»Seit meinem Eintritt in die Politik habe ich mir die Ansichten von Männern in erster Linie unter vier Augen anvertrauen lassen. Einige der wichtigsten Männer in den USA auf dem Gebiet von Handel und Produktion haben Angst vor jemandem, haben Angst vor etwas. Sie wissen, dass es irgendwo eine Macht gibt, die so organisiert, so subtil, so wachsam, so verzahnt, so vollständig und so durchdringend ist, dass es besser wäre, wenn sie nicht laut sprächen, wenn sie für ihre Verurteilung votieren.«
PRÄSIDENT WOODROW WILSON
»Ich hätte der Gründung der Central Intelligence Agency damals, ’47, niemals zugestimmt, wenn ich gewusst hätte, dass sie die amerikanische Gestapo werden würde.«
PRÄSIDENT HARRY S. TRUMAN
OKTOBER
VA
Medical Center
East Side, Manhattan, New
York
16:22 Uhr
»Ja, er leidet unter stressbedingtem Verfolgungswahn, aber das hier geht weit über die normale posttraumatische Belastungsstörung hinaus. Die innere Wut, die Gefühle der Leere, vor allem aber sein instabiles Selbstbild – das ist eine Borderline-Persönlichkeitsstörung wie aus dem Lehrbuch.«
Dr. Mindy Murphy schloss Patrick Shepherds Krankenakte und reichte sie Dr. Nelson. »Fazit, Leigh, der hier ist gefährlich. Überweise ihn ans Bellevue. Sollen die sich darum kümmern.«
»Ihn überweisen? Mindy, dieser Mann hat alles geopfert – seine Familie, seine Karriere –, und jetzt willst du ihn in eine Gummizelle sperren?«
»So muss es nicht sein. Es gibt neue Ansätze zur Behandlung von BPS. Die dialektische Verhaltenstherapie ist bislang echt vielversprechend.«
»Gut! Du kannst ihn gleich hier behandeln.«
»Leigh …«
»Mindy, du bist die beste Psychologin im System.«
»Ich bin die einzige Psychologin im System. Zwei von meinen Kollegen haben im letzten Frühjahr gekündigt, ein dritter hat sich in den Vorruhestand verabschiedet. Meine Arbeitsbelastung ist von fünfundsiebzig Patienten auf dreihundert gestiegen. Ich praktiziere nicht mehr als Psychologin, Leigh, diese monatlichen Sitzungen sind nichts weiter als eine Sichtung. Sieh den Tatsachen ins Auge: Das System ist unterfinanziert und überlastet, und manchmal schlüpfen Soldaten durch die Maschen. Du kannst nicht jeden retten.«
»Dieser hier muss gerettet werden.«
»Warum?«
»Weil er sonst durchschlüpft.«
Dr. Murphy seufzte. »Na schön. Wenn du Florence Nightingale spielen willst, dann mach, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«
»Sag mir einfach, was ich tun muss.«
»Zunächst einmal, versuch ihn nicht jetzt sofort zu ändern. Akzeptier ihn, wie er ist, aber verhätschle ihn nicht. Wenn er versucht, sich wieder zu verletzen, oder wenn er an Selbstmord denkt, lass ihn wissen, dass er dir Unannehmlichkeiten bereitet, dass er sogar deine Karriere gefährdet. Hast du bei ihm für eine Armprothese Maß genommen?«
»Letzte Woche.«
»War er empfänglich?«
»Nein, aber ich habe ihn mit einer DVD von Annies Männer bestochen. Man sagt mir, sie sind sechs Monate im Rückstand bei den Prothesen.«
