ERSTES BUCH – FRIDA 1913
1. Kapitel
Das Arbeiterdorf Rupplin, zum Herrschaftsbereich des Herrn von Zoitzheim gehörend, bestand aus einer rechten und linken Ansammlung niedriger Katen.
Es war ein armes Dorf mit armen Menschen, die für ihr kärgliches Auskommen hart arbeiten mussten. Aus dem Fachwerk der meisten Häuser bröckelte der Lehm, die Strohdächer hatten Löcher und waren vom Kaminrauch dunkel gefärbt. Haustüren und Fenster hingen oft schief in ihren Angeln, und auf den Misthaufen hinter den Gebäuden tummelte sich das Federvieh, kreischend mageren Katzen ausweichend, die von noch magereren Hunden über die schmalen Gemüsebeete gejagt wurden, sowie sie sie bemerkten.
Leise zog Frida die Türe ihres Elternhauses hinter sich zu.
Sie war spät dran und beschleunigte daher ihren Schritt. Dem Vater war es in der Nacht wieder schlecht gegangen, und sie hatte der Mutter helfen müssen. Spärlich begann das beginnende Tageslicht, die verschlammte Dorfgasse zu erhellen. Frida durcheilte sie und lief auf den Wiesenrain zu. Es war eine Abkürzung zu einer Stelle, an der sie sich dann durch das angrenzende Buschwerk zwängen konnte, um auf die Ulmenallee zu kommen, die zum Gutshaus führte.
Etwas sorgenvoll schaute sie nach oben. Die Baumblätter hatten bereits das Licht der frühen Morgenzeit aufgefangen. Bestimmt würde die Köchin schon auf das Wasser warten, das sie, die Innenmagd, aus dem Brunnen zu schöpfen hatte.
Doch trotzdem blieb sie stehen, schaute um sich und lächelte versonnen.
Jetzt, zu dieser Stunde, hielten sich die Dotterblumen noch geschlossen, aber ihre gelbe Farbe schimmerte bereits aus ihren Dolden heraus. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sich diese im Morgenlicht des Frühsommers mit den violetten Schleiern des Wiesenschaumkrauts und den dunkelgrünen, hoch aufgerichteten Farnhalmen zu einer Farbe vermischte.
Für Frida war dies der schönste Moment des Tages.
Und dann dieser Geruch von Gras und Kälberkraut –
Beides, Anblick und Geruch, würde sie in ihren Arbeitstag mitnehmen, vielleicht auch Kaspar davon erzählen.
Sie stolperte. Immer diese Träume, dachte sie und setzte hastig ihren Weg fort.
Kurze Zeit später lag das Gutshaus der Herrschaft vor ihr.
Noch eingehüllt in der Stille der frühen Stunde, leuchteten ihr die roten Backsteine wie auch die weiß getünchten Mauern der nach hinten angelegten Scheunen und Ställe in der jetzt aufgegangenen Sonne entgegen.
Vier Fassaden mit jeweils zwei hohen Fenstern stützten ein mächtiges gewölbtes Hausdach. Das trutzige Mauerwerk wurde nur von der in Steinsimsen gerahmten Eichenholztüre unterbrochen. Frida wusste, dass der an ihr montierte schmiedeeiserne Klopfer schwer zu betätigen war und sein Widerhall dumpf und freudlos klang.
Deswegen, oder vielleicht auch weil der zum Osten hin angelegte Eingang nach dem Weiterwandern der Morgensonne für den Rest des Tages im Schatten lag, empfand sie das Haus bedrückend, mehr noch, abweisend. Nur manchmal im Frühsommer, wenn sich die Fliederkronen hinter der Hecke wiegend gen Himmel ausstreckten und sich die leuchtenden Farben der Gartenblumen mit dem Licht des Himmels zusammentaten, empfand sie eine Harmonie, die so nichts mit der steifen Tradition des Hauses zu tun hatte, für diese sich das Geschlecht derer von Zoitzheim seit Generationen verantwortlich zeigte.
Sie sprach mit niemandem über ihre Gedanken, auch nicht mit ihrer Mutter.
Als sie zum ersten Mal den Garten des Herrenhauses betreten durfte, hatte sie ungläubig seine Weite betrachtet. Großzügig war er zu drei Seiten hin angelegt. Rhododendron- und Fliedersträuche, Rosen und die verschiedenartigsten Büsche teilten oder fügten Plätze zusammen. Blumen aller Jahreszeiten wuchsen in Beeten, dazwischen gab es kurz gemähte Rasenflächen, Ansammlungen von unterschiedlichen Steinen und einzelne Figuren in Menschengröße, deren angedeutete fließende Steingewänder fremdländisch und seltsam wirkten. Buchsbaumhecken schirmten diesen Teil des Gartens rundherum ab und bildeten damit eine natürliche Grenze zu dem übrigen parkähnlichen Gelände, das sich bis in die Unendlichkeit auszudehnen schien und erst im fernen Dunst Himmel und Horizont vereinte.
Es ist die gnädige Frau, die junge, die dies alles angeordnet hat, war einmal die abweisende Erklärung der Köchin gewesen, denn sie musste oft Küchenmägde für die Gartenarbeit zur Verfügung stellen, was bedeutete, dass sie und andere doppelt oder sogar dreifach zu arbeiten hatten.
Ein Reiter muss ab der Haustüre dreißig Minuten in der Geraden galoppieren, um die Grenze meines Besitzes zu erreichen, hatte Frida einmal den Hausherrn vor seinen Gästen dröhnen gehört, und sie war verwirrt gewesen, weil sie sich eine solche Entfernung als Eigentum nicht vorstellen konnte. Dreißig Minuten – die Mutter hatte darüber genickt und der Vater die Lippen zusammengepresst, als sie es zu Hause erzählte.
Einer der Jagdhunde kam ihr entgegengelaufen und tänzelte aufgeregt um sie herum.
Sie streichelte ihn, ohne im Lauf innezuhalten, und musste lachen, weil er zu jaulen begann, so, als wollte er mit ihr sprechen.
Wenn Frida lachte, lachte ihr ganzes Gesicht mit. Zwei Grübchen bewegten sich in beiden Mundwinkeln, die Augen strahlten, selbst die Nase zuckte übermütig, und der blonde, eng geflochtene Zopf rutschte dann meistens ausgelassen von ihrer Schulter. Nie war sie schlecht gelaunt, und auch die schwerste Arbeit verrichtete sie ohne jede Klage. Es war ein kleiner Zauber, der ihr anhaftete. Sie selbst wusste nicht darum, aber die anderen wussten um ihn und suchten unbewusst ihre Nähe.
»Es ist gut, Hasso«, rief sie atemlos, »komm mit, wir werden bestimmt etwas für dich finden«, und betrat die Küche durch den Hintereingang.
Die Arbeit, die Frida für die Familie von Zoitzheim zu leisten hatte, war schwer und dauerte oft bis in die Nacht hinein, und es war eine andere Welt als die, in die sie hineingeboren wurde.
Vor etwas mehr als einem Jahr, genau an ihrem vierzehnten Geburtstag, war die Mutter mit ihr hoch in die Villa zur Gnädigen Frau gegangen. Für diesen Anlass hatte sie einen neuen dunkelblauen Filzrock und eine schlichte weiße Bluse bekommen.
Drei Stunden ließ man sie am Hintereingang der Küche warten.
Ich habe ihr die Ordnung beigebracht, auch wie man ein Haus sauber hält, sie ist noch Jungfer und hat nichts mit den Männern zu tun, und Sie können sie züchtigen, wenn sie nicht folgsam ist, hatte die Mutter demütig zu der eleganten Frau gesagt, die plötzlich vor ihnen stand. Sie hatte einen schwarzen Pelzmuff und einen Hut mit Federn getragen, und ihr Gesicht war wegen der frühherbstlichen Kühle mit einem dünnen Schleier bedeckt gewesen.
Frida hatte einen schwachen puderigen Veilchenduft gerochen und nicht gewagt aufzublicken. Die sanfte Stimme der Frau, die Eleganz ihrer Kleidung und die Erhabenheit ihrer Gesten schüchterten sie ein, und sie fürchtete sich, den Eltern Schande zu machen. Erst als die Mutter vor der Dame knickste und ihr einen Schubs gab, es ebenso zu machen, begriff Frida, dass Frau von Zoitzheim eingewilligt hatte, sie in den Dienst zu nehmen.
»Du kommst spät, ich musste das Wasser alleine holen«, warf ihr die Köchin vor, aber Frida sah sofort, dass sie ihr nicht böse war. »Geh staubwischen, bevor die Herrschaft aufsteht, wir bekommen heute Abend Gäste.«
Das bedeutet, dass ich erst nach Mitternacht nach Hause komme, seufzte Frida innerlich und band sich die Schürze fest.
Sie rümpfte die Nase, um dem Staub auszuweichen, der unweigerlich mit dem Wedel aus Gänsefedern aufgewirbelt wurde, wenn sie zwischen die Unmengen von verschrumpelten Rehgehörnen fuhr, die jeweils als Pärchen auf einem Stück Holz genagelt zwischen den gewölbten Hirschgeweihstangen angebracht waren. Summend stellte sie sich auf einen kleinen Hocker und fuhr fort, auch das schwarzglänzende Gefieder der beiden ausgestopften Auerhähne abzustauben, ebenso die Träger der graubraunen Gemsböcke und die düsteren Grannen der Wildschweinköpfe. Alles hing in eigener Ordnung, durcheinander und doch wieder nicht, aber darüber machte sie sich keine Gedanken. Schnell stieg sie ab, verschob mit dem Fuß das Holzgestell einige Meter weiter, um mit der Arbeit bei den nächsten Tieren fortzufahren.
Es sind nur die stärksten und beachtlichsten Wildtrophäen, die in der oberen Galerie hängen dürfen, hatte ihr der Jagdaufseher erklärt und gezeigt, wie man mit dem Wedel hantieren musste, ohne eventuell einen der Knochen zu beschädigen. Ein nicht mehr ganz junger Mann, unverheiratet, der ihr bei diesen Worten leicht über den Arm gestrichen hatte.
Frida hatte vom ersten Tag ihrer Arbeit in diesem Haus nie begriffen, weshalb sich die Herrschaft den Tod an die Wand hängte, aber was verstand sie auch schon von reichen Leuten. Von den anderen Mägden wusste sie, dass die männlichen Mitglieder der letzten drei Generationen passionierte Jäger gewesen waren, wie auch das augenblickliche Familienoberhaupt, Konrad von Zoitzheim, der die Jagd als eine lebendig gewordene Leidenschaft ansah. Das hatte ihr die Köchin mit ängstlich gerollten Augen zugeflüstert.
Aber sein Sohn Kaspar, zwölf Minuten nach seinem Zwillingsbruder Konrad geboren, ist anders, hatte sie gedacht und nichts weiter dazu gesagt.
Endlich war sie mit den Tieren fertig.
Sie klemmte sich den Hocker und den Staubwedel unter die Achsel, raffte den Rock mit der Schürze und lief die Treppe hinunter hin zum Kaminzimmer.
Die hohe Portaltüre bereitete ihr immer Schwierigkeiten, denn der Bronzegriff ließ sich nur schwer herunterdrücken, und hatte sie es geschafft, fiel die schwere Türe jedes Mal mit einem dumpfen Laut hinter ihr zu.
Gleichzeitig als Herrenzimmer genutzt, hing stets eine Tabakwolke im Raum. Vor der Feuerstelle lag ein großer Orientteppich, und darauf standen im lockeren Halbkreis weinrote Sessel. Beides waren Teile der Aussteuer der Jungen Gnädigen, wie die Hausfrau immer noch trotz des Ablebens ihrer Schwiegereltern hieß.
Auch das wusste Frida durch das Gesinde.
Flink wischte sie die Sessellehnen ab, ebenso die hohen Kerzenleuchter, die rechts und links auf dem Kaminsims standen, die kleine Schäferuhr, die Porzellanbonbonniere und schließlich die alte Familienbibel in dem Ledereinband mit den silbernen ziselierten Beschlägen, die alleine auf einem kleinen Tischchen lag. Dann wandte sie sich den beiden an den Wänden hängenden und mit grünem Filz bezogenen Tafeln zu, die mit Gewehren, Flinten und kurzen Revolvern bestückt waren. Hier musste sie besonders vorsichtig sein, wie auch bei dem in weißer Alabasterseide ausgeschlagenen Tableau auf der gegenüberliegenden Wand. In unregelmäßiger Anordnung waren darin Messer befestigt, deren unterschiedliche Klingen jeden Lichtstrahl auffingen und widerspiegelten. Manchmal leuchteten die Knäufe aus Schildpatt oder weißem Büffelhorn magisch hervor – es war ihr nicht angenehm.
Frida stellte den Staubwedel ab, zog sich einen Lappen aus der Schürzentasche und wischte damit vorsichtig über die Gegenstände. Jetzt näherte sie sich dem kleinen geschnitzten Holzkasten. Immer noch hatte sie ein ungutes Gefühl beim Anblick des einfachen Jagdmessers, das unter dem Sichtglas lag und dessen Griff mit einer bräunlichen Kruste überzogen war.
Es ist das Blut meines tödlich verletzten Großvaters, der mit dieser Klinge dem letzten Bären dieser Gegend den Garaus machte, hörte sie in Gedanken die Erklärung des jetzigen Hausherrn, die unweigerlich kam, wenn er mit seinen Gästen vor diesem verglasten Bild zum Stehen kam.
»Sehen wir uns heute Abend?«, flüsterte es plötzlich hinter ihr.
Frida drehte sich um und strahlte Kaspar von Zoitzheim an.
»Ich habe Dienst«, wisperte sie, als ob die Wände Ohren hätten.
»Wir haben Gäste, ich weiß, aber bitte komm doch danach in mein Zimmer«, bettelte der Siebzehnjährige. »Es wird keinem auffallen, denn die Eltern werden nach dem Besuch gleich ins Bett gehen, und Konrad ist doch zum Fechten weg.« Gespannt blickte er sie an. »Ich habe neue Bücher bekommen, eines davon über afrikanische Pflanzen. Du kannst es mit nach Hause nehmen und in Ruhe betrachten. Willst du?«
»Ja, doch«, sagte Frida mit klopfendem Herzen und sprang vom Hocker, direkt vor Kaspar. Der griff nach ihrer Hand und streichelte sie.
»Ich freue mich so sehr, Frida«, flüsterte er wieder, »ich habe dir auch noch so viel zu erzählen. Und ich muss dich etwas ganz Wichtiges fragen –«
Frida schaute ihn verliebt an. Von dem Augenblick, als Kaspar und sein Bruder Urlaub aus der Kadettenanstalt in Plön erhalten hatten und er sie als neue Magd im Hause seiner Eltern angetroffen hatte, war es, als ob sich ein Faden zwischen ihrem und seinem Herzen gesponnen hatte, fest und unzerreißbar. Sie sprachen die gleiche Sprache, hatten die gleichen Gedanken – und verfolgten glühend gemeinsam ein Ziel: Afrika.
Sowie seine Ausbildung beendet war, wollte sich Kaspar als Soldat des Kaisers verpflichten und in die Kolonien gehen. Als Zweitgeborener auf dem Gut seines Vaters hatte er keine Zukunft. Frida sollte nachkommen – als seine Braut. Vor Gott und den Menschen wollten sie in Deutsch-Südwestafrika als Eheleute leben, eine Familie gründen, wollten aufbauen und sich absetzen von dem gesellschaftlichen Diktat der Herkunft. Letzteres war nur in der Ferne möglich, das wussten beide, ohne darüber gesprochen zu haben.
Majestät, wohin sollen wir die zweiten und weiteren Söhne unseres Adels stecken?, hatte der greise Reichskanzler zu Beginn dieses Jahrhunderts seinen Kaiser gefragt und die missratenen dazu, hinterhergemurmelt.
Erleichtert leitete er wenig später die Entscheidung seines Herrn weiter, wonach die deutschen Kaufleute im fernen Afrika durch bewaffnete Freiwillige aus der Heimat gegen das schwarze aufständige Pack zu schützen seien.
Es war das Abenteuer in einem unbekannten Land, das Tausende von jungen Männern aus allen deutschen Landen zu den Waffen greifen ließ und – es war Kaspar von Zoitzheim, der zum ersten Mal mit Frida darüber sprach.
Heimlich begannen sie sich außerhalb des Hauses zu treffen.
Oft wartete Kaspar schon am Ende der Ulmenchaussee auf sie, und dann liefen sie gemeinsam über die Lichtung hin zu den dichten Brombeerhecken, saßen im Gras, hielten sich an den Händen, redeten miteinander. Sie wussten, dass man sie nicht sehen durfte, nur den Bruder hatte Kaspar eingeweiht.
Er ist der Hoferbe und wird mir helfen, damit man mich ziehen lässt, hatte er Frida erklärt, und sie achtete darauf, nicht über ihn bei den Mägden zu sprechen, ihr Strahlen hätte sie sicherlich verraten.
Einmal hatte sie ihn verlegen gebeten, ihr das Lesen näherzubringen – für Afrika.
Die drei Jahre Dorfschule, die einem Mädchen ihres Standes zugebilligt wurden, hatten nur für ein notdürftiges Erkennen von Geschriebenem gereicht, und Kaspar hatte sofort begeistert damit angefangen.
Frida war eine gelehrige Schülerin. Es dauerte nicht lange, und sie konnte ohne seine Hilfe die Texte in den Büchern lesen, die Kaspar ihr jetzt beständig auf ihre Bitte hin auslieh. Die Zeitungen seines Vaters nahm sie heimlich aus dem Korb, wohin sie abgelegt wurden, wenn die Herrschaft sie gelesen hatte, und legte sie einen Tag später wieder hinein.
Langsam reiften ihre Gedanken, und wenn Kaspar am Monatsende für ein Wochenende nach Hause kam und sie sich trafen, sprachen sie sowohl über das Tagesgeschehen wie auch über den Sinn des Buches, das sie gerade las. Nicht selten staunte Kaspar über ihre Fragen und mit welcher Entschiedenheit sie manchmal seine Antworten korrigierte.
Im letzten Monat hatte sie ihn mit der Feststellung verblüfft, dass auch sie dafür wäre, wenn endlich in Deutschland die Frauen das volle Wahlrecht erhalten würden.
Die Frauen in Norwegen haben es auch durchgesetzt, hatte sie etwas zu hitzig gesagt und dabei an den Vater denken müssen, den Polen, wie er überall leicht verächtlich hieß, nur weil er vor vielen Jahren über die polnische Grenze gewandert kam und als durchziehender Tagelöhner in Rupplin Arbeit fand – bis er sesshaft wurde, mit Bertha, ihrer Mutter.
Auch hier gibt es keinen freien Willen, hatte Leo Koslowski am Abend nach einer Wahl gemurmelt und leise erzählt, wie er vor dem Gutsverwalter gestanden und dessen gebieterischer Daumen auf die Stelle gezeigt hatte, wo er sein Kreuz machen sollte.
Frida vergaß auch nicht den ängstlichen Blick ihrer Mutter bei diesen Worten und wie sie sich dabei vorsichtig umgeschaut hatte. Aber darüber wollte sie mit Kaspar von Zoitzheim nicht sprechen, denn sonst hätte sie ihm auch sagen müssen, dass sein eigener Vater, der Gutsherr von Rupplin, mit grimmigem Gesicht die Wahl seiner Männer über den ganzen Tag hinweg von dem holzgeschnitzten Sessel aus verfolgt hatte, der extra zu diesem Anlass in die Diele des Herrenhauses gestellt worden war.
Frida spürte in der Ausbildung, die sie sich selbst gab, dass Religion und Politik zwei widersprüchliche Pole waren, dass sie Unfrieden schafften, auch entzweienden Streit, und das wollte sie Kaspar und sich ersparen. So saß sie in ihrer kargen Zweisamkeit am liebsten vor ihm, die Arme um die Knie geschlungen und hörte ihm zu, wenn er von ihrer gemeinsamen Zukunft sprach.
Sie wollte wieder nach dem Wedel greifen, aber Kaspar ließ ihre Hand nicht los.
»Noch vier Monate«, sagte er, »meinst du – kannst du –«
Frida gab ihm einen unbeholfenen zärtlichen Kuss auf die Wange, als Antwort auf seine Frage, die er sich zu stellen nicht traute.
»Es wird alles so geschehen, wie wir es möchten«, raunte sie ihm zu, »aber jetzt musst du mich gehen lassen, sonst werde ich nicht fertig.«
Kaspar trat sofort einen Schritt zurück und verschränkte seine Arme auf den Rücken.
Warum nur immer diese Folgsamkeit, ging es Frida flüchtig durch den Kopf.
Folgsam dem Kaiser, dem Vater, der Herkunft. Etwa auch ihr?
Aber sein bittender Blick rührte sie. »Natürlich komme ich zu dir, schon um das Buch zu holen«, lächelte sie, griff nach dem Hocker, dem Wedel und dem Lappen und lief durch die Tapetentüre in Richtung Küche.
»Frida, du musst mir gleich helfen«, sagte die junge Gnädige, und sofort löste das junge Mädchen die Bändel der Arbeitsschürze. Sie würde sich die weißgerüschte anziehen müssen, eine Anordnung der Gnädigen, wenn man in ihre Räume befohlen wurde.
Für den Abend hatte der Gutsherr die Honoratioren der Stadt zum Essen geladen.
Den Apotheker, den Pfarrer, den Advokaten, den Bürgermeister und den kaiserlichen Bezirksinspektor, alle mit Damen, sogar die Pfarrersfrau, obwohl sie von niedrigem Stand war.
Anlass war das Regierungsjubiläum des deutschen Kaisers Wilhelm II.
Im ganzen Reich würden Punkt acht Uhr die Glocken läuten, und man würde sich mit einem Glas Wein erheben und darauf anstoßen.
»Eines der Seidenkleider«, ordnete Frau von Zoitzheim an, und sofort betrat Frida den großen begehbaren Kleiderschrank, hängte drei der hellen Kleider von ihren Bügeln ab und brachte sie in das Ankleidezimmer.
Die Frau stand vor dem großen Spiegel.
Sie nickte kurz mit dem Kopf und entschied: »Das Fliederfarbene.«
Umsichtig kleidete Frida sie aus und ließ vorsichtig das zarte Stoffgebilde über ihren Kopf fallen, hakte am Rücken die unsichtbaren Verschlüsse zu, rückte den Kragen zurecht und zupfte an den Ärmeln, bis sie richtig fielen. Dann erlaubte sie sich, ihre Herrschaft für einen Moment fragend anzuschauen, und wieder nickte die Frau.
»Die beigen –«, und als sie die langen fein gehäkelten Handschuhe überzog, die Frida ihr reichte, murmelte sie fast entschuldigend: »– diese vielen Hände, schrecklich –«
Frida wusste, dass sie nun die passenden Leinenschuhe bereitzustellen hatte.
Der Schuhschrank war in der Wand eingelassen, sie öffnete ihn und zog beide Türen auseinander.
Es war ein Anblick wie aus einer anderen Welt.
Unmengen von Schuhen in allen Farben hingen an ihren Absätzen an Metallstangen. Die meisten unter ihnen waren ungeeignet dafür, andere Böden als blankgeputzte Parketts oder Terrassen mit glatten Steinen zu betreten. Es gab aber auch Straßenschuhe, in Schwarz und Braun, mit gesteppten Nähten, knöchelhoch gearbeitet und mit blanken Ösen, an denen die Bänder befestigt werden konnten, und zwei Stiefelpaare aus feinstem hellbraunem und dunkelrotem Leder. Letztere trug die Gnädige nur, wenn sie mit dem Herrn ausritt.
Schnell griff Frida nach dem bestickten Paar und stellte es der Frau hin. Die Schuhe waren erst vor einer Woche aus Berlin gekommen, von einem Schuhhersteller, der auch für die Kaiserin arbeitete.
Die Frau schlüpfte hinein und hielt sich dabei an Frida fest. Mit Wohlgefallen betrachtete sie sich im Spiegel.
»Geh jetzt«, sagte sie kurz. Frida knickste und verließ das Zimmer.
Sie wusste, dass die Gnädige nun ihre Schmuckschatulle hervorholen würde.
»Vierundzwanzigtausend Begnadigungen, nur wegen des Jubiläums, ich bitte Sie, jetzt laufen die Kretins, die wir hinter Schloss und Riegel gebracht haben, wieder frei herum. Musste das sein? Warum macht man es uns nur so schwer, die Ordnung aufrechtzuerhalten?«
Der Gutsherr hatte ein hochrotes Gesicht.
Zusammen mit seinen Gästen saß er in einer Wolke von Tabak vor dem Kamin, während die Damen unter Führung Frau von Zoitzheims im Damenzimmer ihren Likör nahmen. Später würde man sich wieder treffen, in der Garderobe, um sich gegenseitig zu verabschieden.
»August Bebel ist in der Schweiz gestorben«, bemerkte der Bürgermeister und schnippte sich die heruntergefallene Asche vom Ärmel.
»Er war über achtzig und –«, sinnierte der Apotheker.
»– ein verdammter Sozi ist er gewesen –«, unterbrach ihn Konrad von Zoitzheim. »Einer dieser verdammten Männer, die seit einiger Zeit das verdammte Proletariat mit verdammten Ideen und verdammten Forderungen nach unmöglichen Rechten aufwiegeln.«
Unwillig nahm er das letzte Glas von dem Tablett, das ihm Frida reichte.
»Nun, eines ist sicher, hier werden seine Ideen gar nicht erst aufkommen, dafür sorge ich persönlich.«
»Wann beginnt das Kaisermanöver?«, versuchte der Bürgermeister zu beschwichtigen.
»Im Herbst«, fuhr der Gutsherr etwas beruhigter fort. »Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien haben vor einer Woche eine militärische Zusammenarbeit beschlossen. Das ist richtig, wenn Sie mich fragen, glauben Sie mir, der Russe sitzt uns schon nahe genug.«
Frida stand an der Anrichte und wartete auf weitere Anweisungen. Sie war müde. Es war spät am Abend, und die Gespräche der Männer wollten nicht enden. Diese Politik, dachte sie, und lief in den Damensalon.
»Darf ich –«, wollte sie beginnen, aber Frau von Zoitzheim kam ihr bereits entgegen, und erleichtert sah Frida, wie sie zu ihrem Mann ging, sich über ihn beugte und ihm etwas ins Ohr flüsterte.
Vorsichtig huschte Frida die Treppe hoch.
Es war weit nach Mitternacht, fast zwei Uhr. Sie hatte die Küche aufräumen und das gesamte gute Geschirr alleine spülen müssen, denn dem zweiten Mädchen war nicht gut gewesen. Eigentlich wollte sie nicht mehr zu Kaspar, aber sie hatte es ihm versprochen und wusste, er würde auf sie warten.
Unter dem Türspalt zu seinem Zimmer sah sie einen schwachen Lichtstrahl und trat leise ein.
»Hier, das wollte ich dir zeigen«, flüsterte er, nahm ihren Finger und führte ihn über eine Landkarte, die ausgebreitet auf seinem Bett lag. »Dort wirst du landen. In Swakopmund. Und genau da werde ich auf dich warten und dann schon wissen, wo das Land liegt –«, er blickte sie strahlend an, »unser Land, Frida.«
Aufgeregt wickelte er sich die blonde Haarsträhne um den Finger. Immer und immer wieder, bis sie sich wie eine Spirale hinter sein Ohr legte.
Diese Angewohnheit liebe ich an ihm, ging Frida flüchtig durch den Kopf, und sie setzte sich vorsichtig neben die Karte.
Das Kerzenlicht tanzte über ihren Köpfen und malte zitternde Schatten auf die Wand.
»Und was wolltest du mich Wichtiges fragen?«, lächelte Frida. Sie war müde, ja, aber das Ziel Kaspars und ihres, so nahe vor Augen, machte sie wach und aufgeregt, ließ sie spüren, dass mit ihnen etwas Wunderbares passierte.
»Wir können schon in Swakopmund heiraten, alle Schutztruppler1 dürfen das. Man hat es mir in Plön gesagt«, seine Stimme war jetzt heiser, »und ich wollte – möchte dich fragen –«, er nahm sie in den Arm, »Frida, ist es dir recht, wenn wir es auch machen, ich meine in der Stunde deiner Ankunft heiraten und dann sofort aufbrechen?«
1 Bezeichnung des vom deutschen Kaiser eingesetzten Militärs zum Schutz der deutschen Kaufleute in Deutsch-Südwestafrika
Frida schlang ihre Arme um ihn. »Alles ist mir recht, Kaspar, alles«, flüsterte sie.
Die Türe wurde aufgestoßen, und erschreckt wichen sie auseinander.
»Kann mir bitte einer sagen, was hier vor sich geht?«
Gefährlich leise drang die Stimme des Gutsherrn durch das Zimmer.
»Ich wollte Frida –«, Kaspar stammelte, faltete die Karte zusammen, blickte unsicher von seinem Vater auf das junge Mädchen, senkte dann den Blick, »– wollte ihr ein Buch geben, über afrikanische Pflanzen. Sie interessiert sich –«
»Still«, herrschte ihn der Mann an, »bleib auf deinem Zimmer, bis ich dich rufen lasse, und du, Magd –«, und zeigte dabei auf Frida, »kommst augenblicklich in mein Büro.«
Es graute, und im Osten hatte der Himmel bereits seinen bernsteinfarbenen Schimmer. Über den Strohdächern der armseligen Hauskaten stand Nebel und mit ihm vermengt der klebrige Dunst von Torf.
