien Fletcher, den einzigen Bullet Catcher, der ihm freundschaftlich verbunden geblieben war, überreden können, ihm dabei zu helfen, eines der Babys von damals – Miranda Lang – ausfindig zu machen. Fletch hatte sie nicht nur gefunden, sondern sich auch noch unsterblich in die junge Frau verliebt.
Aus Sympathie für Miranda hatte Lucy ihre beachtlichen Ressourcen zur Verfügung gestellt, um die beiden anderen Schwestern zu finden. Sie hatte Wade Cordell auf die eine angesetzt und Jack für die Suche nach der anderen mit allem ausgestattet, was er brauchte.
»Wir hatten ziemliches Glück bei der Suche«, fuhr Lucy fort. »Wade konnte Vanessa Porter in der Karibik ausfindig machen und hat sie schon vor ein paar Wochen mit ihrer Mutter zusammengebracht.«
Und zum Glück hatte Vanessa sich als geeignete Knochenmarksspenderin erwiesen, sodass Eileen überleben konnte.
Jack hatte Eileen durch einen anderen Fall kennengelernt, bei dem er als Privatermittler ebenfalls illegal adoptierte Kinder aufgespürt hatte, und er hatte sich von ihr beauftragen lassen, ihre Töchter zu suchen, um eine geeignete Knochenmarksspenderin für sie zu finden. Dieser Auftrag war zwar jetzt erledigt, doch er würde nicht ruhen, bis er das letzte dunkle Kapitel im Leben dieser Frau ergründet hatte.
Er wollte sie in Freiheit sehen und den Mann vernichten, der sie unschuldig ins Gefängnis gebracht hatte. Leider weigerte sich Eileen standhaft, ihm zu verraten, wer es war. Sie war überzeugt, dass er »zu allem fähig« sei und dass er auch nicht vor Mord an ihren Töchtern zurückschrecken würde.
Nach dem, was Jack bislang wusste, hatte sie vermutlich recht.
»Und, habt ihr die dritte Tochter gefunden?«, fragte Roman Scott und sah von seinen Notizen auf.
»Jack hat sie gefunden.« Lucy blickte schweigend auf Jack, um ihm das Wort zu überlassen.
»Ihr Name war Kristen Carpenter«, sagte er.
»War?«
Jack beantwortete Donavans Frage mit einem Nicken. »Sie wurde vor ein paar Monaten in Washington, D. C., von einem Auto überfahren, als sie die Straße überqueren wollte. Der Unfallverursacher beging Fahrerflucht und wurde, oh Wunder, bis heute nicht gefunden.«
»Dann sind also zwei der Töchter ausfindig gemacht worden und werden von Bullet Catcher beschützt«, sagte Roman Scott und kritzelte etwas auf seinen Block. »Und die dritte lebt nicht mehr. Und was ist jetzt der Fall, in dem wir ermitteln? Die Fahrerflucht?«
»Wir ermitteln in dem Mord, für den die Mutter verurteilt wurde«, erklärte Lucy. »Sie sitzt in Haft, seit die Mädchen etwa acht Monate alt waren, und schweigt sich seither über den Fall aus.«
»Warum ermitteln wir dann?«, fragte Owen.
»Weil sie unschuldig ist«, erwiderte Jack schlicht. »Sie hat nicht viel erzählt, weil sie viel zu krank ist und zu viel Angst hat, aber ich habe inzwischen genügend Puzzleteile zusammen, um mir ein Bild zu machen, und es ist …«
»Unfassbar«, ergänzte Lucy.
Allerdings.
»Ich will euch kurz die Hintergründe nennen, damit ihr die Sache klarer seht«, sagte Jack. »Der fragliche Mord fand statt, acht Monate nachdem Eileen Stafford ihre Drillinge zur Welt gebracht und illegal zur Adoption freigegeben hatte. Die zweite Hälfte ihrer Schwangerschaft hat sie in ihrem Haus in einem Vorort von Charleston verbracht, dazu hat sie sich unbezahlten Urlaub genommen. Als sie nach der Geburt wieder zum Bezirksgericht zurückkam, um ihre Arbeit als Gerichtssekretärin wieder aufzunehmen, fand sie völlig neue Bedingungen vor.«
»Inwiefern?«, fragte Avery.