»Früher war’s noch schlimmer. Aber ihm einen neuen Arm zu verpassen ist vielleicht nicht schlecht, dann hat er was, worauf er seine Gedanken richten kann. Nicht zuletzt könnte es helfen, sein Selbstbild zu ändern. Die größte Schwierigkeit, vor der du im Augenblick stehst, ist, eine Möglichkeit zu finden, seine Lust am Leben wieder zu entfachen, ihn dazu zu bringen, sich etwas zu wünschen, sich ein Ziel zu setzen, sich wieder nützlich zu fühlen. Er ist in ordentlicher körperlicher Verfassung. Warum lässt du ihn nicht auf der Station mitarbeiten? Anderen zu helfen ist eine großartige Möglichkeit, jemanden dazu zu bringen, sich wieder nützlich zu fühlen.«
»Gute Idee.« Leigh Nelson machte sich schnell eine Notiz. »Was ist mit seiner Familie?«
»Was ist mit deiner? Solltest du nicht zu Hause bei Mann und Kindern sein?«
»Mindy, seine Frau hat ihn verlassen, und er hat eine Tochter, die er seit elf Jahren nicht gesehen hat. Sollte ich ein Wiedersehen erleichtern oder nicht?«
»Mach langsam. Da sind eine Menge Wutprobleme im Spiel, Gefühle der Verlassenheit. Was macht dich so sicher, dass du sie überhaupt finden kannst?«
»Die beiden sind in Brooklyn aufgewachsen, sie waren Jugendfreunde. Sie könnte noch Verwandte haben, die dort drüben leben.«
Dr. Murphy schüttelte den Kopf. »Du bist verheiratet und hast Kinder, du hast eine Sechzig-Stunden-Woche, aber irgendwie hast du Zeit, die Familie der Noch-Ehefrau eines Patienten zu suchen, die vielleicht irgendwo in Brooklyn lebt oder auch nicht. Leigh, was tust du?«
»Ich versuche, eine verlorene Seele zu retten, Mindy. Ist das nicht ein klein wenig Zeit von meinem Tag wert? Ein kleines Opfer?«
»Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz: die fünf Stadien des Kummers.«
»Du meinst, Shepherd erlebt sie gerade?«
Die frühere Turnerin stand auf und warf Patrick Shepherds Krankenakte auf einen Stapel mit fünfzig anderen. »Nein, Leigh, ich hab von dir gesprochen.«
Frederick, Maryland
16:59 Uhr
Andrew Bradosky bog nach Norden ab auf die US 15, aber dem Vierzylinder fehlte die Leistung seines neuen Mustang. Er hatte den ganzen Vormittag hin und her überlegt, ob er weitere fünfzig Dollar für einen Mietwagen verschwenden sollte. Am Ende hatte die Vorsicht schwerer gewogen als die Sparsamkeit. Außerdem, was waren fünfzig Dollar, wenn ein großartiger Zahltag auf einen zukam?
Das Treffen heute Abend wäre das dritte in den letzten fünf Wochen mit dem Geheimdienstoffizier. Andrew vermutete, dass Ernest Lozano entweder von der CIA oder der DIA war, vielleicht sogar vom Heimatschutzministerium. Letzten Endes spielte es keine Rolle, solange alle zwei Wochen die Zahlungen auf seinem Offshore-Konto eingingen.
Das Hampton Inn lag rechter Hand. Andrew bog auf die Zufahrt ein und parkte den Wagen, dann steuerte er, die Baseballkappe der Baltimore Orioles tief über die Augen gezogen, auf das Foyer zu. Er hielt den Kopf gesenkt, als er an der Hotelrezeption und der Bar vorbeiging, dann nahm er den Fahrstuhl in die dritte Etage.
