ZWEITER HÖLLENKREIS
DIE WOLLÜSTIGEN
»Ich bin der Eingang in die Stadt der Schmerzen, ich bin der Eingang in das ewige Leid, ich bin der Eingang zum verlornen Volk. Gerechtigkeit bewegte meinen Bauherrn, die Allmacht Gottes richtete mich auf, die höchste Weisheit und die erste Liebe. Geschaffne Wesen gab es nicht vor mir, nur ewige, und ewig stehe ich. Tu, der du eintrittst, alle Hoffnung ab.«
DANTE, Die Göttliche
Komödie,
»Hölle«, Dritter Gesang
20. DEZEMBER
Henry
Hudson Parkway South
Inwood Hill, Manhattan, New
York
20:32
Uhr
(11 Stunden und 31 Minuten
vor dem
prophezeiten Ende der
Tage)
Patrick Shepherd folgte Virgil durch eine Lichtung auf den Riverside Drive. Über die verlassene Zugangsstraße gelangten sie auf die nach Süden führenden Fahrspuren des Henry Hudson Parkway, einem zwanzig Kilometer langen Highway mit zahlreichen pittoresken Ausblicken an der Westseite von Manhattan.
Vor ihnen erstreckte sich ein Meer von Fahrzeugen, die sich Stoßstange an Stoßstange und Tür an Tür zwischen den Fahrbahnteilern des Parkways verkeilt hatten. Die drei nach Norden führenden Fahrspuren verschwanden unter einem blendenden Wall unbeweglicher Scheinwerfer. Die drei nach Süden führenden Fahrspuren verschmolzen zu einem scharlachroten, aus Hecklichtern gebildeten Leuchtstreifen, der parallel zum Fluss verlief, bevor er sich in der Ferne kreisförmig in die Höhe wand und sich die Auffahrt zur inzwischen zerstörten George Washington Bridge hinaufzog.
Nichts bewegte sich. Das städtische Chaos war auf unheimliche Weise stumm. Nur gelegentlich wurde die Stille von einer Windbö oder ein paar im Leerlauf brummenden Motoren unterbrochen, die ihre letzten Liter Benzin verbrannten.
»Virgil, was ist hier passiert?«
Der alte Mann drückte sein bärtiges Gesicht an ein Fenster auf der Beifahrerseite eines der Fahrzeuge und spähte in den feststeckenden Geländewagen. »Die Pest.«
Shep umklammerte das Kästchen mit dem Impfstoff und ging von Wagen zu Wagen. Die Szenen im Inneren waren verschieden, doch es war unmissverständlich, was sie bedeuteten. Zunächst hatte sich eine spontane Gemeinschaft von Zehntausenden Fremden gebildet, die sich am Straßenrand versammelten, um einander ihr Leid zu klagen, die Möglichkeiten zu diskutieren, die ihnen blieben, und vielleicht sogar einen kleinen Snack und Getränke miteinander zu teilen. Doch als die Sonne mit der Abenddämmerung untergegangen war, hatte sich ihr Zorn in Verzweiflung verwandelt, und sie hatten sich in ihre mobilen Schutzräume zurückgezogen, die sie vor den fallenden Temperaturen bewahren sollten. Danach hatten die Infizierten das weitere Schicksal der Fliehenden bestimmt.
Scythe hatte schnell und gnadenlos zugeschlagen. Jedes Fahrzeug diente als privater Brutschrank, in dem das geschlossene Belüftungssystem dafür sorgte, dass die Passagiere einer hohen Konzentration des Erregers ausgesetzt wurden.
Die Bilder waren ebenso entsetzlich wie herzergreifend. Eltern, die ihre Kinder in einer letzten Umarmung hielten. In Decken eingewickelte Großeltern. Bleiche Gesichter, die einen starren Ausdruck von Angst und Qual trugen. Blutverkrustete blaue Lippen. Haustiere. Stauraum, der bis zum Dach mit persönlichen Habseligkeiten vollgepackt war.
Menschliche Verzweiflung. Ein Highway des Todes.
Alles wirkte plötzlich so vertraut. Shep wurde fast ohnmächtig. Der Impfstoff versetzte alles, was er sah, in einen Wirbel …
… während die Nacht zum Tag und der Winter zum Sommer wird.