Frida kauerte am Hühnerstall ihrer Mutter, der dicht neben der Küchentüre angebracht war. Sie roch Speck und Kartoffel. Das Frühstück für ihren Vater, der gleich das Haus zur Arbeit verlassen würde. Erst dann würde sie zu ihrer Mutter gehen, sich in ihre Arme werfen können, versuchen, Verständnis zu finden, versuchen, Mitleid –
Der kleine Stoffsack lag in ihrem Schoß. Er hatte verhalten geklimpert, als er ihr zugeworfen wurde. »Das ist für dich«, hatte die Stimme verächtlich gesagt, »wenn ein Balg kommt. Aber das Beste ist, du lässt dich hier nicht mehr sehen.«
Und dabei hatte der Mann ein Auge zugekniffen. Wie ein Jäger, der das Gewehr anlegt, um ein Stück Wild zu töten.
Frida war kalt, sie konnte auch nicht mehr weinen, sie hatte es getan, die letzten zwei Stunden, nun war nichts mehr in ihr, alles leer, ausgebrannt. Sie legte den Kopf auf die Knie und schloss die Augen.
»Kind«, schrie die Mutter leise auf, »was machst du hier?«
Frida blickte auf, das Mieder zerrissen, das Gesicht verweint, der Rock blutig –
Die Frauen hüllten sich fester in ihre Umschlagtücher. Mit verschmutzten Schuhen saßen sie, die eilig Herbeigerufenen, am Tisch, und ihr muffiger Kleidergeruch machte die niedrige Stube noch stickiger, als sie schon war.
»Sie muss fort von hier«, sagte eine kalt.
»Es wird Ärger geben, wenn sie nicht geht. Sie bringt uns alle um Haus und Brot«, leise eine andere.
Ein milchsattes Kind schlief im Schoß seiner Mutter. »Dies ist von meinem Mann«, flüsterte die junge Frau, »was ist, wenn Frida –«
Eine alte Frau, in Lumpen gehüllt, kam durch die Türe gewankt. Weidenkörbe, Töpfe, Pfannen hatte sie um sich herumgeschlungen, und ein großer Kupferkessel hing, mit einem Strick befestigt, auf ihrem Rücken. Ineinandergehakte Mausefallen baumelten über beide Schultern, und Suppenkellen in verschiedenen Größen ragten aus der großen aufgenähten Tasche ihres Mantels.
»Eine Kelle für zwei Nächte mit Essen«, keuchte sie.
»Heute nicht«, schluchzte Bertha Koslowski und wollte sie aus der Haustüre schieben. Die Alte schien zu wissen, was vorgefallen war. Sie kannte sich aus bei den Armen, die den Reichen dienten.
»Ich könnte sie mitnehmen«, krächzte sie und hockte sich unaufgefordert zu den anderen Weibern.
»Es ist kein Recht«, weinte Bertha, »schon seit so vielen Jahren nicht mehr.«
Sie hatte sich wieder zu Frida auf die Bank gesetzt und beide Arme um sie geschlungen.
»Das Recht der ersten Nacht2, wer will sich dagegen auflehnen?«, sagte eine Dritte bitter. »Meiner Mutter ist es passiert und davor ihrer Mutter.«
2 Ein Gutsherr durfte bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedes Mädchen aus seiner Ortsherrschaft vor ihrer Heirat deflorieren.
Als die Frauen gegangen waren, saßen Mutter und Tochter noch lange Zeit eng umschlungen zusammen.
»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass in Amerika ein Automobilhersteller, ich glaube, er heißt Henry Ford, die Fließbandarbeit eingeführt hat«, flüsterte Frida plötzlich. »Er beteiligt sogar die Arbeiter am Gewinn. Der Mindestlohn für die Männer beträgt fünf Dollar die Stunde, der der Frauen zwei.« Sie schwieg einen Moment. »Ich könnte nach Amerika gehen –«
Wieder weinte Bertha unbeherrscht. »Dann verliere ich dich«, sagte sie erstickt und presste den Kopf ihrer Tochter an ihre Brust.
»Tust du das nicht in jedem Fall?«
Die Resignation ließ beide schweigen.
»Oder ich gehe nach Afrika, in die deutsche Kolonie – mein Gott, warum eigentlich nicht?« Selbst erstaunt über diesen Einfall löste sie sich aus den Armen ihrer Mutter.
»Dort wird wenigstens meine Sprache gesprochen.«
Sie biss sich auf die Lippe. »Hilfst du mir beim Vater?«
Bertha drückte ihrer Tochter die Hand.
Leo Koslowski saß gekrümmt am Tisch. Das breite slawische Gesicht mit den nah beieinanderstehenden Augen war seltsam verzerrt. Er hielt den Mund leicht geöffnet, so dass man die schwarzgraue Verfärbung am Zahnfleischrand sehen konnte. Dieses wie auch die fahle Haut gaben seinem Äußeren etwas Angeschlagenes, mehr noch, Krankes.
Schon mehr als zehn Jahre war er Bleidecker beim Herrn.
Man munkelte, dass die Arbeit mit diesem angeblich giftigen Metall krank machen soll, aber der Gutsherr wischte jeden Einwand beiseite, schlimmer noch, drohte jedem mit der Entlassung, der es wagen sollte, davon zu sprechen.
Die kleine Fabrik, in der Messer, Gabel, Löffel, überhaupt jedwedes Besteck aus Blei hergestellt und als Rohlinge zur Versilberung nach Berlin geschickt wurden, hatte seine Frau mit in die Ehe gebracht. Sie war die einzige Tochter ihrer Eltern gewesen und hatte nach deren Ableben das gesamte Anwesen geerbt, das um die hundert Kilometer westlich entfernt von Rupplin lag. Ihr Elternhaus mit den Ländereien hatte Konrad von Zoitzheim an einen Berliner Junker verkauft, sehr gut verkauft, aber die Fabrik im Ganzen abmontiert und am Ortsrand von Rupplin wieder aufbauen lassen.
Jeder Mann aus dem Ort arbeitete für ihn. Ab dem dreizehnten Lebensjahr auch deren Söhne, und natürlich die Frauen, die um Beschäftigung im Haus oder in der Landwirtschaft bettelten und dabei ihre Töchter nur gegen Kost in die dunklen Kellerräume verschacherten, damit sie dort die unzähligen Besteckteile zählten, in Papier wickelten und in die Versandkartons packten. Einmal hatte ein durchziehender Arbeiter aus Berlin von Fronarbeit und Selbstherrlichkeit des Gutsherrn3 gesprochen.
3 Erst 1927 wurden die Rechte der Gutsherren hinsichtlich staatsrechtlicher Obrigkeit reduziert bzw. außer Kraft gesetzt.
Man fand ihn zwei Tage später. Zusammengeschlagen und mehr tot als lebendig. Nur weil ihn der mitleidige Postkutscher aufgeladen und in der Krankenstube des übernächsten Ortes abgesetzt hatte, blieb er am Leben.
Gequält blickte Leo seine Tochter an. Sie war so ganz anders als die Töchter anderer Männer hier im Dorf. Aufsässig? Nein, nicht direkt, aber so wissend, so unbeirrbar. Sie sprach mit den Worten des Pfarrers, aber diese bekamen bei ihr einen anderen Sinn, und man dachte darüber nach – und das hatte die Herrschaft nicht gerne.
»Ja«, schluchzte Bertha und stellte sich an ihre Seite. »Es ist passiert –«
Leo ließ den Kopf hängen. Es lag ein solcher Schmerz in dieser Geste, dass sich Frida schuldig fühlte, schuldig für das, was ihr der Vater von Kaspar angetan hatte.
»Vater«, begann sie leise, »ich kann mit der Schande hier nicht leben. Ich werde nach Afrika gehen. Ich bitte dich um deinen Segen.«
Der Mann nickte, stand auf und schlug das Kreuzzeichen über ihren Kopf. Dann nahm er sie in die Arme. »Pass auf dich auf«, murmelte er in hartem Deutsch, dem immer noch der Klang seiner Muttersprache anhaftete.
Der Kutscher wollte sie bis nach Warlin mitnehmen. Ein Bruder ihrer Mutter würde sie dann nach Burg Stargard bringen, denn dort hatte sie sich bei der Behörde abzumelden. Erst wenn man es ihr brieflich gestattete, durfte sie das Land verlassen. Dann musste sie sehen, wie sie weiterkam. Nach Neubrandenburg, zum Varchentiner See, durch die Schweizer Heide, nach Schwerin bis nach Mölln. Dort gab es wieder einen Bruder ihrer Mutter, und der würde sie nach Wilhelmshaven zur Sammelstelle bringen.
Frida hievte sich hinten auf den Leiterwagen hoch und nahm von der Mutter den Leinensack mit ihrer Habe entgegen.
»Beug deinen Kopf«, sagte die Mutter und hängte ihr ein dünnes Kettchen mit einem Kreuz über. »Es ist von meiner Mutter, denke an mich, wenn du es berührst, an uns –«, verbesserte sie sich sofort und umschloss mit beiden Händen den Kopf ihrer Tochter. Sie war ruhig und beherrscht. »Sei mutig und wage etwas. Wage anders zu sein. Mir ist es nicht vergönnt gewesen«, drehte sich um und ging ins Haus zurück.
Frida atmete schwer. Es war der erste Abschied in ihrem Leben.
Über dem Gras der Weiden lag noch der nächtliche Tau. Die Pferde waren ausgeruht und begannen, sich in Bewegung zu setzen. In ihrem langsamen Trott sah Frida, wie sich erst das Haus ihrer Eltern, dann das Dorf und schließlich die ganze vertraute Umgebung von ihr entfernten. Ist es richtig, was ich tue? Sie fror und war mutlos.
Das Gefährt passierte eine Abzweigung, die man nehmen konnte, wenn man, vom Westen kommend, zum Gutshaus wollte, und mit Macht drängten sich die so mühsam zurückgedrängten Gefühle nach oben.
Nicht ein einziges Mal hat er versucht, mit mir zu sprechen. Nicht ein einziges Mal besaß ich diesen Wert für ihn. Und Scham darüber brannte auf ihrem Gesicht.
Plötzlich wurden sie von einem gewaltigen Schatten belegt, und ein seltsames Rauschen erfüllte die Luft. Aufgeregt tänzelten die Pferde an ihren Kandaren und schnaubten geräuschvoll durch ihre Nüstern. Mit einem Satz sprang der Kutscher von seinem Bock und kroch unter den Karren.
Frida schaute nach oben. Das graue Ungetüm stand jetzt direkt über ihr. Sie erkannte sofort, dass es das neue Luftschiff der Marine war. Es hatte vor einigen Wochen in der Zeitung gestanden, und es wurde dabei erwähnt, dass der Jungfernflug über Mecklenburg und Pommern gehen sollte.
Langsam glitt das Schiff über sie hinweg, und Frida schaute ihm nachdenklich nach, bis es den Horizont erreichte hatte, in sein Morgenrot eintauchte und dann verschwand.
Warum ausgerechnet jetzt und warum ausgerechnet hier?
Es kam ihr wie eine Verabschiedung von der alten Welt vor, und wenn es so war, gab es einen Hinweis, was sie in der neuen erwartete? Ihr Herz klopfte merkwürdig. Es wird schon klappen, da drüben in Afrika, dachte sie in plötzlicher Zuversicht. Immer und überall hat es einen Aufbruch zu einer neuen Zeit gegeben. Immer und überall haben Menschen gewagt und gewonnen. Einer von ihnen hat sogar dieses riesige Schiff erfunden, das fliegen kann. »Warum hast du Angst?«, rief sie dem Kutscher zu, der wieder mürrisch auf den Wagen stieg. »Jeder weiß doch, dass es ein Zeppelin ist, es stand in der Zeitung.«
Aber jetzt war sie es, die vom Wagen sprang. Rasch klaubte sie etwas Erde auf und legte sie in ein kleines Kästchen, das sie aus der Schürzentasche zog. Rasch erklomm sie wieder das Gefährt und ruckelte sich auf dem Hintersitz zurecht.
Der Mann suchte nach der Peitsche und sagte nichts.
»Fahr weiter«, bat sie versöhnlich, »wir sollten –«
»Kutscher, halt an«, hörte sie eine helle Stimme und drehte sich überrascht um.
Kaspar von Zoitzheim hielt ein Paket in den Händen, als er auf sie zutrat. Seine Augen flackerten, und sein Gesicht hatte rote Flecken.
»Ich hatte sechs Wochen verschärften Hausarrest, hier und auch in Plön. Deshalb konnte ich nicht kommen.«
»Ja«, sagte Frida.
Leise sprach Kaspar weiter. »Ich weiß es von Konrad, dass du nach Afrika gehst. Er hat beim Vater gelauscht, als deine Mutter bei ihm war und um deine Entlassung nachgesucht hat.« Er blickte sie an, und seine Augen waren groß und traurig. »Ich möchte dir etwas mitgeben, etwas, das dich dein ganzes Leben begleiten soll –«, und schlug das Papier zurück.
Es war die Familienbibel mit den ziselierten Beschlägen, die im Kaminzimmer ihren eigenen Tisch hatte, und in der alles schriftlich festgehalten war, jede Geburt und jeder Tod im Geschlecht derer von Zoitzheim –
»Was soll das?«, scharf kam ihre Frage. »Willst du, dass ich in der nächsten Stadt wegen Diebstahl festgehalten werde?«
»Sie ist ein Teil unseres Erbes, von Konrad und mir«, sagte Kaspar mit zitternder Stimme. »Konrad wollte sie mir überlassen, wenn ich nach Deutsch-Südwest gehe. Nun soll sie der Frau gehören, mit der ich mein Leben teilen wollte.« Nach einer Pause: »Bitte, Frida«, flüsterte er, »nimm sie. Verzeih meine Schwäche und verzeih meinem Vater, wenn du kannst.«
Er brach in Weinen aus. Ein fast achtzehnjähriger Junge, dem die Träume genommen wurden.
»Warum kommst du nicht mit, jetzt gleich – ?«
Es war mehr als eine Frage von Frida. Es war ihr Angebot für ein Vergessen und für einen gemeinsamen Neubeginn.
»Mein Vater, meine Mutter, die Leute –«
Frida griff nach dem Buch, drehte und wendete es. »Danke«, sagte sie schließlich, steckte es in ihr Bündel und senkte den Kopf. Mehr gab es nicht zu sagen. Sie wollte nicht mehr in sein totenblasses Gesicht sehen, wollte keine Erinnerung an seine Schwäche in die unbekannte Fremde mitnehmen. Sie würde ihre Kraft für andere Dinge brauchen.
Der Kutscher fuhr wieder an. Kerzengerade richtete sie sich auf und legte ihre Hände gefaltet in den Schoß.
Die Familienbibel derer von Zoitzheim, die Kette ihrer Mutter, eine Handvoll Ruppliner Erde und ein Säckchen mit Geld für ihr Schweigen, so verließ Frida Koslowski ihre Heimat, um nie wieder zurückzukommen.
»Was hast du?«, fragte Konrad von Zoitzheim in gefährlich leisem Ton.
»Ich habe Frida im Einverständnis mit meinem Bruder Konrad die Bibel unserer Familie geschenkt. Sie hätte uns nach deinem Tod sowieso gehört.«
Ruhig blickte der Sohn dem Vater in die Augen. »Und wenn du sie deswegen anhalten lässt, werde ich überall erzählen, was du ihr angetan hast. Im Dorf, beim Pastor, beim Bürgermeister, in Plön, überall. Und ich habe deine Tat auch schriftlich beim Advokaten hinterlegt.«
Kaspar drehte sich um und ließ seinen Vater stehen.
Immer und immer wieder wirbelten sich gegenseitig die Windböen hoch, drangen durch die belaubten Äste, fegten über die Kornfelder und ließen ihre Ähren tanzen. Eine von ihnen riss übermütig eine Kadettenkappe mit sich, die am Ufer gelegen haben musste.
Als der Schuss über den See hallte, stiegen Wildenten auf, und es begann stürmisch zu regnen.
2. Kapitel
Ungläubig um sich schauend, verließ Frida den Hauptbahnhof und bog in eine der großen Straßen ein.
Diese hohen Häuser, diese Ordnung und Sauberkeit in den breiten steinbefestigten Straßen. Sie bemerkte Geschäfte mit phantasievollen Dekorationen in ihren Auslagen. Cafés, die Tische und Stühle auf dem Trottoir unter Bäumen stehen hatten – und die vielen gut gekleideten Menschen, die sorglos, sogar jetzt noch in der neunten Stunde des Abends, durch die Straßen flanierten. Die faszinierenden Auswirkungen des elektrischen Lichts verwirrten sie. Riesige Reklametafeln mit großen Buchstaben und aufgemalten, meist lachenden Menschenköpfen, die ihr unbekannte Dinge anpriesen, hingen beleuchtet an den Hausfassaden. Wie konnte jemand, der aus Rupplin kam, wissen, dass es eine Stadt wie Hamburg gab.
Die Nacht verbrachte sie auf einer Parkbank an der Innenalster, weil sie das Geld für die Übernachtung im Schlafsaal sparen wollte. Es war Sommer, und gegen die Nachtkühle war ihr Umschlagtuch ausreichend.
Am nächsten Morgen holte sie sich zwei Rosinenbrötchen beim Bäcker und schlenderte langsam in Richtung der Behörde, wo sie sich melden sollte.
Der Zusammenbruch war plötzlich gekommen.
Stundenlang hatte sie mit anderen Frauen und Mädchen in den Gängen der Auswanderungsbehörde gestanden, dann auf ihrem Bündel gehockt und später in der Nacht zusammengekrümmt auf dem Boden gelegen, bis es gegen Mittag des zweiten Tages dem Mann mit dem strengen Gesicht gefiel, sie endlich in den Raum zu winken. Ein zweiter nahm ihr den Heimatschein des Großherzogtums Mecklenburg ab und begann, barsche Fragen nach ihrer Rechtschaffenheit zu stellen.
Frida schüttelte verwirrt den Kopf, was wollte er um Himmels willen von ihr? Wieder diese verdammte Obrigkeit.
Die Luft war verbraucht und stickig, sie fühlte einen nagenden Hunger, denn seit dem gestrigen Morgen hatte sie nichts mehr gegessen. Als sie den energischen Stempeldruck, den letzten und endgültigen, auf ihre Papiere niederfallen hörte, wurde ihr schwarz vor den Augen, und dann wusste sie nichts mehr.
Als Frida in der fremden Umgebung wach wurde, begriff sie den Verdacht, den sie schon seit einigen Tagen hatte.
»Gott im Himmel, was soll aus mir werden?«, murmelte sie und zog ihr Bündel an sich.
»Ruhig, ruhig, es ist alles in Ordnung«, hörte sie eine freundliche Stimme.
Eine Gestalt in weißer Schwesterntracht und mit einer Haube, die aussah wie eine weit geöffnete Tulpe kurz vor dem Verblühen, setzte sich zu ihr und nahm sie mütterlich in den Arm. Überrascht von dieser warmen Geste, fing Frida an zu zittern.
»Schsch, schsch«, murmelte die Frau und begann, sie in den Armen zu wiegen und ihr über das Haar zu streicheln. Fast wollte Frida den Kopf in ihren Schoß legen, wollte reden, von Kaspar, von seinem Vater, vom Abschied der Mutter, aber dann griff sie doch nur stumm nach dem Taschentuch, das ihr die Schwester reichte. Die Zeit des Jammerns musste vorbei sein, und eines Tages würde auch der Schmerz nachlassen. Es war eine neue Reife, die sie in den Armen dieser fremden Frau erfuhr.
Sie durfte die Nacht im Besucherzimmer des Altenheims für mittellose Seeleute bleiben, auch die nächsten beiden, auch die Badestube benutzen, und nicht nur das, sie wurde zusammen mit den Heimbewohnern verpflegt, und man bat um ihre Begleitung bei den täglichen Spaziergängen in den nahe gelegenen Wald.
»Wir könnten hier noch Hilfe gebrauchen«, sagte die Heimschwester einige Tage später.
»Der Lohn kommt pünktlich, denn er wird von der Stadt bezahlt und«, mitleidig blickte sie auf die schmale Gestalt vor sich, »dein Kind käme sicher zur Welt.«
»Danke für Ihre Güte und Hilfsbereitschaft«, flüsterte Frida, »aber ich muss weiter. Morgen legt das Schiff ab. Nach Afrika –«
»Welch weite unnötige Reise.« Verständnislos zupfte die Frau ihre Schürze zurecht. »Wo doch hier ein Auskommen für dich wäre.«
»Danke«, sagte Frida noch einmal, »wenn mich drüben keiner haben will, komme ich zurück. Zu Ihnen. Ganz bestimmt.«
Sie belegte ihre Worte mit einem schwachen Lächeln, knickste und verließ den Raum.
Die Entscheidung war gefallen, endgültig.
Der Weg zum Hafen hin war ihr bekannt, und sie ging ihn schnell, wollte sich nicht mehr aufhalten lassen.
Dichter feuchter Nebel hing in den Straßen des letzten Augusttages, und ein feiner Sprühregen rieselte unaufhörlich vom grauen Himmel. Es war zwar nicht kalt, aber die ungemütliche Feuchtigkeit legte sich auf alles und jeden.
Verschwommen sah Frida vom Pier aus die tausend Masten und Schornsteine der Segler und Dampfer. Vor dem Amerika-Kai lag die Pinasse, die sie und andere Frauen zu dem Schiff der Woermann-Linie4 bringen sollte.
4 Deutsche Dampfschiff-Gesellschaft, die das Recht besaß, in sechs Extrafahrten Auswanderer in die Kolonie zu bringen.
Ein Matrose, alleine auf dem Deck eines ukrainischen Schiffes stehend, pfiff bewundernd zu ihr herunter. Als sie zu ihm aufblickte, schob er seine Kappe nach hinten, und Frida sah bei dieser Bewegung, dass seine Unterarme voller Tätowierungen in chinesisch anmutenden Kreisen und Schlaufen waren. Sie lächelte, und der Mann winkte lächelnd zurück.
Eine Glocke läutete zum Einsteigen. Frida betrat das schwankende Boot, gurtete ihr Bündel fest an sich, und als die Prinzessin vor ihr lag, betrat sie entschlossen das Fallreep, ging auf den Stewart zu und fragte nach ihrer Unterkunft.
Es war früher Morgen. Sie sah es an dem grauen Licht, das den tanzenden Wasserspiegel vor dem Bullauge beschien. Leise, um die anderen drei Frauen nicht zu stören, erhob sich Frida und ging nach draußen. Es gab nur ein Bad für die Passagiere der letzten Klasse, am Ende der Unterkünfte gelegen. Sie hatte es sich angewöhnt, so rechtzeitig aufzustehen, dass sie vor allen anderen ihre Toilette verrichten – und auch ihre morgendliche Übelkeit besser bewältigen konnte.
Es würde wieder ein heißer Tag werden, das fühlte sie. Seit sie den Äquator hinter sich gelassen hatten, zitterte die Luft in der Hitze, jeden Tag ein wenig mehr.
Frida stellte sich an die Reling und wartete auf den Sonnenaufgang. Es war ihr ureigenstes Erlebnis, jeden Tag das Auftauchen der Sonne zu erwarten, jeden Tag mit einem stummen Wunsch auf den Lippen: Lieber Gott, mach, dass es gut geht.
»Hast du gestern Abend kurz vor der Dunkelheit noch Fatimas Hand gesehen?«, fragte plötzlich eine Stimme neben ihr. Sie klang fröhlich und aufgeregt. »Diese geöffnete Hand, die den Himmel stützt?«
»Nein«, sagte Frida und betrachtete den jungen Mann, der sich neben sie gestellt hatte. »Ich meine, es hat mich keiner darauf aufmerksam gemacht.«
»Wir ankern heute in Port Alexander. Für mich ist es der schönste Hafen der südlichen Westküste von Afrika. Er ist halbkreisförmig angelegt und läuft zu beiden Seiten in schmale Landzungen aus. Tausende Flamingos säumen seine Raine, wie Blumen auf einer Wiese in meinem verschlafenen Worpswede.«
»Sie haben eine rosarote Farbe, nicht wahr?«, fragte Frida den jungen Mann mit den stoppeligen Haaren.
Er ging auf ihre Frage nicht ein. »Wir bleiben hier einen Tag vor Anker, also könnten wir zusammen an Land gehen. Die Einheimischen sollen wunderbare Seidentücher für ganz wenig Geld verkaufen, auch Körbe mit seltenen Früchten.«
Übermütig klatschte er mit der Hand gegen die Stange und beugte sich tief über das Geländer. »Komm mit, sei neugierig, hier ist alles anders als in unserem verstaubten Deutschland.«
Sie liefen den Landungssteg hinunter. Unten nahm der Mann Fridas Hand.
»Ich bin Gustav Becker aus Worpswede und will nicht, dass wir uns verlieren«, meinte er und zog sie durch die Marktstände, die unmittelbar hinter der Kaimauer aufgestellt waren.
Frida musste lachen. Er war so anders als alle jungen Männer, die sie kannte. So sorglos und unbekümmert.
Es wimmelte von Menschen, die in leuchtenden Farben gekleidet waren. Viele trugen Körbe auf ihren Köpfen, aber sie konnte nicht erkennen, was in ihnen lag. Hinter ihnen sprangen nackte Kinder von der Kaimauer ins Hafenbecken. Schrien oder jubelten sie? Alles war für sie fremd und anmutig zugleich.
Scheu drückte sie Gustav die Hand. »Danke, dass du mich mitgenommen hast«, sagte sie.
Sie saßen unter einem Olivenbaum. Der Wirt hatte vor ihnen einen Brotkorb hingestellt, dazu einen Teller mit Oliven und hartem Käse.
»Wie bereits gesagt, ich komme aus Worpswede. Als ich ein kleiner Junge war, wollte ich erst Kutscher, dann später Briefträger werden, beides gefiel meiner Mutter sehr. Aber als ich groß war, wollte ich nach Amerika. Das gefiel ihr nicht, und als ich eines Tages sagte, ich wolle Seemann werden, fing sie an zu weinen.«
Gustav grinste und füllte ihre Gläser mit Wein nach. »Bei uns in der Familie sind alle Männer zur See gefahren, zuerst, aber dann sind sie doch alle wiedergekommen, weil sie von einer Deern mit gebratenem Speck und Essigpflaumen zurück ins Haus gelockt wurden. Nichts für mich, ich will in der großen Welt bleiben. Habe mich als Schutztruppler des Kaisers verpflichtet, schon vor zwei Jahren.«
Nachdenklich sah er zur Bucht hinunter.
»Und wenn ich hundert Jahre alt werde, nie werde ich vergessen, wie man damals mich und andere zum Pier brachte. Man trug unsere Gewehre, warf Blumen auf uns, wünschte uns Glück. Es waren Unmengen von Menschen, die meisten kannte ich gar nicht, aber sie sprachen mit mir – und trotzdem, hier und heute, nach meinen ersten Heimaturlaub, sage ich dir etwas, nie mehr Deutschland. Dieser ewige Regen, die Enge, das Getue unter den Menschen. Nur einer ist oben, die anderen krabbeln sich unten tot.«
Gustav stemmte lässig die Beine gegen den Baumstamm und verschränkte die Arme unter dem Kopf. »Frida Koslowski aus Rupplin, jetzt halte ich meinen Mund bis auf die Frage, was hast du mit deinem Leben vor?«
Frida zögerte etwas mit der Antwort. »Ich möchte nach Deutsch-Südwestafrika und dort auch bleiben, wenn es geht –«
»Soll Zukunft haben –«, nachdenklich betrachtete sie der junge Mann, »ich will später dort Land kaufen und farmen. Hast du Geld?«
»Nein«, sagte Frieda.
»Schade«, sagte Gustav, »wenn du es gehabt hättest, hätte ich mich noch heute mit dir vom Kapitän trauen lassen.«
Frida lachte und stand auf.
»Komm«, rief sie, »lass uns zum Strand gehen, oder vielleicht noch besser, unter Menschen, drüben bei den Häusern. Es ist so ein schöner Tag.«
Die Rüschen ihres Kleides begannen im plötzlich aufkommenden Wind zu flattern. Alles roch nach Salz – und Freiheit.
»Spürst du es schon?« Gustav drehte Frida nach allen Himmelsrichtungen.
Wunderlich fahl, wie helle Spinnweben, lag der Mondschein über dem ruhigen Meer, wirr und unruhig funkelten die fremden Sterne.
»Das Land, meine ich. Morgen früh erreichen wir Swakopmund«, sagte er, und wirklich, Frida meinte, den Geruch von gärendem Seetang zu riechen, den der Wind in unwirschen Atemstößen über das Meer an sie heranzutragen schien.
Gustav und sie waren in den letzten beiden Wochen Freunde geworden.
Fast zu jeder Zeit saßen sie zusammen und trennten sich erst am späten Abend vor ihrer Koje, wo er ihr einen verlegenen Gute-Nacht-Kuss gab. Am Morgen erwartete er sie an dem einzigen Rettungsboot für die dritte Klasse und hatte bereits für sie und sich das Frühstück geholt, das sie an einer Stelle einnahmen, wo sie alleine waren.