»Sie war ersetzt worden, als Protokollführerin und im Vorzimmer eines geachteten Richters, durch eine gewisse Wanda Sloane.«
»Das Opfer«, warf Lucy erklärend ein. »Eine Kollegin, ebenfalls sehr attraktiv.«
»Niemand bestreitet, dass die beiden aufeinander eifersüchtig waren oder dass sie sich gegenseitig beschimpft und Tratsch übereinander verbreitet haben«, fuhr Jack fort. »Ganz normale Stutenbissigkeit unter Kolleginnen, nach übereinstimmenden Aussagen. Doch dann, eines Abends, sah ein Zeuge eine Frau aus einer Seitengasse rennen und wie eine Verrückte im Auto davonrasen. Neugierig ging der Zeuge in die Gasse, fand Wanda Sloanes Leiche und rief über ein öffentliches Telefon die Polizei. Dreißig Minuten später wurde Eileen von einer Streife angehalten. Auf ihrem Beifahrersitz lag eine Raven P25.«
»Klingt nach einer klaren Sache«, bemerkte Owen.
»Abgesehen davon, dass das Verfahren in Windeseile und aller Stille durchgezogen wurde und erschreckend einseitig war«, erwiderte Lucy und blätterte den Prozessbericht durch. »Beweise wurden gefälscht, und die Schlüsselfiguren, etwa Eileens Verteidiger, der Augenzeuge, der Richter, sind alle tot. Ein Mann, der sie etwa fünfzehn Jahre später im Gefängnis besuchte, wurde auf dem Heimweg von South Carolina getötet. Der Polizist, der sie festgenommen hat, starb bei einem verheerenden Wohnungsbrand. Und Kristen Carpenters Tod war mit Sicherheit auch kein Unfall.«
»Gibt es eine Liste von Verdächtigen?«, erkundigte sich Owen knapp, ergebnisorientiert, typisch für die Bullet Catcher.
»Die Liste ist kurz, sehr kurz«, sagte Jack. »Ein Name.«
Er hätte schwören können, dass Lucy zeitgleich mit ihm »Ein Name« gesagt hatte, doch im selben Moment ging die Tür zur Bibliothek auf, und jegliche Unterhaltung verstummte.
Dan Gallagher ließ sein schiefes Lächeln über die Runde wandern und dann auf Lucy ruhen. »Hoffentlich bin ich nicht zu spät, Juice.«
Fuck! Jack verspürte große Lust, mit der Faust auf den Tisch zu hauen, verkniff sich aber jede Reaktion auf den Neuankömmling und dessen widerliche Anbiederung an Lucy – Juice! –, zumal sich gerade mehrere Augenpaare auf ihn richteten.
»Doch, das bist du«, entgegnete Lucy und deutete auf den leeren Stuhl zu ihrer Rechten. »Aber da du durch mein Büro kamst und meine Lautsprecher aktiviert sind, gehe ich davon aus, dass du bereits auf dem Laufenden bist.«
Dan zwinkerte Avery zu und nahm Platz. »Kein Wunder, dass wir alle für sie arbeiten. Sie ist uns immer einen Schritt voraus.« Er streckte die Hände nach einem Stapel Akten aus, ließ das Chaos dann aber unberührt liegen. »Wow!«
»Hier.« Lucy reichte ihm eines ihrer sauber sortierten Dossiers.
Dan schlug es auf und sah Jack aus verengten Augen an. »Sprich weiter, Culver. Sieht aus, als würde es langsam interessant.«
Jack zog ein Blatt aus dem Papierhaufen auf dem Tisch, die Augen fest auf ein Wort gerichtet. Ein Wort mit sechs Buchstaben und zwei Silben. Ein brillanter, wahnsinniger und unglaublicher Gedanke, der Gallagher auflachen lassen und den anderen die Sprache verschlagen würde. Und Lucy?
In wenigen Augenblicken würde er es wissen.
