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Ishmael

Diese Reiter sind gut, dachte Ishmael di Studier kläglich. Anderenfalls hätte er sie gehört, bevor sie ihn fast erreicht hatten, selbst auf dieser gewundenen alten Poststraße durch die hügelige Landschaft. Und dann wäre er weit außerhalb der Reichweite ihres Sonars hinter der Mauer am anderen Ende des Feldes verborgen gewesen, statt bewegungslos bloße zwanzig Meter von der Straße entfernt in einer Senke hinter einer Grenzmarkierung zu hocken und zu hoffen, für einen Felsblock gehalten zu werden. Die Reiter wie viele es auch sein mochten ritten auf Pferden, die dazu ausgebildet waren, sich lautlos und leichtfüßig in der Dunkelheit zu bewegen, deren Hufe sie gedämpft und an deren Zaumzeug sie alles Metallische mit Filz umwickelt hatten. Nur so hatten sie sich an ihn heranpirschen können. Dass es ihm nicht möglich war, ihre Zahl zu erkennen sechs oder vielleicht acht? , zeugte von ihren großen Fähigkeiten.

Falls es sich um Freunde handelte, wusste er, wie sie reiten würden: in zwei ungeordneten Reihen mit präzise aufrechterhaltenen Abständen, und ein jeder von ihnen würde lauschen und Peilrufe zu seiner Seite aussenden. Diese Ordnung und Disziplin hatte er zusammen mit ihnen entwickelt und eingeübt. Und es mochten durchaus Freunde sein, da der herzogliche Befehl, die Grenzlande für eine mögliche Invasion zu rüsten, die gesamte Streitmacht von Stranhorne in Alarmbereitschaft versetzt und auf die Straße getrieben haben sollte, um nach Schattengeborenen zu fahnden. Vielleicht hatten sie sogar Anweisungen erhalten, auch ihn zu suchen.

Aber es konnten genauso gut Feinde sein, nämlich Suchtrupps, die der Erzherzog mit einem Haftbefehl für ihn ausgeschickt hatte. Im schlimmsten Fall Soldaten aus Minhorne, die zu diesem Zweck in die Grenzlande gekommen waren. Ishmael hegte keinen Zweifel, dass der Haftbefehl Anweisungen einschloss, nach denen er unversehrt zurückgebracht werden sollte; aber es gab nicht die geringste Gewissheit, dass man sich auch daran halten würde. Nicht bei einem Flüchtling, dem die Ermordung einer Dame und Hexerei zur Last gelegt wurden.

Er spürte gestreute Peilrufe, die von den hohen Gräsern und dem Unkraut um ihn herum zurückgeworfen wurden, und versuchte, sich das Wesen des Steins zu eigen zu machen. Die mitternächtliche Feuchtigkeit drang langsam bis zum Knie seines Standbeins durch, und seine Wadenmuskeln verkrampften sich schmerzhaft. Er wagte nicht, sich zu bewegen. Die Reiter dürften ein ebenso scharfes Gehör haben wie er selbst, und einige der altgedienten Grenzsoldaten besaßen eine Intuition, die beinahe an Magie grenzte. Sollten die Umrisse seiner Gestalt über die der Grenzmarkierung herausragen, würde sein gebeugter Rücken ein anderes Ultraschallecho zurückwerfen als ein Fels.

Ein Pferd stampfte mit den Hufen und schnaubte. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Er hätte schwören können, keinen Laut von sich gegeben zu haben, aber eine Frauenstimme hallte klar durch die Nacht. »Ishmael, bist du das?«

Er erkannte ihre Stimme, und mit einem kleinen Seufzer gestattete er sich endlich weiterzuatmen. »Ja«, sagte er. »Ich bin es.«

Mit der behandschuhten Hand stützte er sich auf den Grenzstein und stemmte sich hoch. In der zweiten Hälfte der vergangenen Nacht und der ersten dieser hatte er zu Fuß und teils im Laufschritt mit einem Bündel und Waffen bei sich über fünfunddreißig Meilen zurückgelegt. Er war keine zwanzig mehr, wie seine Knie ihn wissen ließen. Ein wenig steif ging er zu der Gruppe auf der Straße hinüber.

Die Frau, die auf einem der beiden Pferde an der Spitze saß, grinste triumphierend auf ihn herab. »Ich dachte doch, dass ich eine Bewegung wahrgenommen hätte. Du lässt nach, Ishmael.« Sie selbst war kaum über zwanzig, eine langbeinige junge Frau, die das geflochtene Haar um ihre Stirn gewunden trug. Sie hatte ausgeprägte Züge und einen zu breiten unbeweglichen Mund, um als konventionelle Schönheit gelten zu können. Bekleidet war sie mit einer zweckmäßigen Jacke und einem geteilten Reitrock, bewaffnet mit einem Gewehr, das sie über der Schulter, einem Revolver und einem Messer, die sie an der Hüfte, und einem weiteren Messer, das sie in einer Stiefelscheide trug. Ihr Aufzug konnte selbst in den Grenzlanden kaum als typisch für eine Thronanwärterin bezeichnet werden, aber nichtsdestoweniger war es eine Wonne, sie zu peilen. Er erwiderte ihr Grinsen. »Du bist gut, Lavender ihr seid alle gut , und das wisst ihr ganz genau.«

Das Lächeln der Leute um ihn herum wurde breiter. Er erkannte keinen der sechs Männer und auch nicht die Frau in ihrer Begleitung, aber sie würden ihn alle als den berühmt berüchtigten Ishmael di Studier kennen, Baron Strumheller, Jäger der Schattengeborenen und Magier. Auch wenn er das meiste davon nicht mehr war.

»Nicolas«, sagte Lavender di Gautier, »gib ihm dein Pferd und steig bei Thalia mit auf. Ihr beide werdet für ein Pferd leichter zu tragen sein als der Baron und ich.« Das jüngste und leichteste Mitglied der Truppe schwang sich aus dem Sattel und überreichte Ishmael pflichtschuldigst die Zügel. Ishmael nahm sich einen Moment Zeit, um das Gewehr aus seinem Bündel zu lösen und sein Gepäck hinter den Vorräten des Grenzsoldaten zu verschnüren. Als sein Pferd versuchte, zur Seite auszubrechen, gab er ihm einen Klaps und knurrte es an, weil es ihn für einen Neuling gehalten hatte.

Während er in den Sattel stieg, sagte Lavender über die Schulter gewandt: »Willst du, dass wir zurückkehren, oder sollen wir die Schleife um den Topf beenden?«

Zurück bedeutete Haus Stranhorne, Lavenders Familiensitz. Er hatte sich auf dem Weg dorthin befunden, nachdem er kurz vor dem Bahnknoten Stranhorne aus dem gen Süden fahrenden Küstenzug gesprungen war. Der Topf war ein kleiner, vollkommen runder See am Fuß einer steilen Grube, der sich auf jedem Reliefmodell leicht erkennen ließ. Er war mit großer Sicherheit durch Magie erschaffen worden.

»Zurück«, antwortete er nach kurzem Abwägen. Nachdem er den gestrigen Tag unter einem im Schatten aufgeschlagenen, lichtdichten Stoffzelt im Freien verbracht hatte, würde er sich jetzt im Schutz stabiler Mauern am wohlsten fühlen.