Patrick Shepherds Pullover verwandelt sich in eine Uniform samt Panzerweste, und aus den Überresten seiner klingenartigen Armprothese wird lebendiges Fleisch. Seine Hand hält ein M16A2-Sturmgewehr.
Die Autos auf der Straße im Irak sind verkohlt und schwelen unter der Wüstensonne. Es riecht nach verbranntem Fleisch und Benzin. Schwarzer Rauch treibt über den orangefarbenen Flammen. Überall liegen abgerissene Körperteile, die Autobomben haben den Basar in ein Blutbad verwandelt. Entlang der schiitischen Enklave zieht sich eine Reihe von Dattelpalmen, deren dicke Baumstämme von den Splittern raketengetriebener Granaten zerfetzt wurden. Für die einundzwanzig von Kugeln durchsiebten Leichen ist ihr Schatten nur noch eine Verschwendung. Die Männer, allesamt Bauern aus der Gegend, waren von Attentätern in irakischer Armeeuniform aus ihren Häusern gezerrt und dann erschossen worden.
Sergeant Shepherd untersucht die Toten, während sich der Lauf seines Gewehrs fast ohne sein Zutun auf alles richtet, was sich bewegt. Rasch dreht er sich nach links, den rechten Zeigefinger am Abzug des M16. Im Fadenkreuz der Waffe erscheint eine Schiitin, die eine traditionelle schwarze Burka trägt. Sie weint und stammelt unzusammenhängend vor sich hin, während sie die zerfetzte Leiche ihres toten Sohnes in den Armen hält und sich sein Blut in ihr rußgeschwärztes Gesicht streicht.
Er geht weiter. Seine Anwesenheit nutzt der trauernden Mutter ebenso wenig wie sein Englisch.
Paranoia treibt seinen Körper voran, der eine viel zu schwere Ausrüstung mit sich herumschleppt. Permanenter Schlafmangel verwirrt sein Denken. In der Ferne hört er die Schreie einer anderen Frau, doch sie hören sich anders an. Offensichtlich gelten sie Dingen, die sich eben erst in diesem Augenblick ereignen.
Er entfernt sich von seinen Männern und betritt das verkohlte Polizeihauptquartier, wobei er die Befehle ignoriert, die durch seinen Ohrhörer kommen. Das von zahllosen Granatsplittern getroffene Gebäude war eines der Angriffsziele der sunnitischen Aufständischen. Mit dem Sturmgewehr im Anschlag klettert er durch den Schutt im Inneren des Gebäudes und nähert sich vorsichtig dem Hinterzimmer.
Drei Männer sind dort – und das Mädchen. Sie ist dreizehn, vierzehn Jahre alt. Ihr Hemd ist aufgerissen und blutverschmiert, ihr Unterkörper nackt. Sie liegt ausgestreckt mit dem Bauch auf einem Schreibtisch.
Die Sadisten sind Mitglieder der sogenannten irakischen Sicherheitskräfte, einer wahllos zusammengewürfelten Truppe, der schon lange vorgeworfen wird, sektiererische Todesschwadronen zu schützen. Einer der Männer dringt von hinten in das Mädchen ein, seine Hose hängt ihm um die Knöchel, seine Hände krallen sich in ihr onyxfarbenes Haar. Wie brünstige Tiere warten seine zwei schwer bewaffneten Begleiter darauf, dass sie selbst an die Reihe kommen.
Dunkle Augen und Gewehrläufe richten sich auf ihn, als er diesen Ort der Entwürdigung betritt.
Es vergeht ein Moment voller Anspannung. Ermutigt durch die Tatsache, dass sie das gleiche Geschlecht teilen, grinsen die Männer den Amerikaner nervös an. »Willst du diese sunnitische Hündin ausprobieren, ja?«
Die Stimme in Sheps Ohrhörer drängt darauf, dass er sich zurückzieht. »Das ist nicht unser Kampf, Sergeant. Verlassen Sie das Grundstück. Sofort!«
Sein Gewissen – es ist bereits vielfältig befleckt, doch es funktioniert noch – fordert das Gegenteil. Sein Verstand versucht, seine Zunge zum Sprechen zu bewegen.
Das Mädchen ruft ihm etwas zu. Ihr Farsi muss nicht übersetzt werden.