Andrew Bradosky war sechsunddreißig, als er, nachdem er zwei Jahre in der Anlage von Battelle in Ohio gearbeitet hatte, in Fort Detrick anfing. Für seine Arbeitskollegen war er ein lebenslustiger Bursche, immer gut für ein Bier nach der Arbeit oder das gelegentliche Männerfreundschafts-Wochenende in Vegas. Seine Vorgesetzten mochten ihn im Allgemeinen, bis im Laufe der Zeit offenkundig wurde, dass seine Arbeitsmoral nicht gerade phänomenal war. Für seine engsten Freunde blieb Andy der vollendete Schaumschläger, und genau deshalb liebten sie ihn. Während er die heiße Braut mit der frostigen Miene völlig umgarnen konnte, waren sich die meisten seiner Altersgenossen darin einig, dass dem ewigen Junggesellen die Substanz fehlte, um sich von One-Night-Stands zu tiefer gehenden Beziehungen weiterzuentwickeln. Andrew war es sogar lieber so. In kleinen Dosen machten Frauen Spaß; der Ärger begann, wenn sie anfingen, sich bei einem einzunisten, etwas, das eindeutig nicht in seinem Interesse lag.
Wofür Andrew Bradosky sich wirklich interessierte, das war ein besser bezahlter Job. Vielleicht war das der Grund, warum er sich mit einigem Geschick in das Leben von Mary Klipot gedrängt hatte. Hätte er sie in einem Lokal oder bei einem geselligen Beisammensein kennengelernt, wäre sie nie über Small Talk hinausgekommen, aber in Fort Detrick hatte die Mikrobiologin ein intellektuelles Flair, das sie pseudoattraktiv machte. Andrew nannte es den »Tony-Soprano-Effekt«. Im wirklichen Leben konnte ein fetter Mann mittleren Alters mit schütterem Haar wie die HBO-Figur niemals die Art Muschi kriegen, die er in der Serie bekam, aber die Tatsache, dass er ein Mafiaboss war, verschaffte ihm ein gewisses Flair, das schöne, obgleich problematische Frauen anzog.
Mary Klipots Intellekt und Berufsbezeichnung verschafften ihr die gleiche Anziehungskraft. Die Tatsache, dass sie eine Einzelgängerin war und ein BSL-4-Labor leitete, machte es nur umso verlockender, sie kennenzulernen.
Der erste Tag, als er sich beim Mittagessen vorgestellt hatte, war mehr als peinlich gewesen.
Bei der zweiten Begegnung in der Mittagspause hatte sie ihn stehen lassen.
In den darauf folgenden zwei Wochen hatte sie ihn gemieden, indem sie in ihrem Labor zu Mittag aß. Andrew, der mit allen Wassern gewaschen war, erfuhr, dass Mary jeden zweiten Vormittag in dem Fitnessstudio auf dem Gelände trainierte. Ganz den Unbeteiligten mimend, kreuzte er immer mal wieder auf, um Gewichte zu stemmen, ohne sich bis zum dritten Training auch nur einmal anmerken zu lassen, dass er sie überhaupt sah. Ein paar Hallos führten zu oberflächlicher Konversation, was ausreichte, um der introvertierten Rothaarigen die Befangenheit zu nehmen.
Sein Eifer zahlte sich einen Monat später aus, als Mary ihn als Labortechniker für Projekt Scythe auswählte.
Andrew trat aus dem Hotelfahrstuhl und folgte der Ausschilderung zu Zimmer 310. Er klopfte zweimal, dann einmal, dann noch zweimal.