»Komm zu mir nach vorn.«

Seine Lippen zuckten vor Erheiterung angesichts des selbstbewussten Befehlstons in ihrer Stimme, den sie selbst ihm gegenüber anschlug. Die anderen formierten sich nahtlos wieder neu, während er sein Pferd vorwärtsdrängte. Sie waren gut, aber weder der Baron ihr Vater noch ihre Zwillingsschwester hätten ihr erlaubt, mit schlechteren Leuten auszuziehen. »Geht es dir gut?«, fragte sie mit leiser Stimme.

»Ja«, erwiderte er. »Jetzt ja.«

»Wir haben gehört«, in ihrer Stimme lag ein leises Beben, obwohl sie es gewiss nicht wollte, »wir haben gehört, du seist tot.«

»Ich war wohl näher dran, als mir lieb war«, sagte er. Dabei bemühte er sich um einen unbeschwerten Tonfall, aber die Beinahekatastrophe, auf die er anspielte, hatte ihn wahrscheinlich eines der wertvollsten Dinge gekostet, die er besessen hatte. Zwei Leben nämlich das von Prinzessin Telmaine und ihrer Tochter sollten ein gerechter Preis für seine verlorene Magie sein, aber bei einer direkten Frage hätte er nicht aufrichtig schwören können, dass er nicht lieber gestorben wäre.

Sie würde ihn niemals fragen, aber sie kannte ihn gut genug, um etwas davon in seiner Stimme zu hören. »Ich nehme an«, begann sie, »ich werde bis Stranhorne warten müssen, um die ganze Geschichte zu erfahren. Ich gehe davon aus, dass du dorthin willst.«

»Ja.«

»Nun, jetzt bist du in Sicherheit.«

»Das ist mehr dein Versprechen als die Wahrheit«, tadelte er sie. »So willkommen es auch ist.«

»Dieser Haftbefehl für dich «

Hatte ihr Vater ihr von beiden Anklagen erzählt oder nur von der einen? Da der Zug jede Nacht die Zeitungen aus der Stadt brachte, konnte sie nicht lange im Ungewissen geblieben sein. »Falsche Anschuldigungen, alle beide.«

»Ich weiß, dass sie nicht stimmen«, sagte sie mit Nachdruck. »Ich kenne dich. Gewiss sollte der Erzherzog gewiss sollte Fürst Vladimer «

Je weniger über die Haltung des Erzherzogs gesagt wurde, umso besser. »Bis Tercelle Amberleys wahrer Mörder gestellt ist, wird der Verdacht weiter auf mir lasten. Und was den anderen Punkt betrifft«, er wog seine Worte angesichts der Tatsache ab, dass er überhaupt nicht mit ihr über diese Angelegenheit sprechen sollte, »liegt es an Fürst Vladimer, meine Unschuld zu beweisen. Schließlich ist er derjenige, den ich angeblich verhext haben soll. Er ist ein gerissener Mann, und es kommt ihm zweifellos gelegen, dass ich diese Jagd anführe.«

Sie gab einen angewiderten Laut von sich, behielt ihre Meinung aber ansonsten für sich. »Was steckt dann hinter diesem herzoglichen Befehl? Wir erfahren nur daraus, dass der herzogliche Beschluss 6/29 ausgesetzt wurde und uns nun gestattet ist, über unser Kontingent hinaus Truppen auszuheben, um die Grenzlande gegen Bedrohungen zu schützen. Vor wem sollen wir sie schützen? Wir haben den ganzen Sommer lang keine Spur von Schattengeborenen gesehen.«

Jetzt hat sie gezeigt, wie jung sie noch ist, dachte Ishmael. Sie hielt diese Ruhe für etwas Gutes. Er hatte den Sommer in Strumheller so zappelig verbracht wie ein Mann in Jutehosen. Die Grenzlande trugen ihren Namen, weil sie an mehrere tausend Quadratmeilen unbewohntes Land grenzten die Schattenlande. Die Magier, die den Fluch ausgesprochen hatten, durch den die Nachtgeborenen erschaffen worden waren, hatten in der Nähe des Zentrums dessen gelebt, was nun »die Schattenlande« hieß. Irgendein Überrest dieser oder einer anderen schrecklichen Magie hatte die Schattengeborenen entstehen lassen marodierende Ungeheuer, die eine ständige Bedrohung für die Grenzen darstellten.

Ishmael hatte den größten Teil von fünfundzwanzig Jahren im Kampf gegen Schattengeborene verbracht, zuerst als Söldner, dann als professioneller Schattenjäger und zuletzt als Baron Strumheller. In dieser Zeit hatte er ein umfassendes Warn- und Verteidigungssystem eingerichtet, das die Zahl der Opfer durch Einfälle von Schattengeborenen ungefähr halbiert hatte. Doch in fünfundzwanzig Jahren hatte er noch nie einen so unheilverkündenden ruhigen Sommer erlebt.

Es nagte an ihm, er streifte umher und lauschte, aber erst Fürst Vladimer Plantageter, Bruder und Meisterspion des Erzherzogs, machte ihn auf die Möglichkeit aufmerksam, dass dies ein Vorspiel zu Schattengeborenenaktivitäten sein könnte, organisierter und weitreichender als alles, was sie bisher erlebt hatten.

»Hier ist die Kurzfassung«, sagte Ishmael. »Der Erzherzog hat den herzoglichen Befehl auf Fürst Vladimers Drängen geschickt. In der Stadt waren Schattengeborene am Werk, die anscheinend über den Verstand von Männern und dazu die Gabe verfügten, das Aussehen anderer anzunehmen. Und Chaos auslösen wollten.«

Er hörte sie nach Luft schnappen, obwohl sie mit bewundernswerter Disziplin ihre Aufmerksamkeit nicht von der Straße vor sich abwandte.

»Ich werde dir die ganze Geschichte in Stranhorne erzählen, aber diese Schattengeborenen hätten beinah Fürst Vladimers Tod bedeutet was die zweite Anklage ist, die gegen mich vorgebracht wird.« Hexerei, genauer gesagt, der bloße Verdacht darauf, hatte ihn ins Gefängnis befördert. »Außerdem brachten sie den Tod über mehr als hundertfünfzig Nachtgeborene in der Flussmark, als sie diese tagsüber in Brand steckten.« Um ein Haar wäre auch er einer von ihnen gewesen, war aber durch eine Mischung aus Erfahrung, historischem Wissen über diesen alten, nicht allzu zuträglichen Bezirk und einer Portion Glück entkommen. In letzter Zeit hatte er sein Glück in ungeheuerlichem Maße strapaziert. »Wahrscheinlich«, tatsächlich war er sich dessen sicher, »sind die Schattengeborenen auch für den Mord verantwortlich, der mir zu Lasten gelegt wird, da die Dame Tercelle selbst mit ihnen Umgang pflegte.« Intimen Umgang, aber das würde er ihnen erklären, sobald sie das Herrenhaus erreichten. »Es scheint«, fuhr er mit grimmiger Erheiterung fort, »dass ich mich bei ihnen keiner großen Gunst erfreue.«

»Ishmael «, begann sie und verstummte. Er konnte beinah das Summen ihrer Gedanken hören. Er war Lavender und ihrer Schwester das erste Mal begegnet, als sie sich als Knaben verkleidet hatten und mit der Grenztruppe von Stranhorne geritten waren. Ihre Maskierung war zwar ziemlich gut gewesen, der Rest jedoch so jämmerlich, dass er ihnen beiden eine kräftige Standpauke nicht hatte ersparen können, weil sie für sich selbst und ihre Kameraden ein größeres Risiko darstellten als die Schattengeborenen. Dann hatte er sie mit einer Eskorte nach Hause geschickt und angenommen, der Fall sei damit erledigt.