Sheps Puls hämmert in seinen Ohren. Die Ungerechtigkeit verlangt, dass er handelt, aber er weiß, dass seine nächste Bewegung eine Kettenreaktion auslösen könnte, die möglicherweise seinem Leben und dem Leben des Mädchens ein Ende bereiten würde.
Seine rechte Hand zuckt über dem Magazin des M16, sein Zeigefinger umschließt den Abzug. Die dunklen Augen, die ihn fixieren, werden nervös.
»Sergeant Shepherd, melden Sie sich unverzüglich.«
Gott, warum bin ich hier?
»Shepherd, sofort!«
Er zögert. Dann verlässt er rückwärts gehend das Gebäude …
… und der Tag wurde wieder zur Nacht. Der eiskalte Dezemberwind ließ seinen schweißüberströmten Körper erschauern.
»Sergeant?«
Er wandte sich Virgil zu, die Augen glasig vor Tränen. »Ich habe nicht gehandelt. Ich hätte sie alle umbringen sollen.«
»Umbringen? Wen? Wen hättest du umbringen sollen? «
»Die drei Soldaten. In Baladruz. Sie haben ein junges Mädchen vergewaltigt. Ich bin einfach nur danebengestanden und habe es zugelassen.«
Virgil schwieg. Er schien seine Antwort abzuwägen. »Diese Männer … Haben sie den Tod verdient?«
»Ja. Nein. Ich weiß es nicht. Es ist kompliziert. Es war in einem schiitischen Dorf. Überall lagen Leichen. Die Aufständischen waren Sunniten, das Mädchen ebenfalls. Es muss Regeln geben. Aber es gab keine Regeln, auf keiner Seite. An einem Tag kämpft man gegen einen Sunniten, einen Tag später kämpft man gegen einen Schiiten – während Unschuldige sterben, die … wie Schafe zur Schlachtbank geführt werden. Sie sehen dich an, als ob es deine Schuld ist, also versuchst du, nicht daran zu denken, doch tief im Innern weißt du, dass auch du dabei eine Rolle spielst … dass du vielleicht die Ursache dafür bist. Eine Million Tote, seit diese ganze Sache anfing. Warum bin ich hier? Sie haben uns nicht angegriffen. Sie waren keine Bedrohung. Natürlich war Saddam bösartiger Abschaum, aber waren wir so viel besser? Töten ist Töten, egal, wer die Kugel abfeuert. «
»War an jenem Tag Hass in deinem Herzen?«
»Hass? Ich war wie benommen. Ich befand mich auf einer Straße, die mit Leichenteilen übersät war, und das Blut von Kindern klebte an meinen Stiefeln. Plötzlich geschah etwas: Ich hörte diesen Schrei. Ich handelte ganz instinktiv. Was hätte ich denn empfinden sollen, wenn sie meine Tochter vergewaltigt hätten? Hass? Natürlich verspürte ich Hass. Du hättest ihre Augen sehen sollen. Sie waren wie die Augen wilder Tiere, voller Lust. Ich hätte sie aufhalten sollen. Ich hätte ihnen das beschissene Hirn wegblasen sollen!«
»Drei Tote für eine entmenschlichte Seele. Ein Akt des Bösen, der sich immer weiter fortzeugt.«
»Genau … Ich meine, nein. Es ist nur so, dass ich mich geschämt habe. Es ist, als hätte ich mich an dieser Tat beteiligt, weil ich nicht gehandelt habe. Was hätte ich denn tun sollen?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Du hättest handeln können, vielleicht hättest du sogar handeln sollen. Manchmal gibt es keine eindeutigen Antworten, manchmal leiden Unschuldige. Du hast mir gesagt, dass du mehrmals im Einsatz warst. Wie oft? Viermal?«
»Ja. Das hier geschah bei meinem ersten Einsatz. In der dritten Woche.«
»Es gibt da einige interessante Parallelen. Das Leben ist eine Prüfung, Patrick. Einige Seelen müssen, genau wie Soldaten, mehrere Einsätze ableisten. Sie sind dazu verdammt, ihre Reise zu wiederholen, bis sie ihre irdischen Lektionen gelernt haben. Die uralte Weisheit, von der ich dir erzählt habe, nennt diesen Prozess der spirituellen Reparatur das tikkun. Es heißt, dass eine Seele den malchut – die physische Welt – bis zu viermal bereisen wird, um ihre falsche Haltung zu korrigieren. Vielleicht hat dir der Schöpfer eine Möglichkeit zur Verwandlung angeboten.«
»Virgil, ich bitte dich. Willst du damit sagen, dass Gott mich ganz bewusst zum Zeugen der Vergewaltigung eines unschuldigen Mädchens gemacht hat, damit ich irgendeine Lektion lerne? Wie könnte es überhaupt eine Lektion geben, die diesen Preis wert wäre?«
»Das musst du selbst herausfinden. Der Schöpfer wirkt auf einer Ebene, die jenseits unserer Wahrnehmung liegt. Vergiss nie, dass ein einziger Akt des Bösen – genau wie ein einziger pestverseuchter Tropfen Wasser – Millionen Menschen infizieren kann. Aber genau dasselbe gilt auch für eine gute Tat. Was ist mit dem Mädchen passiert?«
»Sie ist gestorben. Auf grauenhafte Weise.« Shep ging zur Betonbegrenzung der nach Süden führenden Fahrspur. Der Hudson zog seine Blicke auf sich. Er hielt inne, und sein Blut wurde plötzlich eiskalt, als er die Gestalt sah, die in nicht ganz zwanzig Metern Entfernung auf den Amtrak-Eisenbahnschienen stand.