Unentwegt redeten sie miteinander, das heißt, Gustav redete, und Frida hörte zu. Seine Worte waren wie Bilder aus einer anderen Welt.
Er sprach von wilden Menschenstämmen, von Schlangen, Raubtieren, vertrockneten Brunnen und mutwillig zerstörten Wasserpumpen.
»Vor allem musst du wachsam sein, immer«, mahnte Gustav, »und wenn du das Böse kommen siehst, geh sofort zwei Schritte nach vorne und schreie, das verblüfft jeden Gegner, ob Mensch oder Tier, und du kannst diesen kleinen Zeitvorteil für dich nützen.«
Er biss herzhaft in den Apfel, den sie ihm reichte.
»Weil zwei Pferdetransporte auf dem Seeweg untergingen, sind wir im ersten Jahr auf Kamelen geritten.« Er lachte. »Es gibt in Südwest einen Baum, dem wir immer ausweichen mussten, weil diese störrischen Viecher so gierig nach seinen Schoten waren, dass sie einfach stehen blieben, ihre riesigen Köpfe in die Kronen hängten und gefressen, gefressen und nochmals gefressen haben. Dagegen kannst du nichts machen, weder mit einer Peitsche noch mit Zureden, musst einfach warten. Kameldornbäume haben wir die verlaubten Ungetüme genannt. Wenn ein Kamerad ›Achtung Kameldorn‹ brüllte, wussten wir sofort Bescheid. Du erkennst sie leicht an den knorrigen grauen Stämmen.«
Gustav warf den Apfelbutzen in hohem Bogen ins Meer. »Weißt du, dass es auch in der Namib5 Wasser gibt? Man muss nur die Zeichen kennen. Die Buschmannsleute wissen darum, aber es ist gefährlich, sie danach zu fragen. Sie können dir eine falsche Auskunft geben, die du dann mit dem Leben bezahlen musst.«
5 Wüste in Namibia
»Gibt es viele Neger in Deutsch-Südwest?«, hatte Frida einmal zaghaft gefragt, und Gustav hatte gelacht.
»Viele? So viele, wie Sand an der Küste liegt. Zum Beispiel die Ovambos, sie sind stark und bei strenger Leitung gut für grobe Arbeit zu gebrauchen, Hereros sind stolz, verschlagen und meinen, sie sind die Herren der Welt, die Frauen der Damara lassen sich gut im Haus einsetzen, während es ihre Männer besonders gut mit Tieren können. Und dann gibt es eben den wilden Buschmann, der eigentliche Ureinwohner des südlichen Afrika. Meiner Meinung nach liegt er allerdings von der Intelligenz her Generationen hinter den anderen Stämmen zurück. Aber er weiß um Dinge, die uns verloren gegangen sind. Einmal hatten wir einen für einen Erkundungsritt in den Süden als Fährtenleser gewinnen können, und als uns am achten Tag das Essen ausging, hat er uns das Fruchtfleisch einer Kakteenpflanze6 vorgekaut, weil ein Wirkstoff darin erfolgreich den Hunger unterdrückt. Man darf es aber nur im Beisein von Kameraden essen, weil einem sonst die eigene Erschöpfung entgeht und das wiederum –«
6 Hoodia-Kaktus
Und dann hatte Gustav sie ruhig angesehen und gesagt: »Mädchen aus Rupplin, ich gebe dir einen Rat, den ich selbst von einem alten Afrikaner erhalten habe. Mach dir nie etwas vor, schon gar nicht in diesem Land. Hier bist du nur auf dich gestellt, ganz alleine auf dich. Also bilde dir über alles und jeden ein eigenes Urteil und handle danach –«, und nach einer Pause, »vor allem hüte dich davor, des Nachts in ein Feuer zu starren. Wenn die Gefahr kommt, brauchen die Augen zu lange, ehe sie sich wieder an die Dunkelheit gewöhnt haben, und das Böse bekommt die Chance, dich fertigzumachen.«
Er hatte den Kopf von ihr abgewandt und leise in die Dunkelheit hinein weitergesprochen: »Es sind viele von uns umgekommen, zu viele. Die Schwarzen machten keine Gefangenen – wir auch nicht, und wenn sie die Uniform eines getöteten Kameraden angezogen hatten, um uns zu täuschen, konnten wir sie nur an den verdammten schwarzen Gesichtern erkennen, und dann mussten wir zielen und schießen, zielen und schießen – immer auf das Tuch eines getöteten Freundes –«
»Alles kann tödlich ausgehen«, hatte Frida daraufhin gemurmelt und mitfühlend ihren Arm um ihn gelegt.
Mehr als alles andere liebte er es aber, mit ihr über die Sterne zu sprechen. Einmal führte er sanft ihren Kopf nach oben. »Dein bisheriger Himmel liegt nördlich vom Äquator, hier im Süden bekommen wir andere Bilder gezeigt. Schau mal dort, zum Beispiel, das Kreuz des Südens, siehst du es? Es ist das wichtigste Sternbild für die Seefahrer, aber auch für uns Soldaten, wenn wir im dichten Busch sind. Du kannst es an den vier großen Sternen erkennen, die es rhombenförmig erscheinen lassen, zusammen mit dem kleinen schwachen Lichtpunkt, der östlich etwas versetzt zwischen dem oberen und unteren Stern liegt.«
Zwei Tage vor der errechneten Ankunft klopfte er am Morgen stürmisch an ihre Türe.
»Komm«, sagte er, »ich will dir etwas zeigen.«
Sie hasteten auf die andere Schiffsseite, und Gustav zeigte ihr in der Ferne einen fahlen Streifen Land. »Wir fahren schon seit Stunden parallel zum Festland deiner neuen Heimat«, sagte er. »Allerdings ist das der tödliche Teil von Deutsch-Südwestafrika. Wenn hier Kähne im Sturm kentern und du erreichst wirklich als Schiffbrüchiger das Ufer, so wirst du in der wasserlosen Einöde gnadenlos verdursten. Man nennt diesen Streifen skeletoncoast. Die Portugiesen haben den oberen Teil als Sand der Hölle bezeichnet und so in den Karten vermerkt. Dort endet wirklich alles Leben. Selbst die Kaffer7 oben am Kunene8 wagen es nicht, dieses Gebiet zu betreten.«
Frida blinzelte gegen die gerade aufgegangene Sonne und atmete tief die warme Luft ein.
»Schon wieder etwas, worauf ich achten muss«, sagte sie.
Schweigend standen sie in der letzten Nacht zusammen, und Frida spürte an ihm eine merkwürdige Nervosität. Gustav räusperte sich und griff nach ihrer Hand. »Wir sollten uns wünschen, dass das Wetter morgen gut ist.«
»Warum extra wünschen, wir sind in Afrika, hier ist doch immer schönes Wetter«, meinte sie vorsichtig.
Gustav griff nach ihren Schultern. »Mädchen, ich kann mich jetzt nicht mehr um dich kümmern. Der Kapitän braucht jeden Mann –«, er blickte etwas besorgt, »eine Landung in Swakopmund ist mit das Schwierigste für Schiff und Mannschaft auf See. Wir sollten schon heute Abschied nehmen, denn wenn ich an Land bin, muss ich sofort zu meiner Einheit. Was ich dir sagen will, wenn du in Not bist und mich brauchst, frag einfach in der Kommandantur in Windhoek nach Gustav Becker.«
Er lächelte sie an, fast zärtlich. »Schade, ich glaube, wir hätten gut zusammengepasst. Und noch was, miin Deern, wenn du mal nicht weiterweißt, brauchst du nur in die mondhelle Wüste hinauszufahren, dir wird dort eine heilende Macht begegnen –«
»Danke, Gustav«, sagte Frida und drückte seine Hand.
Man hatte die Passagiere der letzten Klasse angewiesen, sich mit ihren Bündeln auf das Deck zu stellen und weitere Anweisungen abzuwarten. Gegenseitig festhalten sollten sie sich und nicht aus den Augen lassen. Ging jemand über Bord, war eine Rettung nicht möglich, wurde ihnen gesagt.
Die Nebelbank war dicht, und es war Frida unheimlich, wie das Schiff unbeirrt hineinstieß. Herangeeilte Wolken zerfaserten sich, rissen das Grau auseinander, und von einem auf den anderen Moment fielen stechende Sonnenstrahlen senkrecht auf sie herab. Ganz in der Ferne konnte sie Land und darauf einige barackenähnliche Gebäude ausmachen. Krampfhaft hielt sie sich an dem Gestänge fest, denn die See war unruhig. Auch lag eine eigenartige Spannung in der Luft. Hektisch und nervös lief die Mannschaft über das Schiff, und aus dem Sprachtrichter schallten verzerrt die Befehle des Kapitäns. Das Schiff trieb stampfend und keuchend auf eine eiserne Pionierbrücke zu. Neuer Nebel hüllte alle und alles wieder ein, erschwerte den Atem, durchnässte die Kleidung.
»Frauen und Kinder zuerst«, bellte es plötzlich durch das Grau.
Angstvoll pressten sich die Frauen zu einem Kreis zusammen, die Kinder innen, wie es Elefantenkühe bei Gefahr taten.
Zwei Matrosen stürmten auf sie zu. »Schnell, schnell«, schrien sie und zerrten einen mannshohen Korb auf die Schiffsplanke, der an einem plötzlich auftauchenden Arm eines riesigen Kranes hing. Frida war die Erste, die in die schmale Öffnung hineingestoßen wurde, eine junge Frau mit einem Kind an der Hand stolperte ihr nach, andere Frauen folgten, angstvoll schreiend.
Der Korb wurde von einer Kette hochgezogen. Losgelöst vom Boden schaukelte er durch die Luft, wütend, wollte sich losreißen, dem Schwung der Winde folgen. Die Menschen in ihm fielen hin, aufeinander, durcheinander. Jetzt schrie auch Frida, versuchte sich an einer Geflechtswulst festzukrallen. Aber dann sah sie, dass das Kind fast draußen hing. Mit der letzten Kraft, die sie noch besaß, zog sie es an der Kleidung zurück und drückte es an sich. Plötzlich ein Aufprall, Hände griffen an ihr, zogen sie heraus, die Bündel wurden nachgeworfen, der Korb wieder hochgezogen.
Hilflos lagen sie auf dem Boden einer Barkasse. Gewaltige Brecher krachten gegen die Planken. Vier Männer saßen an den Rudern, sie hatten verbissene Gesichter, versuchten dem Boot in dem Gewirr der sich überschlagenden Wogen Balance zu geben – erneut schwankte der Korb über ihren Köpfen, spuckte Menschen aus, raffte sich taumelnd hoch, um die nächsten aufzunehmen – bis das Boot voll war.
Nun ruderten die Männer in Richtung Küste, aber das Meer grollte, wollte nicht loslassen, wollte Beute machen, riss den Kahn wieder zurück, ließ ihn auf den Wellen tanzen wie einen Derwisch.
Ich werde sterben, dachte Frida und schloss die Augen. Herr im Himmel, dein Wille geschehe. Sie spürte ein Knirschen unter sich, es wurde an ihr gezerrt und gezogen, feuchter Sand klebte an ihrem Gesicht, Schreie, Flüche, man klopfte ihr auf die Wangen.
»Kopf hoch, es ist vorüber, du musst aber sofort zur Zollstation, da hinten. Danach kannst du dich ausruhen.«
Gehorsam taumelte Frida in die Richtung, die ihr befohlen wurde.
Sie passierte junge blasse Männer mit Tornistern und Schlafdecken auf ihren Rücken, Gewehre über den Schultern, Patronengurte, Feldflaschen und Brotbeuteln am Riemen, die mit verschreckten Augen vor einem grimmig aussehenden Korporal standen.
Frida drückte sich mit anderen an ihnen vorbei, in das kleine gelbe Gebäude hinein. »Auspacken«, befahl der Mann, und sie stülpte mit zitternden Händen den Inhalt ihres Bündels auf den Tisch.
»Einpacken.«
Wieder dieser Befehlston.
Man drückte ihr einen Schein in die Hand, und einer schob sie wieder zur Türe hinaus.
Die Männer, denen sie auswich, wirkten in den grünen Khakistoffen wie uniformiert gekleidet, sie waren jung, ja, aber mit seltsam harten Augen, die sie abschätzend betrachteten. Wie ein Rind auf dem Viehmarkt in Rupplin, ging es Frida flüchtig durch den Kopf.
Klobige Hufe, höckerartige hohe Widerriste, große gebogene Hörner an kleinen Köpfen, aus denen tückische Augen quollen. Es war ein langes Ochsengespann, das sich ihr entgegenstellte. Frida stolperte dagegen, eine Hand riss sie am Arm zurück. Sie war dunkel. Erschreckt erkannte sie, dass es ein Neger war, der mit anderen neben den großen Holzrädern herlief – und er war der erste, den sie in ihrem Leben zu sehen bekam. Die Augen der Männer waren staubverkrustet, wie auch ihre Kleidung. In seltsamer Sprache schrien sie auf die Tiere ein, Peitschen, die sie mit beiden Händen umfassten, knallten in der Luft.
Ich muss mich irgendwo hinsetzen, besser hinlegen, dachte Frida verzweifelt, diese gottverdammte Last in mir, warum, Herr im Himmel, warum ausgerechnet ich – ?
Ihr war schlecht, sie übergab sich, schleppte sich an einen Pfahl, umklammerte ihn, sank an ihm zu Boden, aber in der letzten Sekunde vor der Ohnmacht erfasste sie die übergroßen Buchstaben auf der montierten Eisenplatte: Deutsches Schutzgebiet Südwest-Afrika.
3. Kapitel
Sie spürte die warmen Sonnenstrahlen auf dem Rücken, auch die lästige Fliege, die über ihr Gesicht huschte.
Nun ganz wach geworden, setzte sie sich auf und blickte erstaunt auf die brandrote Sonne vor sich, die wie ein praller Ball nur noch einige wenige Zentimeter über dem Meereshorizont hing. Auf ihrem Rock entdeckte sie einen Käfer, sie schnippte ihn weg und schlang ihre Arme um die angezogenen Beine.
Es herrschte eine vollkommene Ruhe. Die Hektik des Vormittags war verschwunden, keine Wagen und Tiere standen mehr im Sand, auch Menschen waren nicht zu sehen.
Sie hatte neben einem Knäuel von Seetang gelegen, einige grüne Fäden hatten sich in ihrem Haar verfangen. Frida schüttelte sie heraus und legte nachdenklich den Kopf auf die Knie. Die tote Ratte bemerkte sie erst auf den zweiten Blick. Voller Ekel schlug sie eine Hand vor den Mund, als sie sah, wie aus deren Fleisch ein Heer von Maden kroch und blindlings über sich und ihre Beute herfielen.
»Auch das ist Afrika«, ertönte eine Stimme. Sie drehte sich erschrocken um.
Der junge Mann saß mit gekreuzten Beinen im Sand und beobachtete sie aufmerksam.
»Wenn hier etwas zu Tode kommt, bleibt es nur für eine kurze Zeit ein Kadaver. Gestatten Sie, mein Name ist Fritz Zabel, ich habe Ihren Schlaf bewacht.«
Sein breitkrempiger Hut war an einer Seite hochgeschlagen, so dass sein sonnenverwittertes Gesicht halb im Schatten lag, was in seltsamem Kontrast zu seinen blonden Haaren stand. »Ich bin zu spät gekommen«, fuhr er sachlich fort, »kam nicht von der Farm los. Und warum hat man Sie nicht genommen?«
»Mir war schlecht von der Landung, ich habe den ganzen Nachmittag verschlafen.«
In Fridas Antwort lag eine Hilflosigkeit, die ihr unangenehm war.
»Also sind Sie gar nicht auf dem Markt gewesen?« Der Mann betrachtete sie etwas ungläubig, »ich meine, es hat Sie keiner gesehen?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Sein Ton war jetzt ungeduldig. »Wenn ein Schiff aus der Heimat anlegt, wird jeder Ankömmling nach dem Wert seiner Arbeitskraft betrachtet. Wir brauchen hier jede Hand –«, er klopfte ungeduldig mit der Reitgerte gegen seine Schaftstiefel, »und jede Frau«, setzte er murmelnd hinzu.
»Nun, wenn das so ist – wann ist denn der nächste Markt, ich meine, damit ich mich dort bewerben kann.«
Frida klopfte das Herz bei dem Gedanken, durch ihren ungewollten Schlaf etwas Entscheidendes verpasst zu haben.
Der Mann betrachtete sie gleichgültig, so, als wüsste er um eine ablehnende Antwort im Voraus.
»Sie könnten zum Beispiel mit mir kommen. Heute schon. Jetzt gleich. Ich brauche eine Frau im Haus.«
Wieder schlug er mit der Gerte gegen seine Stiefel.
»Aber mein Zuhause ist sehr einsam, ich habe erst vor einem Jahr mit dem Farmen angefangen. Kost und Logis frei und jeden Monat ein Taschengeld.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Nein.«
Frida biss sich auf die Lippen. Sie hatte gefragt wie ein Dienstmädchen, und sie wollte es doch nie mehr sein. Arbeiten gegen Lohn ja, aber nicht mehr dienen.
»Ich weiß nicht«, meinte sie schließlich, »ist so etwas hier in Südwest möglich? Was werden die Leute sagen?«
»Welche Leute?«, fragte der Mann und stand auf. Er war schlank und hochgewachsen.
Frida schwieg mit gesenktem Kopf. Als sie zu ihm aufblickte, war die Sonne endgültig untergegangen. Seine Gestalt hob sich dunkel gegen den rot leuchtenden Horizont ab, und sie meinte zu sehen, dass seine Hände in den Hosentaschen zu Fäusten geballt waren.
»Ich heiße Frida Koslowski und bekomme ein Kind«, sagte sie in die Stille hinein.
War sie verrückt, so etwas einem fremden Mann zu sagen? Er soll es wissen, wenn er mich haben will, denn es ist die Wahrheit, dachte sie mit einem plötzlichen inneren Trotz.
Der Mann trat er einige Schritte auf Frida zu und betrachtete sie ruhig.
»Jeden Morgen, wenn in Afrika die Sonne aufgeht, wacht die Gazelle auf. Sie weiß, sie muss heute schneller laufen als der Löwe, wenn sie nicht gefressen werden will. Jeden Morgen wird auch der Löwe wach. Er weiß, er muss heute schneller als die langsamste Gazelle sein, wenn er nicht verhungern will. Was folgt daraus? Es ist eigentlich egal, ob du ein Löwe oder eine Gazelle bist. Wenn über der Steppe die Sonne aufgeht, musst du rennen. Und genau das sind die Gesetze hier in Afrika.«
Dann ließ er sich neben Frida nieder und griff nach ihrer Hand.
»Sieh mich an«, sagte er leise, »ich habe unversehrte Beine. Und Hände, die zupacken können. Einen Kopf, der klar ist, und trotzdem bin ich ein Krüppel –«, seine Stimme wurde bitter, »ich bin im Krieg gegen die Hereros verwundet worden. Ich werde nie ein eigenes Kind haben können. Frida Koslowski. Ich bin impotent, verdammt impotent.«
Frida betrachtete ihn verwirrt.
»Ich sage es dir nur einmal. Wenn du glaubst, damit leben zu können, ich würde den Boden küssen, den du berührst, ich würde dich beschützen, vor wem und vor was auch immer, ich würde für dich morden, ohne zu fragen, warum, und wenn du es erlaubst, ich würde für dich mein Leben lassen, wenn du und dein Kind meine Familie werdet.«
Wie mit einem Federstrich war jetzt die Dunkelheit über sie hereingebrochen und mit ihr eine feuchte Kühle.
Frida begann zu frösteln. Vorsichtig beugte sie sich vor, um im Beutel nach dem Umschlagtuch zu suchen. Nur mit einer Hand, die andere ließ sie bei dem Mann und seinen Worten, die sie rührten. Merkwürdigerweise verspürte sie keine Angst. Trotz der Dunkelheit, trotz der Fremdheit dieses Landes.
»Ich habe das Kind von einem Mann empfangen, der mir Gewalt antat«, sagte sie leise. »Es war der Vater des Mannes, mit dem ich hier in Südwest ein Leben aufbauen wollte.«
Er wandte sein Gesicht ab. »Es kostet Kraft, niemals zu verzeihen, so wie es Kraft verlangt zu hassen.«
Sie schwiegen. Frida sah, wie der Mond aus der Finsternis heraus geboren wurde und in geisterhaftem Glanz am Himmel emporstieg. Rasch und ohne innezuhalten. Soweit sie sehen konnte, schluckte sein Licht jede Farbe, und in der Luftspiegelung seines Lichtes hoben sich die Konturen der niedrigen Swakopmunder Häuser wie auch ihre Schatten vom Himmel ab, Tuschezeichnungen ähnlich, wie sie der alte Pfarrer in Rupplin gefertigt hatte.
»Auf der Überfahrt habe ich gelernt, den Stern des Südens zu erkennen«, sagte sie leise, »und dass es hier andere Sternzeichen gibt als drüben in Deutschland. Aber trotzdem sehe ich hier den Großen Wagen –«
»Die Schwarzen nennen dieses Sternbild die große Kamelstute und ihr Fohlen. Beide wandern über die Himmelsmitte und tragen das Schicksal der Welt. Die Legende sagt, wenn sich das Fohlen von der Kamelstute trennt, erlöschen alle Sternbilder. Dann naht das Ende aller Zeiten.«
Er berührte ihr Haar, umfasste den geflochtenen Zopf, glitt mit der Hand über ihren Rücken.
»Ich werde dich nie wie ein Mann lieben können, aber meine Arme werden dich immer voller Zärtlichkeit halten, und meine Seele wäre bereit, sich mit deiner zu verbinden. Entscheide also du.«
»Nur der erste Bewohner prägt das Haus.«
»Du, ich und unser Kind wären die ersten Bewohner.«
»Hat deine Farm einen Namen?«
»Nein. Wirst du ihr einen geben?«
Frida holte tief Luft und legte instinktiv die Hand auf ihren Leib. »Ich will mit dir gehen, weil ich glaube, dass du gut zu uns sein wirst.«
Fritz hatte seinen sechsspännigen Ochsenkarren vor der Stadt halten und rasten lassen. Als er mit Frida auf das Gespann zutrat, sprang ein Schwarzer sofort wachsam auf.
»Alles in Ordnung, Mister«, murmelte er und betrachtete Frida neugierig.
»Danke, Erasmus, Missis wird hier schlafen«, sagte Fritz kurz. Er zerrte einen Schlafsack aus dem Dunkel hervor und wandte sich an Frida. »Ich habe jetzt nur Brot, Käse und Wasser für dich, aber morgen wird alles anders.«
Neugierig betrachtete Frida das Gespann, sah die vielen Kisten und Kästen, die Wasserfässer und die beiden dreibeinigen Eisentöpfe, die an der Stange hingen, aber Fritz zog sie bestimmt durch die Dunkelheit zum Schlafplatz unter dem Karren.
Man erlaubte ihnen am nächsten Tag zu heiraten, in dem hübschen Gebäude, das in hellgelber Farbe gestrichen war.
Ein schweres Buch mit dem kaiserlichen Wappen auf dem Einband lag aufgeschlagen vor ihnen, und befangen setzten sie ihre Unterschriften an die Stelle, die ihnen befohlen wurde. In wuchtiger Härte wurde ihr Bund mit einem Stempel besiegelt. Fritz Zabel stand zwar nicht mehr in den Diensten des Kaisers, aber wenn es einem Farmer gelang, eine Frau zu überreden, ihm in die Einsamkeit und Härte eines Landlebens zu folgen, wollte man der Schicklichkeit hinsichtlich eines geordneten Standes keine Schwierigkeiten in den Weg legen. Mit einem Knall schloss der Beamte das Buch und wünschte ihnen lächelnd Glück und Erfolg.
Frida zitterte ein wenig, als sie aus ihrem Beutel die alte Bibel derer von Zoitzheim hervorholte. Säuberlich strich sie diesen Namen aus, aber so, dass er noch lesbar war, und ersetzte ihn durch: Fritz und Frida Zabel, Deutsch-Südwestafrika.
Für den Bruchteil einer Sekunde erschien ihr ein Gesicht. Es gehörte zu einem Menschen, mit dem sie hier in Deutsch-Südwest ein gemeinsames Leben beginnen wollte.
Aber das war Millionen von Jahren her. Jetzt war sie Frau Fritz Zabel.
»Bitte«, sagte sie zu dem Beamten, »bestätigen Sie in unserer Familienbibel, dass wir hier und heute geheiratet haben.«
Den Nachmittag schlenderten sie durch die Stadt. Fritz zeigte Frida den Bahnhof.
»Schau«, sagte er, »die Bahn fährt schon bis Tsumeb. Ich habe die Arbeit und die Arbeiter noch bis vor zwei Jahren mit anderen Kameraden beschützt. Meistens vor den Buschmannsleuten, die nur in der Nacht ihren Angriff wagten, hinterhältig, sage ich dir, aber wir haben sie immer verjagen können.« Er räusperte sich. »Die römisch-katholische Kirche in Tsumeb wird am Heiligen Abend eingesegnet –«
»Ich bin evangelisch«, unterbrach sie ihn.
Sie gingen weiter durch eine neu angelegte Straße mit den festen Steinhäusern und Vorgärten, wie sie Frida auch aus Deutschland kannte. Aber hier besitzen sie eine eigene, eigentümliche Schönheit, befand sie. Vielleicht durch die geschwungenen Hausfassaden, die in weißer, gelber und blauer Farbe abgesetzt sind. Das gibt es bei uns nicht, gab es nicht, korrigierte sie sich sofort. Interessiert betrachtete sie auch den Fries eines anderen Gebäudes, auf dem Glockenblumen modelliert waren, wie auch die Spitzdächer und Rundbögen der angrenzenden Häuser.
»Store ist ein Geschäft«, belehrte sie Fritz, als sie auf ein bemaltes Schild mit diesen Buchstaben schaute. »Warte hier einen Moment auf mich«, bat er, »ich muss nur schnell ins Woermann-Haus gehen und nach den Shell-Kisten9 fragen. Erasmus kann sie dann morgen abholen.«
9 Aus den Holzleisten wurden Sessel, Regale und Tisch gebaut. Die dick gedruckten Buchstaben »Use only SHELL-Motors« oder »ORIGINAL SHELL-Motors« sollten selbst unter der heißen afrikanischen Sonne nie verblassen.
Er bemerkte ihren fragenden Blick. »Du wirst sehen, wir können sie gut gebrauchen, später –«
»Und dieses Haus?«, fragte Frida und zeigte auf den eigenwilligen Bau mit den vier Giebeln und den in Stein gefassten Fenstern mit Eisengittern.
»Das Krankenhaus und die Schule«, sagte Fritz und in seinen Worten schwang Stolz mit, »hier wird unser Kind geboren und eingeschult.«
In diesem Moment schwor sie sich, ihm eine gute Frau zu sein.
Als die Sonne unterging, erreichten sie eine Schotterstraße.
Frida kam die Piste wie ein mit Zucker bestäubtes Band vor, das sich durch die Abenddämmerung schlängelte und erst am Horizont aufhörte zu sein. Der grobkörnige Sand knirschte unter den Hufen der Tiere und dem Eisenbelag der Räder. Fritz ließ anhalten, und Frida staunte, mit welcher Behendigkeit der Neger wusste, was er zu tun hatte. Sie sprang ab, reckte sich die Glieder und schaute ihren Mann fragend an.
»Heute machst du nichts«, meinte er lächelnd, »lass dich verwöhnen, irgendwann wirst du wissen, wie du mir helfen kannst.«
Schnell errichtete er ein Lagerfeuer, das erste, an dem Frida in ihrer neuen Heimat saß. Wurst, Brot, Käse, ein Messer für beide und Wasser in einem Becher. Schweigend saßen sie vor den Flammen. Als der Tag ging, war für einen Moment tiefe Stille, aber dann begann die Nacht mit ihren tausend Stimmen lebendig zu werden. Ein Wind rauschte über die karge Halbwüste, und die dünnen Büsche wiegten sich in ihm mit einem seltsamen Klageton. Eulen, Fledermäuse und anderes Getier flatterten gelegentlich hoch, einmal erklang sogar das Bellen eines Schakals.
Er war verlegen, aber Frida verstand ihn.
»Hast du diese Tour schon öfter gemacht?«, fragte sie freundlich.
Ihr Herz hatte zwar gesprochen, aber auch sie suchte für den schwierigen Anfang der Zweisamkeit nach dem richtigen Umgangston.