»Was ist mit Strumheller?«, fragte sie.

Ishmael zuckte leicht mit den Schultern. »Der Erbfolgeantrag ist eingereicht und unterzeichnet worden, die Baronie an Reynard übergegangen. Mein Bruder liebt mich nicht besonders, aber er ist zu klug, um etwas an den Vorkehrungen und Männern zu ändern, die ich eingesetzt habe nicht jetzt, da die Grenzlande in Alarmbereitschaft sind. Ihr werdet keine Schwäche an eurer Flanke haben.«

»Reynard kann nicht daran festhalten. Nicht, solange du noch lebst.«

Nachdem ihr Vater Ishmael enterbt hatte, hatte dieser Jahre darauf verwandt, Reynard zu seinem Nachfolger für die Baronie zu erziehen. Sein Bruder hatte Ishmael weder verziehen, dass er wieder eingesetzt worden, noch dass er seither nach langen Phasen der Abwesenheit immer mal wieder quicklebendig aufgetaucht war. Am besten wechselte er das Thema. »Wie geht es deiner Schwester? Ist sie gesund?«

Anders als Haus Strumheller, das der Grenzaufstand und der folgende Bürgerkrieg vor zweihundert Jahren nur als schwelenden Trümmerhaufen zurückgelassen und das man als Ganzes wieder aufgebaut hatte, war Stranhorne seit siebenhundert Jahren baulich gewachsen. Gerüchten zufolge gab es unter seinen Grundmauern dreimal so alte Ruinen, aber Xavier Stranhorne hatte trocken bemerkt, dass nicht einmal er als Historiker sein Herrenhaus einreißen würde. Durch das Schicksal von Haus Strumheller gewarnt, hatten sich die Stranhornes darauf konzentriert, ihr Herrenhaus stark zu befestigen. Im Süden und Westen ragten doppelte Mauern so steil und glatt auf, wie Steinmetzkunst es möglich machte. Die obersten drei Stockwerke verfügten über Schießscharten mit Blick auf ein offenes, mit Lärminstrumenten übersätes Vorfeld, und auf dem Dach waren drei Kanonen fest montiert. Diese Einzelheit entsetzte Ishmael, da er auf einem Schiff neben Kanonen gekämpft hatte. Noch Stunden danach hatten ihm die Ohren geklingelt. Die Gärten im Osten und der Innenhof im Norden befanden sich im Schutz einer fünf Meter hohen Mauer mit eingebauten Wachhäuschen. Es gab zwei Tore. Das Haupttor führte in den Innenhof und ein kleineres, selten benutztes in die Gärten auf der Ostseite des Herrenhauses. Das gewaltige Innenhoftor ließ sich durch eine Dampfwinde öffnen und schließen eines der wenigen Zugeständnisse an die moderne Technik, die Stranhorne zuließ.

Diese Neuerungen sollten nachtgeborene Angreifer abwehren, leisteten aber auch gegen Schattengeborene gute Dienste.

Als Hauptquartier der Grenztruppen diente ein ehemaliger Ballsaal im Nordostflügel des Herrenhauses. Dieser jüngere Anbau war im vergangenen Jahrhundert als Bühne für die hohen gesellschaftlichen Ambitionen einer der Baroninnen entworfen worden. Doch nach ihren Triumphen waren die mehrstöckigen Logen, die erhöhten Orchesterpodeste, die üppigen Reliefs und Laubsägearbeiten in Jahrzehnten der Vernachlässigung schäbig geworden. Der Überlieferung nach konnte man bisweilen den Geist der Baronin den Verfall des Ballsaals beweinen hören, obwohl es sich nach dem, was Ishmael über die Dame wusste, wohl eher um Tränen des Zorns handelte.

Im Innenhof und im Ballsaal herrschte emsiges Treiben. Der Innenhof war voller Pferde, Maultiere und Karren; im Ballsaal drängten sich Männer und einige Frauen, die zwischen dem in einer Galerie liegenden Eingang zur Waffenkammer, dem Sammelplatz für aufbrechende und heimkehrende Truppen, und dem Eingang zur Küche umherstreiften. Soldaten waren meist jung und hungrig. Eine letzte Gruppe hatte sich in einer offenen Seitengalerie um ein riesiges Reliefmodell versammelt. Eine Frau beugte sich darüber, um irgendeine Stelle zu markieren, wurde dabei aber durch die Wölbung ihres Unterleibs leicht behindert: Lavenders eineiige Zwillingsschwester Laurel, seit einem Jahr verheiratet und im fünften Monat schwanger.

Mit gemischten Gefühlen sah Ishmael, dass ihr Vater neben ihr stand. Die meisten Nachtgeborenen waren schonungslos modern in ihrer Einstellung, doch Baron Xavier Stranhorne stellte eine Ausnahme dar; er war persönlich mit einer Axt auf den ersten Telegrafenmast losgegangen, der auf seinem Land errichtet worden war. Relativ jung nur wenige Jahre älter als Ishmael und sehr gebildet, hatte er an der Universität von Minhorne einen Abschluss in Geschichte erworben und interessierte sich ganz besonders für Bildung und Forschung. Sein Widerstand gegen den »Fortschritt« bestand zu gleichen Teilen aus der Sturheit der Grenzlande und wohlüberlegter Entschlossenheit.

Sein Widerstand gegen Magie war gleichermaßen kompromisslos. Bei Ishmaels erstem Besuch in seiner Position als Baron Strumheller hatte Stranhorne ihn in seine Privatbibliothek geführt und ihm ein Ultimatum gestellt: »Ich habe Ihnen als Ebenbürtigem und als Nachbarn die Türen geöffnet, mein Herr. Aber sollten Sie Ihre unnatürlichen Praktiken in meinen Hallen ausüben oder auch nur erörtern, werden meine Türen für Sie für immer verschlossen bleiben. Möchten Sie sich darüber mit mir streiten?«

»Dies ist Ihr Anwesen, mein Herr. Ich möchte keinen Streit.«

Stranhorne hatte genickt, und die Angelegenheit war geregelt. Er besaß die erfrischende Eigenschaft, nicht das Bedürfnis zu haben, einen Gegner niederzuschlagen, der sich ergeben hatte. Ishmael hatte peinlich genau darauf geachtet, Stranhornes Verbot einzuhalten, Stranhorne ebenso peinlich genau darauf, ihm die Höflichkeiten eines Gleichgestellten und Gastgebers zu gewähren. Allerdings wäre ihre Beziehung ohne Stranhornes Töchter die von hilfsbereiten, aber distanzierten Nachbarn geblieben, was Ishmael bedauert hätte.