»Oh mein Gott.«
Das rot blinkende Signal beleuchtete alle zwanzig Sekunden eine hagere Gestalt. Ein Umhang mit dunkler Kapuze. Das geschwungene Sensenblatt an einem langen Stab. Shep konnte das Gesicht des Schnitters nicht sehen, aber er spürte die kalte Ruhe, die die Gegenwart dieses Wesens ausstrahlte.
»Virgil, mir müssen gehen. Wir müssen von diesem Highway verschwinden. Sofort!«
»Beruhige dich, Sergeant.«
Shep wirbelte herum und sah dem alten Mann direkt ins Gesicht. »Nenn mich nicht mehr so! Ich heiße Patrick oder Shep, nicht Sergeant. Ich bin nicht mehr beim Militär. «
»Alles klar, Patrick. Der Impfstoff … beeinflusst er deine Wahrnehmung?«
»Der Impfstoff?«
»Er verursacht Halluzinationen. Hast du Halluzinationen? «
»Ja. Vielleicht.« Er hielt Ausschau nach dem Sensenmann, doch er sah nur Schatten. »Um uns herum ist zu viel Tod, Virgil, zu viel Pest. Wenn du dich nicht mit dem Impfstoff schützen willst, dann sollten wir von diesem Highway des Todes verschwinden. Schau, direkt hinter der Brücke sind ein paar Ausfahrten. Wie wär’s, wenn wir bis dorthin joggen würden? Komm, ich helfe dir.«
Patrick führte seinen rechten Arm um die Hüfte des älteren Mannes und eilte mit ihm zwischen den überall kreuz und quer auf der Fahrbahn stehenden Fahrzeugen hindurch auf die in der Ferne schwelende George Washington Bridge zu.
Governor’s Island, New York
Gebäude
20
20:43 Uhr
Die Kellerwände bestanden aus grauen Steinblöcken, der Boden aus feuchtem Beton.
Leigh Nelson lag in Embryohaltung zusammengekrümmt auf einer einfachen Matratze unter einer olivgrünen Army-Wolldecke. Noch immer schmerzte ihr Körper vom Aufprall der Gummigeschosse. Ihr Magen knurrte vor Hunger. Die Fußfesseln hatten die Haut über ihren Knöcheln aufgerissen. Ihre Tränen hatten die Mascara verschmiert. Sie vermisste ihre Familie. Sie wollte unbedingt ihren Mann anrufen, damit er sich keine Sorgen mehr machen musste. Doch vor allem versuchte sie, sich selbst davon zu überzeugen, dass ihre schlimmsten Befürchtungen grundlos waren: dass sich ein Ausbruch der Pest niemals zu einer weltweiten Pandemie entwickeln würde und dass die Männer, die sie gefangen hielten, wussten, dass sie Ärztin war – dass sie zu den Guten gehörte.