»Schon dreimal«, antwortete Fritz kurz, »aber noch nie konnte ich einem Menschen sagen, dass hier einmal ein Bach geflossen war, mit frischem, klarem Wasser, eiskalt und nach Gräsern duftend.« Er lächelte. »Das klingt poetisch, aber genau so wurde es mir von einem schwarzen Wanderer erzählt, der bei mir in der letzten Saison gearbeitet hat. Fische seien darin geschwommen, sagte er und angeblich hat er auch blaue Schmetterlinge gesehen, die auf Blumen schaukelten.« Er setzte sich zu Frida. »Vielleicht haben wir Menschen irgendwann etwas Verkehrtes getan, und einer Macht, welcher und wo auch immer, hat es missfallen und uns zur Strafe in die Wüste geschickt.«
Er nahm ihre Hand und drehte sie hin und her. »Spürst du den starken Salzgehalt des Atlantiks? Selbst hier, Kilometer von der Küste entfernt, kannst du ihm nicht entkommen.« Leise fuhr er übergangslos fort: »Lass dir Zeit mit mir, ich war zu lange alleine –«
Wage hörte Frida abseits den Schwarzen hantieren. Das verhaltene Muhen der Ochsen vermischte sich mit dem Knistern des Feuers und versetzte sie in eine merkwürdige Stimmung. Sie ließ die Hand von Fritz los und streckte sich in dem Schlafsack aus.
»Ich bin so müde«, flüsterte sie, »und ich freue mich auf unser Zuhause. Fahren wir morgen?«
»Schlaf, meine Frau, ich pass auf uns auf«, hörte sie noch ihren fremden Mann murmeln, dann fielen ihr die Augen zu.
Golden fluteten am Morgen die Sonnenstrahlen über die steinige Kargheit der Landschaft, aber es war trotzdem so kalt, dass sich Frida nicht aus dem Schlafsack schälen wollte.
Fritz reichte ihr einen Becher heißen Tee, und dankbar rieb sie ihre klammen Finger an dem Bakelit.
»Wie kann es hier in Afrika nur so kalt sein?«, fragte sie.
»Die Ursache ist der Benguelastrom«, antwortete er, »er kommt aus den antarktischen Gewässern und fließt entlang der Südwestküste Afrikas. Aber warte, bis wir das Landesinnere erreichen, dort ist das Klima anders. Heiß, trocken, leider deswegen auch mühsamer.«
Sie blickte zu ihm auf. »Du weißt so viel, Fritz.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur das, was der Umgang mit der Natur und den eingeborenen Menschen mir beigebracht haben, aber du als Frau, du wirst wissen müssen, wie man hier eine Heimat für kommende Generationen schafft.«
Er schnippte mit dem Finger, und der Schwarze begann, die Ochsen anzuschirren.
»Wie lange brauchst du mit der Morgenwäsche? Wir sollten in spätestens einer halben Stunde auf pad10 sein«, sagte er und begann, die Sachen auf den Wagen zu stellen.
10 Weg
Frida sprang auf, richtete mit den Klammern, die sie in der Tasche stecken hatte, ihr Haar und rollte den Schlafsack zusammen, um ihn Fritz anzureichen.
»Danke«, sagte er. »Hinter dem Baum sieht dich keiner, geh dorthin für deinen Abort.«
Auf dem Weg dorthin drehte sich Frida um. »Erzählst du mir alles, was du weißt?«, rief sie ihm zu, »bitte.«
Mit einem langgezogenen Schnalzen ruckte Fritz am Zügel, aber die Ochsen blieben stehen, störrisch wandten sie ihre Köpfe ab, wollten sich nicht in Bewegung setzen, und so ließ Fritz die Peitsche jedem einzelnen über den Rücken fahren.
»Schau weg«, rief er Frida zu, »es sieht grausam aus, ist auch grausam, aber sie wollen es nicht anders«, und Frida sah, dass die Rücken der ersten Ochsen bereits mit daumendicken Striemen bedeckt waren. Immer und immer wieder sauste die Peitsche darüber, und erst, als der Rist des Leittiers blutig geschlagen war, ruckte es an und zwang dadurch die anderen mitzuziehen.
Frida senkte die Augen, weil die Tiere ihr leidtaten.
Die Gegend, die sie durchfuhren, zeigten zerklüftete Felsen und Dornbüsche, Dornbüsche und nochmals Dornbüsche, die rechts und links vom Swakopriver standen.
»Warum müssen wir durch den Sand fahren?«, fragte Frida, »die armen Tiere, vielleicht wäre es doch besser, eine Straße zu nehmen.«
Fritz lachte. »Straßen gibt es hier in Südwest nicht.«
»Aber du hast doch davon gesprochen«, beharrte Frida.
»Für mich sind Straßen Wege mit Spuren von Ochsenkarren, die vielleicht vor Monaten einmal hier entlanggezogen sind. Und wenn ich eine solche Spur entdecke, weiß ich, wo der durchgekommen ist, komme ich auch durch.«
Überlaut pfiff er Erasmus zu und zeigte auf das letzte Tiere, das nicht im gleichen Schritt wie die anderen zu laufen schien.
»Abgesehen davon haben wir nur hier die Chance zu überleben«, seine Stimme wurde jetzt ernster, »nur hier gibt es Wasser und Ufergrün als Nahrung für die Ochsen.«
Ich kann nicht einen Wassertropfen entdecken, dachte Frida zweifelnd, aber dann sah sie, wie Fritz am späten Nachmittag im Sand schaufelte und tatsächlich ein kleines schmutziges Wasserloch zum Vorschein brachte.
»Achte auf die Milchbüsche«, rief er ihr zu und wies auf die binsenartigen, graugrünen Sträucher, die plötzlich in Mengen die Ödheit ablösten. »Sie sind sehr giftig, selbst für Tiere. Wenn die sich daran ritzen, werden sie krank, können sogar blind werden.«
Es gibt so viel zu lernen, ging Frida durch den Kopf, und sie begann, kleine Hölzer für das Feuer aufzuschichten, so, wie sie es am Abend vorher bei Fritz gesehen hatte.
Es begann, grüner zu werden. Die Berge des Erongo-Hochlandes schienen der Kraft der Wüste entgegenzutreten. Das Land hob und senkte sich. Frida bemerkte es an dem angestrengten Schnauben der Ochsen.
Nach einigen Tagen erreichten sie kurz vor Sonnenuntergang Otjimbingwe, eine kleine Ortschaft ohne Menschen, wie ihr schien. Es gab zwar Häuser, aber sie wirkten unbewohnt und verlassen. Fritz bog am Ausgang ab und hielt vor einem kleinen Steinhaus. Stechender Geruch von Vieh, vermischt mit dem Gestank von altem Dünger, schlug ihnen entgegen, und alles wirkte verwahrlost.
»Hier wohnt eine englische Familie, wir können in ihrem Haus übernachten und ihre Wasserstelle benutzen«, erklärte er Frida. Eine Frau mit einem Säugling auf dem Arm öffnete die Türe, betrachtete beide wortlos und streckte eine Hand aus. Fritz legte ein Geldstück hin, worauf sie mit einem kurzen Kopfnicken nach hinten wies.
»Wenn du willst, kannst du dich im hinteren Raum waschen«, meinte Fritz etwas verlegen. Später, als sie in einem breiten Bett aus roh gezimmerten Balken lagen, nahm er sie zum ersten Mal in seine Arme.
»Von hier aus sind es noch drei Tage, dann sind wir zu Hause, und ich schwöre dir, die Hochzeitsreise holen wir nach«, flüsterte er und drückte sie an sich.
Der rote Sandboden wurde durchlässig, und die Weide begann fast unmerklich höher zu stehen.
In der Ferne standen Berge, deren Konturen Frida erst in der Glut des Abendhimmels ausmachen konnte. Aber mehr als alles andere faszinierte sie die Gegend, wie sie sich ihr jeden Tag anders darstellte. Mal waren es schroffe Granitfelsen, die stolz zum tiefblauen Himmel emporragten, mit zerklüfteten Abhängen und tiefen Schluchten, dann wieder weite Ebenen, durchsetzt mit Blumen und blühenden Sträuchern. Einmal stellte sich ihnen ein riesiger abgestorbener Baum entgegen. Sie mussten um ihn herumfahren, weil es die vorgezeichnete Spur verlangte. An einem seiner toten Äste hing eine dunkle Masse dichten Flechtwerks, und eine dicke dunkle Schlange kroch langsam heraus und wandte züngelnd den Kopf hin und her.
Frida schlug vor Entsetzen ihre Hand vor den Mund. »Was ist mit den Eingeborenen«, fragte sie Fritz mit klopfenden Herzen. »Muss ich vor ihnen Angst haben?«
»Angst solltest du hier nie haben, Vorsicht immer«, gab ihr der Mann zur Antwort. »Allerdings haben die Kaffer unter sich ihre größten Schwierigkeiten. Die Hereros zum Beispiel haben bis kurz vor unserer Ankunft hier in Südwest, Ende des letzten Jahrhunderts, ihre räuberische Vorherrschaft gegenüber den Hottentotten, jetzt wird dieser Stamm Nama genannt, bis zu deren Verarmung durchgezogen, indem sie ihnen im Laufe der Zeit Tausende Stück Vieh abtrieben. Immer war Krieg zwischen den beiden Stämmen, immer Mord und Totschlag. Erst durch die Vermittlung eines deutschen Missionars, ich glaube, er hieß Hahn, wurde Frieden geschlossen. Er hat zwar nicht sehr lange gehalten, aber immerhin konnten sich beide Stämme erholen, Nachwuchs auf die Welt bringen und wieder Tiere züchten. Nur ging irgendwann alles wieder von vorne los.«
Fritz drehte sich kurz um.
Der schwarze Arbeiter nickte, lief vor und griff nach dem Huf eines der Tiere.
»Ich sage dir etwas, ich komme mit den meisten Negern gut aus, nur die Hereros mag ich nicht. Brennender Geiz, Verlogenheit, Hinterlist und eine Grausamkeit, die auch vor den Ihren nicht haltmacht, so sind sie.«
Er sprang vom Bock. »Sie wollen sich die anderen Kaffer zu omutuas11 machen«, fuhr er fort und drückte ihr die Zügel in die Hand, »bin gleich zurück, muss mir das mal anschauen«, und stelzte zu dem Tier, das breitbeinig und mit blödem Gesichtsausdruck auf ihn zu warten schien. Als er nach einer Stunde wieder auf den Bock stieg, fuhr er fort: »Wenn die jungen Vögelchen geschlüpft sind, binden sie an Stöcke trockene Grasbüsche, zünden sie an und halten sie an die Nester. Die kleinen Tierchen fallen runter, werden praktisch bei lebendigen Leib gebraten und sofort verzehrt.«
11 Sklaven
Frida schüttelte sich.
»Wie gemein.«
»So sind die Neger, ohne Gefühl und ohne Respekt vor dem Leben. Einfach anders als wir, und das muss man sich immer vor Augen halten, wenn man ihr Tun beurteilt«, sagte Fritz und brachte den Wagen wieder ins Rollen. »Aber ich sage dir noch etwas. Afrika ist, wie soll ich es ausdrücken, ist einfach besitzergreifend, mehr als sonst wo. Es saugt alles Nichtafrikanische aus dem Menschen heraus und duldet eifersüchtig nur sich selbst.«
Fritz blickte sie warnend an. »Auch davor musst du dich hüten.«
Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. »Opuo«, rief er, »das ist Eingeborenensprache und heißt so viel wie Schluss, mehr nicht, genug. Wir haben eine kleine Stadt mit diesem Namen – aber auch davon später.«
Die afrikanische Frühlingszeit befand sich in der Mitte ihres Geschehens, und mehrfach war bereits Regen segnend über Steppen und Savanne gefallen. Neue Kraft war aus der Erde getreten.
Frida sah die bekannten Zeichen, sie waren in jedem Land der Erde gleich. Nur schien ihr hier die Flora stärker, fast gewalttätig und alles verschlingend. In dem langen gelblichen Gras reckten sich ihr Blumen mit Stacheln entgegen und erfüllten die Luft mit einem ihr unbekannten Duft.
Der sperrige Dornbusch trug bereits dunkelgrüne Blätter und zeigte hier und da seine schneeweißen Blüten. Aus Bäumen leuchteten gelbe oder lilafarbige Dolden, auch sie trugen verborgene Stacheln, andere zeigten Blüten, die federartig waren. Alles war verschieden und aufregend zu beobachten. Aber das Wichtigste war für sie die gestrige Bemerkung ihres Mannes vor dem Einschlafen, dass sie bald am Ziel ihrer Reise wären. Frida holte bei diesem Gedanken tief Luft und legte eine Hand auf ihren Bauch. Sie hatte es sich angewöhnt, es gab ihr Kraft und Zuversicht.
Sie war nicht erstaunt, dass er am Morgen, noch in der Dunkelheit und noch schneller als sonst, damit begann, die Sachen zusammenzuräumen. Eine merkwürdige Spannung lag in der Luft, die auch dann nicht wich, als Fritz im ersten Licht die lange Peitsche über die Ochsenrücken schwang, ohne sie zu berühren.
»Heute, ja?«, fragte sie leise und bohrte ihre Hand in seine Armbeuge.
Zuerst war es ihr angenehm, dass sich Wolken vor die Sonne schoben, es minderte die Hitze, aber dann begann sich das Tageslicht zu verdunkeln, und aufgeregt feuerte Fritz mit lautem Rufen die Ochsen zu einer schnelleren Gangart an. Ferne Donner grollten, und grelle Blitze durchzuckten den nun dunkelgrauen Himmel, pressten die Wolken in bizarre Formen, um sie später wieder unversöhnlich auseinanderzureißen.
»Mister, fahr schnell, ombura mea12«, schrie plötzlich der Schwarze.
12 Der Regen kommt.
Dem ersten großen Regentropfen folgte ein fürchterlicher Regenguss. Unheimlich war das Toben der Elemente, war das der Weltuntergang?
Frida presste sich an ihren Mann.
So ein Unwetter hatte es nie in Rupplin gegeben. Zeitweilig teilte sich auch ein zuckender Blitz und strahlte dreifach und wie sprühend nach allen Richtungen. Die Ochsen zogen schwer durch den Schlamm, sie brüllten, schüttelten ihre mächtigen Nacken, wollten der Peitsche ausweichen, die Fritz jetzt fast erbarmungslos auf sie losließ. Warum sprang er ab? Frida ließ sich von ihm vom Wagenbock herunterzerren. Sie rannten durch die Dunkelheit. Das Haus sah sie erst, als sie dicht davorstand. Es war klein, ein ausgestreckter Arm konnte auf das Dach greifen. Fritz fingerte nervös an dem Schloss und stieß die Türe auf. Er zog den Kopf ein, als er Frida in das Dunkel hineinschob.
»Warte«, sagte er, entfernte sich von ihr und entzündete eine Kerze.
»O, mein Gott«, rief er und begann eilig, die wenigen Möbel von den Wänden abzurücken. Selbst durch die kleinsten Ritzen der eingetrockneten Holzfenster drang ungehindert Wasser, und in den Unebenen des Bodens standen bereits milchige Pfützen.
Fritz zog sie in die Mitte des Zimmers, umschlang sie mit seinen Armen und strich ihr über den Kopf.
»Regen bedeutet hier in Südwest Glück, Glück und nochmals Glück«, flüsterte er.
Frida erwiderte zögernd seine Umarmung, schluckte, sie wollte ihm so sehr glauben, konnte aber nicht den Blick von den Wasserrinnsalen an den Wänden lassen.
»Wir werden es schon schaffen«, murmelte sie schließlich, »lass uns nur immer unsere Sehnsüchte behalten.«
Und küsste ihn zum ersten Mal auf den Mund.
4. Kapitel
Die Dezembersonne stand senkrecht auf dem Haus. Frida hatte mit dem jungen Ovambo, den ihr Fritz zur Hilfe für die Hausarbeit besorgt hatte, gegen die Hitze nasse Tücher vor die beiden Fenster gehängt und in die Mitte des Wohnraums die Zinkwanne mit Wasser und einem Schuss Essig gestellt. Ab und zu tauchte sie beide Ellbogen hinein, auch die geschwollenen Füße und Beine. Sie trug das Kind jetzt im siebten Monat, und die Arbeit im ungewohnten afrikanischen Hochsommer begann mühsam zu werden.
»Eine weiße Missis muss alles können«, hatte Fritz ihr vorsichtig nach den ersten Tagen zu erklären versucht, aber Frida hatte damit keine Schwierigkeiten. Natürlich, so armselig hatte sie sich das Haus von Fritz nicht vorgestellt, auch nicht gewusst, wie entbehrungsreich das Leben in Afrika war, aber hatte die Mutter sie nicht auf das Beste mit allen Arbeiten vertraut gemacht, die Armut mit sich brachte? Und hatte sie nicht eine gute Ausbildung im Herrenhaus derer von – hier stockte sie immer, denn daran wollte sie nicht mehr denken. Im nächsten Jahr weiß ich schon eine Menge mehr, war dann ihr nächster Gedanke, der sie wieder zuversichtlich stimmte.
Zusammen mit Erasmus und Jakobus baute Fritz zwei Räume an das kleine schiefe Haus an. Ein größeres als Eheschlafzimmer und gleich daneben ein kleineres.
»Für unser Kind«, hatte er gemeint und in jedem zwei gegenüberliegende Fenster für einen besseren Durchzug eingesetzt.
»Wir mussten uns in Rupplin gegen die Kälte schützen und haben deshalb nur ein Fenster in jedem Zimmer gehabt. Und hier haben wir zwei. Wie in einem Königsschloss.«
Frida hatte bei diesen Worten gelächelt, als sie das erste Mal im neuen Zimmer zu Bett gingen.
»Warum geben wir unserem Schloss nicht den Namen Deutsche Heimat«, meinte Fritz und kuschelte sich an sie.
Sie hatten es sich angewöhnt, zusammen im Arm zu liegen und in die Dunkelheit hinein ihre Gedanken auszutauschen. Es wurde schnell ein starkes Band, das sich zwischen ihnen spann, und nicht selten wachten sie so umschlungen auf, wie sie eingeschlafen waren. Nie sprachen sie über seine Verwundung, immer sprachen sie darüber, was sie dem Kind an Liebe und Zukunft geben wollten.
»Aber wir sind doch jetzt Afrikaner«, gab Frida zu bedenken und blickte versonnen durch das Fenster in die Nacht.
Ein Mauleselgespann hielt vor dem Farmhaus.
Waldfried Haase von der Nachbarfarm rief aufgeregt und, ohne abzusteigen, zu Fritz und Frida rüber: »In Europa ist Krieg, aber Vedder von der Rheinischen Missionsgesellschaft hat Nachricht von der Deutschen Regierung bekommen, dass die Kolonien außer Gefahr sind. Es wäre nur ein Krieg gegen England, Frankreich und Russland.«
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Meine Güte, welches Glück für uns. Sag es weiter«, und gab dem Esel leicht die Peitsche, so dass sich das Tier wieder in Bewegung setzte.
»Krieg, wie schrecklich«, murmelte Frida und ging in ihren kleinen Garten.
Gleich nach ihrer Ankunft hatte sie begonnen, ihn anzulegen. Fritz besorgte ihr Blumen- und Gemüseableger von benachbarten Farmen.
»Sie wollen dich alle kennenlernen, am besten werden wir eine Rundreise machen, wenn das Kind auf der Welt ist.«
Jakobus sprach ein wenig deutsch und bestand darauf, dass der bereits über drei Meter hohe Maulbeerbaum etwas entfernt eingegraben wurde.
»Besser so, Missis«, sagte er und pflanzte einen vom Nachbarn geschenkten Feigenbaum in die entgegengesetzte Richtung.
»Wegen starke Wurzeln«, war hier seine Erklärung, und Frida fügte sich. Neger mögen, wenn etwas wächst, ging ihr durch den Kopf. Warum pflanzen sie denn nichts für sich selbst an?
Kritisch betrachtete die junge Frau die beiden Tomatensetzlinge, die ihr Fritz vor einigen Tagen aus Okahandja mitgebracht hatte. Sie sollten am besten neben der Küchentüre stehen, für die nächste Versamung, dachte sie und winkte Jakobus an sich heran. »Rechts und links«, ordnete sie an. Der Junge nickte zustimmend.
Sie erschrak, als der hochgewachsene Schwarze wie plötzlich aus dem Nichts kommend vor ihr stand.
»Fritz«, schrie sie und wusste zugleich, dass der Ruf sinnlos war, denn ihr Mann war schon seit dem frühen Morgen auf der hinteren Weide, um Zäune auszubessern. So nahm sie dem Hausjungen den Spaten aus der Hand und betrachtete abwehrend den dunklen Mann, der, unbeweglich auf seinem Wanderstab gestützt, sie wortlos ansah. Dann, ohne den Blick von Frida zu lassen, winkte er Jakobus gebieterisch zu sich. Der Junge beugte den Kopf und nickte zu den Worten, die der Alte zu ihm sprach. Demütig wandte er sich Frida zu.
»Mein Vater meint, dieses Land hier heißt omutima ondizira und er bittet dich, ihm seinen Namen zu lassen.«
»Was heißt das?« Frida stellte den Spaten ab und legte eine Hand auf den Leib.
»Herzen mit guten Eigenschaften ruhen an aus Felsen sprudelnder Quelle, welches Bächlein bildet.«
Der Junge hielt den Blick gesenkt.
»Das ist schön«, sagte sie langsam. Es würde auch zu uns passen, dachte sie weiter, denn hier ist die Zukunft, hier sollte sie sein, und nicht mehr drüben in der so genannten deutschen Heimat.
»Vater will dir und deinem Kind etwas zeigen«, sagte Jakobus, »nicht so ein langes Weg, von hier, ein wenig –«
Ich sollte es nicht tun, dachte Frida, Fritz wird es nicht recht sein, aber dann blickte sie den alten Mann an und erkannte etwas in seinen Augen, das sie beruhigte.
Sie gingen vielleicht eine halbe Stunde, und Frida versuchte, sich die Gegend zu merken, knickte ab und zu einen Zweig um oder schabte mit dem Schuh eine Mulde in den Sand, wenn sie die Richtung wechselten.
Der alte Mann hielt an.
»Dort«, übersetzte der Hausjunge und stellte sich neben sie, »Vater meint, du mit Kind heute noch ohne Augen alleine hingehen, später mit sehendem Kind wiederkommen –«
Die beiden Gräber trugen keine Inschriften, und hinter ihnen stand jeweils ein gewaltiger Stein. Der eine wies in der Mitte eine unregelmäßige Vertiefung auf, der andere an der gleichen Stelle eine ebenso unebene Erhöhung. Zwei Hälften, die man erst getrennt und später in Erinnerung an vergangenes Leben wieder zusammengestellt hatte.
Zuerst betrachtete Frida den Platz verständnislos, aber dann wurde sie aufgeregt. Es mussten Weiße sein, die hier lagen, Christen wie sie, denn hatte Fritz nicht gesagt, dass Eingeborene keine Gräber kennen? Und mehr noch, es müssen Menschen gewesen sein, die Herzen mit guten Eigenschaften besaßen, so gut, dass sie nie vergessen werden sollten.
Sie legte eine Hand auf einen der Steine – und wurde ruhig.
»Es ist ein guter Platz«, sagte sie laut. »Wenn mein Kind seine Augen geöffnet hat, werden wir gemeinsam nach der Quelle suchen und sie auch finden. Und sie wird für uns alle da sein.«
Sie sprach ein Gebet, schlug das Kreuz und ging zurück.
Jakobus und der alte Mann saßen etwas entfernt auf einem Stein. Ihre Gesichter blickten unbeteiligt. Plötzlich stand der Alte auf. Seine dürren Finger krallten sich in die Schulter des Jungen. Der hielt die Augen geschlossen und sprach in Richtung Frida.
»Höre, weiße Frau, wenn ein Fremder wie du in unser Land kommt, ist es manchmal gut und manchmal nicht gut für ihn. Aber wenn er fortgeht, wird ihn das Land wieder rufen. und er wird wiederkommen, ob er will oder nicht.«
»Und, werde ich für dieses Land so wichtig sein, dass es mich zurückruft? Bitte, sage es mir.« Sie bekam keine Antwort.
Dann war plötzlich der Alte verschwunden.
»Komm«, sagte Frida zu Jakobus, »wir müssen nach omutima ondizira zurück. Der Baas13 wird gleich zurückkommen.«
13 Bezeichnung für den Hausherrn
Das Pferd war schweißbedeckt und tänzelte nervös auf dem staubigen Hof.
Die Kandare ist zu kurz, erkannte Frida und richtete sich mühsam aus dem Korbsessel auf. Es war später Morgen, der Sonntag vor Weihnachten und einer der wenigen Momente der Ruhe, die sich Fritz und sie auf der kleinen Veranda nach einer harten Arbeitswoche gönnten.
Die junge Frau war groß und schlank, die Reiterhose saß eng an, und man konnte erkennen, dass die Stiefel wie auch die ziselierten Sporen handgefertigt waren. Ein Seidentuch, eine Seidenbluse, der Südwester aus weichem Filz, eine dünne Halskette mit dem Kreuz, alles an ihr war perfekt – und teuer.
Und sie war sehr schön, schöner als die junge Gnädige des Herrn, drüben in –
Unwillig über diesen Vergleich stand Frida auf und ging ihr langsam entgegen.
»Guten Tag, ich bin Sabine von Tetzloff«, sagte die Gestalt und reichte ihr die behandschuhte Hand. Nachlässig und von oben herab. Ihr blondes Haar leuchtete unter dem Hut hervor. Der Mund lächelte, aber die blauen Augen hatten einen harten Glanz.
Wie Murmeln, dachte Frida. Die Besucherin war ihr unsympathisch – jedoch gleichrangig, und sie spürte instinktiv, dass sie vorsichtig sein musste.
»Ich bin Frau Fritz Zabel«, entgegnete sie ruhig und bemerkte sehr wohl den erschreckten Ausdruck auf dem Gesicht der Besucherin.
»Frida ist meine Frau«, sagte Fritz tonlos, der Frida nachgegangen war. »Wir haben noch in Swakopmund geheiratet. Hat man es dir nicht gesagt?«
»Nein. Wer? Kann ich dir, ich meine euch helfen?«
»Warum? Nein, ich glaube nicht.«
Irgendwie kam es Frida vor, als ob jede Frage und die folgende Antwort etwas anderes zu bedeuten hatte, als sie von den Worten her formuliert wurden.
»Wie geht es deiner Familie?«
»Gut, eigentlich sehr gut, Pas Hündin hat geworfen –«
»Ah, ja, wie viele Welpen – ?«
Aufmerksam blickte Frida auf ihren Mann und dann wieder auf den Besuch. Ein Duell des Schweigens schien nach dieser Feststellung zu beginnen, und es war ihr, als wolle jeder von ihnen mit der größten Gelassenheit abwarten, wer es am längsten aushielt.
Diese Frau will alles und kann warten, dachte sie. Ich muss aufpassen.
»Wir erwarten ein Kind«, sagte sie wachsam, legte eine Hand auf den gewölbten Leib und griff mit der anderen nach Fritz.
»Ja«, sagte Fritz, »wir erwarten unser Kind.«
Die Frau bestieg wieder ihr Pferd. »Das ist sehr gut, man sieht sich später«, rief sie und jagte davon.
An diesem Abend schliefen sie getrennt ein, aber in später Nacht kroch Frida auf die Seite ihres Mannes.
»Tut es dir leid?«, flüsterte sie.
»Für einen Moment hat es wehgetan, aber nun ist es vorbei.«
Leise hingen die Worte im Dunkel. »Sie war meine große Liebe, wir wollten heiraten, nach dem Krieg gegen die Hereros, aber dann habe ich sie freigegeben – freigeben müssen.«
Frida suchte nach seiner Hand und legte sie sich auf die Brust.
»Hör zu«, sagte sie, »die Umstände des Lebens weben ein Schicksalsnetz um uns, ohne unser Wissen und oft gegen unseren Willen. Man sollte dieses Netz nicht zerstören, wie man überhaupt nichts zerstören sollte, weil nie etwas Gutes dabei bewirkt wird. Vergiss nie, dass du der Liebe begegnet bist. Sie ist ein Gottesgeschenk, und Geschenke bewahrt man sein Leben lang.«
Sie sprachen dann kein Wort mehr, aber sie verstanden einander.
Fritz kratzte sich am Kopf.
»Ich glaube, es war keine gute Idee, Erasmus die neue Frau zu erlauben, er ist nur noch mit ihr in der Hütte.«
»Oder er ist glücklicher und arbeitet später besser«, widersprach ihm Frida lächelnd, »und abgesehen davon, dass sie eine Hottentottenfrau ist, die Tatsache, dass sie schon drei Kinder hat, beruhigt mich sehr.«
Fritz stellte den Besen in die Ecke.
Immer lag in den Zimmern Sand und Staub, jeden Tag musste gefegt und geputzt werden. Es war Heiligabend, und er wollte Frida helfen, weil die Schwarzen bereits in ihren Hütten waren. Er schob die beiden Korbstühle auf die schattige Veranda und rückte den kleinen Distelbusch mit den weißen Wattebällchen neu zurecht. Es war noch so heiß, dass er es nicht wagte, die Kerzen aus dem Keller zu holen und aufzustecken, sie würden sich sofort verbiegen, später also.
»Und du willst wirklich nicht von mir nach Windhoek gebracht werden?«
Frida und ihr Bauch schlurften auf ihn zu.
»Nein«, sagte sie bestimmt, »irgendwie wird es schon hinhauen, Mama hat ihre Kinder auch alle zu Hause bekommen.«
Vorsichtig ließ sie sich in einem der Stühle nieder und schlug die Bibel auf.
»Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde …«
Sie brach ab und schaute auf das weite Land vor sich. Am Horizont sah sie weiße Schwaden aufziehen. Es könnte Wolken geben, aber sie werden erst nach Sonnenuntergang aufziehen, dachte sie. Und wenn sich eine auf uns niederlassen würde, wäre es vielleicht ein Gruß von Mama –
Das Schwalbenpärchen flog aufgeregt hin und her. Frida hatte es beim Bau des Nestes beobachtet. Auch der kleine Kuckuck und das Sperlingweibchen auf dem Ast nebenan waren ihr bekannt. Fritz hatte ihr gesagt, dass sie vor Einbruch des afrikanischen Winters nach Europa ziehen und erst nach Monaten wieder zurückkehren würden. »Grüßt mir dann bitte die Meinen«, hatte sie bedrückt geflüstert.
Schon den ganzen Tag über war sie still und einsilbig gewesen – und sie kannte den Grund. Es war Heimweh. Heute vor einem Jahr hatte sie noch bei der Familie gesessen. Die Heilige Nacht, drüben in Rupplin, war immer von einer starken familiären Innigkeit gewesen. Das Mondlicht hatte den Schnee zum Glitzern gebracht und die kahlen Äste der Bäume in seinem Schein wie verzauberte Geister wirken lassen.
»Und siehe, des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtet um sie, und sie fürchteten sich sehr –«
Vorsichtig zündete Fritz jetzt eine Kerze nach der anderen an. »Auch ich kenne diese Geschichte«, lächelte er.
Frida fuhr stockend fort: »Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegen –«
Fritz kauerte sich zu ihren Füßen und griff nach ihrem Arm. Weiche Luft ruhte nun auf der Landschaft, und ein leichter Abendwind trug den Duft von aufgeblühten Blumen zu ihnen hinüber. In der Ferne hörte man den Gesang der Neger, auch ihr fröhliches Lachen und die sonderbaren Schnalzlaute der Hottentottenfrau, die seit drei Wochen mit ihnen lebte.
»Bist du glücklich?«, fragte er leise, »trotz allem?«
»Und die Hirten kehrten wieder um, priesen Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.«
Frida klappte das Buch zu und sah eine Wolke am Himmel aufkommen, so, wie sie sich es gewünscht hatte. Während das zarte Gebilde die letzten Sonnenstrahlen einhüllte, wurde sie von einem mächtigen Gefühl der Zuneigung zu diesem Mann erfüllt, wie auch von der Richtigkeit ihres Hierseins.
»Ich bin glücklich«, sagte sie, »wegen allem«, und drückte Fritz einen Kuss in sein Haar.
Am Morgen des ersten Weihnachtstages erblühte die Lilie, die sie von Fritz als Setzling geschenkt bekommen hatte.
Die Januarluft zitterte und flimmerte vor Hitze.
Auch die beiden folgenden Monate waren so heiß, und Fritz konnte sich nicht erinnern, wann es jemals so etwas Ähnliches gegeben hatte.
»Nun, so lange bin ich ja auch noch nicht in diesem Land«, meinte er, und mit einem sorgenvollen Blick nach oben gerichtet fuhr er fort: »Hoffentlich bleibt uns das Wasser erhalten, hoffentlich reicht der Damm für die Tiere«, und fächelte seiner nach Luft ringenden Frau mit dem Wedel einer wild gewachsenen Palme zu, die er im Busch gefunden hatte.
Frida litt nicht nur unter ihrer Unförmigkeit, das grelle Tageslicht blendete ihre Augen und entzündete sie ständig. Wenn die Schmerzen zu stark wurden, legte sie sich ein feuchtes Essigtuch über das Gesicht und rieb es später mit einer Fettcreme ein.
Auch Fritz begann die Jahreszeit immer mehr zu schaffen zu machen. Er ritt jetzt schon im ersten Morgenlicht zur Farmarbeit, um vor Beginn der Mittagshitze wieder zurück zu sein. Sie aßen dann eine Kleinigkeit und legten sich erschöpft aufs Bett. Die Natur draußen schien förmlich mit dem Atmen aufzuhören, und ihre Totenstille ließ sie nicht selten in einen tiefen Schlaf sinken. Wenn die Strahlen der Abendsonne in den Bäumen und Büschen hing, ritt Fritz wieder in aller Eile nach draußen, um die nötigen Farmarbeiten bis zum Einbruch der Dunkelheit zu erledigen, während sich Frida um den Rest des Haushaltes kümmerte.
»Die unangenehme Zeit wird bald vorbei sein«, sagte Fritz tröstend zu Frida und legte eine Menge lackierter Bretter mitten in den Wohnraum, dazu Hammer, Säge und Nägel.
Sie erkannte, dass es das Holz war, das sie aus dem Woermann-Haus in Swakopmund mitnehmen durften, damals am Tage ihrer Heirat.
Fritz arbeitete zwar langsam, aber seine Hände sägten, schnitten und formten geschickt, ohne Fehler zu machen. Schon nach wenigen Tagen stand eine kleine Wiege vor ihnen, allerdings auf der einen Seite mit Original Shell-Motors, auf der anderen Seite mit Use it careful beschriftet.
Fritz kratzte sich am Kopf. »Ich werde den Namen unseres Kindes extra auf einem Stück Holz einkratzen und vorne anbringen, nachher wird er noch Shell-Motors gerufen.«
Frida lachte und stieß vorsichtig das Bettchen an. »Oder Oil Spezial, wenn es eine Sie wird«, sagte sie und bemerkte leise: »Die Wiege ist wunderschön.«
Irritiert nahmen sie die große dunkle Wolke wahr, die sich am Horizont aufbaute und rasch, alles verdunkelnd, näher kam.
»Regen?« Fritz schaute ungläubig in die Richtung. Im gleichen Moment vernahmen beide ein seltsames Geflimmer und Geklirre in der Luft und liefen auf die Veranda. Die ersten Heuschrecken kamen ihnen entgegengekrochen, andere ließen sich in Büsche und Sträucher fallen, die sich sofort unter ihrer Last nach unten bogen. Die Tomatensträucher gab es schon nicht mehr, ihre Strunke standen nur noch blatt- und fruchtlos da, und im anliegenden Garten wälzte sich eine dicke Masse über den Boden, uneinhaltbar in ihrer Begierde, den winterlichen Rest des Grüns zu fressen.
»Erasmus, Jakobus, Phillipus, Rochus«, schrie Fritz, rannte in den Schuppen und zerrte leere Konservenbüchsen hervor. »Lydia, geh zu Missis14 und bleib dort bei ihr. Schließt alle Türen und Fenster, die Tiere müssen aus dem Haus bleiben.«
14 Bezeichnung für Hausherrin
Wie verrückt schlugen die Männer mit Steinen gegen die Konservendosen, versuchten mit dem Lärm, die Insekten wenigstens aus dem Garten zu verscheuchen. Und wirklich schien das blecherne Geräusch einige Heuschrecken zu veranlassen, weiterzuziehen, aber der größte Teil von ihnen blieb. Nagte, fraß und – vernichtete.
Die Hottentottenfrau zwängte sich durch die Tür, lief zur Trockenleine und zerrte die Wäsche herunter. Wütend klopfte sie die dunklen Käferleiber von den Kleidern, schlug sie gegen die Wand aus und lief über die Veranda wieder ins Haus hinein.
Frida drückte ihr und sich einen Kochdeckel in die Hand, dazu einen Löffel, und gleich den Männern draußen schlugen sie nun innen darauf ein.
Wie wild trat Frida um sich, mit jedem Fußtritt wollte sie Tod bringen, aber immer bewegte sich etwas neu, kroch an ihre Habe, um sie zu zerstören. Bald schon achteten die Frauen nicht mehr auf das knirschende Geräusch, wenn die harten Panzer beim Zertreten barsten, aber je mehr sie töteten, desto schneller flogen oder krochen die Tiere auf alles, was Platz bot.
Sie schienen von überall her zu kommen. Unter Tür- und Fensterritzen, aus Wandfurchen und Bodenbrettern. Oder waren sie vielleicht schon vorher dagewesen? Hatten sie ihre Eier im Geheimen abgelegt, um alle zu einem Zeitpunkt auf einmal losschlagen zu können?
Keuchend ließ sich Frida auf der Bank nieder. Ein plötzlicher Schmerz durchzuckte sie. Nein, es ist noch zu früh, dachte sie erschrocken. Wieder kehrte der Schmerz zurück, raste durch ihre Eingeweide, verstummte, begann dann an anderer Stelle neu zu wüten. Die Schwarze betrachtete sie aufmerksam, zerrte sie hoch und bedeutete ihr, in der Mitte des Raumes in die Hocke zu gehen.
»Nein«, keuchte Frida, »ich will ins Bett.«
Lydia schüttelte mit dem Kopf. Sie stemmte Frida mit Nachdruck wieder in die Hocke, nahm aber ihren Kopf und drückte ihn beruhigend gegen ihren Oberschenkel. Immer wieder schnalzte sie Worte, manchmal drängend im Ton, dann wieder in einem merkwürdigen Singsang.
Frida erinnerte sich an das Wort pressen in Verbindung mit Geburt. Wie presste man? Was tat man dann? Wie tat man es? Warum hatte sie sich nicht drüben in Rupplin mehr damit beschäftigt? Pressen, pressen, ermahnte sie sich, entspannen – nur, wie sollte man sich entspannen, wenn der Körper ständig in einem Strudel von Schmerzen herumgerissen wurde? Schlag auf Schlag, wie bei einem Gewitter, entluden sich nun die Wehen. Sie holte in Panik verkehrt Luft, und es tat so weh, dass sie meinte, die Sinne verlieren zu müssen. Immer wieder wurde sie von Lydia aufgerichtet, dabei wollte sie so gerne liegen, freiwillig die Beine weit auseinanderreißen, damit das Kind herausgleiten konnte – aber die Schwarze erlaubte es ihr nicht. Mutter hat auch gelegen, dachte Frida wild, das hier ist unchristliche Negerart, das will ich nicht.
Die Angst sprang sie an wie eine Katze. Warum bin ich hier und nicht in Windhoek, bei richtigen Ärzten, in einem sauberen Bett? Und wenn ich sterbe, was wird aus Fritz, aus dieser Farm?
Die Zeit verging, und sie hatte das Gefühl, als wäre sie aufgeborsten wie eine Scholle Erde, die ein Keimling sprengt. Halb besinnungslos kniete Frida jetzt auf dem Boden, zwischen totgetretenen und immer noch vereinzelt kriechenden Heuschrecken, die Hände aufgestützt – plötzlich ein Reißen im Inneren, im Schmerz nicht mehr zu ertragen, sie warf den Kopf herum, schrie, schrie – und in diesen Schrei hinein verließ etwas Gewaltiges ihre Körperöffnung. Die Schwarze walkte ihren Leib, drückte immer und immer wieder die beballte Faust nach unten, ein letztes Stoßen, ein letztes Pressen, ein letztes Drängen, »Allmächtiger, ich kann nicht mehr«, kreischte Frida – der plötzlichen Erleichterung folgte eine Stille, dann ein zorniges Weinen –
Frida verließ ihre Stellung und legte sich flach auf den Boden. Ihr Körper klebte vor Schweiß, die salzigen Tropfen rannen aus dem Haar, brannten auf der Haut, ihr wurde kalt, sie zitterte, aber dann blickte sie in Lydias Gesicht, sah das breite Grinsen. Sie wusste, es war vorbei, und instinktiv streckte sie ihr die Hände entgegen, um das verschleimte blutige Bündel in die Arme zu nehmen.
»Danke«, hauchte sie.
In später Dunkelheit kam Fritz nach Hause. Müde, geschlagen. Er hatte keine Stimme mehr vom Schreien, von der Verzweiflung, von der Mutlosigkeit.
»Frida?«, rief er und schlug die Hände vor das Gesicht. »Wir haben keine Weiden mehr. Sie haben sich alles genommen, jede Sprosse, jede Knospe, jeden Halm für die kommende Frucht, das Vieh wird verhungern, Gott im Himmel, was soll nun aus uns werden?«
»Komm zu mir«, rief ihm Frida leise aus dem Schlafzimmer zu.
Lydia hatte sie gewaschen, ihr zu essen gemacht, alle Petroleumlampen angezündet. Der Fußboden war sauber gefegt, aber das Wichtigste: Das kleine neue Geschöpf lag geborgen bei ihr. Sie sah, dass Fritz weinte.
»Komm«, wiederholte sie und hielt ihm die Tochter entgegen.
Schluchzend nahm er das kleine Bündel auf den Arm.
Frida stand schwankend auf und ging zu dem Schränkchen, auf dem die Bibel lag. Sie öffnete die letzte Schublade und entnahm ihr den schwarzen Stoffbeutel.
Der Beweis ihrer Schande.
»Gott mag nehmen, aber er gibt auch. Wir werden wieder neu anfangen«, sagte sie fest, »und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass uns das nicht gelingen wird«, und drückte ihm das Geld in die Hand. Und dann lag noch etwas Goldenes in ihrer Handmulde.
»Es ist die Halskette meiner Mutter. Bitte, tausche sie gegen einen Palmensetzling ein«, leise fügte sie hinzu, »es war bei uns Sitte. Wer konnte, schenkte seinem Kind einen eigenen Baum.«
Fritz runzelte etwas die Stirn. »Constanze, das ist eigentlich ein Name, den es nur in der Herrschaft gibt.«
»Gerade deswegen möchte ich sie so nennen«, sagte Frida, und ihre Stimme war plötzlich trotzig. »Du und ich und dieses Kind, wir sind Herrschaft. Wir haben unser eigenes Haus, unser eigenes Land, wir brauchen nicht mehr zu buckeln und auch nicht die Augen niederzuschlagen. Wir arbeiten und dienen nur für uns. Warum also sollte sich nicht der Name unserer Tochter daran bemessen?«
»Nun gut, wenn du meinst.« Fritz beugte sich über das Kind, strich ihm zärtlich über die Wange und küsste Frida. »Ich muss noch einmal rüber zu den Kühen«, sagte er und verließ den Raum.
Frida spürte dankbar in der kleinen Geste seine Zuneigung. Sie brauchte sie so sehr, besonders wenn sie sich mit der Tochter beschäftigte, sie stillte – sie immer und immer wieder betrachtete, ob in ihrem Gesicht nicht ein Zug von –
»Ich glaube, wir werden sie sowieso nur Conny rufen«, rief sie ihm nach und wiegte stürmisch das winzige Wesen in ihren Armen.
5. Kapitel
»Sauerteig erhält man durch eine Mischung aus Mehl, gelbem Zucker und lauwarmem Wasser. Noch besser ist es, wenn du den Rest des letzten Brotteigs aufhebst und mit untermischst. Dadurch erreichst du eine schnellere Gärung.«
Guste Kampe runzelte leicht die Stirne, füllte den ziehenden Teig geschickt in die Form und schob sie in den Backofen.
»Danke«, sagte Frida und haute mit der Klatsche gegen die Wand. »Die zehnte«, meinte sie triumphierend.
»Kannst du dir sparen.« Die achtzehnjährige Tochter des Nachbarfarmers winkte ab.
»Zehn werden ermordet, hundert in der gleichen Sekunde geboren. Lass besser die Hauseidechsen gewähren. Sie kriegen jede Motte und jede Termite, zwar nur selten Fliegen, aber dafür haben die Angst vor ihnen.«
Sie zog die Schürze aus und hängte sie an den Nagel der Küchentüre. Frida nahm die Freundin in den Arm, und sie gingen nach draußen.
»Gustchen, ich weiß gar nicht, was ich ohne dich machen soll«, sagte sie, »kannst du deine Hochzeit nicht verschieben, vielleicht so um zehn oder zwanzig Jahre?«
Sie lachten.
Guste Kampe war die erste und eigentlich einzige richtige Freundin, die sie hier in Südwest gefunden hatte.
Vier Wochen nach der Geburt von Constanze hatte Fritz sein Versprechen wahrgemacht, und sie waren in die Nachbarschaft gefahren. Überall hatte man sie herzlich empfangen, wenngleich sich alle einig waren, dass Frida mit ihren sechzehn Jahren zu jung und unerfahren war, um mit dem Leben im Busch klarzukommen, noch dazu mit einem Säugling. So versprach man den beiden, gelegentlich mit den eigenen Erfahrungen vorbeizukommen und diese dem jungen Haushalt Zabel zu schenken.
Guste Kampe, verlobt mit dem neu aus Deutschland eingetroffenen Apotheker in Lüderitzbucht, kam als Erste und war gleich zwei Wochen geblieben. Was hatte Frida alles von diesem jungen Mädchen, das bereits in Südwest geboren war, lernen können. Nicht nur im Haus, auch draußen bei den Tieren.
»Ein Kräheneinfall im Rinderhof ist das Zeichen eines bevorstehenden Kalbens«, hatte sie am dritten Tag ihres Besuchs wachsam bemerkt und nach dem Pferch gefragt, wo die tragenden Kühe standen. Sie war von Tier zu Tier gegangen, hatte an ihren Köpfen der Atmung gelauscht und dabei vorsichtig gegen die Lenden gedrückt. Und richtig, bei einer war bereits ein dicker Schleimfaden unter ihrem Schwanz hervorgekommen.
»Vielleicht ist es besser, wenn du Fritz rufst«, war der Rat des Farmermädchens, und Frida hatte Jakobus schnell auf den Weg geschickt, ihren Mann aus dem Pferch zu holen.
Andere Frauen kamen nach ihr, zeigten Frida, wie man alte lecke Benzinfässer halbierte, sie reinigte, mit guter Erde füllte und dann Salat und Kräuter einsäte.
Wieder eine brachte gleich ihren Spaten mit.
»Er wird von meinem Mann immer selbst geschliffen«, hatte sie geschnaubt, hatte ihn rigoros in die Erde gestochen und in gleichmäßigen Abständen Beete für den Anbau von Spargel, Radieschen, Fenchel und Möhren ausgehoben.
»Gurken kannst du dir sparen, sie werden meistens bitter, hängt wohl hier in der Gegend mit der Erde zusammen«, hatte sie bestimmend gesagt und dabei die Augen zusammengekniffen, damit sie Jakobus besser beobachten konnte, der etwas entfernt das Kartoffelfeld anlegen musste.
Die folgende Ratgeberin wies Frida an, frische Kuhmilch in kleinen Schüsseln auf den schattigen Rand ihres Küchenfensters zu stellen und mit Tellern abzudecken. Nach zwei Tagen war sie zu Dickmilch gestockt und schmeckte gerade in der heißen Jahreszeit wunderbar. Sie zeigte ihr, wie man daraus auch Käse machen konnte, auch, wie sich der unebene Lehmboden in der Küche sauber halten ließ und wie man Leibwäsche bleichte und rein hielt.
Beim Abschied hatte sie Frida in den Arm genommen und gesagt: »Wir alle haben dieses Land adoptiert, weil wir es lieben. Es ist in unserem Herzen, und möge Gott es für dich auch so wollen. Wenn du Hilfe brauchst, kannst du immer zu mir kommen.«
»Danke«, hatte Frida gemurmelt, überrascht über diese Freundlichkeit.
Die vorletzte Farmerfrau brachte ihr Blumensamen mit, legte parallel zum Haus ein schmales Erdfeld an und zog Drähte hoch, die sie dann mit einem schräg geschlagenen Nagel stramm befestigte.
»Hier setzen wir Winden und Phlox, darunter Astern, Levkojen, in der Mitte etwas nach vorne gerückt einen Rosenstrauch. Die linke Seite lass frei. Hier kommt der Weinstock hin. Den muss aber der Mann pflanzen.«
Sie lächelte.
»Ich habe Fritz auf der pad getroffen und ihn daran erinnert. Er wird Reben aus Windhoek mitbringen. Aus Sicherheit zwei Stöcke. Einer von ihnen kann vielleicht eingehen, dafür wird der zweite durchkommen, Ableger bescheren und euch und eure Nachkommen auf immer begleiten.«
Und die Letzte lehrte sie, wie man sich im Busch vor Krankheiten schützen konnte. Es war eine alte Frau aus dem kargen Süden des Landes.
»Leg dir ein Medizingärtchen an. Lindenblütentee bei Fieber, Salbei bei Entzündungen, Baldrian, Melisse und Hopfen, Pfefferminz sind für alles zu gebrauchen. Und natürlich Kamille nicht vergessen. Ich mache dir eine Aufstellung, wie und wofür du die Kräuter zu mischen hast. Mal ist die Seele der Doktor für den Leib, mal der Leib der Doktor für die Seele. Du musst dafür sorgen, dass beides im Einklang steht. Und noch etwas: Wenn die Hühner erkranken, lahm und blind werden und die ersten sterben, musst du sofort den Rest der Schar mit je einem Löffel gepfeffertem Rum und aufgequollenem Reis behandeln. Lass sie drei Tage im Stall, dann sollte es eigentlich gut sein.«
Sie blickte sie zwingend an.
»Und wenn jemand von der Schlange gebissen wird, musst du sofort einen Kreuzschnitt machen und das Blut aussaugen, egal, ob es eine Puffotter oder eine Spuckschlange ist, brenn die Stelle dann aus und träufle Tabaksaft aus der Pfeife drauf.«
Nach einer kurzen Pause: »Bei einer Mamba kannst du nichts machen. Leg den Gebissenen in deinen Schoß und sprich mit ihm, bis es zu Ende ist.«
Frida war allen Frauen unendlich dankbar für ihre Hilfe und ihren Rat, aber mit keiner konnte sie so gut reden und so fröhlich sein wie mit Gustchen, und die wollte nun in drei Wochen nach Lüderitz abfahren, um dort zu heiraten.
»Was hätte ich ohne euch, ich meine ohne dich getan?«, fragte sie seufzend.
»Jeder besitzt einen Funken Genie, der nicht verloren gehen darf. Das ist unsere Devise hier in Südwest. Also auch du«, antwortete Gustchen, »und dass du mich ja besuchen kommst.«
»Ehrenwort«, sagte Frida und betrachtete mit gemischten Gefühlen die Fledermäuse, die dicht nebeneinander unter dem Dachvorsprung hingen. Wenn es gleich ganz dunkel war, würden sie ausfliegen und erst mit dem ersten Tageslicht zurückkommen. So richtig konnte sie sich immer noch nicht daran gewöhnen, so unmittelbar mit Tieren zu leben, vor denen sie früher Furcht gehabt hatte.
»Bist du eigentlich mit Fritz glücklich?«, fragte Gustchen unvermittelt, »ich meine, so richtig?«
»Ja, sehr«, antwortete Frida und war dankbar, dass sie wirklich mit Fritz und Constanze die Heimat angetroffen hatte, die sie sich so sehr erhofft hatte.
Und es waren wirklich glückliche Monate auf omutima ondizira.
Es hatte gut geregnet, die beiden Dämme waren voll, und die Erde begann sich zu dehnen und zu strecken, um ihre Frucht auszutragen.
Mit dem Geld aus dem Säckchen hatte Fritz Viehfutter kaufen können, so dass er nicht wie andere Farmer notschlachten musste. Auch einen zweiten Windmotor brachte er aus Okahandja mit, und als einige Tage später Erasmus den neuen Brahmanenbullen vor sich hertrieb, wusste Frida, dass sie das Schlimmste überstanden hatten.
Auch der Krieg hatte sich auf omutima ondizira bisher nicht sehen lassen.
Lydia hatte sie zu überzeugen gewusst, ihre älteste Tochter Susu als Kindermädchen für Constanze anzulernen. Sie war zuerst skeptisch. Das Mädchen war selbst noch ein Kind, sprach nur in diesen seltsamen Schnalzlauten, wie sollte sie sich mit ihr verständigen. Aber da sie oft mit Fritz draußen war und ihm helfen musste, willigte sie schließlich ein.
Lag die Arbeitsstelle näher, musste Susu sie begleiten, den Säugling in einem Brusttuch mit sich tragend, einen Stecken in der Hand zum besseren Laufen und sich unter den kleinen Baldachin setzen, den Fritz für diesen Zweck gebaut hatte.
Frida hatte das Reiten gelernt und ritt oft die hinteren Zäune ab, um zu sehen, ob alles in Ordnung war. Langsam wich die Unruhe, weil Susu ihr jedes Mal beim Zurückkommen beruhigend zuwinkte und sofort im Schatten Platz machte, damit sie Constanze stillen konnte. Manchmal sah ihr Fritz dabei zu, und sie sah seine Liebe für sie und das Kind, und dann war Frida glücklich, einfach glücklich.
Sie saß mit den beiden Mädchen im Schatten des Baldachins und schaute fragend auf, als Fritz auf sie zugaloppiert kam.
»Mach ich nie mehr wieder«, knurrte er, »die Pavianhorde war schon drüben im Maisfeld, zwei Tage später hätten sie hinter dem Farmhaus die Wasserleitungen zerstört. Einer war besonders groß. Ich wollte ihn schießen, habe aber ein Junges getroffen. Und das hat geschrien wie ein Kind, schrecklich.«
»Es musste sein«, sagte sie bestimmt, »wir hätten das Feld sonst verloren«, reichte Constanze der kleinen Schwarzen wieder an und stand auf. »Gehen wir heute jagen?«, fragte sie, und ihre Augen glänzten.
Seit ihr Fritz das Schießen beigebracht und sie das erste Mal mit zur Jagd mitgenommen hatte, war sie dieser verfallen.
Sein ganzes Wissen musste er ihr erzählen, jede Erfahrung, jedes Jagderlebnis beschreiben, und sie war selbst überrascht darüber, wie schnell sie sich in das Wild förmlich hineindenken konnte, wie sie es aufzuspüren hatte, wie es zu bejagen war. Frisches Wildfleisch wertete nicht nur ihre einfache Küche auf, es schmeckte ihnen und den Freunden und Nachbarn, die nun häufiger vorbeikamen.
Musste Nachschub her, konnte Frida stundenlang regungslos auf einem Baum oder einem Sitzstock sitzen. Wenn eine Großtrappe vor ihr beruhigt durch das Gras stakte, um dort nach Nahrung zu suchen, wusste sie, dass sie sich gut geschützt hatte, dann wartete sie geduldig auf die Antilope, die irgendwann arglos ob der Ruhe aus dem Dickicht treten würde, direkt vor ihre Büchse. Manchmal versteckte sie sich auch im Grün eines Baumes, bis sich ein Volk von Perlhühnern vor ihr niederließ, oder holte sich eine Gazelle aus der Mitte ihres Rudels. Aber nur sie allein wusste, welcher Gedanke sie beherrschte, wenn sie den Finger krümmte, um die Kugel fliegen zu lassen.
Du, Magd, kommst augenblicklich in mein Büro.
Das Gesicht war aus ihrer Erinnerung verschwunden, nicht aber die Stimme, und genau in diese Worte hinein – schoss sie.
»Wir haben ein Problem«, unterbrach Fritz ihre Gedanken. »ein Gepard hat ein Kalb gerissen. Er muss groß sein, ich habe es am Trittsiegel gesehen. Heute Nacht wird er sich das nächste holen und morgen wieder –«
»– dann müssen wir uns wehren«, fiel ihm Frida hart ins Wort.
Den ganzen Nachmittag kappten sie in aller Eile Dornbüsche und schoben sie in der Nähe des Hauses zu einem Wildkral. Die Kronen richteten sie nach außen, ließen aber an einer Stelle ein Loch, einladend und groß genug für einen Räuber, um ihn in Sicherheit zu wiegen. Alle Schwarzen mussten helfen, die Rindermütter mit ihren Kälbern wie auch die unbeweglichen hochträchtigen Kühe vor der Dunkelheit in den neuen Pferch zu treiben.
»Ich sitze an.«
Fridas Stimme zitterte. War es Jagdfieber oder etwas anderes?
»Am besten auf dem Dach.«
Fritz lachte. »Wenn du willst«, meinte er, »aber zwing mich nicht, eines Tages den Haushalt zu übernehmen, nur damit du auf die Jagd gehen kannst.«
Die Großkatze kam schon in der ersten Nacht – und sie kam in der Gestalt des Mannes, der vor Millionen von Jahren versucht hatte, ihr Leben zu zerstören.
Und du, Magd, kommst augenblicklich in mein Büro.
Ruhig zielte Frida auf seine Augen, und noch ruhiger krümmte sie den Finger am Abzug.
Sie tötete mit nur einer Kugel.
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Stand es nicht so im alten Testament?
Die Magd Frida gab es nicht mehr.
Und das war gut für omutima.
Fritz gerbte das Fell, und sie legten es quer über die untere Holzleiste ihres Bettes. Bei Vollmond zeichneten sich die Konturen des Kopfes besonders stark ab, und das gefleckte Fell schien sich zu bewegen.
Früher hätte Frida Angst gehabt. Heute nicht mehr. Vor nichts und vor niemandem.
Und das war besonders gut für omutima.
Das Pferd hatte Schweiß an Flanken und Hals, es musste die letzten Stunden hart geritten worden sein. Der Reiter sprang ab, dabei flog sein Südwester zu Boden, er hob ihn auf, und seine silbernen Abzeichen am Kragen glänzten in der Sonne.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Frida misstrauisch und trocknete sich die Hände an der Schürze ab.
»Ist der Mann zu Hause?«
Fritz kam über den Hof gelaufen.