Lavender begrüßte ihren Vater und ihre Schwester fröhlich. »Ich hab euch doch gesagt, dass wir ihn finden würden.« Sie drehte den Kopf und peilte die versammelten Truppen. »Her mit dem Geld!«

Er hätte wissen müssen, dass eine Wette lief, wer ihn als Erster fand.

Xavier Stranhornes Miene ließ sich nicht deuten, was Ishmael nicht gerade beruhigte. Der gelehrte Baron neigte nicht dazu, seine Gefühle offen zu zeigen, aber er verbarg seine Empfindungen auch nicht. Er sagte: »Willkommen, Strumheller.« Die Anrede war kein Versehen, so unverdient sie auch sein mochte. »Ich fürchte, ich begrüße Sie mit unangenehmer Kunde. Ihre Schwester hat heute Abend ein Telegramm aus Strumheller geschickt. Ferdenzil Mycene ist mit Ihrer Verhaftung betraut worden und befindet sich mit einem Dutzend berittener Männer auf dem Weg hierher.«

Mit entsetzter Miene schnappte Lavender nach Luft. »Ausgerechnet Mycene! Was hat sich der Erzherzog nur dabei gedacht?«

Zwischen Stranhorne und dem Herzog von Mycene sowie dessen Erben herrschte keinerlei Sympathie. Mycenes territoriale Ambitionen schlossen die ausgedehnten Archipele vor der Küste Stranhornes ein, zu denen auch die Heimatinsel der verstorbenen Baronin Stranhorne gehörte, doch der Haftbefehl bezog sich auf die Ermordung von Tercelle Amberley, Ferdenzils Verlobten. Um seines Seelenfriedens willen war Ishmael dankbar, dass er nichts von Mycenes Jagd auf ihn gewusst hatte.

»Mycene hat außerdem einen Gefangenen: Den Arzt, der mit Ihnen gereist ist.«

Das entsprach Ishmaels Befürchtung. Bei seinem Entschluss, den Zug zu verlassen, war sein Verbündeter Doktor Balthasar Hearne nach Strumheller weitergereist, um seinem Bruder und seiner Schwester die Nachricht zu überbringen, dass er noch lebte. Ishmael hoffte, der Arzt möge nicht für seine Bereitschaft, als Bote und Lockvogel zu dienen, gelitten haben.

Laurel trat vor und umarmte ihn fest. Er erwiderte die Umarmung und freute sich über ihre Leibesfülle. Auf seiner letzten Durchreise war sie in den frühen Tagen ihrer Schwangerschaft besorgniserregend dünn und krank gewesen. Es überraschte ihn nicht, dass sie ihm ins Ohr murmelte: »Geh in die Bibliothek wir werden uns zu dir gesellen.« Laurel war immer die Schlauere der Zwillinge gewesen.

»Wir können dir Vorräte geben«, sagte Lavender drängend, »und dich auf einem schnellen Pferd weiterschicken.«

»Nein«, erwiderten Ishmael und Stranhorne wie aus einem Mund. Ishmael fuhr fort: »Ich wollte nach Stranhorne kommen, egal, was passiert. Sie müssen meinen Bericht hören und wissen, was hinter der herzoglichen Anweisung steckt.«

»Das kann doch gewiss nicht wichtiger sein als deine Freiheit«, widersprach Lavender.

»Doch, ich denke, das ist es.«

»Dann lass mich Mycene abfangen«, bedrängte Lavender ihn, »und ihn in die Irre führen.«

Das Gesicht ihres Vaters verzog sich zu einer gequälten Miene. Lavender war berüchtigt dafür, eine schlechte Lügnerin zu sein. Laurel sagte nur: »Lavender, denk mal nach

Am besten erörterten sie dies nicht in einem offenen Saal. Bei so vielen Männern und Frauen in der Nähe gab es gewiss auch solche, die einem Mann mit einem erzherzoglichen Haftbefehl aus den besten oder schlechtesten Absichten Informationen offenbaren konnten. Ishmael nickte Stranhorne zu und schob sich durch die Gruppe, wobei er Hände drückte und Grußworte erwiderte, ohne stehen zu bleiben. Allein betrat er das Arbeitszimmer des Barons. Anscheinend waren darin weitere Regale aufgestellt worden er hätte allerdings schwören können, dass schon vorher kein Platz mehr an den Wänden gewesen war. Wahrscheinlich konnte Stranhorne in diesem nur aus Büchern gebauten Bunker tatsächlich den Ansturm einer schattengeborenen Armee überstehen aber diesem erheiternden Gedanken folgte schnell die ernüchternde Erkenntnis, dass die Möglichkeit eines Angriffs der Schattengeborenen tatsächlich bestand.

Stranhorne, sein jüngerer Sohn Boris und Laurel erschienen schnell genug, um Ishmael daran zu hindern, in einem weichen Sessel einzunicken. Unten organisierte Lavender Patrouillen, wohl wissend, dass ihre Schwester oder ihr Bruder ihr alles erzählen würden, falls ihr Vater es nicht tat. Stranhorne servierte Ishmael Brandy aus einer Flasche, die er hinter einem besonders einschüchternden Band versteckt hatte, und läutete nach Limonade für seine Tochter und seinen Sohn.

»Falls Sie auf die Gewährung von Schutz gehofft hatten«, begann Stranhorne, während er sich mit seinem Brandy hinsetzte, »werde ich Sie vermutlich enttäuschen.«

Ishmael hatte es gehofft. Er konnte nicht leugnen zumindest nicht sich selbst gegenüber , dass er auf Zuflucht, Zeit und Hilfe gesetzt hatte. »Ich weiß«, erwiderte er ohne Groll. »Es wäre etwas anderes gewesen, wenn Stunden oder Tage nach mir städtische Agenten eingetroffen wären, aber jetzt ist mir Ferdenzil Mycene dicht auf den Fersen. Sie wollen auf keinen Fall, dass er sich in Ruhe einen Überblick über alle Ressourcen Stranhornes verschaffen kann, wenn Sie annehmen, dass Sie diese vielleicht eines Tages gegen ihn einsetzen müssen. Und dieser Tag könnte schon bald kommen.«

Stranhorne peilte ihn energisch. Es war kein Geheimnis, dass Stranhorne das Volk seiner verstorbenen Frau unterstützen würde, sollten der Herzog von Mycene und dessen Sohn ihr Bestreben in die Tat umsetzen und die Inseln annektieren wenn nötig mithilfe von Waffengewalt und Nachtgeborenen, die Ishmael persönlich für den Kampf gegen die Schattengeborenen ausgebildet hatte.