Doch sosehr sie sich auch bemühte – diesen psychischen Kampf verlor sie. Nachdem man auf sie geschossen, ihr Handschellen angelegt und sie in eine transportable Isolationseinheit gesteckt hatte, war sie nach Governor’s Island geflogen, entkleidet und mit einem grünen Bakterizid eingesprüht worden, bevor man sie einer neunzigminütigen medizinischen Untersuchung unterzogen hatte. Bluttests hatten bestätigt, dass sie nicht infiziert war, doch die Entwürdigung, die sie unter den Blicken eines lüsternen Militärpolizisten empfunden hatte, hatte ihren Nerven zugesetzt und sie in ihrem Entschluss bestärkt, nicht mit dem Militär zu kooperieren.
Sie hörte, wie sich über ihr die Eingangstür öffnete. Mehrere Personen betraten das Gebäude. Die Bodendielen über Leighs Kopf knirschten, als die Leute den Raum durchquerten und zur Kellertür gingen.
Leigh setzte sich auf und wickelte die Decke um ihre Schultern, als die Männer die Kellertreppe herunterkamen.
Der Militärpolizist war der Erste, sein vorgesetzter Offizier folgte ihm in zwei Schritt Entfernung. Er war ein großer Mann. Seine Körpersprache verriet seine Erschöpfung. »Ms. Nelson?«
»Dr. Nelson. Warum werde ich hier wie eine Kriegsgefangene festgehalten? Ich dachte, wir sind auf derselben Seite.«
»Haben Sie Ihrem Freund deshalb ermöglicht, mit einem Rettungshubschrauber zu fliehen und den Scythe-Impfstoff mitzunehmen?«
»Ihre Kommandoeinheit hat unsere Klinik angegriffen, als wären wir irgendein Terrorcamp. Sie haben meinen Chef umgebracht!«
»Wir haben Gummigeschosse verwendet.«
»Verdammt, woher hätte ich das denn wissen sollen? Waren wir etwa nicht schon eingeschüchtert genug? Warum haben Sie sich nicht einfach ordentlich vorgestellt? Ich hätte Ihnen liebend gerne den Impfstoff überlassen – genauso wie die rothaarige Frau, die ihn entwickelt hat. Wir hätten zusammenarbeiten können, um Manhattan zu retten.«
»Manhattan kann nicht gerettet werden.«
Ihr wurde schwindelig. »Wovon reden Sie da? Natürlich kann es gerettet werden.«
»Der Präsident kann gerettet werden. Die meisten UN-Diplomaten, für die die entsprechenden Triage-Kriterien gelten, können gerettet werden – falls wir den Impfstoff rechtzeitig lokalisieren können. Aber am wichtigsten ist es, dass die Welt vor einer globalen Pandemie bewahrt wird, und das kann uns gelingen, wenn wir es schaffen, die Quarantäne bis zum Morgen aufrechtzuerhalten. Jeder andere in Manhattan …« Er schüttelte den Kopf.
»Sind Sie wahnsinnig? Das sind zwei Millionen Menschen. «
»Drei Millionen, wenn wir die Pendler mitzählen, die jeden Tag zur Arbeit hierherkommen. Sie alle teilen sich einen Großstadtdschungel von sechzig Quadratkilometern, und alle wurden einer hochgradig ansteckenden Form der Beulenpest ausgesetzt, die ihre Opfer innerhalb von fünfzehn Stunden tötet. Selbst wenn wir den Impfstoff hätten, würde es uns nie gelingen, in diesem Zeitraum die nötige Menge zu erzeugen.«
»Mein Gott.«
»Genau.«
»Was werden Sie tun?«
»Alles, was notwendig ist, um diesen Albtraum auf Manhattan zu beschränken. Nach unseren Schätzungen sind inzwischen mindestens eine Viertelmillion Menschen tot. Die Hälfte von ihnen dürfte auf den großen Highways gestorben sein, die aus der Stadt führen. Wir haben die Tunnel blockiert und die Brücken gesprengt, aber je mehr Leichen zu sehen sind und je verzweifelter die Menschen werden, umso höher wird die Wahrscheinlichkeit, dass es einigen findigen Individuen gelingt, die Absperrungen unbemerkt zu überwinden. Ihre Familie … sie lebt in New Jersey?«
»Hoboken.«