Die Tür schwang auf, und Ernest Lozano winkte ihn herein. Er deutete auf das Bett, während er den Schreibtischstuhl für sich reservierte. »Also, wie laufen die Dinge im Labor?«
»Wir kommen gut voran.«
»Ich hab Sie nicht wegen eines Wetterberichts herbestellt. Wann wird der Wirkstoff waffenfähig sein?«
»Sie sagten Frühjahr. Es läuft alles nach Plan. März oder April, ganz bestimmt.«
Andrew sah das Stilett erst, als die Spitze Zentimeter von seinem rechten Auge entfernt war. Der kräftige Oberkörper des schlaksigen Agenten beugte sich über ihn und drückte ihn zurück auf die Matratze. Sein Gesicht war so nahe, dass der Labortechniker einen Hauch Alfredo-Sauce, vermischt mit Aqua-Velva-Aftershave, riechen konnte. »Wir haben Ihnen fünfzigtausend gezahlt. Für fünfzig Riesen will ich Zusicherungen, keine Einschätzungen.«
Andrew rang sich ein nervöses Grinsen ab. »Sachte, großer Meister. Wir sind auf Kurs, waren wir zumindest, bis Mary herausfand, dass sie schwanger ist. Irgendwie ist alles kompliziert geworden, aber wir kriegen es hin, das schwöre ich.«
Lozano trat von dem Bett zurück. »Ist es Ihres?«
Andrew richtete sich auf und wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. »Genau da wird es kompliziert. Mary ist ein streng katholisches Mädchen. Letzten April fuhren wir zusammen nach Kanada und hatten irgendwie einen Kleinen sitzen, nachdem wir uns ein paar Gläschen Tequila genehmigt hatten.«
»Und Sie haben sie flachgelegt.«
»Ja, aber sie kann sich überhaupt nicht mehr daran erinnern, und alles in allem dachte ich mir, dass es das Beste wäre, wenn ich es dabei beließe. Aber jetzt, wo sie schwanger ist …«
»Haben Sie’s ihr erzählt?«
»Ich hab’s versucht. Sie ist davon überzeugt, dass es eine unbefleckte Empfängnis war. Sie müssen verstehen, womit ich es hier zu tun habe. Wenn es um biologische Kriegsführung und genetisch veränderte Bakterien geht, ist Mary Klipot genialer, als die Polizei erlaubt. Aber in Sachen Sex, emotionale Bindung und normaler Beziehungskram ist sie wie geistig zurückgeblieben. Ich meine, im Kopf von dieser Tussi spukt irgendein echt finsterer Mist herum … unheimlicher Mist. Und zum Teufel, ja, wenn sie glauben will, dass sie das Kind von Jesus erwartet – wer bin ich, ihr was anderes zu erzählen? Solange Sie mich weiter bezahlen, werde ich für die Mutter Maria den Joseph spielen, aber in dem Moment, wo Scythe einsatzbereit ist, bin ich hier weg.«
Lozano durchquerte das Zimmer und kehrte zu dem Schreibtischstuhl zurück. »Wann ist es denn so weit?«
»Dritte Januarwoche, obwohl sie davon überzeugt ist, dass der Arzt lügt. Sie schwört, dass der kleine Jesus am ersten Weihnachtstag geboren wird.«
»Sie müssen die Lage stabilisieren.«
»Wie?«
»Schlagen Sie vor zu heiraten. Ziehen Sie zusammen. Erzählen Sie ihr, Sie möchten der Ersatzvater des Babys sein. Tun Sie nichts, was für Unruhe sorgt. Bringen Sie unterdessen den Stichtag für Scythe mit der Geburt des Babys in Einklang. Drängen Sie sie, so schnell wie möglich fertig zu werden, damit sie einen langen Mutterschaftsurlaub nehmen kann.«
»Das könnte ins Auge gehen. Die Leiterin von Scythe, Lydia Gagnon, spricht bereits davon, noch ein oder zwei Mikrobiologen hinzuzuziehen. Mary fand auch, dass wir die Sache so geheim wie möglich halten müssen, vor allem nach diesen ganzen Attentaten.«
»Was für Attentaten?«