Ishmael fügte hinzu: »Solange Sie Kenntnis davon haben, dass es Mycene war, der mich verhaftet hat, und er das weiß, wird das für mich eine gewisse Sicherheit darstellen, dass er mich tatsächlich zur Verhandlung nach Minhorne bringen und mich nicht einfach draußen anketten und dem Sonnenaufgang überlassen wird.«

»Ich denke, dafür kann ich sorgen.«

»Ich habe Tercelle Amberley nicht ermordet«, sagte Ishmael. »Ich gebe zu, es sah verdammt danach aus, aber bin in eine Falle gelaufen, sodass ich mit dem noch warmen Leichnam entdeckt wurde. Ich hatte gehofft, Tercelle vor Schaden bewahren zu können, falls sie denn unschuldig war, oder einige Antworten zu bekommen, sollte das nicht der Fall sein.«

Stranhornes Nicken drückte aus, dass er ihm Glauben schenkte. »Wir haben unsere Munition aufgestockt«, räumte er ein. »Und wir wechseln unsere Reservisten zur Übung ein. Wir wissen, dass Mycene auf den Inseln eine Präsenz aufgebaut hat. Wir waren uns nicht sicher, ob diese Angelegenheit mit den Schattengeborenen nicht nur zur Ablenkung dienen sollte. Die Stadt hat sich bisher noch nie großartig für die Schattengeborenen interessiert.«

»Fürst Vladimer schon«, wandte Ishmael ein.

Beide schwiegen. »Vladimer«, wiederholte Stranhorne, »das stimmt.«

Seine Einstellung zu dem Bruder und Meisterspion des Erzherzogs musste gemischter Natur sein, dachte Ishmael. Vladimer war der beste Verbündete jener, deren Interessen die Politik seines Bruders stützten. Und der schlimmste Feind all jener, deren Interessen das nicht taten. Der ehemalige Baron Strumheller wusste genau, in welchen Punkten die Politik des Erzherzogs den Grenzlanden nicht gänzlich diente. »Zumindest in dieser Hinsicht«, erklärte Ishmael, »ist Vladimer unser Verbündeter.«

»Ah, und was genau ist ›diese Hinsicht‹?«

»Als Erstes müssen Sie wissen, dass dies jene Angelegenheit betrifft, die ich auf Ihre Bitte hin niemals in Ihren Hallen erörtern sollte. Aber das wäre unvermeidbar.«

»Irgendwie dachte ich mir das schon. Sprechen Sie weiter«, forderte Stranhorne ihn auf, ohne dass sein Tonfall ein Verzeihen versprach.

Ishmael wartete, bis der Diener die Limonade gebracht hatte. Dann berichtete er von Vladimers Argwohn, das Ausbleiben von Aktivitäten könne darauf hindeuten, dass die Schattengeborenen möglicherweise zum ersten Mal in ihrer Geschichte ihre Streitkräfte organisierten. Er schilderte einen scheinbar damit nicht zusammenhängenden Skandal, ausgelöst von Ferdenzils Verlobter Tercelle Amberley, die uneheliche Zwillinge geboren und behauptet hatte, der Vater sei ein Lichtgeborener oder zumindest in der Lage gewesen, sich bei Tage draußen aufzuhalten was unmöglich war. Und er berichtete von dem Verdacht ihres behandelnden Arztes Balthasar Hearne, die Zwillinge könnten sehen, wie es keinem Nachtgeborenen seit der Wirkung des Fluchs mehr möglich gewesen war. Er erzählte von der Ermordung Tercelle Amberleys und dem Versuch, ihm diesen Mord anzuhängen, von Fürst Vladimers plötzlichem, unheimlichem Koma, das der Hexerei zugeschrieben wurde, und wie Ishmael wegen des Verdachts auf Mord und Hexerei verhaftet und eingekerkert worden war. Mit nur wenigen Worten schilderte er seine Flucht oder vielmehr Rettung und in welcher Verfassung er sich dabei befunden hatte. Er berichtete vom Wiederauftauchen Lysander Hearnes, des lang verschollen geglaubten Bruders Balthasars, und dessen Behauptung, Tercelle Amberleys Kinder seien die seinen. Er beschrieb ihnen auch seine Konfrontation mit einem Schattengeborenen an Fürst Vladimers Bett im herzoglichen Sommerhaus voller Menschen, die durch den Einfluss des Schattengeborenen bewusstlos gewesen waren. Lebendig hatte der Schattengeborene Lysander Hearne geähnelt, im Tode nicht.

Er erzählte ihnen nichts von Prinzessin Telmaine, Balthasar Hearnes Ehefrau und Ishmaels unerwartete Verbündete, die nicht nur ihren Mut und Geist bewiesen, sondern sich auch als Magierin von beträchtlicher Stärke erwiesen hatte. Aus Angst vor gesellschaftlichem Ruin hatte die Dame ihr Leben lang ihre Magie verborgen. Konnte er sie dafür verdammen, ausgerechnet er, dessen Vater ihn kurzerhand enterbt hatte? Seine Gefühle für Prinzessin Telmaine gingen niemanden etwas an, außer ihn selbst und zugegebenermaßen auch sie, da sie beide zu den Magiern gehörten. Er erzählte den Stranhornes auch nichts von dem Preis, den er für Telmaines Leben gezahlt hatte. Ein Magier griff nach seiner eigenen Lebenskraft, um seine Magie zu nutzen, und seine Stärke bemaß sich nach seiner Effizienz. Obwohl ein immens schwacher Magier, war es Ishmael gelungen, das Inferno um Telmaine und ihre Tochter in Schach zu halten, als ihre Magie versagt hatte. Dadurch hatte er die Verbindung zwischen seiner Lebenskraft und seiner Magie dauerhaft beschädigt. Selbst der geringste Einsatz von Magie barg nun das Risiko, sich selbst zu töten.

»Diese Schattengeborenen sind stark«, erklärte er Stranhorne. »Die Veränderung der eigenen Gestalt beruht auf der gleichen Kraft wie die magische Heilung, nur betrachten wir sie als eine Perversion und versuchen es nicht. Um seine Gestalt allerdings zur Gänze zu verändern, bedarf es erheblicher Macht. Der Schattengeborene, dem wir begegnet sind, konnte einen ganzen Haushalt unter seinem Bann halten obwohl er damit möglicherweise an seine Grenzen stieß und sich verletzbar machte.« Das war eine Lüge, aber er konnte ihnen nicht erzählen, wie Prinzessin Telmaine ihre ungeübte Magie mutig gegen den Schattengeborenen gerichtet und ihn so weit abgelenkt hatte, dass er, Ishmael, einen gezielten Schuss auf ihren Feind abgeben konnte. »Wenn man das Niederbrennen der Flussmark und des Lagerhauses bedenkt, in dem Prinzessin Telmaine ihre Tochter fand, scheinen sie gern Feuer als Waffe einzusetzen.«

»Hm«, erwiderte Stranhorne. Laurel lauschte aufmerksam, während Boris ganz still dasaß und sich zu Ishmaels wohlverborgener Erheiterung offensichtlich das Wesen eines Steins zu eigen machte. Boris war siebzehn und erst jüngst in den Ältestenrat aufgenommen worden. »Sie werden verstehen«, sagte Stranhorne schließlich, »wie gern ich Ihnen keinen Glauben schenken würde, aber Max hat mir per Kurier eine Beschreibung von Fürst Vladimers Bericht an die Herzöge und Barone geschickt, der mit Ihren Ausführungen übereinstimmt. Der herzogliche Befehl wurde auf die Herzöge ausgeweitet es ist ihnen nun gestattet, ihre eigenen Reserven mobilzumachen.«

Eingedenk zarter junger Ohren verkniff sich Ishmael das Fluchen. Bis vor zweihundert Jahren hatten die Herzöge von Mycene den erzherzoglichen Sitz innegehabt, und es war allgemein bekannt, dass Sachevar Mycene diesen noch immer begehrte. Sejanus Plantageters Thron war sicher nach vierzig Jahren als Erzherzog sollte er das sein , aber dennoch Seinem Rivalen die Erlaubnis zu erteilen, Streitkräfte in die Stadt zu bringen Vladimer hätte gewiss heftig mit ihm gestritten, wäre er dazu in der Lage gewesen.