»Zu der Zeit, als Eileen am Gericht tätig war, gab es einen bekannten Bezirksrichter. In dem Jahr vor ihrer Schwangerschaft arbeitete sie regelmäßig für ihn, verbrachte viele Abende in seinem Büro und wurde einmal sogar auch außerhalb des Gerichts in seiner Begleitung gesehen.«
Er hob den Blick und sah, dass Lucy sich eine Notiz machte. Dan beugte sich vor, um mitzulesen, wurde dafür aber mit einem warnenden Blick von Lucy bedacht. Eins zu null.
»Aufgrund seiner Stellung und weil er in eine der ältesten und reichsten Familien der Stadt eingeheiratet hat, hatte dieser Mann unglaublichen Einfluss und schier unbegrenzte Verbindungen. Er wurde und wird geachtet, verehrt und bewundert.«
»Komm schon, mach’s nicht so spannend«, rief Dan dazwischen. »Wer war es und wo sind die Beweise?«
Lucy legte Dan eine Hand auf den Arm. »Lass ihn ausreden!«
Zwei zu null für das auswärtige Team.
»Erstens halte ich ihn für den mutmaßlichen Erzeuger der Drillinge«, sagte Jack.
»Es gibt keinen aktenkundigen Beweis dafür«, meldete sich Avery. »Ich habe die Akten studiert, nachdem Miranda und Vanessa gefunden wurden. Nirgends eine Spur von der Identität des Vaters.«
»Es gibt sogar zwei«, sagte Jack. »An Miranda Lang und Vanessa Porter.«
»Ach ja«, sagte Dan mit schiefem Grinsen. »Die berühmten Tattoos an ihrem Hals. Zahlen. Ich glaube, das war das Hauptthema unseres letzten Meetings.«
Jack ignorierte den unterschwelligen Sarkasmus. »Die Babys wurden alle tätowiert, in der Tat. Die Hebamme, die die Tattoos gemacht hat, berichtete mir, dass das eine auf dem Schwarzmarkt durchaus gängige Praxis ist. Im Falle von Eileen meinte sie sich tatsächlich an Zahlen zu erinnern.«
Es gab ein paar überraschte Reaktionen und einige zweifelnde Blicke, aber nicht von Lucy. Sie lächelte nur kaum merklich.
Jack zog das Foto von Mirandas Tattoo hervor und das von Vanessas Lasernarbe an der Stelle, von der sie das Tattoo hatte entfernen lassen.
»Bei Miranda sieht es aus wie eine eins und eine vier.«
»Vielleicht hat sich auch jemand einen kranken Scherz erlaubt«, fügte Dan hinzu. »Wenn man es auf den Kopf dreht, sieht es aus wie ›Hi‹.«
Jack sah ihn an. »Du bist ziemlich nah dran an meiner Theorie. Jetzt seht euch Vanessas Tattoo an. Diese zwei kleinen Kringel haben wir als zwei Sechsen gedeutet.«
»Was trug die dritte Schwester, die, die bei dem Unfall umgekommen ist?«, wollte Sage wissen.
»Im Autopsiebericht steht nichts von einer Tätowierung, und ihre Familie hat ihren Leichnam einäschern lassen. Dieses Teil vom Puzzle werden wir also nie bekommen.«
Roman Scott beugte sich vor und klopfte sich mit den Fingern auf das Kinn. »Zahlen also. Was für Zahlen? Eine Schließfachnummer? Oder eine Hausnummer? Wir sollten alle möglichen Ziffernkombinationen mit bekannten Adressen vergleichen.«
»Das können wir tun. Aber es gibt noch eine andere Möglichkeit.« Jack riss ein Blatt von einem Block und griff nach einem Textmarker. Auf das Papier malte er die »14« so, wie sie auf Mirandas Haut ausgesehen hatte. Dann nahm er ein zweites Blatt und malte die zwei runden Sechsen darauf. »Das hier«, sagte er, »könnten auch kleine ›g‹s sein.« Er sah Lucy an und las Zustimmung in ihren Augen. Offenbar war sie letzte Nacht auch so weit gelangt. Hatte sie auch die letzte Schlussfolgerung gezogen?