»Erzählen Sie mir keinen Scheiß, Freundchen. Sie und Ihre CIA-Kumpels haben direkt nach dem 11. September angefangen, in schöner Regelmäßigkeit Mikrobiologen umzulegen. Sechs israelische Typen in zwei verschiedenen Linienmaschinen erschossen, dieser Zellbiologe an der Universität von Miami … der sowjetische Überläufer, dem mit einem Hammer der Schädel eingeschlagen wurde. Mary kannte Set Van Nguyen, und Tanya Holzmayer war ihre Kommilitonin im Promotionsstudium. Tanya wurde erschossen, als sie einem Burschen vom Pizzaservice die Tür öffnete. Guyang Huang wurde in den Kopf geschossen, als er in einer Grünanlage in Foster City joggte. Neunzehn tote Wissenschaftler in den ersten vier Monaten nach dem 11. September, weitere einundsiebzig während der restlichen Amtszeit von Bush und Cheney. Leichen, die in Koffern gefunden wurden, zwei in Gefriertruhen, ein halbes Dutzend bei Autounfällen. Keine Verhaftungen, alles aus den Nachrichten herausgehalten und der Einfachheit halber unter den Teppich gekehrt. Diese ganzen Intelligenzbolzen hatten zwei Dinge gemeinsam: Jeder arbeitete für Einrichtungen, die insgeheim biomedizinische Forschungen für die CIA durchführten, und alle galten sie als Wissenschaftler an vorderster Front, die man auswählen würde, um eine globale Pandemie zu stoppen, sollte jemals eine ausbrechen.«
Andrew stand von dem Bett auf, und seine müde Trotzhandlung steigerte sich zu einer geprobten Rede. »Wenn Sie Scythe benutzen wollen, um einen Haufen Turbanträger auszulöschen, nur zu, aber hier sind meine Bedingungen: Erstens, vergessen Sie die hundert Riesen, das war eine Anzahlung. Ich will zwei Millionen, eingezahlt auf mein Konto bei der Credit Suisse, hundert Riesen die Woche von jetzt an bis einschließlich März, und der Restbetrag ist in der Woche fällig, wo wir Scythe übergeben. Zweitens habe ich, als Versicherung gegen Pizza-Auslieferer, die Pistolen und Hämmer tragen, Anwälte in mehreren Bundesstaaten angewiesen, die Einzelheiten von Scythe und unsere kleine Vereinbarung bestimmten Mitgliedern der Auslandspresse zuzuspielen, sollte mir etwas zustoßen.«
Lozanos Gesichtsausdruck sorgte dafür, dass Andrews Großspurigkeit schleunigst wieder seinen Schließmuskel hinaufkroch. »Wenn Sie Scythe bis 1. März liefern, können Sie Ihr Geld vielleicht wirklich noch ausgeben. Schaffen Sie’s nicht, werden Sie der Jungfrau Maria und Klein-Jesus in einem namenlosen Grab Gesellschaft leisten.«
VA
Medical Center
East Side, Manhattan, New
York
23:22 Uhr
Der East River glitzert olivgrün, als sie in südlicher Richtung über die nach Brooklyn führende Brücke fahren.
»Dein Fastball hat sich gut bewegt, dein Breaking Ball hat ihre rechtshändigen Schlagmänner ausgeschaltet. Aber die Colleges und unteren Ligen sind voller Werfer, die mächtig was draufhaben und trotzdem versagen. Wir müssen anfangen, an deinem mentalen Spiel zu arbeiten.«
Coach Segal fährt den Kleinbus, eines von zwei Schulfahrzeugen, die die Baseballauswahl der Roosevelt High von einem 3:1-Play-off-Sieg im Bezirks-Viertelfinale nach Hause fahren. Patrick Shepherd sitzt vorne auf dem Beifahrersitz. Der sechzehnjährige Junior ist der siegreiche Werfer des heutigen Tages. Eingezwängt zwischen Patrick und seinem Baseballtrainer sitzt Morrie Segals Tochter. Sheps Klassenkameradin und beste Freundin lehnt ihren Kopf an seine linke Schulter, ihre Augen sind geschlossen … während ihre rechte Hand sich spielerisch unter den Baseballhandschuh und die Aufwärmjacke auf seinen linken Oberschenkel schlängelt. Ihre Berührung jagt ihm Stromstöße durch die Leistengegend.