»Fürst Vladimer?«, fragte er. »War er da? Welchen Eindruck hatte Max von ihm?«

Max Stranhorne war gewiss nicht in der Lage, etwaige üble Nachwirkungen einer Verhexung bei Vladimer auszumachen, sondern höchstens deren direkte Wirkung, aber immerhin besser als nichts. Ishmael selbst hatte nichts gespürt, und Prinzessin Telmaine hätte vermutlich gesagt

»Fürst Vladimer hat persönlich Bericht erstattet. Max denkt, er war möglicherweise verletzt vielleicht sogar krank. Doch er glaubt eher an eine Verletzung. Die Ausweitung des erzherzoglichen Befehls«, erklärte Stranhorne nachdrücklich, wie um Ishmael wissen zu lassen, dass er dessen kurze Geistesabwesenheit bemerkt hatte, »war eine Reaktion auf den Tod des Prinzen der Lichtgeborenen.«

Auf der anderen Seite des Sonnenaufgangs lebten die Lichtgeborenen, die ebenso abhängig vom Licht waren wie die Nachtgeborenen von der Dunkelheit. Beide Rassen waren in einem achthundert Jahre zurückliegenden magischen Racheakt erschaffen worden. Seitdem hatten Licht- und Nachtgeborene das Land geteilt, Handel getrieben und durch Papierwände Verhandlungen geführt. Sie waren jedoch niemals in der Lage gewesen, einander von Angesicht zu Angesicht zu begegnen. In weiten Teilen des Landes waren die Städte und Dörfer der Nachtgeborenen und Lichtgeborenen voneinander getrennt. In den Grenzlanden selbst gab es so gut wie keine Lichtgeborenen, aus Gründen, die niemand unter den Nachtgeborenen verstand. Aber in Minhorne, der größten Stadt, lebten beide Gruppen nebeneinander. Weniger als fünf Meilen trennten die Sitze des nachtgeborenen und lichtgeborenen Regenten.

Der Tod eines lichtgeborenen Prinzen stellte an sich kein allzu ungewöhnliches Ereignis dar: Die Bräuche der Lichtgeborenen gestatteten die unbarmherzige Ermordung schwächelnder, unfähiger oder korrupter Anführer. Aber Isidore war ein erfahrener, besonnener Staatsmann und nicht älter als Ishmael gewesen. Er hatte zwanzig Jahre lang die Machenschaften der Verwandten seiner Frau, der Tochter eines der Potentaten der südwestlichen Wüste, ebenso überlebt wie die Ambitionen seiner eigenen Verwandtschaft.

»Wie ist er gestorben?«, fragte Ishmael.

»Durch Magie«, antwortete Stranhorne. »Die Lichter in seinen Räumen haben versagt.«

Dunkelheit war für Lichtgeborene genauso schnell tödlich wie Sonnen- oder magisches Licht für Nachtgeborene. Es blieb nur ein klebriger Rückstand übrig, der deutlich und abstoßend nach altem Blut roch.

Selbst als Student würde Stranhorne nicht in den gleichen Stadtvierteln gelebt haben wie Ishmael. Er kannte diesen Geruch vermutlich gar nicht.

»Wenn ich es richtig verstehe, sind die Lichter magische Talismane, die mit Zaubern belegt wurden, um Sonnenlicht zu absorbieren und abzustrahlen«, meinte Stranhorne.

Stranhorne hatte es richtig verstanden, was Ishmael auch nicht anders erwartet hatte. Zwar konnte er sich nicht an eine gemeinsame Diskussion über Magie erinnern, aber er wusste von anderen, dass Stranhorne über genauso viel theoretisches Wissen darüber verfügte wie jeder andere Nichtmagier. »Der Prinz wird von vielen verschiedenen Magiern beschützt«, erklärte Ishmael. »Sollte jemand versuchen, die Magie der Lichter zu annullieren, würden sie es wissen, den Prinzen warnen und es verhindern.«

Nachdem Imogenes Fluch wirksam geworden war, hatten die letzten verbliebenen lichtgeborenen Magier die mächtigsten der emporkommenden Kriegsfürsten um Schutz angefleht. Daraus hatte sich im Laufe der Zeit auf der anderen Seite des Sonnenaufgangs eine kaum verhohlene und durch Vertragsrecht nur ungenügend eingeschränkte Vorherrschaft einer starken Magiergemeinschaft entwickelt.

Ein Magier durfte seine Magie nicht gegen einen Nichtmagier einsetzen, es sei denn, er stand bei einem anderen Nichtmagier unter einem offiziell bekannt gegebenen Vertrag. Das Vertragsrecht sprach Magier von der Schuld für jeglichen verursachten Schaden frei.

»Es ergibt keinen Sinn«, sagte Ishmael langsam, »dass die Magier oder der Magiertempel Isidore ihren Schutz entzogen haben sollten.«

»Ja, aber « Draußen ertönten eilige Schritte und das Knacken eines Dielenbretts, und Lavender riss die Tür auf. Sie knallte sie zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen, als würde sie verfolgt. »Er ist hier!«, stieß sie in atemloser Wut hervor.

»Mycene?«, fragte ihr Vater gelassen.

»Ishmael muss sofort gehen. Er kann durch das Osttor verschwinden, durch Mutters Garten.«

»Und wo soll er hingehen?«, fragte Stranhorne und wandte sich an Ishmael, nicht an seine Tochter.

Ishmael schwieg. Vladimer hatte ihn in den Süden geschickt, um die Grenzlande auf ihre Verteidigung vorzubereiten und um die Schattenländer persönlich auszukundschaften, falls es zu keiner Invasion kam. Und er war in den Süden gekommen, um sicherzustellen, dass die Grenzlande Stranhorne und seine eigene Baronie Strumheller wussten, womit sie es zu tun bekamen. Das hatte er erledigt.

Und jetzt Stranhorne hatte recht. Ishmael konnte weglaufen, aber er würde nichts anderes als ein Ärgernis und eine Ablenkung für die Männer und Frauen sein, die sich auf den wahren Feind konzentrieren mussten, und es war durchaus möglich, dass ihn in dieser Zeit höchster Anspannung versehentlich eine Patrouille Stranhornes erschoss. Er könnte Zuflucht verlangen, die Familie Stranhorne spalten und die Zwillinge gegen ihren Vater aufbringen. Oder er konnte sich ergeben, sich von Mycene in den Norden bringen lassen und darauf vertrauen, dass das Gesetz und die Ereignisse seine Unschuld beweisen würden. Er hegte keinen Zweifel, dass Vladimer seine Ehrfurcht gebietenden Ressourcen auf diese Aufgabe gerichtet hatte, obwohl er seine eigenen Probleme haben würde zum Beispiel durch die Ausweitung des herzoglichen Befehls von Sejanus. Und, dachte Ishmael kläglich, vielleicht vertraut Vladimer ein wenig zu sehr auf meine Überlebensfähigkeit.