»Fügt man alles zusammen, bekommt man …« Er schrieb die Buchstaben in eine Reihe. H-I-G-G.
»Zum Beispiel. Es gibt aber fast zwei Dutzend weitere Möglichkeiten«, gab Roman zu bedenken.
»Das stimmt. Aber nur diese Reihenfolge entspricht dem Namen des mächtigen, reichen Bezirksrichters, der eng mit Eileen Stafford und Wanda Sloane zusammengearbeitet hat.« Jack blickte Lucy in die Augen und forderte sie stumm auf, die Bombe platzen zu lassen.
Mit Blick auf ihn beugte sie sich vor, als würde sie von unsichtbaren Fäden gezogen. »Spessard B. Higgins«, sagte sie leise. »Auch bekannt unter dem Spitznamen Higgie.«
Die Nennung dieses Namens hinterließ stummes Entsetzen im Raum.
Dan fing sich erwartungsgemäß als Erster. »Higgie? Soll das ein Witz sein? Ein Richter vom Obersten Gerichtshof in Washington? Dieser Higgie?«
»Ein anderer kommt nicht infrage«, sagte Lucy. »Mit ihm hat Eileen zwischen 1976 und 1978 eng zusammengearbeitet. Als sie nach ihrer Auszeit ihre Stelle wieder antrat, sind sie bis zu ihrer Verhaftung nicht mehr zusammen gesehen worden.«
Dan blickte Lucy an, dann Jack, auf seinem Gesicht ein Ausdruck ungläubigen Spotts. »Ist das alles, was ihr in der Hand habt? Irgendwelche dreißig Jahre alten Tattoos, die verkehrt herum gelesen möglicherweise die ersten vier Buchstaben eines Namens ergeben? Den Namen eines Mannes, der für die Amerikaner so etwas ist wie ein Heiliger?«
»Nicht alles«, sagte Lucy. »Und natürlich werden wir noch mehr sammeln.«
»Ach ja? Und was soll das sein?«, fragte Dan. »Was ihr braucht, sind Fingerabdrücke, ein unterzeichnetes Geständnis, die Mordwaffe aus seiner Unterhosenschublade, und dann besorgt ihr euch schleunigst ein paar schusssichere Westen. Der Mann ist beliebter als der Papst.«
»Ich bin der Meinung, dass die Beweise, die wir haben, eine umfassende Ermittlung durch Bullet Catcher absolut rechtfertigen«, erwiderte Lucy.
Jack wäre am liebsten über die Aktenstapel geklettert, um sie zu küssen.
Dan ließ seinen Ordner verächtlich auf den Tisch schlittern. »Na, dann sieh zu, dass du dich beeilst, Luce, denn der leitende Richter hat kürzlich bekannt gegeben, dass er Krebs hat. Der Chefposten wird also sicher demnächst frei werden, und Higgie steht ganz oben auf der Kandidatenliste.«
»Umso wichtiger ist es, dass er nicht mit einem Mord davonkommt«, sagte Lucy.
Jack strahlte Lucy an. »Sie haben ja so recht, Ms Sharpe.«
Als sie zurücklächelte, durchfuhr ihn ein heißer Blitz. »Du hast die ganze Vorarbeit geleistet, Jack.«
Dan blickte mit verkniffenem Lächeln zwischen ihnen hin und her. Eine rotblonde Strähne fiel ihm in die Stirn, als er seinen Ordner zuklappte. »Da mach ich nicht mit.«
»Ehrlich gesagt«, entgegnete Jack, »warst du auch gar nicht vorgesehen.«
Dan stand langsam auf und schob seinen Stuhl zurecht. »Gut. Ich will nämlich nichts mit dem Desaster zu tun haben, das wir anzetteln, wenn wir uns mit einer moralischen Instanz in diesem Staat anlegen, und das allein anhand windiger Spekulationen.«
Er schritt auf die Ausgangstür zu. »Viel Glück, Leute!«
Als er draußen war, blieb Lucy einen Augenblick reglos sitzen, ehe sie ihre Akte zuklappte. Jacks Magen ballte sich zusammen. Dan hatte großen Einfluss auf Lucy. Sie vertraute ihm.