»Lass mal, Frida«, sagte er resigniert, »ich weiß es seit gestern.«
»Was weißt du?«
»Doktor Seitz15 hat die Mobilmachung angeordnet.«
15 1914 Kaiserlicher Gouverneur in Deutsch-Südwestafrika
»Aber du hast doch, ich meine, du bist doch –«
»Es gilt für alle Deutschen unter vierzig Jahren.« Er wandte sich an den Boten. »Ich weiß, wo ich mich melden muss.«
Der Mann sprang wieder auf das Pferd, riss sich den Hut vom Kopf, schwenkte ihn vor Fritz und Frida und schrie: »Seine Majestät, Kaiser Wilhelm II., ein Hurra, Hurra, Hurra«, und ritt aus dem Hof.
»Nach der Kongo-Akte 1890 wurde zwischen den afrikanischen Kolonialländern vereinbart, dass keine Truppen in ein anderes Land einmarschieren sollen, damit die Neger nicht sehen, wie sich die Weißen töten –«
Die Stimme von Fritz wurde bitter.
»Und genau das haben jetzt die Briten zusammen mit den südafrikanischen Buren getan. Sie sind hier in unser Land einmarschiert.«
»Die Schwarzen sagen oorlog zum Krieg«, sagte Frida leise. »Lydia hat es mir gestern gesagt.«
Fritz sah sie an. »Ich habe schon mit Jakobus und Erasmus gesprochen. Ich habe ihnen gesagt, dass du für eine Weile der Baas bist. Du musst streng sein, dann werden sie dir auch gehorchen. Ich hoffe, dass ich bald wieder zurück bin. Und, Frida: Du darfst niemals einen Neger wissen lassen, dass du Angst hast. Niemals.«
»Nimm mein Pferd«, sagte sie so sanft, wie sie konnte. »Es ist jünger und hat mehr Ausdauer.«
Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küsste Fritz. »Du wirst wiederkommen, denn unser Herr wird dich beschützen.«
Sie blickte ihm nach, bis er hinter dem Berg verschwunden war.
Vom Krieg in Europa hörte sie wenig, dafür umso mehr von den militärischen Auseinandersetzungen mit den Südafrikanern.
Postämter wurden im ganzen Land geschlossen, und die Gefangennahme vieler Deutscher wurde von Mund zu Mund weitergetragen. Als die Farm Kaltenhausen, südwestlich von Otjimbingwe, von südafrikanischen Soldaten eingenommen wurde, wusste Frida, dass die Tage der deutschen Herrschaft in diesem Land vorbei waren.
»Es ist der Anfang vom Ende«, sagte sie und schälte erregt die Kartoffeln über dem Spülstein. »Wir haben weder Waffen noch genügend Männer, um die Engländer zurückzuschlagen.«
Sie drehte sich erschreckt um, weil sie ein Geräusch hörte. Es war Lydia, die in der Türe stand.
»Verdammt, warum lässt man uns nicht in Frieden unser Auskommen erwirtschaften, warum?«
Und in ihren Augen standen Tränen.
Eines Tages kam die Mutter von Gustchen auf den Hof gefahren. »Wir müssen zusammenhalten und uns gegenseitig schützen. Ich habe den einbeinigen Hannes Kolbe engagiert. Er wird von Farm zu Farm reiten, jeden Tag bei einer anderen sein. Das ist wichtig, damit die Neger sehen, dass man nach uns Frauen sieht. Er macht es für Kost und Logis, vielleicht sollten wir ihm auch einige Münzen geben. Kannst du dich daran beteiligen?«
»Natürlich«, sagte Frida und schielte auf das Gewehr, der Fritz an die Innentür der Küche befestigt hatte.
»Und noch etwas«, sagte die Frau. »Wenn es dem Herrn gefallen sollte, dass uns die Engländer wirklich besiegen, sofort die Farm räumen, die Häuser anzünden und die Brunnen verg –«
»– niemals«, unterbrach sie Frida bestimmt, »niemals werde ich einen Brunnen vergiften.«
Die Abende waren einsam, denn sie hatte keinen, mit dem sie sprechen konnte. Aber trotzdem saß sie oft ohne Angst bis in die späte Nacht auf der Veranda, das schlafende Kind in ihrem Schoß und schaute den Nachtvögeln nach, die im Flug das Haus umstrichen, beobachtete die Geckos, wie sie sich mit ihren Saugfüßen an den Wänden festhielten und dabei Miniaturdrachen glichen. Mit jeder Faser ihres Herzens wünschte sie sich Fritz gesund zurück. Leise hielt sie mit ihm Zwiesprache, erzählte, was am Tage vorgefallen war, beruhigte ihn, machte ihm Mut, und ganz zum Schluss sagte sie ihm, dass sie ihn liebte. Dann flüsterte sie ein kurzes Gebet, bekreuzigte sich und ging zu Bett. Und am Morgen, wenn sie vom Ruf der Wildtaube geweckt wurde, schob sie die dicken Leinenvorhänge beiseite und betrachtete guten Mutes in der Ferne, wie sich das silberne Buschmannsgras im Wind wiegte.
Erasmus und Jakobus taten ihre Arbeit, aber Frida meinte, in der dritten Woche nach dem Weggang von Fritz eine leichte Aufsässigkeit an ihnen zu bemerken.
Und dann kam Erasmus an die Veranda und zog einen verschreckten Jungen hinter sich vor. »Guter Arbeiter, mehr Kost«, sagte er im Befehlston.
»Aber wir brauchen keine weiteren Leute«, sagte Frida.
»Ist nicht weitere Leute, ist mein Leute«, entgegnete der Schwarze und hielt Frida eine Hand des Jungen entgegen. Sie sah, dass das erste Glied des kleinen Fingers abgeschnitten war. Es war das Zeichen seines Sklaventums, und es musste vor kurzem gemacht worden sein, denn der Stumpf blutete noch.
»Welche Barbarei«, sagte sie mit Abscheu. »Es ist verboten, und du weißt es. Schick ihn weg, ich will ihn nicht hier auf meiner Farm haben.«
»Aber guter Arbeiter«, hob Erasmus wieder an, fast drohend.
»Nein«, schrie Frida. Sie stand auf, ging ins Haus und schloss die Verandatür energisch hinter sich zu.
Frida wusste, dass Jakobus gebückt unterhalb des Küchenfensters stand.
»Missis, mundu ma suvere ovina viovakuao.«
»Du meinst, er bestiehlt uns?«, empörte sich Frida. Sie nahm nicht einmal die Schürze ab, sondern lief wütend auf die Weide.
Dass das Kalb von der Gescheckten fehlte, fiel ihr sofort auf, denn die Kuh brüllte und lief unruhig über die Weide. Zuerst befürchtete Frida, dass es wieder eine Raubkatze sein könnte, und suchte aufmerksam den Boden nach Fährten ab. Aber es fehlten auch andere Kälber und – der starke Brahmanenbulle war verschwunden.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit nahm sie das Gewehr aus der Türverankerung, lud es und ritt zu der Eingeborenenbehausung. Sie stieg nicht ab, sondern rief laut nach den beiden schwarzen Arbeitern.
Träge schlenderte Erasmus ihr entgegen, während Jakobus die Augen niederschlug und im Hütteneingang stehen blieb.
Frida legte an und schoss über den Kopf von Erasmus hinweg in die Dunkelheit.
»Ich gebe damit den Kälbern und auch dem Bullen eine Warnung, dass sie morgen wieder hier zu sein haben«, ihre Stimme war gefährlich ruhig, »wenn nicht, wird es ihnen leidtun, denn sie werden nicht mehr unter meinem Schutz stehen, und Kost bekommen sie auch nicht mehr.«
Das Pferd tänzelte unruhig, und Frida verkürzte die Zügel. Fest blickte sie Erasmus an. »Und ihr müsst gehen, alle und sofort, denn ich brauche euch nicht mehr.«
Sie drehte sich um und ritt zurück.
Gegen Mittag des nächsten Tages standen die Kälber wieder bei ihren Müttern, und der Bulle trottete äsend über seine Weide. Aber in der Nacht kauerte Jakobus unter Fridas Schlafzimmerfenster und warf kleine Steine auf ihr Bett. Eines versprang auf die Wiege und kullerte zu Boden. Sofort war Frida hellwach. Sie griff nach dem Gewehr und hielt es in die Richtung der Geräusche.
Eine seltsame Helligkeit und Sausen erfüllte die Nacht. Es roch nach Unheil.
»Missis«, flüsterte der Junge draußen, »ich schrecklichen Traum. Alles verbrannt, und kleine Missis tot. Vielleicht gut, wenn Missis weggehen und warten, bis Baas wieder zurück.«
»Quatsch«, sagte Frida.
Drei Tage später traf Hannes Kolbe auf omutima ein.
Er bemerkte als Erster den Brand im hinteren Schweinepferch. Hell loderten die Flammen in der Dunkelheit, und eine versengende Hitze waberte bereits zu ihnen hinüber.
»Nehmt alle Decken und Matten und versucht, das Feuer zu löschen«, schrie Frida, zog sich eine Arbeitshose von Fritz über und stürmte in Richtung der Flammen, das Gewehr in der Hand. Sie hörte, wie die Schweine schrien. Sie selbst hatte sie gestern Abend eingesperrt, weil ein Gepard die Nacht zuvor ein Ferkel geraubt hatte, und jetzt verbrannten sie, ohne dass sie etwas tun konnte. Als sie den letzten Strauchgürtel erreichte, zwängte sich der Eber aus der zerborstenen Türe, sein Rücken brannte lodernd. Frida sah durch die hängenden Bretter, dass die Sau noch in ihrem Koben eingeschlossen war und dass sie bis zu den Zitzen im brennenden Stroh stand, schon halb verkohlt, schwankend im Schmerz. Frida legte an und erschoss sie. Blitzschnell erschoss sie auch den Eber, der mit irren Augen auf sie zugestürmt kam. In Flammen gehüllte Ferkel rasten umher, überschlugen sich, es roch nach verbranntem Fleisch –
Als das erste Tageslicht aufkam, hatten sie den Brand gelöscht. Kein Tier hatte überlebt –
Müde saßen Frida und Hannes Kolbe vor dem Haus. Plötzlich sah Frida, wie Erasmus herangeschlichen kam, am verkohlten Pfosten stehen blieb und in die sterbende Glut urinierte. Und sie sah sein gehässiges Gesicht –
Am Nachmittag schöpfte sie einen Eimer Wasser aus dem Brunnen und schleppte ihn zum Hühnerstall. Der Hahn schnupperte kurz daran, wandte verächtlich den Schnabel in die andere Richtung und stelzte davon. Entsetzt blickte sie Hannes Kolbe an.
»Wie kann man nur hier in Afrika Brunnen vergiften«, flüsterte sie.
»Sie müssen weg, weil Sie ein Kind haben«, sagte der alte Mann mitleidig, »morgen kann ich Sie nicht mehr schützen.«
Sie hatte bei Fritz gelernt, mit dem Ochsenwagen umzugehen. Hannes Kolbe half ihr beim Aufladen und auch später beim Anschirren der Tiere.
»Die Rinder treibe ich auf die Nachbarfarm, wie auch die Ziegen«, sagte er, »Jakobus wird mir helfen, er ist in Ordnung, bestimmt wird er drüben übernommen. Die anderen zahlen Sie am besten aus.«
Frida folgte seinem Rat. Aber dann kam der Moment, wo sie auf den Bock steigen und die Zügel in die Hand nehmen musste. Es tat ihr weh, und sie schluckte. Constanze hatte sie in einem Korb neben sich liegen. Unschlüssig blickte sie auf das abgeschlossene Haus, wollte nach Lydia rufen, aber der Mann bedeutete ihr zu fahren.
»Die Frau kann Ihnen nicht helfen, Gott alleine weiß, ob sie sich gegen den eigenen schwarzen Mob durchsetzen kann. Ihre Gesetze sind nicht die unsrigen. Wenn der Krieg zu Ende ist und wieder Ordnung herrscht, kommen Sie und ihr Mann wieder zurück«, sagte er, und Frida fügte sich.
Mit größter Selbstverständlichkeit erhielt sie von den Farmen, die auf dem Weg lagen, Unterkunft und Mitgefühl. Wenn sie genug Kraft für sich und ihr Kind gesammelt hatte, nahm sie mit Dank Proviant und Wasser an, und zog weiter. Nach Wochen erreichte sie Lüderitzbucht und für ihre Freundin Gustchen war es selbstverständlich, sie und das Kind aufzunehmen.
Die Septembersonne brannte.
Schon seit Tagen war der afrikanische Winter übergangslos in Hitze umgeschlagen, und da es für den Regen noch zu früh war, gab es auch in der Nacht keine Abkühlung.
»Habe ich recht gehandelt?«, fragte Frida zum wiederholten Male ihre Freundin und wiegte ihre Tochter im Arm. »Fritz hat mir die Farm anvertraut, und ich laufe bei der ersten Schwierigkeit davon.«
»Es war das einzig Richtige«, sagte Gustchen fest. »Ihr habt ein Kind, daran musst du denken. Aufbauen lässt sich immer wieder, aber Gräber bleiben geschlossen.«
Frida runzelte leicht die Stirn. »Du hast immer Vergleiche«, murmelte sie und legte Constanze zum Stillen an.
Gustchen stand auf und ging zum Fenster. »Meine Schwiegermutter«, sagte sie, »was ist für sie so wichtig, dass sie in der Mittagshitze durch die Straßen läuft?«
Sie lief zur Türe, und Frida hörte unmittelbar ein aufgeregtes Getuschel. Fragend blickte sie ihre Freundin an, die eine ältere Frau ins Zimmer schob.
»Es kann nur ein Irrtum sein«, sagte Gustchen, »was haben die Briten davon, uns Frauen und Kinder runter nach Südafrika zu bringen?«
»Und doch stimmt es«, beharrte die Frau müde, »ich weiß es von der Frau unseres Stadtbürgermeisters. Heute Morgen wurde Lüderitz von den Briten eingenommen. Es gab von unserer Seite aus keine Gegenwehr, die wenigen Freiwilligen haben sich aufgrund der Übermacht ins Hinterland zurückziehen müssen. Vor zwei Stunden haben wir kapituliert, damit die Stadt nicht beschossen wird, und seit einer Stunde weht die britische Flagge vor dem Rathaus. Lüderitz soll Stützpunkt der Briten werden. Dafür brauchen sie Häuser – schon morgen soll mit dem Abtransport begonnen werden. Jeder nur ein Gepäckstück –«
Sie setzte sich und schlug die Hände vor das Gesicht.
Am frühen Nachmittag hämmerten britische Soldaten gegen die Türe. »Waffen hier oder Brieftauben?«, schrie einer in Deutsch und fuchtelte mit dem Gewehr herum.
»Nichts dergleichen«, sagte Frida, die für ihre Freundin an die Tür gegangen war, und ihre Stimme war voller Verachtung.
Es war ein See-Viehtransporter, und dementsprechend sah das Innenleben aus. Die Türen hatten keine Klinken, aus den beiden einzigen Wasserhähnen tropfte eine übel riechende Flüssigkeit, und die Matratzen, die man in aller Eile auf den Boden geschmissen hatte, waren schmutzig und verwanzt.
Gustchen wich nicht von Fridas Seite, trug die kleinen Koffer, auch den Sack mit der Babywäsche, so dass Frida mit beiden Armen ihre Tochter im Gedränge schützen konnte. Prüfend schauten beide um sich und entdeckten einen Ventilator, der wie ein verstaubtes Rieseninsekt an der Decke hing. Gleichzeitig entschieden sie sich für die Ecke darunter, auch weil der Platz nahe der Türe war. Gustchen stellte sofort das Gepäck ab und ging ihrer vorgelaufenen Schwiegermutter nach, um sie zurückzuholen.
Schnell füllte sich das Schiff mit Frauen und Kindern, die verschreckt und eingeschüchtert auf ihren Bündeln hockten und auf das Kommende warteten. Irgendwann wurde an einer Glocke gerissen, Ankerketten begannen zu rasseln, und das Schiff setzte sich schwankend in Bewegung. Farblos, fast ohne Substanz, flimmerte der Horizont, zerstörte schnell jede Orientierung. Es wurde die Heimat genommen und Ungewissheit beschert.
»Deutschland, Deutschland über alles«, erklang plötzlich eine alte Frauenstimme in der Dunkelheit, andere fielen ein, und Frida ahnte, dass ihre Welt dabei war, in geisterhafte Leere zu zerfallen. Gott im Himmel, bitte mach, dass wir zurückkommen dürfen, betete sie und weinte in das Kissen ihres Kindes.
In Kapstadt kamen sie auf Lastwagen und wurden zum Bahnhof gefahren. Vorbei an patrouillierenden Posten mit aufgepflanzten Bajonetten mussten sie den wartenden Zug besteigen, der sie in drei Tagen und drei Nächten an das Ziel brachte.
Pietermaritzburg. Wieder warteten Lastwagen auf sie, wieder mussten sie aufsteigen, wieder ging es weiter.
Es dämmerte schon, als sie durch das mit Drahtverhauen abgesicherte Lagertor fuhren. Dahinter langgestreckte graue Baracken und – Zäune, Stacheldraht und Absperrungen, wohin man schaute.
Kein Baum, kein Strauch, nur roter Sand und Hitze.
Ein Konzentrationslager aus der Zeit der Burenkriege.
Sie wurden nicht misshandelt, durften in Gruppen in der Stadt einkaufen gehen, durften mit den Kindern spielen, nähen und basteln, durften singen, plaudern, kochen und die sonntägliche Predigt des britischen Geistlichen anhören, aber – sie waren Gefangene.
Keine von ihnen erfuhr, wie der Kriegsverlauf war, wie es ihren Männern ging, ob sie noch lebten, wo sie lebten –
Jeden Abend wurde das Tor zugezogen, abgeschlossen und von einem britischen Posten bewacht.
»Denkst du auch so oft an deinen Mann wie ich an den meinen?«, flüsterte einmal Gustchen und rückte näher an Frida heran. »Jeden Moment, den ich hier sein muss«, gab Frida zur Antwort, schloss die Augen und versuchte die Tränen ihrer Freundin zu ignorieren. Es hatte keinen Zweck, in die Rührseligkeit der Frauen mit einzufallen, einmal würde auch diese Zeit vorbei sein.
Das Tageslicht war trüb, und die winterliche Feuchtigkeit hatte sich wie ein lästiges Insekt in die Glieder der Inhaftierten eingenistet. Die aufgezwungene Nutzlosigkeit war von den Frauen nur schwer zu ertragen, und sie begannen gereizt miteinander umzugehen.
Es war ein windiger Wintertag.
Außer der Reihe mussten sie sich um die Mittagszeit zur Zählung aufstellen, der Lagerkommandant wollte eine Erklärung abgeben. Es musste wichtig sein, denn der dünne Dolmetscher mit dem blassen Gesicht neben ihm bewegte sich nervös hin und her.
Frida, wie immer mit Constanze im Arm, stand in der ersten Reihe. Ungläubig hörte sie die Worte des Übersetzers: »Heute ist ein segensreicher Tag für die britische Krone. Deutschland hat gestern, am 9. Juli 1915, in Afrika kapituliert –«
Sie wandte sich ungläubig Gustchen zu.
»– und Sie dürfen wieder zurück«, fuhr der Dolmetscher fort, »denn der allmächtige englische König ist der Meinung, dass keine Gefahr mehr von Ihnen ausgehen kann –«
»God save the King«, unterbrach ihn trompetend der Lagerkommandant.
Diesmal war es ein sauberes Schiff, auch die Verpflegung war besser.
Frida stand an der Reling und blickte auf das Wasser. Was erwartete sie in Lüderitz? Seit vierzehn Monaten hatte sie nichts mehr von Fritz gehört. Lebte er noch? Sollte sie auf die Farm zurück? Wie denn? Ohne Geld und ohne Karren?
Als die Ausschiffung begann, blieb sie abwartend stehen. Sie sah, wie Gustchen von ihrem Mann küssend durch die Luft gewirbelt wurde, alte Männer ihre Frauen mit Tränen in den Augen in Empfang nahmen, Brüder ihre Schwestern umarmten. Die dankbare Freude der Menschen über das Wiedersehen drang zu ihr hoch, aber sie fühlte schmerzhaft, dass sie und ihre Tochter von ihr ausgeschlossen waren.
Langsam ging sie das Fallreep herunter, vorsichtig ihr Kind an sich haltend.
Da stürzte ein Mann auf sie zu, nahm sie wild in seine Arme und drückte das Kind an sich. Frida schrie leise auf, als sie ihn erkannte.
»Haben wir noch ein Zuhause?«, flüsterte sie und hing in seinem Arm wie eine Ertrinkende.
»Immer, denn wir haben uns«, antwortete Fritz.
6. Kapitel
Manche sagten, die Zeit würde still stehen, andere meinten, sie laufe doppelt so schnell, und wieder andere behaupteten, sie zerbreche in tausend Splitter, um nie wieder ein Ganzes zu werden. Frida vermutete, dass alle diese Meinungen auf die Zeit nach dem Kriegsende in der ehemaligen deutschen Kolonie Südwest passten.
Frida, Fritz und alle Deutschen hatten schnellstens die englische Sprache der neuen Herren zu erlernen.
Alle deutschen Worte in der Öffentlichkeit wurden überpinselt, es gab keinen Deutschunterricht mehr in der Schule, nur noch Englisch16. Die deutsche Nationalhymne durfte nicht mehr gesungen werden, und die Ochsenkarren mussten von einem auf den anderen Tag auf der linken Straßenseite fahren. Es gab kein deutsches Geld mehr, man rechnete jetzt in Pfund und Schillingen. Es durften auch keine Fabriken betrieben werden, denn alles kam nun aus dem fernen Großbritannien. Porzellan, Kleidung, Gesetze, Verordnungen, Beamte – einfach alles.
16 und später Afrikaans
Und es wurde an allen Rathäusern des Landes eine Bekanntmachung des britischen Administrators angeschlagen, die die deutschen Farmer zur Kenntnis zu nehmen hatten.
»Unter den deutschen Gesetzen war es den Eingeborenen nicht gestattet, Reittiere oder Großvieh zu besitzen. Im Gegensatz zu diesen Bestimmungen ist diesen jetzt der Besitz von Großvieh gestattet, um sie zufriedener und gesetzeskonformer zu stimmen.«
Ungeduldig klopfte der britische Uniformierte mit der Reitgerte gegen die Schaftstiefel und betrachtete misstrauisch die kleine Menge vor der Lüderitzer Anschlagtafel.
Fritz schob die Kappe beiseite und kratzte sich am Kopf. »Mit diesem Gesetz dürfte sich unser Vieh jetzt in den Händen der Ne–«
»Falls uns Vieh gestohlen wird, werde ich mit dir bei den Schwarzen suchen gehen, Kral für Kral«, sagte Frida laut und griff beruhigend nach dem Arm ihres Mannes.
Aber sonst ließ man sie, die Deutschen, gewähren, denn sie waren fleißig, ordentlich und folgsam, rechte neue Untertanen ihrer britischen Majestät.
Fritz und Frida kehrten auf ihre Farm zurück.
Sie fanden ihr Haus leergeplündert und strotzend vor Schmutz vor. Die Türe hing aus den Angeln, und die Fensterscheiben waren eingeschlagen. Kein Hahn krähte, kein Vieh lärmte aus der Ferne, nicht einmal Mücken oder Fliegen umkreisten sie.
»Omutima ondizira gehört uns. Wir werden wieder neu anfangen.«
Es lag Trotz in Fridas Stimme, und mit Nachdruck stellte sie die Tasche auf den Boden. Flüchtig ging ihr auf, dass sie diese Worte bereits schon einmal verwendet hatte. Und wenn ich sie das dritte oder vierte Mal gebrauchen muss, dachte sie, ich lass mich nicht unterkriegen. Weder von den Engländern noch von diesem Land.
Merkwürdigerweise war die Pumpe hinter dem Stall noch in Ordnung. Fritz holte sofort Wasser, während Frida das Kind in den Schatten legte und nach einem Lappen suchte, damit sie mit dem Putzen anfangen konnte.
Sie hörte abseits vom Haus Flügelschlag, und dann fielen zwei Schüsse. Also hat er das vergrabene Gewehr gefunden, dachte sie erleichtert. Sie blickte auf, direkt in das eingefallene Gesicht einer Hottentottenfrau, die mit einem Kind an der Hand plötzlich vor ihr stand.
»Gut, dass Missis wieder zurück«, sagte die Schwarze leise, »kein Essen, keine andere Kinder, das vielleicht auch bald nicht mehr«, und strich über den geblähten Hungerbauch ihrer Tochter.
Frida kniff die Augen zusammen. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie Lydia.
»Wenn du mir hilfst, das Haus in Ordnung zu bringen, kann ich in der Zeit Feuer machen«, sagte sie kurz. »Der Baas hat Fleisch geschossen, also werden wir alle heute etwas zu essen haben.«
Die Schwarze stupste ihr Kind in die Richtung, wo Constanze lag.
»Sie wieder auf kleine Missis aufpassen«, sagte sie, und dann fuhr sie fort: »Pumpe immer beschützt«, und blickte Frida dabei verschwörerisch an.
Frida verstand und lächelte.
Nach und nach kamen Teile der von den Schwarzen abgetriebenen Rinder wieder zurück. Es war Ehrensache unter den Farmern, fanden sie allein gelassene Tiere im Busch, informierten sie anhand der Brandmalzeichen ihre rechtmäßigen Besitzer.
Der Bramane war nicht unter ihnen, auch keine Nachkommen von ihm, meistens waren es nur kranke und hinfällige Kühe, die nach omutima zurückgebracht wurden, aber es war der Anfang, den sie brauchten.
Die folgenden Jahre waren gute Jahre.
Das Gras wuchs reichhaltig und war nahrhaft. Fritz weitete die überlegte Rinderzucht aus, denn die Bullen und Färsen gediehen prächtig und brachten auf den Versteigerungen gutes Geld. Nicht selten stand er vor dem Jungbullenkral und betrachtete stolz die Tiere, die mit seinem Eigentumszeichen herumliefen.
Frida empfand eine ähnliche Zufriedenheit, wenn sie die neu gesäten Passionsblumen in gesunder Stärke über den Terrassenboden kriechen sah, jeden Tag ein Stück weiter, bis hin zu den Regenrohren, an denen sie sich hochrankten, um sich dann leichter durch eines der Fenster zu stemmen. Sie liebte es, wenn die Tauben vertraut den Dachfirst entlangspazierten, und empfand die Schwalben, die ihre Lehmnester an der Hausmauer umschwirrten, als Glückszeichen, so wie man es damals auch in ihrem Elternhaus sah.
Vorhänge hingen nach dem ersten Rinderverkauf wieder an den Fenstern wie auch für jeden ein Sonntagsstaat im Schrank. Der Kräutergarten war wieder säuberlich gebeetet, und es lag immer genügend aufgeschichtetes Kameldornholz am Feuerplatz. Fritz hatte auf ihre Bitte hin je zwei Apfelsinen- und Zitronenbäume gepflanzt und den Weinstock beschnitten, der daraufhin bereits im zweiten Jahr reichhaltig Trauben trug.
Ihnen beiden war jedoch klar, dass es nur der Segen des Regens sein würde, der ihnen dieses Paradies erhalten konnte. Kam er und wurde die Erde großzügig von ihm bedacht, rochen Fritz und Frida förmlich den wunderbaren Geruch der Fruchtbarkeit, der ihr entströmte. Wenn kurze Zeit später verschwenderisch das neue Grün ausbrach und die Wasserlöcher bis zum Überlaufen gefüllt waren, wussten sie, dass wieder Nahrung und Auskommen für ein Jahr gesichert waren.
Im Jahr ihrer Rückkehr fiel der Regen besonders üppig aus. Einmal jagte eine entfesselte Flut durch die riviere17, entwurzelte Uferbäume, bohrte sich ein neues Bett in der folgenden Biegung und setzte zum Abschluss ihres Tun unzählige Schaumkronen auf die überspülten Gebiete.
17 Trockenflüsse, die nur in der Regenzeit Wasser führen
Fritz und Frida sahen es mit Befriedigung. Die Kraft dieser bestimmenden Natur würde ihnen und omutima, wie sie ihre Farm nun abkürzend nannten, ein gutes Auskommen bescheren.
Oft ritten sie nach getaner Arbeit zu einer Stelle, von wo aus sie die Sonne am Horizont frei von jeden Büschen und Bäumen untergehen sehen konnten. Einträchtig saßen sie dann beieinander und beobachteten das eine oder andere Wild, das zur Äsung aus dem Busch trat. Sie brauchten keine Worte, denn sie verstanden sich. Vertraut mit den Gedanken des anderen, ließen sie sich zur späteren Stunde von dem herben Duft der Mopanebüsche einhüllen, genossen die Nachtstille, die langsam aus dem Busch zog, und beobachteten, wie die Savanne im Mondlicht neue Konturen zeichnete.
War sie, Frida, glücklich? Es musste so sein. Sie war zweiundzwanzig Jahre alt, hatte eine kleine Familie, arbeitete für den eigenen Hof und lebte in einer inneren und äußeren Freiheit, die sie in der alten Heimat nie erfahren hätte. Die Kriegsverletzung von Fritz blieb weiterhin zwischen ihnen unerwähnt, mehr noch, es gab sie nicht, denn er war groß und stark, auch klug, weil er auf alles eine Antwort wusste. Und Constanze war ihre gemeinsame Tochter, nie wurde es anders betrachtet. Allerdings zitterte sie manchmal, wenn Fritz ihr über den Rücken strich, versehentlich, wie ihr schien, oder sich im Schlaf an sie schmiegte. Es gab dann in ihr dieses merkwürdige Sehnen nach etwas, das sie nicht bestimmen konnte, und sie war verwirrt darüber, weil es sich nachhaltig über ihr Denken legte.