Wenn Mycene ihn nach Minhorne zurückbrachte, würde er zumindest in der Nähe von Vladimer und Prinzessin Telmaine sein. Er sorgte sich um beide. Um Vladimer, weil der schon einmal verhext worden war, und um Telmaine, weil ihr Ehemann und er selbst sie verlassen hatten, um Fürst Vladimer Rückendeckung zu geben. Ihre magische Stärke vereint mit ihrer Unerfahrenheit barg große Risiken.

»Laurel«, sagte Stranhorne nach einem Augenblick des Schweigens. »Geh nach unten und begrüße Herzog Mycene. Beruhige ihn, falls nötig, und sag ihm, ich sei in zehn Minuten bei ihm.«

»Ishmael«, flehte Lavender ihn an.

»Es ist sinnlos«, erwiderte Ishmael und verströmte Gelassenheit. »Ich könnte weiter durchs Land ziehen, aber er würde mich wahrscheinlich binnen zweier oder dreier Tage finden. Welche Meinung wir auch sonst von dem Mann haben mögen, er ist ein guter Soldat und ein guter Anführer, und diese zwei oder drei Tage würden mich nur noch mehr auslaugen. So ist es sicherer für mich.« Und für euch alle, dachte er. »Ich habe keineswegs das Gefühl, den Kampf zu verpassen.«

Im Vorbeigehen legte Laurel eine Hand auf den Arm ihrer Schwester und sagte etwas so leise zu ihr, dass selbst Ishmael es nicht verstehen konnte. Lavender ließ die Schultern hängen. Laurel schlüpfte aus dem Raum und schloss die Tür hinter sich.

»Hast du es geschafft, alles woanders unterzubringen?«, fragte Lavender ihren Vater mit ausdrucksloser Stimme.

»Ich denke schon, aber ich möchte, dass du mit Boris nach unten gehst und es überprüfst. Und vergewissere dich, dass es gut verborgen ist oder zumindest gut getarnt. Es gibt zwar keinen Grund, warum Mycene oder seine Männer in die Keller hinuntergehen sollten wir werden ein Auge auf sie haben , aber ich würde ihnen einen Versuch durchaus zutrauen.«

»Ich auch«, knurrte Lavender. Sie öffnete die Tür und stolzierte hinaus, dicht gefolgt von ihrem jüngeren Bruder.

Einen Moment lauschten sie auf die verhallenden Schritte. Stranhorne erhob sich, nahm Ishmael sein Glas ab und schenkte ihm nach. »Ich wünschte, es gäbe eine andere Möglichkeit«, bemerkte er, als er Ishmael das Glas in seine behandschuhte Hand drückte. Aus Gastfreundschaft oder zur Betäubung?, fragte sich der.

»Sie können es sich nicht leisten, Mycene auf Basis des erzherzoglichen Haftbefehls einen Grund zu geben, das Herrenhaus zu durchsuchen«, beharrte Ishmael. »Nicht mit einem Keller voller Munition für die Inseln. Ich bin Ihnen dankbar, dass Sie sich meinen Bericht zur Gänze angehört haben. Was es auch ist, das da auf uns zukommt, mein Gefühl sagt mir, es steht praktisch auf der Schwelle, nachdem sich die Schattengeborenen offen in der Stadt gezeigt haben.«

Mit der Schulter gegen ein überfülltes Regal gelehnt, balancierte Stranhorne sein Glas auf seinen Fingern. »Aber als was wird es sich entpuppen? Das ist die Frage.« Er peilte Ishmael. »Sie wissen, dass ich Material aus der Epoche des Fluchs und danach gesammelt habe.«

»Jawohl«, bestätigte Ishmael, »das habe ich gehört. Aber hätte ich danach gefragt, wäre ich jener Angelegenheit zu nahe gekommen, von der Sie mich baten, nicht darüber zu sprechen.«

»Das stimmt«, erwiderte Stranhorne sachlich. »Ich hoffe, dieses Gebot nicht noch eines Tages zu bereuen.«

Zu seiner eigenen wie zu Stranhornes Überraschung lachte Ishmael. »Wahrhaftig, es ist mir nie in den Sinn gekommen, danach zu fragen. Noch bevor mich mein Vater meiner Wege schickte, mussten meine Tutoren mich mit meinen Hosen an den Stuhl nageln, damit ich ihnen nicht davonlief. Das wäre in Ihrem Haus sicherlich ketzerisch gewesen, aber so war es nun einmal.« Er stellte sein noch immer halb volles Glas beiseite und fügte ernsthafter hinzu: »Aber ich wäre dankbar für die Version, die auch jemand verstehen kann, der keine Ahnung hat. Zunächst einmal, wer könnte überhaupt in den Schattenländern sein?«

»Ich weiß es nicht mit Bestimmtheit«, antwortete Stranhorne. »Im zweiten und dritten Jahrhundert nach dem Fluch wurden etliche Expeditionen in die Schattenländer unternommen. Jene, die zurückkehrten, berichteten von einem unfruchtbaren und unbewohnten Land. Zuvor war Magie benutzt worden, um die Wettermuster zu verändern und Regen zu bringen. Jene, die weiter als etwa zweihundert Meilen ins Innere der Schattenländer eindrangen, kehrten nie zurück. Wir wissen nicht, warum. Gegen Ende des dritten Jahrhunderts tauchten Schattengeborene in den schriftlichen Aufzeichnungen auf und wurden während des vierten zu einem zunehmenden Ärgernis. Das veranlasste den Erzherzog schließlich dazu, seine Unterstützung für die Einsätze in den Schattenländern zurückzuziehen.« Dies führte zur Einrichtung der Grenzbaronien, zum Aufstand an den Grenzen, dem Unabhängigkeitskrieg der Grenzlande und schließlich zum Beschluss 6/29, der die stehenden Streitkräfte in den Grenzlanden verringerte. Diese Geschichte hatte man Ishmael nicht nur in seinen begriffsstutzigen, jugendlichen Schädel gehämmert, er hatte sich auch persönlich während der letzten fünfundzwanzig Jahre damit beschäftigt. Stranhorne fuhr fort: »Aber falls es Männer in den Schattenländern gibt und ich erinnere Sie daran, dass ich dafür keinen Beweis habe , würde ich spekulieren, dass sie Nachfahren der Magier sind, die an dem Fluch beteiligt waren, obwohl ich nicht erklären kann, warum sie achthundert Jahre hätten warten sollen, um ihre Existenz kundzutun.«

»Anders als durch die Schattengeborenen und den Ruf«, bemerkte Ishmael. Dieser Ruf der Ruf in die Schattenländer stellte Ishmaels persönlichen Fluch dar, eine bizarre Verhexung, die ein Vermächtnis seiner jahrelangen Streifzüge durch die Schattenlande war. Niemand wusste, wie er wirkte, aber jedes Jahr folgten ihm Dutzende Männer und Frauen aus den Grenzlanden, und von keinem hörte man je wieder. Sturheit, ein Sicherheitsabstand, vertrauenswürdige Wachen und gelegentlich Ketten hatten Ishmael auf der richtigen Seite der Grenze gehalten. »Fürst Vladimer wollte, dass ich in die Schattenlande gehe und das Rätsel löse. Er machte sich Sorgen, hinter der unnatürlichen Ruhe dieses Sommers könnte nichts Gutes stecken.«