Lucy erhob sich und bedeutete Jack mit einem Wink ihrer Hand, die Leitung des Meetings zu übernehmen. »Geh mit den Jungs noch ein paar Details durch. Ich schlage vor, jeder bekommt einen Aspekt des Falls zugewiesen, von Kristens Tod über die gestohlenen Dokumente bis hin zu dem illegalen Adoptionsring am Sapphire Trail und …«
»Alles klar, Luce. Ich hab schon eine Liste vorbereitet.«
»Dann entschuldigt mich bitte.« Sie trat durch die Tür, die auch Dan genommen hatte, und hinterließ betretenes Schweigen im Raum.
Wer würde diese Runde wohl für sich entscheiden?
Der Mann, den sie respektierte, bewunderte, dem sie vertraute und dem ihre Liebe gehörte, wie manche behaupteten? Oder der Mann, den sie verachtete, dem sie zutiefst misstraute und den sie mied, seit sie sich mit ihm auf dem Fußboden einer Hütte in Malaysia ins Nirwana gefickt hatte?
Verdammt. Dieser Kampf könnte böse ausgehen.
Dan war schon fast am Fuß der Treppe angelangt, als Lucy ihn einholte. Ohne seine Schritte zu verlangsamen, durchquerte er den Flur, sodass sie mit ihren Acht-Zentimeter-Absätzen die Stufen hinunterrennen musste.
Sie schlug mit der Hand gegen die Tür, stellte sich vor ihn und hielt sie zu. »Was glaubst du eigentlich, was du da tust?«
»Das Gleiche könnte ich dich auch fragen, Lucy.« Ein Schleier aus Schmerz und Wut verdunkelte seine Augen, die sonst fast immer mit einem schelmischen Lächeln auf ihr ruhten. »Hast du eine Vorstellung davon, was es für Bullet Catcher bedeuten könnte, wenn wir gegen einen der höchstrangigen Richter der USA ermitteln? Meine Güte, Lucy, Higgie ist so dermaßen über jeden Verdacht erhaben, er ist … er ist …« Er schüttelte den Kopf, weil ihm kein passendes Wort einfiel. »Unantastbar.«
»Kein Mensch ist unantastbar, Dan, und er ist kein Heiliger. Ich kenne den Mann persönlich.«
»Natürlich kennst du ihn persönlich, das ist genau der Grund, warum Culver, die alte Kanalratte, dich braucht. Was hat er vor? Will er sich als Privatermittler etablieren? Den größten Coup der Rechtsgeschichte landen? Himmel, Lucy, hast du vergessen, was der Kerl mir angetan hat?«
Nicht für einen Tag.
»Versehentlich getroffen hat er mich«, fuhr Dan fort, ehe sie etwas sagen konnte. »Nachdem er dich über seine Ausbildung, seine Behinderung und seine Fähigkeiten belogen hat. Er hat sich bei Bullet Catcher eingeschmuggelt und mich dann um ein Haar mit einer versprengten Kugel erledigt.«
»Einschmuggeln« war sicher nicht ganz das richtige Wort, denn er hatte Lucys Tests allesamt mit Bravour bestanden, und sie war von Beginn an felsenfest überzeugt gewesen, dass der Schuss tatsächlich ein Unfall gewesen war. Dan hatte sogar widerstrebend einräumen müssen, dass er eine plötzliche und unvorhersehbare Bewegung gemacht hatte. Aber sie wusste genau, dass es sinnlos war, ihm jetzt zu widersprechen. »Er wurde dafür entlassen.«
»Aber jetzt ist er zurück und hat sich gleich an dich rangeschmissen, indem er dich mit einem dicken Fisch geködert hat, von dem er wusste, dass du ihm nie im Leben widerstehen konntest. Wie um alles in der Welt hat er dich von dieser abstrusen Geschichte überzeugt, dass ein Oberster Richter ein Mörder sein könnte?«
»Hat er gar nicht. Ich bin ganz von selbst zu demselben Schluss gelangt, und du würdest es ebenfalls.«
Dan schnaubte ungläubig. »Auf welcher Grundlage?«