Und doch war es für beide eine glückliche Zeit, in der kein Blick und kein Wort ohne Bedeutung waren. Sie atmeten und lebten zusammen, liebten ihre Tochter und hatten sich die Heimat omutima geschaffen, alles zusammen erfüllte machtvoll ihre Herzen.
Und nur das zählte.
Im vierten Jahr blieb der Regen aus. Noch war geschnittenes Gras als Futter für die Rinder vorhanden, doch auch im folgenden Jahr verdunsteten die meisten Regentropfen in der Luft, bevor sie die Erde erreichten.
Fritz trieb schon früh den Großteil seiner Herde zum Verkauf, handelte sich dafür genügsame Schafe und Ziegen ein, die mit dem dünneren Futter zufrieden waren.
Frida konnte sich zwar auf das Wasser aus dem Bohrloch nahe dem Haus verlassen, aber sie achtete auf jeden Tropfen und begann instinktiv damit, ihren Haushalt sparsamer zu führen.
Im nächsten Jahr mussten sie die Schafe und Ziegen verkaufen und überlebten das Folgende mit dem Erlös.
Oruteni flüsterten die Schwarzen sorgenvoll. Die heiße Zeit zwischen Oktober und Dezember. Wieder war in den letzten beiden Monaten der Regen nicht gekommen. Und es gab keine Anzeichen, dass er kommen würde. Alles schien zum Stillstand verdammt.
Weihnachten kam. Unbarmherzig brannte die Sonne vom Himmel und ließ die kahlen Felsen in der Hitze flimmern. Da, wo früher Weide war, gab es nur noch vom Wind abgeschliffene Steine in der Farbe von gebranntem Ton. Es war keine gute Stimmung in der Heiligen Nacht. Die Familie hatte die Fenster verdunkelt, um etwas mehr Kühle zu haben.
Frida richtete den Gabentisch, während Fritz noch einmal nach draußen ging.
Müde kam er nach einer Stunde zurück.
»Oben im Norden hat man Büffel wandern sehen«, sagte er.
Frida schaute auf. Es war der Klang seiner Stimme, der sie beunruhigte.
»Und was bedeutet das?«, fragte sie ruhig.
»Trockenheit, die anhält. Sie ziehen, um Wasser zu finden, die Starken vorneweg, die Schwachen werden sich hinlegen und verenden.«
Er setzte sich an den Tisch, und Frida stellte ihm ein Glas Tee hin. Fritz senkte den Kopf. »Damals im Krieg gab es auch eine Dürre. Wir ritten Patrouille an der Grenze zum Betschuanaland18, und ich bekam die Aufgabe, einen geeigneten Rastplatz zu finden. Ich suchte Schatten vor der sengenden Sonne und entdeckte durch Zufall eine Büffelherde. Sie war von sterbenden Tieren durchsetzt. Es war schrecklich, mit ansehen zu müssen, wie die Gesetze der Natur eingriffen. Und dann passierte etwas, das ich nie in meinem Leben vergessen werde. Die Lebenden stellten sich in eine Reihe und senkten ihre massigen Schädel. Nur kurz, aber für mich war es wie ein ritueller Abschied. Dann zogen sie weiter, ohne sich noch einmal umzudrehen.«
18 heutiges Botswana, bis 1966 britisches Protektorat
Er atmete schwer. »Wir durften ja keine Munition fremd verwenden, und so haben wir die Nacht abgewartet. Am frühen Morgen waren die sterbenden Tiere verendet, aber Hyänen und Schakale hatten sich schon vorher über sie hergemacht. Also war das Fleisch für uns ungenießbar. Eine Kuh lebte noch, sie starb erst am Nachmittag. Wir konnten fast eine Woche von ihrem Fleisch leben.«
Er blickte Frida an, »Möge Gott geben, dass wir endlich Regen bekommen.«
»Wir werden uns wehren«, sagte Frida in seine Verzweiflung hinein, »und wir werden es schaffen.«
Kurz glitt der Blick von Frida aus dem Küchenfenster durch den Garten hin zur Fächerakazie, wo sie, nach dem Gelächter zu urteilen, die beiden Mädchen vermutete. Sie hörte am Quietschen in der Luft, dass sie auf der Schaukel saßen.
Es war damals ein guter Vorschlag von Lydia gewesen, ihr Mädchen Susu Conny beiseitezustellen, ging es Frida flüchtig durch den Kopf, während sie umsichtig die beiden Brotkästen und eine Kuchenform in den Ofen schob. Beide Mädchen sprachen heute die Sprache der anderen und waren Freundinnen. Aber nur weil sie es nicht anders wussten, und das bereitete Frida manchmal Sorgen.
Die von Südafrika aufdiktierte Apartheid wurde hier in der Abgeschiedenheit nicht angewandt, weil sie, Frida, es nicht wollte. Nun würde aber Conny bald in ein Schulinternat kommen und Susu nur noch in den Ferien sehen können. Auf die neue Erziehung hatte Frida keinen Einfluss. Wie würde sich Conny weiterentwickeln? Oft stellte sich Frida diese Frage.
Plötzlich hörte das Gekicher abrupt auf, und alarmiert darüber rannte sie hinaus.
Eingeschüchtert standen ihre sechsjährige Tochter und die vier Jahre ältere Tochter Lydias vor einem alten mageren Schwarzen, der sich jetzt umdrehte und Frida mit gerunzelter Stirn betrachtete. Langsam legte er den Wanderstab, Symbol des ziehenden Hirten, vor sich auf den Boden. Seine Kleidung war zerrissen, und anstelle von Schuhen hatte er seine Fußsohlen mit dünnen Lederriemen umwickelt. Seine Hände waren von knotigen Adern durchzogen, und auf Augen, Mund und Nase hatten sich unzählige Fliegen festgesetzt. Und doch ging von ihm eine bestimmende Würde aus, die Frida veranlasste, sich abwartend zu verhalten.
Der Mann senkte die Augen und schwieg. Nach einer Weile blickte er hoch und wies auf den Brunnen. Seine Stimme war leise und zornig.
»Der weiße Mann kam und kaufte ungenutztes Land ohne Wasser. Jetzt verfügt er über Wasser, das wir ihm nicht verkauft haben und das uns in der Dürre fehlt. Und er hat Zäune gezogen, dass unsere Rinder nicht mehr äsen und Wasser schöpfen können, wo sie möchten. Himmel, Weide und Wasser gehören aber uns allen.«
»Und jetzt hast du kein Wasser für dich und deine Kühe«, sagte Frida so sanft, wie sie konnte.
Der Mann sagte nichts.
»Wo stehen deine Rinder?«, fragte Frida.
Der Mann machte eine unbestimmte Bewegung zur Seite.
»Jakobus«, rief Frida laut, »führ ihn und seine Tiere zu unserer Tränke auf die hintere Weide.«
»Er hat recht«, murmelte sie, als sie ins Haus zurückging, »aber entweder er und die vielen anderen oder wir.«
Sie setzte sich grübelnd an den Küchentisch. Wir müssen teilen lernen, dachte sie, sonst werden diese vielen anderen unsere Feinde, und dagegen kommen wir nicht an. Ich muss mit Fritz darüber reden.
»Nein«, sagte Fritz hart, »nein, nein und nochmals nein.«
»Und wenn wir noch eine Quelle finden?«, fragte Frida plötzlich aufgeregt. Mein Gott, dass ich nicht eher daran gedacht habe: Vater meint, du mit Kind heut noch ohne Augen alleine hingehen, später mit sehendem Kind wiederkommen –
»Fritz«, Frida schrie fast, »lass mich mit Conny die Quelle suchen und gib mir Jakobus mit, es war damals sein Vater, der uns zu den Gräbern führte und von der Quelle sprach –«
»Ich auch mitgehen, Missis«, sagte Lydia und stellte sich an Fridas Seite.
Das Grab fanden sie ziemlich schnell.
Es war Jakobus, der Frida auf die beiden völlig mit Schlingpflanzen bedeckten gleich großen Steine hinwies. Sie befreiten sie aus der grünen Verflechtung, und Frida ging mit der Hand zentimeterweise die Oberfläche ab, ob es vielleicht irgendwo ein eingeritztes Zeichen mit einem Hinweis auf die Quelle gab. Aber da war nichts. Dann fegten sie den Boden um die Steine herum sauber, drehten jeden kleinsten Stein um, zogen Wurzeln aus der Erde, prüften deren Feuchtigkeit.
Nichts.
Frida verteilte aus dem Proviantkorb Butterbrote und Wasser. Sie aßen schweigend.
»Wir müssen weitersuchen«, sagte sie, als sie aufgegessen hatten, und stand auf.
»Wo, Missis?«, fragte Lydia.
Frida teilte die nächste Umgebung in Quadrate auf. Jakobus und Lydia bekamen die linke Seite, sie, Conny und Susu begannen rechts mit der Suche – nur, worauf sollten sie achten? Mit dem letzten Tageslicht kehrten sie nach Hause zurück.
»Morgen früh um sechs«, ordnete Frida an und zog am nächsten Tag den Kreis weiter. Wieder nichts. Auch nicht am dritten Tag.
»Gib es auf«, sagte Fritz.
»Noch einmal«, bat Frida. »Ich gehe allein und nehme das Pferd.«
Am Abend rieb sie die Stiefelsohlen mit Benzin ein. Eine Vorsichtsmaßnahme, denn vielleicht würde sie laufen müssen und deshalb nicht achtsam genug auf Schlangen und anderes Gewürm achten können.
Vor Beginn der Morgendämmerung ritt sie los. Kurz vor den Gräbern stieg sie ab und ging langsam, das Pferd lose am Zügel mit sich führend, zum ausgetrockneten Flussbett weiter. Die aufgehende Sonne blendete, als sie vor den Steinen stand, aber dann sah sie plötzlich, dass ihre flachen Strahlen wie gebündelt an den Gräbern vorbei in eine Richtung wiesen. Ich könnte ihnen folgen, dachte sie, und ihr Herz klopfte eigenartig. Sie achtete darauf, dass das Pferd in dem Lichtbündel blieb, und durchquerte rasch alle Kreise, die sie in den vergangenen Tagen für die Suche gezogen hatte.
Der Strahlenweg schien kein Ende zu nehmen. In einer geraden Linie führte er sie immer weiter weg vom Farmhaus, zum Westen hin. Frida sah es am Schatten ihres Pferdes. Einmal blieb es unwillig stehen, und sie musste es vorsichtig um ein tiefes Loch herumführen, das von Erdschweinen gegraben worden war. Sie durchquerte eine kleine Senke, ritt dann wieder auf eine Erhöhung, bis sich ihr plötzlich ein Felsplateau entgegenstellte.
Und hier endete die merkwürdige Führung. Das Licht erklomm jetzt die aufgetürmten Steine, erfasste das Land dahinter und schwebte fächerartig zum Himmel hoch.
Nachdenklich sprang Frida ab.
Geschichteten Brettern gleich lagen die Felsen vor ihr, eingerahmt von Büschen, die grüne gesunde Blätter trugen. Wie in einer guten Regenzeit, dachte sie, oder, und sie wurde aufgeregt – wenn Grundwasser vorhanden ist.
Langsam ging sie näher. Sie bemerkte ein Glitzern, hörte ein leises Zischen.
Irritiert suchten ihre Augen die Steinformation ab. Und dann sah sie vor einer größeren Spalte einen dunklen Haufen in einer Sandmulde liegen, der sich aber jetzt bewegte, sich sogar drohend aufrichtete. Und wieder erklang dieses Zischen, warnend und bösartig.
Frida rannte zum Pferd, riss das Gewehr aus der Halterung und erschoss das Reptil.
Es war ein einziger Reflex. Zitternd repetierte sie. Da, ein anderes Geräusch. Wild blickte sie sich um, die Schrotflinte im Anschlag –
Knurrend hockte die Katze auf dem Felsen.
Frida starrte auf das Tier, wie hypnotisiert blieben ihre Augen auf der goldfarbenen Blesse hängen, die zwischen den Lichtern bis zur Nase verlief. Sie war von einem feinen schwarzen Strich gerahmt und gab dem Gesicht eine selbstverständliche Schönheit.
Es war das erste Mal in ihrem Leben, dass sie eine Löwin sah.
»Ich will dir nichts, also geh«, flüsterte sie bebend, immer noch das Gewehr im Anschlag.
Die Löwin fauchte leise, erhob die Pranke, zog sie wieder an sich. Dann ein Maunzen, und zwei Welpen krochen unter ihrem Bauch hervor. Plötzlich ließ sich das Muttertier auf den Rücken fallen, streckte die Läufe spielerisch von sich, legte sich auf die Seite und betrachtete Frida interessiert. Schau, ich bin wehrlos.
Frida verstand, setzte das Gewehr ab, vertiefte sich in die leuchtende Kraft der Augen. Sie fühlte etwas. Kam es vom Verstand? Aus dem Herzen? Konnte es hier und jetzt eine Akzeptanz geben?
Der alte Hirte erhob sich hinter einem Stein und ging auf Frida zu.
Blitzschnell sprangen die Tiere hoch und verschwanden hinter der Kuppe.
Der Mann erschien Frida wie eine Vorsehung. Das dunkle, wie gemeißelte Gesicht, sein Alter, seine Würde – aber, war er Freund oder Feind?
Unschlüssig blickte sie wieder zur Schlange, die sich zuckend auf dem Felsvorsprung wand und mit letzten Kräften versuchte, zu Frida zu kriechen, um auch ihr den Tod zu bringen. »Lass sie, sie kann dir nichts mehr tun«, sagte der Mann, »wenn man eine Schlange am Morgen tötet, stirbt sie erst am Abend.«
»Habe ich Unrecht getan, indem ich sie tötete?«, fragte Frida leise.
»Sie hat uns bekämpft, immer schon«, murmelte der Mann. »Also brauchte ich dich.«
»Und die Löwin?«
Der Hirte sah sie merkwürdig an. »Sie hätte dir nie etwas getan, du bist Blut von ihrem Blut.«
»Im Felsen könnte die Quelle liegen, nach der ich suche.«
Warum verriet sie ihm das?
»Omewa19, ich weiß, komm«, sagte der Hirte und zwängte sich zur Seite zwischen zwei flache Steine. Sie folgte ihm ohne Zögern und stand nach wenigen Schritten in einer Höhle.
19 Wasser
Sie war nicht finster, sondern von zuckendem Licht erfüllt, das unruhig durch unzählige Löcher der Felswand drang und im mitgeführten Windhauch hin und her schaukelte.
Leise schrie Frida auf, als sie auf die Wände schaute.
Sie waren mit Bildern bedeckt, die durch das äußerliche Licht lebendig wurden, tänzelnd Schatten warfen und unbekümmert von jedem Beobachter ein eigenes Leben lebten. Frida sah Männer mit Pfeil und Bogen, die am Boden liegende Tiere einkreisten. Ein Rudel Gazellen floh vor ihnen, ein Leopard saß sprungbereit auf einem Baum. Männer kamen von einem Flussufer. In ihren Händen hielten sie Fische – eine Frau mit Köcher kam ihnen anmutig durch hohes Gras entgegen. Sie trug einen Lendenschurz, und in ihrer ausgestreckten Hand ringelte sich eine dunkle Schlange. War es die, die sie soeben erschossen hatte?
Und dann eine einzelne Löwin. Sie stand am Rande der Felszeichnung. In ihren Lichtern glänzte das Leuchten des Tieres von soeben.
»Das Wasser fließt gleich hinter dieser Wand, wie Blut unter der Haut, aber dein Mann erst mit dem Donner die Steine wegjagen.«
Er meint Dynamit, dachte Frida.
»Er wird es tun, wenn ich ihn darum bitte.« Sie holte tief Luft. »Können die Deinen und die Meinen dann gemeinsam dieses Wasser nutzen?«
Er gab keine Antwort und bedeutete ihr mit einem Kopfzucken, ihm zu folgen. Sie verließen die Höhle auf dem gleichen Wege.
»Wie heißt du?«, fragte Frida und reichte ihm eines der beiden Brote aus der Satteltasche, die sie mitgenommen hatte.
Er zögerte mit der Annahme. »Omutonde, ich bin der Hasser meiner Sippe, aber bei uns hat dieses Wort eine andere Bedeutung als bei euch.«
Jetzt griff er nach dem Brot, hockte sich hin und aß es rasch auf. »Der Hasser ist wachsamer und kann somit besser führen.«
»Du sprichst meine Sprache –«, begann Frida.
»– ja, aber du nicht die meine«, unterbrach sie Omutonde.
Frida konnte in seinen Augen nicht lesen. Sie waren unergründlich.
»Dürfen die Meinen und die Deinen diese Quelle nutzen?«, wiederholte sie ihre Frage.
»Komm«, sagte Omutonde das zweite Mal, stand aus seiner hockenden Stellung auf und ging vor.
Plötzlich hatte die Luft die Farbe von Schwefel, und ein Wind blies Frida stürmisch ins Gesicht. Abgerissene Zweige kamen in ganzen Büscheln auf sie zugeflogen, und die flimmernde Luft begann zu knistern und zu vibrieren. Sand wehte sie an, juckte auf der Kopfhaut und klebte in den Augenwinkeln. Sie musste husten und versuchte, sich durch das Halstuch zu schützen. Auch das Pferd wandte wie schutzsuchend den Kopf nach rechts und links, um Frida dann doch ergeben hinterherzutrotten. Aber dann war alles wie durch einen Spuk zu Ende, und die glühende Sonne setzte sich wieder durch.
Wohin führte sie Omutonde? Frida war schon lange genug in Afrika, um gelernt zu haben, Gefahr zu akzeptieren. Sie würde sich hier und jetzt dagegen zu schützen wissen. Also folgte sie dem alten Mann langsam.
Es war eine kleine Ansammlung von Gestalten, die apathisch im Schatten eines Felsens lagen.
Totenbleich nahm Frida das kleine Skelett mit dem aufgeschwemmten Hungerbauch auf den Arm, das man ihr entgegenhielt. Es hatte frische Brandmale auf Bauch und Lenden, und die schräg gestellten Augen lagen in einer trüben Flüssigkeit. Sie folgen ihre alten Sitten und lassen ihre Kinder bei Krankheiten so barbarisch von weisen Frauen oder irgendwelchen Medizinmännern behandeln, dachte sie entsetzt. Das Mitleid über den wimmernden Säugling raubte ihr fast den Atem.
»Warum lässt du dein Kind so behandeln? Warum kommst du nicht zu uns, zu mir«, schrie sie Omutonde an. »Ja, wir sind Weiße, aber wir wissen eine Menge über Krankheiten und wie man sie heilt. Warum wollt Ihr, verdammt noch mal, nicht unser Wissen?«
Sie zog die gerollte Decke unter dem Sattel hervor, wickelte das Kind ein und bestieg mit ihm das Pferd. Jetzt ruhiger, aber immer noch zornig, sagte sie zu dem Hirten: »Ich weiß nicht, ob ich es retten kann, aber ich werde alles dafür tun.«
»Wenn ein Tropfen Regen fällt, bleibt im Sand ein Loch zurück«, sagte der alte Mann und ließ sich am rauen Stamm eines Baumes nieder. Er machte eine kurze Handbewegung, und Frida war entlassen.
»Hier in der Gegend gibt es keine Löwen«, sagte Fritz.
»Und ich sage dir, es war eine Löwin«, beharrte sie und ignorierte zum ersten Mal seine Erfahrung.
»Und warum hast du dann nicht geschossen?«
»Weil –«, wie sollte sie ihm ihre unerklärliche Nähe zu diesem Tier begreiflich machen.
»Bring das Kind zu Lydia, sie wird schon wissen, was damit zu tun ist«, meinte er bestimmt. Aber Frida weigerte sich. Auch das zum ersten Mal. Sie steckte den kleinen Wurm in ein Tuch und band es sich nach Eingeborenenart auf den Rücken. In der Nacht behielt sie ihn ganz nah bei sich, damit er in ihrer Körperwärme ihre Liebe und ihren Schutz spürte, zwang ihn zum Schlucken, indem sie ihn zu jeder Stunde mit nahrhaften Dingen fütterte, behandelte seine Brandwunden – und redete leise mit ihm, um ihm Mut zum Weiterleben zu geben.
Nach einem Monat war er außer Gefahr und nach einem weiteren wieder gesund.
Es war später Nachmittag. Die Sonne hatte sich bereits zu einer purpurnen Kugel zusammengezogen, sie glich jetzt einem brennenden Busch, jeden Moment bereit unterzugehen. In diesem Licht stand plötzlich wie ein Geist Omutonde. Wortlos betrachtete er das dunkle Kind, das auf der Veranda auf einer Decke lag und mit seinen Füßchen und Händchen spielte.
Frida trat aus der Küche. Sie blickten sich an.
»Ich habe dir dein Kind wieder gesund gemacht. Teilst du mit uns das Wasser der Quelle?«
»Gibst du mir dein Wort, dass es auch die Kinder deiner Kinder tun werden?«
»Ja.«
Sanft hob er das Kind von der Decke und ging.
Als er hinter der Biegung verschwunden war, zogen plötzlich kraftvolle dunkle Wolken auf, senkten sich immer tiefer, und endlich, endlich begann es zu regnen –
Es war der ergiebigste Wasserfund, der je in dieser Gegend aufgespürt worden war.
Zusammen mit ihm und dem Regen konnten sie weitermachen. Schon nach wenigen Tagen begann die Ermattung von der Natur zu weichen. Die Weiden begannen zu grünen, die Hitze nahm ab, und nach dem ersten Mondwechsel kamen die wilden Tiere wieder zurück. Während Fritz den Zugang frei sprengte und die Quelle begehbar machte, brachte Frida Lebensmittel zu der Sippe des Hirten und behandelte die Menschen mit Kräutern aus ihrem Medizingärtchen.
In die Höhle ging sie nur mit Constanze. »Schau hin und lasse diesen Ort nie aus deinem Gedächtnis«, sagte sie zu ihr, »was du hier siehst, ist der spirituelle Teil deiner Heimat. Wenn du Kraft brauchst, gehe alleine, und wenn du etwas über deine Zeit hinaus weitergeben willst, führe auch deine Kinder hierher.«
Eines Abends tat Fritz etwas Erstaunliches. Er nahm sie in die Arme und küsste sie wild.
»Du mit deinen Instinkten. Wie eine Löwin. Verdammt, du hast uns gerettet«, flüsterte er heiser, und Frida spürte, wie er am ganzen Körper zitterte.
Die Löwin hatte sie nur noch einmal gesehen. Einige Wochen nach dem großen Regen stand sie im Abendlicht am Pfosten zum Rinderpferch. Warum Frida in diesem Moment vor ihr Haus trat, vermochte sie später nicht mehr zu sagen. Sie wusste nur, dass sie keine Furcht hatte, als sie den Garten verließ und ohne Schutz über den Hof ging, um dann wenige Meter vor dem Tier stehen zu bleiben. Wieder trafen sich ihre Blicke in merkwürdiger Intensität.
Die Löwin drehte sich um und verschwand.
7. Kapitel
»Wir könnten die Farm von Frau von Finkelstein dazukaufen«, sagte Fritz. »Sie ist Afrika leid, will wieder zurück nach Deutschland. Wir müssten dann natürlich mehr Neger einstellen –«
»Schwarze«, verbesserte Frida sofort, »es wird Ärger mit den Schlappohren20 geben, wenn du dich nicht an die neue Formulierung gewöhnst.«
20 heimliche Bezeichnung der Südwestdeutschen für die Südafrikaner
»Neger«, wiederholte Fritz verächtlich, »Rußkerzen, Wogs, verdammt, wo ist der Unterschied? Abgesehen davon habe ich die Nase von der südafrikanischen Arroganz voll bis obenhin. Was will Jan Smuts21 eigentlich erreichen, wenn er uns hier in Südwest eine kulturelle und politische Autonomie verweigert? Und das noch unter Aufsicht des Völkerbundes. Was, so frage ich dich? Wir wären ja sogar bereit, die südafrikanische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Dann gäbe es hier im südlichen Teil von Afrika zwei starke weiße Volksgruppen und die Gefahr wegen der Millionen Neger –«, bewusst sprach er jetzt diese verbotene Formulierung aus, »– wäre überschaubarer.«
21 südafrikanischer Premierminister
Wie immer, wenn Fritz ins Politische ging, machte sich bei ihm die Verbitterung der geduldeten Deutschstämmigen bemerkbar. 6700 lebten noch hier, alle anderen waren ausgewiesen worden und hatten das Land verlassen müssen. Aber der ewige Zankapfel unter den Verbliebenen blieb das Für und Wider hinsichtlich Eingliederung Südwestafrikas in die Südafrikanische Union.
Fast resigniert winkte er mit der Hand ab. »Nun, Frau, was hältst du von der Finkelstein-Sache? Landzukauf ist eines der wenigen Dinge, die wir dürfen.«
Es wird mehr Arbeit geben, dachte Frida, aber Conny würde dann mit Abstand die beste Partie in dieser Gegend werden.
Und das wäre gut für omutima.
»Ja, aber dann sollten wir einen Verwalter einstellen«, sagte sie kurz. »Übrigens, hast du den Wagen überholt? Wenn ich Conny am Freitag aus dem Internat abhole, möchte ich gleich nach Okahandja weiterfahren und mir dort mein Car-Permit abholen.«
Fritz nickte und erhob sich vom Mittagstisch.
Das Auto war Fridas ganzer Stolz.
Sie waren die Ersten, die das Geld besaßen, sich ein solches Gefährt anzuschaffen. Jeden Monat holte sie damit ihre Tochter aus dem Internat für die Kurzferien ab. Fritz hatte für die offene hintere Ladefläche passende Bänke gezimmert, so dass sie auch die Kinder der unmittelbaren Nachbarschaft mitnehmen konnte. Das fröhliche Hallo war unbeschreiblich, wenn sie mit ihrer meist singenden Fracht auf den Hof einfuhr, wo die verschiedenen Eltern bereits warteten. Frida wusste und war stolz darauf, dass omutima für seine großzügige Bewirtung bewundert wurde. Gäste, angemeldet oder nicht, konnten sich immer darauf verlassen, dass Kaffeekannen sofort gefüllt wurden und frisches Brot mit eigener Marmelade einladend auf dem Tisch stand. Lydia wusste genau, was zu tun war, und ihren Augen entging nichts. Später berichtete sie Frida immer, wer was gegessen oder wer wie viele Tassen getrunken hatte.
Und sie war auch stolz auf ihre Blumen, auf das vielseitige Gemüse, auf den üppig tragenden Weinstock, auf die glatt gebügelten Tischdecken, auf die Tatsache, dass die Schwarzen ihrer Farm eigene Arbeitskleidung hatten – stolz auf einfach alles, was sich nach den vielen Jahren harter erfüllter Arbeit nun blühend und funktionierend darstellte.
Manchmal fuhr Frida nach Windhoek, übernachtete dort in der kleinen Stadtwohnung, die Fritz angemietet hatte, damit sie für ihren Aufenthalt in der Hauptstadt nicht in ein Hotel mussten. Sie traf sich mit befreundeten Farmernachbarn und ging in den Geschäften einkaufen. Überall wurde sie mit Hochachtung behandelt, denn sie war Frau Zabel von der Farm omutima, die zu Wohlstand gekommen war, was jeder in der ehemaligen deutschen Kolonie Südwestafrika mit Bewunderung und Respekt zur Kenntnis nahm.
Es musste das Ziel sein, das sich Frida gewünscht hatte.
Eine persönliche Unabhängigkeit, die sie sich auf Rupplin nie hätte erarbeiten können. Eine Freiheit im Tun und Handeln, die ihr dort nie eingeräumt worden wäre. Ein Respekt vor ihrem Namen, den man ihr dort nie erwiesen hätte.
Und doch nagte etwas in ihr.
Der Farm ging es gut, der Haushalt lief geordnet, Conny war seit fünf Jahren im Internat. Fritz und sie hatten sich für die kleine Stadt Omaruru entschieden. Die Schule wurde von katholischen Schwestern geführt und lag näher als Swakopmund.
Fritz war für sie und die Familie da, täglich, stündlich, immer. Aber Frida spürte, dass sich etwas zwischen ihnen beiden geändert hatte. Lag es an diesem neuen Wohlstand? Oder vielleicht an der Tatsache, dass sie, Frida, gelernt hatte, eigene Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen? Warum fragen oder besprechen, wenn sowieso alles so lief, wie sie es wollte. Sie wusste, dass Fritz sie manchmal prüfend von der Seite betrachtete, und wenn sie seinen Blick erwiderte, wurde ihr sofort klar, dass das Band, das einmal zwischen ihnen war, so nicht mehr existierte.
Was war passiert, wann war es passiert?
Warum war sie so oft ungeduldig, noch öfter rastlos und auch scharf im Ton? Immer wollte sie in Ruhe darüber nachdenken, aber dann war wieder viel zu tun, und sie wischte dieses Vorhaben auf später beiseite.