»Das ist nur eine kurze Bootsfahrt entfernt, und wenn man durch den Hudson schwimmt, braucht man dafür eine Stunde. Die meisten würden es natürlich nicht schaffen, aber die New Yorker sind ein verdammt einfallsreiches Völkchen. Deshalb wäre es möglich, dass wir New Jersey ebenfalls verlieren.«
»Was wollen Sie von mir?«
»Ich will den Impfstoff. Ihr Pilot hat es bis Inwood Hill geschafft, bevor er im Park notlanden musste. Wer ist er? Wohin würde er wohl gehen?«
»Er heißt Sergeant Patrick Shepherd. Er ist einer meiner Patienten.«
Jay Zwawa tippte die Information in seinen BlackBerry. »Ist er ein Veteran?«
»Ja. Heute Morgen trug er noch eine linke Armprothese. Seine Frau und seine Tochter leben irgendwo in Battery Park.«
»Wie heißt seine Frau?«
»Beatrice Shepherd.«
»Sergeant?«
»Ja, Sir?«
»Nehmen Sie Dr. Nelson die Handschellen ab. Sie kommt mit mir.«
Battery
Park, Manhattan, New York
21:11 Uhr
Beatrice Shepherd verließ das nördliche Treppenhaus des zweiundzwanzigstöckigen Wohngebäudes. Panik erfüllte sie, denn ihre Tochter war noch immer nicht zu Hause. Sie ging bis zum Eingang der Lobby, blieb dann aber abrupt stehen und verbarg sich im Schatten.
Der Tod hielt Manhattan in seinem Bann und ließ den Big Apple bis hinab auf den Kern verfaulen. Er lag mit ausgestreckten Armen und Beinen am Straßenrand unter dem Baldachin des Gebäudes und blutete auf den Bürgersteig. Er lauerte auf dem Fahrersitz eines Taxis, dessen Motor noch lief. Er infizierte Busse über die ganze Länge eines Häuserblocks hinweg und ließ die lebenden Toten durch die Straßen irren – verzweifelte, verängstigte Touristen, die nicht wussten, wohin sie gehen sollten.
Auf der anderen Straßenseite warf ein Vater von drei Kindern einen Pflasterstein durch die Glastür einer abgedunkelten Pfandleihe. Ein Besucher aus England, der Schutz für seine Familie suchte. Das Mündungsfeuer der Schrotflinte war blendend hell und tödlich, als der Ladenbesitzer, der sich in der Dunkelheit zusammenkauerte, hinaus in die Nacht schoss.
Beatrice zog sich aus der Lobby zurück. Gott hatte ihr ein Zeichen gegeben. Ihre Tochter würde leichter einen Weg nach Hause finden als sie selbst ihr Kind in diesem Chaos.
Sie würde in ihrer Wohnung bleiben und beten.
Zufahrt
zur 158th Street
Henry Hudson Parkway South,
Manhattan, New York
21:47 Uhr
Sie hatten zwanzig Minuten bis zur Unterführung der George Washington Bridge gebraucht. Je näher sie kamen, umso lauter wurde das Chaos. Schreie und Hilferufe klangen hohl in der kalten Dezemberluft; immer wieder wurden sie vom Stakkato ferner Schüsse übertönt. Über dem Hudson hörte man das Echo merkwürdig surrender Geräusche, die von unsichtbaren, hoch fliegenden Drohnen stammten. Patrouillenboote glitten mit dröhnenden Motoren durch die Dunkelheit, die Suchscheinwerfer auf den Fluss gerichtet. Hoch über ihnen auf dem Cross Bronx Expressway erhellten zahllose Feuer die Nacht, ein Muster orangefarbener Flecken. Dutzende Fahrzeuge brannten und beleuchteten die Silhouetten des sich zusammenrottenden Mobs.
Der Gestank der schwelenden Brücke war noch immer überwältigend.
Patrick und Virgil eilten an den östlichen Fundamenten der Brücke vorbei, blieben dabei aber hinter dem mittleren Fahrbahnteiler des Henry Hudson Parkway in Deckung. Nachdem das Labyrinth der Verbindungsstraßen, das zu der zerstörten Brücke führte, hinter ihnen lag, kletterten sie über eine knapp anderthalb Meter hohe Begrenzungsmauer, um auf die nach Norden führenden Fahrspuren zu gelangen, und gleich darauf über ein Stahlgeländer, hinter dem sie die Zufahrt zur 158th Street erreichten. Die lange, gewundene Straße war völlig verlassen und zog sich steil abfallend und scheinbar endlos dahin. Die beiden Männer setzten ihren Weg fort. Kleine Atemwölkchen schwebten vor ihren Gesichtern in der kalten Luft.