»Jack hat mich gestern Abend gebeten, mir die ganze Sache offen und ohne Vorbehalte …«
»Gestern Abend?« In dem Moment, als er das sagte, wusste sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. »Wir beide waren mit einem Klienten zusammen bis elf Uhr in der Stadt essen. Du hast ihn danach noch getroffen?«
Sie hob das Kinn. »Tu das nicht, Dan! Lass nicht zu, dass dir bei so einer wichtigen Sache deine Eifersucht in die Quere kommt.«
»Eifersucht?«, fauchte er. »Ich bin nicht eifersüchtig auf irgendeinen Ex-Cop mit verkrüppeltem Finger und noch mehr verkrüppelten Instinkten.«
»Vergiss mal für einen Moment, woher du die Geschichte kennst, Dan. Was, wenn Spessard Higgins wirklich vor vielen Jahren das Mädchen getötet hat? Was, wenn er den Prozess manipuliert und seinen Einfluss genutzt hat, um seiner ehemaligen Geliebten den Mord anzuhängen und sie für immer zum Schweigen zu bringen? Was, wenn er Vanessas Vater getötet hat und dann jemanden angeheuert hat, um Kristen Carpenter zu überfahren – als Warnung an ihre Mutter im Gefängnis? Könntest du nachts schlafen, wenn du wüsstest, dass der Mann so etwas wie das personifizierte Gesetz ist und hinter dem Richtertisch sitzt, obwohl er auf die Anklagebank gehört?«
»Du bist diejenige, die nachts nicht schlafen kann, Luce, nicht ich. Vergiss das nicht.« Er öffnete die Tür, trat in die Sonne hinaus und hob für einen Moment sein attraktives Gesicht, um es von den Strahlen wärmen zu lassen. Dann winkte er ihr zu. »Bis dann.«
Sie machte einen Schritt auf ihn zu und ergriff seinen Arm. »Was soll das heißen: ›Bis dann‹?«
»Ich hab noch in der Stadt zu tun: eine Sicherheitsanalyse für einen zahlenden Klienten. Kannst du dich an die Sorte Kundschaft noch erinnern? Früher mochtest du die ziemlich gern.«
»Hör auf! Du kannst jetzt nicht einfach abhauen, nur weil deine Gefühle verletzt sind und dir nicht passt, was ich tue.«
Er schloss kurz die Augen und blickte sie dann an. »Schau mich an.«
»Wie bitte?«
Ihr überheblicher Ton entlockte ihm ein schwaches Lächeln. »Ich weiß, dass du der Boss bist, Juice, das musst du mich jetzt nicht extra spüren lassen. Dir gehört der Laden, du sagst, wo es langgeht. Ich weiß auch, dass sonst niemand ungestraft so mit dir reden darf. Aber sorry, ich lasse mich nicht auf etwas ein, das für die Firma absolut tödlich sein könnte.«
»Für die Firma oder für dich?«
»Lucy, wenn du dich irrst und das bekannt wird, verlierst du alles, was wir – was du – in den letzten sieben Jahren aufgebaut hast. Ist es dir das wert? Du hast so viel zu verlieren und er …« Dan nickte mit dem Kinn in Richtung Kontrollraum. »Er kann nur gewinnen. Unter anderem einen glänzenden neuen Ruf, nachdem er seinen alten so grandios verspielt hat.«
»Nur wenn er recht hat. Mir geht es nicht darum, Higgie zu vernichten. Ich will nur die Wahrheit herausfinden.«
»Culver geht es nicht um die Wahrheit. Er hält sich für einen einsamen Rächer, und genau das hat ihn bislang jeden seiner Jobs gekostet.«
Dem wusste sie nichts entgegenzusetzen. »Dan, ich habe die ganze Nacht lang Akten studiert, habe mich durch die Verhandlungsprotokolle gewühlt und sämtliche Blickwinkel in Betracht gezogen, vor allem was diese Tätowierungen angeht. Ich denke, er ist da etwas auf der Spur. Und das ist alles, was für dich zählen sollte.«
»Alleine?«
Sie sah ihn irritiert an. »Was?«