»Wir müssen beide zum Notar nach Windhoek«, sagte Fritz. »Die Kaufverträge sind vorbereitet, ich habe sogar einen Verwalter gefunden, er wird zum nächsten Ersten anfangen.«
Er berührte leicht ihren Arm. »Freust du dich darüber?«
»Natürlich«, sagte Frida und spürte die gewohnte Leere.
Er hatte grobe Gesichtszüge und hielt die Stirne gerunzelt, als ob er angestrengt über etwas nachzudenken hatte.
Ab und zu fuhr seine Hand durch sein kurz geschnittenes Haar, die andere hielt ein Buch. Die Tasche seiner grünen Drillichjacke war von Munition ausgebeult, das Gewehr lag achtlos auf dem Rücksitz des Jeeps, den er im Schatten des großen Maulbeerbaumes abgestellt hatte. Scheinbar unabhängig von Zeit und Raum, lehnte er am Stamm und blickte erst auf, als die Gestalt vor ihm vom Pferd stieg. Nachlässig steckte er das Buch in die Brusttasche.
Frida betrachtete ihn kritisch, steckte eine Haarsträhne in den Zopf zurück und drückte den Hut wieder fester auf den Kopf. Sie war im schnellen Galopp geritten. Fritz hatte sie gebeten, den neuen Verwalter der neu erworbenen Nachbarfarm einzuweisen.
»Du kannst das genauso gut wie ich«, hatte er gesagt, »ich muss heute dringend alle Rinder impfen. Bei Karibib ist eine Seuche aufgetreten.«
»Sind Sie verheiratet? Wann kommt Ihre Frau? Kinder?«
»Nein, nein, nein«, antwortete der Mann, und in seinem Ton lag leichter Spott. »Nicht verheiratet, keine Frau, keine Kinder. Wo ist Herr Zabel? Warum ist er nicht gekommen?«
»Ich bin Frau Zabel«, sagte Frieda etwas gereizt.
»Ich weiß«, grinste der Mann, ohne im Geringsten eingeschüchtert zu sein. »Und ich bin Paul Locher.«
Er verließ den Stamm und kam ihr entgegen. »Soll ich das Pferd halten?«
»Danke, es geht«, sagte Frida so knapp, wie sie konnte. Sie musste auf das Buch blicken, das zur Hälfte aus der Tasche herausragte.
»Sie kennen es?«, fragte der Fremde jetzt überaus höflich und zog es ganz heraus. »Es sind Liebesgedichte von Pablo Neruda. Ich lese sie immer, wenn ich warten muss.«
Er reichte ihr das Buch und begann zu deklamieren. »Einst tauchte meine Geliebte in das damals süße Meer, und als sie wieder herauskam, war das Wasser salzig –«
»Steht das darin?«, flüsterte Frida.
»Nein, ausnahmsweise nicht, das durfte ich einmal selbst erleben.«
Der Mann betrachtete sie prüfend. »Viermal nein in einer Minute, das ist selbst für mich mehr als seltsam«, und nahm ihr das Buch wieder aus der Hand. »Ich bin nicht billig, dafür gut, ich brauche keine Gesellschaft, denn ich habe meine Gedichte, ich brauche kein besonderes Essen, denn ich ernähre mich von meinen Gedanken.«
Jetzt lächelte er, und sein grobes Gesicht veränderte sich von einem auf den anderen Moment, wurde weich und seltsam gewinnend.
»Düfte, Licht und Metalle, nichts andres als ein Schwarm kleiner Schiffe, hinsegelnd zu deinen Inseln, die mich erwarten22 – so geruhte mein Freund Pablo in einem Gedicht treffend zu bemerken.« Er machte eine übertriebene Verbeugung. »Frau Zabel, Ehefrau von Herrn Zabel, können Sie mir sagen, was ich hier zu tun habe?«
22 siehe Anhang
»Wie ist der Locher?«, fragte Fritz kauend.
»Ich weiß nicht«, antwortete Frida zögernd. »Er liest Gedichte und beantwortet jede Frage in deren Worten.«
»Ein Spinner also«, knurrte Fritz. »Ich werde ihn mir in der nächsten Woche ansehen, jetzt geht es nicht, ich muss den Nachbarn helfen. Die Seuche ist schon fortgeschrittener, als wir angenommen haben.«
»Wussten Sie, dass Samuel Maherero, der große Führer des Herero-Stamms, sich ausbedungen hatte, unter einer deutschen und nicht etwa unter einer englischen Flagge beerdigt zu werden? Letzte Woche ist es so geschehen.«
Seine Gestalt stand als klarer Umriss vor der Feuerstelle, als ob das ganze Licht der scheidenden Sonne sich gesammelt hätte, um seine kraftvolle Männlichkeit sichtbar zu machen.
»Sind Sie die Zäune abgeritten?«, fragte Frida statt einer Antwort.
»Natürlich, drei Löcher, dreimal repariert. Ich sagte Ihnen doch, ich bin gut.«
Er drehte sich tänzelnd, hob die Arme empor, ließ sie wieder in einer eleganten Bewegung fallen. »Madame, wo die Sonne wie eine Tischdecke über den Rosen liegt, dort könnte mein Zuhause sein –«
Sie gingen durch das Farmhaus. »Ich brauche nur ein Zimmer, und ich möchte das mit der kleinen Terrasse nehmen«, sagte Paul, »die anderen können Sie abschließen und vor mir schützen.«
Und wieder hörte sie seinen leichten Spott.
»Kleine Rose du, Rose, du kleine, manchmal winzig nackt, als hättest du Platz in meiner einen Hand, als schlösse ich dich drin ein und führte dich zu meinem Mund23 –«. Fast jubelnd stiegen die Worte auf, hallten über den Platz und verstummten dann zu einer nachdenklichen Pause.
23 siehe Anhang
Frida sah ihn nackt unter der Dusche stehen. Er hatte den Brausekopf einer Gießkanne an einen Gartenschlauch montiert und beides an einer Eisenstange hochgebunden. Ein grinsender Boy pumpte einige Meter weiter Wasser aus dem Brunnen direkt in das andere Ende des Schlauches hinein.
Verwirrt wandte sie sich ab. Die Situation traf sie unvorbereitet.
Schmeichelnd und werbend zugleich verließen jetzt die Worte seinen Mund.
»– aber plötzlich berühren meine Füße die deinen, und mein Mund berührt deine Lippen24 –«
24 siehe Anhang
die Stimme hob an, wurde erregt, »– deine Brüste schlendern über meine Brust, mein Arm kann kaum die schlanke Neumondlinie deiner Taille fassen – 25«
25 siehe Anhang
Nervös biss sie sich in den Handballen.
»– und neige mich zu deinem Mund, die Erde zu küssen26 –«, leise und zärtlich gab er dem Gedicht sein Ende. Er pfiff kurz, und sie sah, wie einer der Schwarzen mit einem Handtuch auf ihn zulief. Ich sollte nicht hier sein, dachte Frida entsetzt, er wird annehmen, dass ich ihn beobachte.
26 siehe Anhang
Gebückt schlich sie zum Eingang des Farmhauses zurück, griff nach den Zügeln des Pferdes und führte es hastig hin und her, dass das Hufgeklapper laut zu hören war.
»Ich bin gleich da«, hörte sie endlich die Stimme, und kurze Zeit später trat ihr Paul Locher entgegen. Sein Haar war noch nass, und er hatte sich eine schmale Zigarillo angesteckt.
»Entschuldigen Sie«, sagte er, »ich habe mit dem Kostausfahren27 länger gebraucht. Ein Postenjunge hatte sich verletzt, ich musste ihn verarzten.«
27 alter, nach wie vor gebräuchlicher Farmer-Ausdruck. Man fuhr damals einmal in der Woche alle Hütten der schwarzen Landarbeiter ab und verköstigte sie mit Lebensmitteln. Dafür hatten sie auf die Rinder, Schafe und Ziegen des Farmers zu achten.
»Alles sonst in Ordnung?«, erkundigte sich Frida mit klopfenden Herzen. Sie konnte ihn nicht ansehen.
»Alles in Ordnung«, entgegnete Paul Locher, »Sie sind vor drei Tagen wieder reicher geworden. Die Gescheckte und die Gelbe haben geworfen. Beides prachtvolle Kälber. Ich habe alle Details ins Zuchtbuch eingetragen.«
Er betrachtete sie aufmerksam.
»Ich müsste noch Fleisch für die Leute schießen. Wollen Sie mitkommen? Wir könnten eine Jagd daraus machen.«
Vorsichtig pirschten sie sich an eine Kuduherde heran.
»Jungtiere«, flüsterte Paul Locher. »Wollen Sie?«
Frida nickte heftig, legte an, zielte, und ein Tier fiel noch im Schuss lautlos um. Die anderen blickten ratlos um sich, aber dann stürmten sie davon. Der Mann pfiff, diesmal lauter, als vorhin unter der Dusche, und zwei Schwarze tauchten aus dem Busch auf.
»Es ist für euch, nehmt es mit in die Hütten«, sagte er kurz und zu Frida gewandt: »Sie schießen gut. Wollen Sie nach Hause?«
Frida dachte kurz nach. »Nein, eigentlich nicht.«
»Gut, dann zeige ich Ihnen etwas. Wir sollten aber die Pferde nehmen.«
Die Reste des Hauses standen auf einer Lichtung, die von frisch ausgeschlagenen Dornbüschen mit winzigen gelben und weißen Blüten gesäumt war. Aus den zerfallenen Mauern wuchsen violette Bougainvillea, und im Schutz ihrer Blätter huschten bunte Salamander, die geschäftig versuchten, Fliegen und kleine Insekten zu fangen.
Der Wind hatte das Makuti-Dach in Fetzen gerissen, nun bewegte es sich nur noch leicht, wie ein altes Sonnenzelt, das ausgedient hatte. Und doch lag über der Vergänglichkeit dieses Ortes ein Hauch von Poesie, wie es Frida noch nie in ihrer neuen afrikanischen Heimat angetroffen hatte.
»Die Mittagssonne steht auf den Mauern, riechen Sie den leichten Milchgeruch? Hartnäckig wie der Schweiß uralter Liebe.« Die letzten Worte murmelte er kaum hörbar.
In der Mitte des sandigen Hofes lag die gemauerte Öffnung eines ausgetrockneten Steinbrunnens.
Sie wurde von den dünnen filigranen Blättern einer Akazie im Schatten gehalten, die sich wie ein Baldachin darüber wölbte. Paul Locher legte die Hand auf den zerbrochenen Rand.
»Wer immer hier gewohnt hat, ist schon lange fort«, sagte er, »aber der Natur hat es gefallen, die Zeichen seiner Existenz noch nicht ganz verschwinden zu lassen.«
Sanft strich er über den Baumstamm und betrachtete Frida dabei aufmerksam.
»Ich habe diese Stelle erst vorgestern entdeckt, als ich mich mit Ihrem Besitz vertraut machte, und schon gestern bin ich wiedergekommen. Ich glaube, hier kann man sich gut von dem Durcheinander in der Welt erholen –«
Bedächtig zündete er sich wieder eine seiner schmalen Zigarren an.
»Jeder Mensch sollte eine solche Stelle kennen, es gäbe dann weniger Unfrieden. Kama munga nafungua melango, sisi napita tu.« Er ging auf sie zu und nahm ihre Hand. »Kommen Sie, das Schönste ist dort hinten.«
»Was bedeuten diese Worte?«
»Ich habe einige Zeit in Kenia gelebt. Es ist Suaheli und meint: Wenn Gott die Tür öffnet, müssen wir hindurchschreiten. Ich mag diesen Ausspruch, denn er passt eigentlich überall hin.«
Der Urstamm hatte sich in vier Stämme geteilt.
Wie Schlangen wanden sich die oberirdischen grauen Wurzeln vom Mittelpunkt aus in alle Himmelsrichtungen. Sie waren rund und glatt, wie auch die Zweige dieses riesigen Baumes. Es gab Einbuchtungen, die wie Betten aussahen, und dann wieder Sitze im Geäst, die Königssesseln ähnelten.
»Ein wilder Feigenbaum«, sagte der Mann leise, »bestimmt mehr als fünfhundert Jahre alt.«
»Mein Gott, wie schön«, hauchte Frida. Sie stand dicht bei ihm und roch die Baumwolle seines Hemdes, das Leder seines Gürtels – roch seine Haut.
»Hören Sie, wie der Wind säuselt?«, flüsterte Paul, »man sagt, es sind die Stimmen der Toten, die uns etwas erzählen wollen.«
Frida drehte sich um, wollte gehen, aber eine Hand legte sich auf ihre Hüfte. Sie forderte nicht, drängte nicht, sie war nur warm und – verwirt blieb sie stehen.
Für einen Moment blickte der Mann sie kritisch an, dann zog er sie an seinen harten Körper. Entschieden legte er ihre Arme um seinen Hals und drückte ihre Hüfte an sich. In unendlicher Zärtlichkeit schob seine Zunge ihre Lippen auseinander, umkreiste sie, berührte die Augen, glitt die Wangen hinunter – seine Hände schienen plötzlich überall zu sein. Sie hatte nicht gewusst, dass Brüste schmerzen konnten. Schmerzen, die keine Schmerzen waren. »Manchmal können allein die Augenbrauen einer Frau den Mann fürs ganze Leben bei der Stange halten«, raunte er in ihr Ohr, »aber bei dir, Frida Zabel, ist es der Mund, der geküsst werden sollte, immer wieder geküsst werden sollte. Schenk mir deine Lust, schenk mir deine Träume –«
Wie gejagt ritt Frida zurück.
Was habe ich gemacht? Fritz wird es mir ansehen, jeder wird es mir ansehen. Sie stieß die Türe zum Haus auf. Fritz saß am Tisch, über Papiere gebeugt. Er blickte nicht auf, als er sagte: »Ich habe schon gegessen, muss morgen in der Frühe nach Windhoek aufs Amt. Es kann drei bis vier Tage dauern. Willst du mit?«
»Nein«, sagte Frida und hatte Tränen in den Augen, »ich bin müde, auf der neuen Farm gibt es doch mehr Arbeit, als ich angenommen hatte.«
Zitternd duschte sie sich, und die Tränen wollten nicht aufhören. Als sie im Bett lag, machte sie etwas, das sie noch nie in ihrem Leben getan hatte, sie legte ihre Hand auf ihren Schoß und fühlte, wie er wie ein zornig verwundeter Vogel zuckte.
Bis zum Mittag lud sie in hektischer Eile alle Arbeit auf sich, die möglich war, bemerkte nicht den seltsamen Blick von Lydia, als sie ihr das Eisen aus der Hand nahm und gedankenlos die Rüschen einer Schürze umbügelte, rief ungeduldig nach den beiden Gartenjungen und hieß sie, ein Beet umzugraben. Atemlos stand sie neben ihnen, bemängelte jeden Spatenstich. Warum heute? Fritz würde ihr doch erst in drei Tagen die neuen Pflanzen aus Windhoek mitbringen. Sie ignorierte den gedeckten Mittagstisch, schlang in der Küche im Stehen ein Brot herunter, trank ein Glas Milch dazu. Es fiel zu Boden, und weiße Tropfen tanzten für einen Moment wie Mücken in der Luft.
»Lydia, bring es in Ordnung«, ihre Stimme überschlug sich fast, und noch im Lauf ins Schlafzimmer riss sie sich das Kleid herunter. Wie im Fieber zerrte sie die Reithose und eine frische Bluse aus dem Schrank.
»Muss rüber zur Farm. Ich bin heute Abend wieder zurück«, rief sie im Vorbeigehen der Schwarzen zu und rannte über den Hof in den Stall, um sich die Stute zu satteln.
Er erwachte und starrte sie überrascht an.
Die borstigen Haare waren vom Schlaf und Schweiß dicht an den Kopf gedrückt.
»Mittagszeit, und du hast kein Problem mit der Hitze?«
»Ich wollte dich sehen«, flüsterte Frida und kauerte sich vor ihm hin.
»Zieh dich aus«, befahl er leise, und Frida gehorchte.
Sie liebten sich den ganzen Nachmittag, und wenn die Lust gestillt war, redeten sie miteinander, bis sie wieder neu von ihr erfasst und verschlungen wurden. Es war Frida, als ob sie einen Garten betrat, der nur für sie beide existierte. Waren sie Ertrinkende, oder waren sie Suchende, oder einfach nur zwei Menschen, die sich erkannt hatten?
Sie hatte es aufgegeben, über Scham, ihre Scham, nachzudenken, die nicht mehr vorhanden war. Ja, sie würde ihr bisheriges Leben zurücklassen müssen. Es wäre das zweite Mal. Aber in welches neu eintauchen? Hätte sie diese Erfüllung auch mit Kaspar von Zoitzheim erfahren? Sie wusste es nicht, wollte später darüber nachdenken.
Das Gesicht in den Armen vergraben, lag sie auf dem Bauch, und Paul streichelte zärtlich ihren Rücken, ihr Gesäß, die Beine.
»Du bist so schön, wie eine im Sommer geborene Katze«, flüsterte er, aber plötzlich drehte er sie um, betrachtete sie aufmerksam und legte sich vorsichtig auf sie. Sanft schob er ihre Beine weit auseinander, und in Frida begann wieder das Herz ob der kommenden Süße des Augenblicks zu pochen. Über seinem Kopf hinweg sah sie, wie der Horizont saphirblau zu werden begann und die Nacht näher rückte.
Vieles hier in Afrika ist so übergangslos, ging ihr durch den Kopf, Licht und Dunkelheit, Sommer und Winter, Tod und Leben und jetzt der Körper dieses Mannes, der den verhassten eines anderen vergessen lässt und den unbekannten des Gatten, mit dem sie seit Jahren zusammen war. Das Weiß in seinen Augen war jetzt die einzige Helligkeit zwischen ihnen, und zart strich sie mit den Fingerkuppen darüber. Sie spürte, wie sein Geschlecht in ihr erstarkte, wollte ihm entgegenkommen, hob ihr Becken, aber bestimmt drückte er es nieder.
»Beweg dich nicht –«
»Aber –«
»Beweg dich nicht«, hauchte er ihr ins Ohr und hörte abrupt mit jeder Bewegung auf.
Frida roch den betäubenden Duft der in Blüte stehenden Dornbüsche und Akazien. Ein Stern nach dem anderen tauchte auf, sie verlor sich –
Die Explosion kam unerwartet, erfasste sie stärker, als die vorangegangenen Höhepunkte, verzehrte sie, ließ sie schütteln.
»Was machst du mit mir?«, keuchte sie und krallte ihre Hand in seinen Arm.
Später lagen sie Arm in Arm, schweigend, und Frida schnupperte den Rauch seiner Zigarillo. Paul griff mit der anderen Hand nach ihren langen Haarflechten, drehte einzelne Locken um den Finger, spielte mit der Flut und wickelte sie schließlich im Ganzen um seine Faust.
»Die ganze Nacht hab ich geschlafen mit dir, nahe dem Meer, auf der Insel. Wild und lieblich warst du im Wechsel von Lust und Schlaf –28«. Seine Stimme war leise, und seine Gedanken schienen woanders zu sein. Irgendwann hefteten sich seine Augen auf sie, und er betrachtete sie traurig. »Du darfst nicht mehr kommen. Es ist deinem Mann gegenüber nicht recht.«
28 siehe Anhang
Wie das Scherbengeräusch eines soeben herabgefallenen Gefäßes drangen die Worte an ihr Ohr, und ihre Tonlosigkeit entsetzte sie.
»Das kannst du nicht von mir verlangen.« Sie begann zu weinen. »Ist es denn ein solches Verbrechen, dich zu lieben?«
Er drückte die Zigarillo auf dem Boden aus und schlang den Arm um sie. »Schlimmer als ein Verbrechen. Es ist ein Fehler. Frida –«, jetzt flüsterte er, »wir müssen stark sein, damit wir an einem anderen Tag wieder schwach sein dürfen. Du, ich, jeder Mensch auf dieser Welt, verstehst du das?«
Ihr Nein klang erstickt, und zärtlich legte Paul seine Hand auf ihre Wange.
»Stelle dein Leben nicht auf mein Leben ein. Bleibe so stark, dass du mich nie brauchst, dass du keinen brauchst. Nur dann gehörst du einer Freiheit an, nur dann gehören wir uns beide. Ohne Zwang und ohne Rücksicht, durch nichts gebunden.«
Sein Finger glitt um ihren Mund. »Eine Geliebte hat es immer mit einem Mann zu tun, der lügt. Aber verlange nie von mir, dass es mir leidgetan hat –«
Sie ritt erst am Morgen wieder zurück. »Wir hatten Probleme mit den beiden Pumpen«, sagte sie betont gleichgültig zu Lydia und wusch unbeobachtet von ihr ihre Unterwäsche in einer Schüssel selber aus.
»Ein Krokodil kaut nicht. Es kann nur zuschnappen, abreißen und schlucken. Krokodile überfallen ihr Opfer, ziehen es unter Wasser, halten es fest, bis es ertrunken ist, und erst dann schleppen sie es in ihren Bau und lassen es dort in Verwesung übergehen.«
Paul Locher setzte sein Fernglas ab und gab es Frida. »Ganz hinten steht ein Rhino«, sagte er, »recht selten in dieser Gegend.«
»Woher weißt du das, ich meine das mit dem Krokodil?«, fragte Frida.
Er antwortete nicht sofort. »Eine Krokodilshöhle ist ein fürchterlicher Ort. Voller Gestank, Gebeine und Dunkelheit.«
»Woher weißt du das?«, fragte Frida noch einmal.
»Ich habe einmal dort überlebt«, sagte er kurz, »und seit dieser Zeit kann ich nur noch in meinen Gedichten leben.«
Es gab Nächte, in denen sie von Albträumen verfolgt wurde. Wenn Fritz sie beruhigend in den Arm nehmen wollte, zitterte sie abwehrend und suchte doch seinen Schutz – vor ihrem Verlangen nach dem Mann, der auf der Nachbarfarm die Arbeit für sie verrichtete. Schutz vor seinen Lippen, die so bestimmend ihre Wangen entlangglitten, sich in aller Selbstverständlichkeit auf ihren zitternden Mund legten, ihn mit einem einzigen kleinen Biss teilten –
»Er ist wirklich gut, dieser Paul Locher«, sagte Fritz einmal, »merkwürdig, dass er sich keine eigene Farm kauft.«
Der schwarze Arbeiter schob ihm die Schafe zu, eines nach dem anderen. Geschickt griff Paul sie am Hals und besprühte sie mit der desinfizierenden Lösung aus der Pumpe. Ein zweiter Arbeiter drückte sie in das Gitter, das zum unteren Gattertor in die Freiheit der nächsten Weide führte.
»Kann ich Sie für einen Moment sprechen, allein?«, fragte Frida ihn laut vor den Schwarzen.
Paul machte eine Handbewegung zu den Jungen hin.
»Treibt schon mal die Rinder in den nächsten Kral«, ordnete er an. Er stellte sich vor Frida hin und schob den Hut zurück. »Wir haben Zecken, wohl wegen der Büffel, ich nehme an, auch durch den guten Regen. Womit kann ich dienen, Maam – ?«
Er dehnte das englische Wort übertrieben aus.
»Ich bekomme ein Kind«, flüsterte Frida.
Jetzt nahm Paul den Hut ab, drehte ihn durch die Hände. Er nickte, schaute sie an und schaute weg. »Komm, gehen wir ins Haus«, sagte er nach einer Weile, sprang über den Zaun und nahm das Pferd am Halfter. Kurz pfiff er nach einem Schwarzen und warf ihm die Zügel hin, während er Frida aus dem Sattel half. Auf der Terrasse, ihrer Terrasse, rückte er ihr einen Korbsessel zurecht und drückte sie sanft hinein.
»In Afrika geht kein Samen verloren, keine Wurzel wird unfruchtbar«, sagte er ruhig und kniete sich vor ihr hin. »Du weißt doch selbst, wie verlässlich immer wieder scheinbar schlafendes Leben zu sprießen beginnt.«
Vorsichtig legte er ihre Hände auf seine Knie und streichelte sie zärtlich. »Freust du dich nicht auch, wenn sich die frischen Triebe an den trockenen Ästen zeigen?«
Er lächelte. »Frida Zabel, es ist etwas Wunderbares, ein Kind zu bekommen. Ich beneide dich um dieses Erlebnis.«
Frida starrte ihn aus großen Augen an. »Es ist dein Kind, Paul.«
»Willst du, dass ich mit Fritz spreche?«, fragte er sanft. »Vielleicht wird es ein Junge, und das wäre gut für die Zukunft eures Besitzes.«
»Missis«, sagte Lydia und hielt ihr ein Buch hin, »das lag auf dem Küchentisch.«
Frida riss es ihr aus der Hand. Dabei fiel die Rose, die die aufgeschlagene Seite beschweren sollte, auf den Boden.
Wenn du mich vergisst, ich möchte, dass du eines weißt – betrachte ich den kristallenen Mond, den roten Zweig des säumigen Herbstes an meinem Fenster, berühre ich beim Feuer die ungreifbare Asche oder den runzligen Körper des Holzes – alles bringt mich zu dir29 –
29 siehe Anhang
»Wo ist er?«, schrie Frida und rannte nach draußen.
Fritz stand im Hof, die lange Ochsenpeitsche in der Hand. Sie hörte den Knall, und sie sah, wie die Gestalt, die schon am Tor stand, von der Lederschlange eingeholt wurde. Paul schwankte, das Hemd wurde am Rücken aufgeschlitzt, Blut verfärbte seine Ränder, aber nicht eine Sekunde hielt er inne, sondern schritt mit gleichmäßig ausholenden Schritten durch das Tor.
»Paul«, schrie Frida und Tränen liefen ihr über das Gesicht. »Nimm mich mit, bitte.«
Sie stolperte, fiel hin, sah das verzerrte Gesicht ihres Mannes über sich, stand wieder auf, stieß ihn beiseite, lief weiter, durch das Tor, am Kälberpferch vorbei, aber die Gestalt war schneller, trotz der beiden Taschen an den Händen. Sie hörte, wie ein Auto angelassen wurde, sah, wie es vom Busch verschluckt wurde –
Frida brach zusammen, ein Weinkrampf schüttelte sie.
Gustchen war in der schweren Stunde bei ihr. Vorsichtig legte sie ihrer Freundin das Kind in den Arm.
»Es ist ein Junge«, rief sie Fritz zu, der im Zimmer nebenan wartete. Er stand am Fenster, die Fäuste in den Taschen geballt.
»Fritz«, flüsterte Frida durch die halb geöffnete Türe. »Danke für deine Großmut. Darf ich ihn Luc nennen?«
Tränen rannen ihr über die Wangen, und zitternd drückte sie das winzige Leben an sich.
»Nun aber, wenn du allmählich aufhörst, mich zu lieben, werde ich aufhören, dich zu lieben, allmählich30 –«
30 siehe Anhang
Es hörte sie keiner.
Gustchen war in der Küche, und Fritz hatte schon lange das Zimmer verlassen.
Wortlos.
Die Möhren waren noch nicht ausgereift, als Luc unbeholfen in das Beet krabbelte.
Man fand ihn erst Stunden später. Wahrscheinlich war er an einem Schlangenbiss gestorben, zwei kleine bläulich gefärbte Einstiche am Unterschenkel deuteten darauf hin. Und es konnte nur eine schwarze Mamba gewesen sein, gegen deren Gift es keine Rettung gab. Hatte sie sich von der Hand eines Kindes angegriffen gefühlt, oder hatte ein Kinderfuß ihren Fluchtweg abgeschnitten?
Sie beerdigten ihn unter einer Akazie, etwas vom Haus entfernt, und Fritz zäunte die Stelle noch am gleichen Tag ein, damit keine wilden Tiere an dem Grab scharren konnten. Während der Beerdigung hatte er nach Fridas Hand gegriffen. Und Frida hatte es zugelassen.
Noch einmal ging sie zu dem kleinen Hügel hin.
Diesmal allein.
Mit starrem Gesicht scharrte sie eine vertrocknete Rose unter die Erde, auch die Ruppliner Erdkrummen aus der Schachtel. Wo man das erste Liebste beerdigt, hat man Wurzeln gesteckt, ist man zu Hause. So wurde in dem Dorf geredet, aus dem sie hervorgegangen war. Sie hatte es nicht vergessen.
Luc war das erste Liebste, das sie hergeben musste, hier in diesem Land.
»Die ganze Liebe in einem Becher so weit wie die Welt, die ganze Liebe mit Sternen und Stacheln gab ich dir, aber du schrittest mit kleinen Füßen über das Feuer, tratest es aus31.«
31 siehe Anhang
Nur der Südwestwind hörte ihre leisen Worte. Gleichmütig hob er sie auf, und noch gleichmütiger wehte er sie in die endlose Savanne hinaus.
»Wartet mit der Arbeit, bis ich komme«, rief Frida zum Haus hin, als die Pforte zur Grabstätte hinter ihr zuschnappte. Sie drehte sich nicht mehr um, blickte wachsam geradeaus – sie hatte Wurzeln gezogen.
Und sie hatte sich um ihre Familie zu kümmern. Wie es eine Löwin tat.
Und nur das war gut für omutima.