PROLOG
Mit einem kraftvollen Sprung setzte die Löwin auf ihr Opfer an. Die Gazelle hatte keine Chance. Schwach trommelte sie mit einem ihrer Hufe gegen den muskulösen Körper der Raubkatze, aber schon sprudelte das Blut aus ihrem aufgerissenen Hals, und wenig später trat der erlösende Tod ein.
Fast spielerisch rollte sich Ama mit dem erlegten Wild im Fang zu Boden, und sofort schlug das gelbe Savannengras über Jägerin und Opfer zusammen. Die Löwin erlaubte sich ein zufriedenes Grollen. Die Jagd war heute leicht gewesen und das Fleisch für die drei Welpen ausreichend und zart.
Sie wollte noch einen Moment liegen bleiben, denn die Wintersonne wärmte angenehm ihren noch von der Geburt und den Strapazen der täglichen Nahrungsbeschaffung ausgemergelten Körper. Noch einige Wochen, dann würden die Kleinen unter ihrer Anleitung selbst zur Jagd antreten, und ihr Leben wäre wieder leichter. Als ihr Atem wieder ruhig geworden war, erhob sie sich und packte mit dem Maul die Gazelle am Träger, so, wie sie es mit ihren Jungen in deren erster Lebenszeit gemacht hatte, um sie zu einem neuen Versteck zu bringen, weil ihr das augenblickliche zu unsicher erschien.
Ama blinzelte nach oben. Es war zwar erst früher Nachmittag, aber jetzt, in der Winterzeit, würde die Sonne in weniger als zwei Stunden untergehen. Also musste sie sich mit der Rückkehr beeilen, denn mit dem Tier im Fang würde sie die doppelte Zeit benötigen.
Sie hatte bereits die hochgewachsene Akazie passiert, als der Geruch sie anwehte. Gewalttätig, männlich, böse – keinesfalls der von Kulle, dem Gefährten langer Jahre und Vater ihrer Welpen. Irritiert schritt sie durch das hohe Gras, an den schwarzen Steinen vorbei in Richtung der Stelle, wo sie die Jungen am Mittag verlassen hatte.
Breitbeinig stand der fremde Löwe auf dem Flecken, der ihr Zuhause war. Seine Tatze drückte einen der drei Welpen auf den Boden, und die gewaltigen Zähne gruben sich in den Körper. Sein Kopf schnellte in die Höhe, als Ama vor ihm stand, und sie sah, dass Blut von seinen Lefzen tropfte. Siehst du, ich habe deine Brut gefunden, signalisierten seine Augen triumphierend, und bewusst nachlässig schlugen seine Krallen in den Kopf des zweiten ein. Es war der kleinste aus dem Wurf gewesen. Ganz nah hatte er immer an ihrem Herzen gelegen.
Der dritte Welpe taumelte auf sie zu, wollte an ihr Gesäuge. Ohne seine fahlgelben Auglichter von ihr zu lassen, sprang der Löwe auf ihn und tötete ihn mit einem einzigen Hieb.
Also hat er auch Kulle getötet, dachte Ama, und jetzt vernichtet er dessen Nachwuchs, damit später keine Rache genommen werden kann. Und wenn er damit fertig ist, würde er sie, Ama, gleich hier und jetzt im Blute ihrer Kinder begatten, auf das ein neues Geschlecht, sein Geschlecht, entsteht.
Es ist mein Recht, und du weißt es, bestimmten seine Blicke, und das Geräusch der zermalmenden Knochen in seinem Maul übertönte sogar das Krächzen eines Pfefferfressers, der über ihre Köpfe flog.
Unbeweglich stand die Löwin vor ihm. Die Flüssigkeit bei den Menschen damals war weiß und im Geschmack so völlig anders als der rote Lebenssaft der Tiere, die ich später töten musste, kam ihr plötzlich in den Sinn. Und die Hände, die mich streichelten, waren gut, und es ging keine Gefahr von ihnen aus, und mir war immer bewusst, dass ich geliebt wurde, so, wie ich diese drei Kinder liebte, die letzten, die mir Kulle schenken konnte. Für weitere hätten wir beide keine Kraft mehr gehabt, aber es hätten vielleicht noch einige gute Jahre vor uns gelegen.
Das damals wühlte Ama auf.
Wie kleine spitze Pfeile schossen die Gedanken durch ihren Kopf. Sie bemühte sich unbeteiligt zu erscheinen, mehr noch, zustimmend zu wirken, denn was hier geschah, war Naturgesetz, eingebettet in die Regularien ihrer Rasse. Seit Jahrtausenden, schon immer. Nur: Hatte sie nicht auch ein anderes kennen gelernt – das der Menschen?
Aber welches war rechtens? Und in welches Gesetz hatte sie selbst ihre Wurzeln getrieben?
In keines, durchzuckte es sie plötzlich, und diese Erkenntnis drang wie etwas Kochendes in ihr Inneres, besetzte jeden Platz, machte sie wild und stark, stärker, als sie sich jemals gefühlt hatte.
Mit einem für den Löwen überraschenden Satz sprang sie ihm auf den Rücken. In der gleichen Sekunde, wie ihre Krallen seine Halsschlagader aufrissen, stieß sie ihre Zähne in seinen Nacken. Der Löwe rollte sich auf die Erde, wollte die aufgezwungene Last dadurch abschütteln, verletzen, erdrücken, aber alle Sehnen von Ama hielten ihn in tödlicher Umarmung umklammert. Ungläubig über das Geschehen, rammte er ihren Körper gegen einen Stein, aber Ama ließ nicht los. Seine ausgefahrene Kralle gelangte an ihr Bauchfell, riss es auf –
Ama fühlte keinen Schmerz. Sie hatte nur einen Gedanken: Dies ist mein Gesetz. Er hat alles getötet, was mir wert war. Sein Blut wird bald ausgeflossen sein, er wird sterben, und dann kann ich zurückgehen –
Schleppend zog sich die Löwin durch die Dunkelheit. In der ersten Stunde nach Mitternacht sah sie das Haus vor sich. Zur Vorsicht hatte sie keine Kraft mehr. Als sie vor der vergitterten Küchentüre zusammenbrach, hörte sie die vertraute Stimme: »Um Himmels willen, nicht schießen, es ist Ama –«
Und dann verließen sie ihre Sinne.