»Warst du mit den Akten allein?«
»Ja, ich war allein. Komm schon, Dan. Das ist doch nicht dein Stil. Dazu bist du viel zu intelligent. Dass du mit diesem Fall nichts zu tun haben willst, liegt nicht am Fall selbst, sondern an demjenigen, der ihn uns gebracht hat.«
Dan zögerte einen Moment lang, dann lächelte er dieses wundervolle schiefe Lächeln, das immer mit einem Strahlen aus seinen grünen Augen gepaart war. »Ich will nichts damit zu tun haben, weil ich schon weiß, wie es ausgehen wird. Und dass ich ohnehin nicht mehr mit von der Partie sein werde.«
Sie seufzte. »Das ist es, worum es in Wahrheit geht, oder?«
»In Wahrheit, meine Liebe, geht es darum, dass du einem Mann hilfst, der dich belogen hat, der mein Leben in Gefahr gebracht und bewiesen hat, dass alles, was er als Cop und als Bullet Catcher vielleicht mal draufhatte, durch Alkohol und Selbsthass zerstört wurde. Einem Mann, der nicht in der Lage ist, einen Schuss abzufeuern, geschweige denn, andere zu beschützen.«
»Dan, wenn Higgie imstande ist, einen Mord zu begehen und ihn auf so abgefeimte Art und Weise zu vertuschen, dann will ich das beweisen. Mir ist völlig egal, wie uns der Fall zugetragen wurde. Außerdem habe ich nicht die Absicht, Jack gleichberechtigt mitarbeiten zu lassen. Er wird vollkommen im Hintergrund bleiben.«
Dan blickte zum Fenster der Bibliothek hoch, die im ersten Stock lag. »Er ist schon jetzt alles andere als im Hintergrund. Genau genommen, ist er in deinem Büro. Ich frage mich, wie er dorthin gekommen ist.«
Sie folgte Dans Blick und sah Jack ebenfalls. Es stimmte. Jack schaffte es immer wieder, an Orte zu gelangen, an denen er eigentlich nichts zu suchen hatte. Das war eine seiner effektivsten Strategien.
»Mach dir doch nichts vor, Lucy. Er wird an dem Fall arbeiten, weil er mit der ganzen Geschichte so vertraut ist wie niemand sonst und du zu klug bist, um bei dieser heiklen Sache auf einen Mann mit so viel Erfahrung zu verzichten.«
Sie wandte sich wieder Dan zu, um ihm zu widersprechen, doch er hob die Hand und strich ihr über das Haar, die weiße Strähne, eine Geste, die ihr schlagartig den Wind aus den Segeln nahm. Für wen wäre diese Besänftigung wohl gut … für Jack oder für sie?
Er beugte sich etwas näher zu ihr, und einen Augenblick lang dachte sie, dass er sie küssen würde – etwas, das er noch nie getan hatte. Wobei er zweifellos Spaß daran hatte, dass alle Bullet Catcher darüber rätselten.
»Willst du meinen Rat, Juice?«
»Immer.«
»Überleg dir gut, was du dir wünschst.«
Sie trat einen Schritt zurück und blickte ihn aus verengten Augen an. »Ich wünsche mir die Wahrheit. Ich wünsche mir, dass derjenige, der das Verbrechen begangen hat, auch dafür bestraft wird. Vor allem aber wünsche ich mir, dass diese Frau aus dem Gefängnis freikommt und ihr Leben so leben kann, wie sie es will.«
Er lächelte. »Ich weiß. Die Frage ist, welche Frau? Die in dem Gefängnis in South Carolina oder …« Er nickte ihr zu. »Die, die hier vor mir steht?« Er berührte zärtlich ihr Kinn. »Viel Glück, Juice.«
Selbst wenn er wütend war und ihn die schlimmsten Gefühle umtrieben, war Dan Gallagher immer noch aufrecht, edel und gut. Und der beste Freund, den sie je gehabt hatte.
Sie wandte sich dem Haus zu und blickte zu dem Bleiglasfenster ihrer Bibliothek hinauf, angezogen von dem Schatten eines Mannes, der nichts von alledem war.