»Virgil, in der Klinik hast du gesagt, dass alles eine Ursache und eine Wirkung hat.«
»Bring die Ursache in Ordnung, dann bringst du auch die Wirkung in Ordnung.«
»Und wie willst du das hier in Ordnung bringen? Die Menschen sterben zu Tausenden. DeBorn und seinesgleichen stürzen die Welt in einen neuen Krieg. Wie könnte man so viel Böses jemals in Ordnung bringen? «
»Eine zeitlose Frage. Soll ich als Psychiater oder als spiritueller Berater antworten?«
»Das ist mir egal. Ich will einfach nur wissen, wie das gehen soll.«
Der alte Mann ging weiter, ohne innezuhalten, und dachte darüber nach, was er erwidern sollte. »Ich werde dir eine Antwort geben, aber sie wird dir nicht gefallen. Das Böse dient einem Zweck. Es ermöglicht die Wahl des Guten. Ohne das Böse gäbe es keine Verwandlung – Verwandlung ist das Verlangen, die eigene selbstsüchtige Natur zur Selbstlosigkeit zu entwickeln.«
»Was für eine esoterische Scheiße ist denn das schon wieder? Mein Gott, offensichtlich bist du mir aus gutem Grund vollkommen durchgeknallt vorgekommen. Würdest du das zu einer trauernden Mutter sagen, deren Kind gerade auf der Straße erschossen wurde?«
»Nein. Das ist die Erwiderung, die ich dem Soldaten anbiete, der den Abzug gedrückt hat.«
Die Straße drehte sich unter Patrick. Ein plötzliches Schwindelgefühl zwang ihn, auf dem Beton niederzuknien. Es war, als schnüre etwas seine Brust zusammen. Das Atmen fiel ihm schwer. »Wer … hat … dir … das gesagt? DeBorn?«
»Spielt das wirklich eine Rolle?«
»Der Vater war wütend. Er rannte auf mich zu. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, welche Worte ich auf Farsi sagen sollte. Ich war darauf trainiert zu reagieren. Ich wollte ihn nicht töten. Ich hatte keine Wahl.«
»Ist das deine aufrichtige Überzeugung?«
Shep schüttelte den Kopf. »In diesem Augenblick hätte ich allem ein Ende machen sollen … Mein Leben für den Vater des Jungen. Stattdessen … oh mein Gott!« Der Damm brach, und heftige Zuckungen erschütterten seinen Körper. Seine Qual strömte in die Nacht, die bereits von so viel Verzweiflung erfüllt war.
»Selbstmord ist keine Verwandlung, Patrick. Er ist Blasphemie. « Virgil setzte sich neben Shep und legte ihm einen Arm um die Schulter. »Wann ist diese Sache passiert?«
»Vor acht Jahren und drei Monaten.«
»Und diese Tode quälen dich bis heute?«
»Ja.«
»Dann gibt es eine Art Gerechtigkeit. Doch was noch fehlt, ist Verwandlung.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Du hast mich nach dem Bösen gefragt, du hast mich gefragt, warum Gott zulässt, dass es existiert. Die wichtigere Frage ist jedoch, warum überhaupt irgendetwas existiert. Was ist die wahre Bestimmung des Menschen? Was wäre, wenn ich dir sage, dass alles um uns herum – diese Zufahrt zum Parkway, diese Stadt, dieser Planet –, dass einfach alles, was du als physisches Universum bezeichnest, nur ein Prozent der Existenz darstellt, die zu einem einzigen Zweck geschaffen wurde – nämlich als Herausforderung?«
»Als Herausforderung für wen? Den Menschen?«
»Der Mensch ist nichts weiter als ein Gefäß, das fehlbar geschaffen wurde.« Virgil zuckte zusammen. »Mein Rücken wird steif. Hilf mir hoch.«
Shep legte seinen rechten Arm um die breite Hüfte des älteren Mannes und half ihm beim Aufstehen. Mit einem Grunzen folgte Virgil der langen, gewundenen Zufahrtsstraße.