»… deine vordere Schulter und dein Kopf waren die ganze Zeit, in der du Schwung geholt hast, auf dein Ziel gerichtet, und du hast Schulter und Hüften geschlossen gehalten, bereit, dich zu strecken, so wie wir es uns erarbeitet haben. Heute hattest du die perfekte Symmetrie, Patrick, aber mehr wirst du allein mit körperlicher Form nicht erreichen. Sandy Koufax hat gesagt, dass viele Werfer zwar die physischen Aspekte von Baseball beherrschen, die meisten aber nie große Gewinner werden, weil sie es versäumen, die mentale Seite ihres Spiels weiterzuentwickeln. Klar, du machst dich prächtig in den Drucksituationen – das liebe ich an dir. Aber Spiele können mit zwei Outs und keinen Männern an der Base gewonnen werden. Du hast einen bedeutungslosen Home Run an einen Backup Catcher abgegeben, der 0,225 erzielt hatte, weil du dich nicht herausgefordert fühltest. Mental hattest du das Inning schon beendet. Folglich hast du bei einem Curveball geschludert, der nie ausbrach, statt ihn leicht und locker abzuwerfen.«
Ihr nackter rechter Oberschenkel ist gegen seinen linken Handrücken gepresst. Ihr hellbraunes Fleisch ist seidenweich. Er versucht seine Hand ganz langsam unter ihr Bein zu schieben, nur um sich einen Finger schmerzhaft an der Schnalle ihres Sicherheitsgurtes einzuklemmen.
Sie schließt die Augen und unterdrückt ein Kichern.
»Jeder Wurf zählt. Du musst psychologische Spielchen spielen. Fordere dich selbst heraus, damit du jeden Schlagmann angreifst. Steve Carlton stellte sich immer die Flugbahnen jedes Wurfs vor, bevor er warf, als ob der Batter noch gar nicht da wäre. Konzentrier dich auf das Zeichen des Fängers. Nimm dir einen Moment Zeit, um dir den erfolgreichen Flug des Wurfs vorzustellen. Atme langsam ein, während du ihn dir vorstellst, und rieche dabei den Angstschweiß des Batters.«
Einige lange blonde Haarsträhnen des Mädchens liegen auf seiner linken Schulter. Er atmet den Duft von Jasminshampoo ein, und ihre Pheromone sind ein Aphrodisiakum für seine Sinne.
»Wenn du einen schlechten Wurf machst – lass ihn sausen. Tritt vom Mound ab. Sieh zu, dass du deinen Ärger durch Atmen unter Kontrolle kriegst. Denk dran, die Atmung wird davon beeinflusst, was und wie du denkst. Mach dich frei von der Negativität. Stell dir den Erfolg vor. Stell dich erst wieder auf den Mound, wenn du deine Gefühle wieder unter Kontrolle hast.«
Ihre Fingerspitzen schieben sich zentimeterweise näher an seine Leistengegend. Das Mädchen hat Patricks Körper jetzt völlig unter Kontrolle. Was als unschuldiges Spiel begann, bei dem es darum ging, wer zuerst kneift, hat sich in etwas weit Aufregenderes verwandelt, und er ist unsicher, was er als Nächstes tun soll. Kerzengerade und in Habachtstellung dasitzend, hat er Angst zu atmen, als sie ihre Hand wie beiläufig ganz langsam näher an seine Genitalien schiebt und der Stoff seiner Spielkleidung sich spannt …
»… kühl die Schulter mit Eis, sobald du nach Hause kommst. Das Letzte, was wir gebrauchen können, ist eine Schwellung.«
Ihre Fingernägel machen sich an der Innenseite seines Genitalschutzes zu schaffen – reizen ihn, bevor sie sich nach oben und draußen zurückziehen.
»Ich weiß, nach nur zwei Tagen Erholung wieder zu werfen ist viel verlangt, aber wenn wir dich Freitag wieder auf den Mound kriegen, dann hast du eine Woche zum Ausruhen vor der Endrunde. Bist du beleidigt? Wie fühlst du dich?«
»Ich fühl mich großartig.«
Patrick Shepherd saß aufrecht im Bett. Die Augen weit aufgerissen. Mit pochendem Herzen. Das verschwitzte T-Shirt klebte an Rücken und Hals. Beklemmung stieg in ihm auf. Er suchte die Dunkelheit ab. Konzentrierte sich auf das leuchtende EXIT-Zeichen. Ein provisorischer Rettungsanker.