»Jedes Lebewesen besitzt eine Seele, Patrick, und jede Seele ist ein Funke vom Licht des Schöpfers. Gottes Licht ist rein und dient nur einem einzigen Zweck – zu geben. Auch die Seele ist rein, und auch sie dient nur einem einzigen Zweck – die unendliche Erfüllung des Lichts zu empfangen. Um das Licht zu empfangen, muss man danach verlangen. Um dem Schöpfer ähnlicher zu sein, trug die Seele Verlangen danach, sich unendliche Erfüllung zu verdienen. Dazu brauchte sie eine Herausforderung. So sieht’s aus.«
»Das ist deine Antwort? So sieht’s aus?«
»Es steckt noch mehr dahinter, und ich werde dir mehr davon erzählen, wenn ich glaube, dass du bereit dazu bist. Im Augenblick musst du vor allem verstehen, dass das menschliche Ego das Streben der Seele nach dem Licht befleckt. Das Ego ist die Abwesenheit von Licht, und diese Abwesenheit führt zu reaktivem Verhalten – Gewalt, Wollust, Gier, Eifersucht. Du hast mir von den Soldaten erzählt, die das Mädchen vergewaltigt haben – das ist ein Beispiel dafür, was passiert, wenn das Licht Gottes von der Seele abgeschnitten wird, wodurch die Kräfte des Bösen Amok laufen können.«
»Du hättest sie sehen sollen. Den Ausdruck ihrer Augen … Diese Wut.«
»Wut ist der gefährlichste Zug des Egos. Durch sie gewinnen die dunkleren Kräfte Macht über einen Menschen. Wie Wollust ist Wut eine animalische Reaktion. Sie kann nur durch selbstlose Handlungen korrigiert werden, die das menschliche Gefäß erweitern, sodass es mehr von Gottes Licht aufnehmen kann.«
»Aber die Menschen, die gesündigt haben … Ist es ihnen nicht verboten, Zugang zum Licht zu finden?«
»Keineswegs. Die Verwandlung ist jedem zugänglich, gleichgültig wie böse seine Taten sind. Im Gegensatz zum Menschen empfindet der Schöpfer bedingungslose Liebe zu allen Seinen Kindern.«
»Langsam, langsam. Hitler kann also einfach so sechs Millionen Juden ermorden – und sobald er um Vergebung bittet, ist alles in Ordnung? Ich bitte dich!«
»Verwandlung hat nichts damit zu tun, dass man um Vergebung bittet, zehn Ave-Maria betet oder fastet. Verwandlung ist ein Akt der Selbstlosigkeit. Für das, was du im Irak getan hast, wirst du in der gehenna dein Urteil finden.«
»Die gehenna ist die Hölle, stimmt’s?«
»Für einige kann sie das sein. Doch vergiss nicht: Jeder Akt der Güte, den du vor deinem letzten Atemzug vollendest, kann dazu beitragen, den Reinigungsprozess auf dem weiteren Weg deiner Seele zu erleichtern. «
»Und wie kann ich mich verwandeln?«
»Zunächst einmal solltest du aufhören, ein Opfer zu sein. Du wurdest nicht dazu geschaffen, um im Elend zu verharren. Indem du dich im Elend wälzt, ziehst du einen Schleier vor das Licht Gottes. Es gibt doch bestimmt irgendetwas, worauf sich dein Verlangen wirklich richtet?«
»Ehrlich gesagt besteht mein einziges Verlangen darin, meine Familie wiederzusehen.«
»Es gibt einen Grund dafür, dass ihr getrennt seid, Patrick. Du musst die Ursache beseitigen, um die Wirkung zu überwinden. Solange du das nicht schaffst …« Der Wind frischte auf und brachte Regen mit sich. Der alte Mann sah zum Himmel hinauf und dann nach vorn, wo die Zufahrtsstraße in eine Unterführung mündete. »Dort drüben sind wir geschützt.«
Ihr Weg hatte sie nach Manhattanville geführt. Vor ihnen lag die 158th Street. Hier verlief sie unter einem riesigen Brückenbogen, der zur Überführung eines Highways gehörte. Jemand hatte ein Graffito auf die Betonwand des Brückenbogens gesprüht. Die roten Buchstaben waren so frisch, dass die Farbe noch herabtropfte.
Willkommen in der
Hölle.
Tu, der du eintrittst, alle Hoffnung
ab.