Er streckte die Hand nach dem Nachttisch zu seiner Rechten aus und tastete in der obersten Schublade nach dem Umschlag. Darin war das teilweise verbrannte Polaroid. Das Foto war vor seinem ersten Einsatz gemacht worden, im Innern von Fenway Park, kurz nachdem er aus den unteren Ligen berufen worden war. Auf dem Foto hält seine Frau ihre gemeinsame zweijährige Tochter, während Patrick, der seine Red-Sox-Baseballkluft trägt, sich von hinten vorbeugt und beide mit den Armen umfasst.
Ein plötzlicher Anfall von Phantomschmerzen. Shep kniff die Augen zusammen, der Schmerz fuhr ihm bis in die Knochen, und die schrecklichen Empfindungen ließen jeden Muskel zittern.
Atme! Sieh zu, dass du deine Gefühle wieder unter Kontrolle bekommst!
Er zwang sich zu langsamen, bewussten Atemzügen. Die heftigen Schmerzen klangen ab bis auf ein erträgliches Maß.
Er sank auf das Kissen zurück. Versuchte die Bruchstücke der Erinnerung zu durchforsten, die den Anfall stets zu begleiten schienen – die Erinnerung an den Unfall, den letzten Tag seines letzten Einsatzes.
Ein grauer Himmel. Warmes Metall in seiner linken Hand. Ein blendendes Licht. Die schädelerschütternde Explosion, die jeden Laut auslöschte, das Gefühl, wie seine Haut sich verflüssigte, wie er in Schwärze eintauchte.
Shep schlug die Augen auf. Er schüttelte das Entsetzen ab. Wendete seine Aufmerksamkeit wieder dem Polaroid zu.
Der Sprengstoff war doppelt grausam gewesen; nicht nur, dass er ihm den Arm geraubt hatte; während er zugleich ein Loch in seine Erinnerung bohrte, hatte er auch die bleibenden Bilder auf dem Foto gestohlen und den Kopf seiner Frau versengt. Sosehr er sich auch bemühte, Patrick konnte ihr Gesicht nicht festhalten, und sein geistiges Auge erhaschte nur kurze, frustrierende Blicke.
Bei verwundeten Veteranen gingen die mit dem Verlust eines Körperteils verbundenen seelischen Narben tief, was oftmals zu Anfällen von Depression führte. Bei Patrick Shepherd ist die Belastung nichts im Vergleich zu dem leeren Gefühl, von einer Ehefrau und einem Kind getrennt zu sein, deren Vorhandensein er in seinem Herzen registriert, an deren Gesichter er sich aber nicht mehr erinnern kann. Der Verlust bleibt ein dauernder Angriff auf Sheps Identität. Im Wachzustand konnte dieser Verlust übermächtig sein; im Schlaf begünstigte er heftige Albträume.
Seine Ärzte in Deutschland hatten ihm die Wahl gelassen, in welches Veteranenkrankenhaus in den Staaten er geschickt werden wollte, und die Wahl war einfach gewesen. Von jenem Tag an hatte er sich vorgestellt, wie er im Bett lag oder vielleicht gerade in einer Therapie war, wenn seine Seelengefährtin und seine Tochter – jetzt ein Teenager – eintraten, um ihn zurückzuholen.
Durch den geteilten Vorhang, der sein Bett umgab, lauschte er auf das Schnarch-und Pfeifkonzert der anderen Kriegsveteranen, und seine Augen wurden glasig vor Tränen, als er den Blick auf das leuchtende rote EXIT-Zeichen heftete und sich so allein fühlte, wie ein menschliches Wesen sich nur fühlen kann.