»Er hatte zwar recht, aber das birgt Risiken für Sie«, gab Stranhorne zurück. »Sie vermuten, dass die Schattengeborenen, wie wir sie kennen, etwas damit zu tun haben. Nehmen wir einmal an, dem sei nicht so. Nehmen wir an, sie seien ein gänzlich davon getrenntes Problem.«

»Von meiner Warte aus scheint mir die Trennung rein akademischer Natur zu sein.«

Aufgrund des leicht aufsässigen Tonfalls zuckte Stranhornes Mundwinkel in die Höhe. »Obwohl falls es solche Magier gibt, ist diese Ruhe trotzdem eher überraschend angesichts der Art von Kräften, die Magiern vor dem Fluch zugeschrieben wurden.«

»Die lichtgeborene Seite verfügt über eine nicht unbeachtliche magische Stärke«, bemerkte Ishmael. »Vielleicht haben die Schattengeborenen gezögert, sich mit den Lichtgeborenen anzulegen, und wir waren die Nutznießer.«

»Was meiner Meinung nach zwei weitere Fragen aufwirft: Erstens, wie viel wissen die Lichtgeborenen bereits über diese Bewohner der Schattenländer, sofern sie überhaupt existieren.«

Ishmael streckte seine behandschuhten Hände aus. Minhorne war nicht nur der Sitz beider Regierungen, sondern beherbergte auch den Tempel der Magier, der auf der anderen Seite des Sonnenaufgangs über die Magie herrschte und somit im Prinzip auch über die Magier bei den Nachtgeborenen. Es gab nur wenige nachtgeborene Magier, die von den Lichtgeborenen als stark anerkannt wurden. Die Lichtgeborenen hatten ihre Stärke sorgfältig innerhalb ihrer Abstammungslinien kultiviert, während die Nachtgeborenen es dem Zufall überließen, Magier hervorzubringen, die um ihr Überleben kämpfen mussten. Der Tempel neigte nicht dazu, Nachtgeborenen Ratschläge zu ihrem Vorgehen zu erteilen, geschweige denn, ihnen ein Mitspracherecht einzuräumen.

»Sie begreifen doch«, begann Stranhorne, »dass es den Tod des Prinzen erklären würde, wenn die Lichtgeborenen ein Bündnis mit den Schattengeborenen geschlossen hätten. Des Weiteren«, sprach er weiter, während Ishmael noch immer diese Worte verdaute, »hat der Überlieferung nach die den Fluch wirkende Magie alle Beteiligten getötet. Oder irre ich mich, dass nach all unseren Erfahrungen mit heutiger Magie jeder anhaltende magische Effekt sei es nun talismanische Magie oder Verhexung von der Lebenskraft des verursachenden Magiers abhängt? Dem Sprichwort nach stirbt die Magie mit dem Magier.«

»Jawohl«, knurrte Ishmael. Das Gesetz benannte die Hinrichtung als einzig legale Strafe für Hexerei, als einzig sichere Methode, um das Opfer von allen Einflüssen zu befreien. Ishmaels Knurren galt weniger der Erinnerung an seine eigene gefährliche Situation als Stranhornes Andeutung. Magie überlebte den Magier niemals, weil sie in der Lebenskraft des betreffenden Magiers verwurzelt war mit dieser einzigen großen Ausnahme. Nach all den Jahrhunderten dachte niemand mehr über die Möglichkeit nach, dass der Fluch keine Ausnahme war, obwohl sie die langlebigen lichtgeborenen Erzmagier als Paradebeispiel direkt vor Augen hatten. »Wollen Sie damit sagen, Sie glauben, einer oder mehrere der Magier, die den Fluch gewirkt haben, hätten überlebt

Falls tatsächlich noch Magier lebten, deren Fluch der Tempel der Lichtgeborenen seit Jahrhunderten zu brechen versuchte, dann gab es keine Hoffnung für sie alle.

»Ihnen ist klar, dass es reine Spekulation ist«, rief Stranhorne ihm besonnen ins Gedächtnis. »Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass jene, die an dem Wirken dieses bösartigen Fluchs vor acht Jahrhunderten beteiligt waren, all die Jahre gewartet haben sollten, um sich uns jetzt zu zeigen nicht, nachdem seit Jahrhunderten offensichtlich ist, dass wir erfolgreich bestehen würden. Aber es ist die einfachste Erklärung für die Anomalie.«

»Verflucht, Stranhorne«, sagte Ishmael aufgewühlt. »Nicht einmal Vladimer ist auf diese Idee gekommen.« Er durfte jedoch nicht vergessen, dass Vladimer bei ihrer ersten Unterredung keine weiteren Hinweise als den außerordentlich ruhigen Sommer in den Grenzlanden hatte. Und bei der zweiten war Vladimer gerade erst aus der Verhexung erwacht und noch nicht wieder im Besitz seiner Kräfte gewesen.

»Vladimer ist ein Mann des modernen Zeitalters«, nahm Stranhorne seinen Faden wieder auf. »Ich bin Historiker. Es gibt in der südlichen Wüste Ruinen, die Tausende von Jahren alt sind. Ich habe mir sagen lassen, außerhalb der Getrennten Länder gäbe es noch andere Ruinen, andere Wüsten und mündliche Überlieferungen über andere magische Katastrophen. Vielleicht ist dies lediglich ein Zyklus, der sich wiederholt.«

Ishmael leerte sein Brandyglas und wünschte, es wäre drei Mal so groß gewesen.

»Als Sie mich das erste Mal aufsuchten«, sagte Stranhorne, »habe ich erwogen, Ihnen den Zutritt zu meinem Haus zu verwehren. Doch bis zum heutigen Tag habe ich meine Entscheidung, Sie zu empfangen, nicht bereut. Obwohl«, fügte er in leichterem Tonfall hinzu, »einige meiner Standesgenossen und vor allem ihre Ehefrauen entsetzt darüber waren, wie sehr Sie meine Töchter verdorben haben.«

»Ich konnte auf ihren angeborenen Veranlagungen aufbauen«, gab Ishmael mit zittriger Stimme zurück.

»Ich bin mir ganz sicher, dass sie diese ausschließlich ihrer Mutter verdanken.« Es folgte ein Schweigen des Abwägens und Ordnens von Worten. »Meine Vorurteile haben mich daran gehindert zu erkennen, dass Herrschaft nicht die einzige Verführung ist, die Magie bietet. Sie wurden mit so viel weltlicher Macht geboren, wie ein Mann sie sich nur wünschen kann, und doch haben Sie im Alter von sechzehn Jahren dieser Macht zugunsten der Magie entsagt.«

»Damit hatte mein Vater mehr zu tun als ich.«

»Sie hätten Ihre Magie weder ihm noch irgendjemandem sonst zur Kenntnis bringen müssen«, stellte Stranhorne fest.

Wie Telmaine es getan hatte, die mit erheblich größerer Macht und vielleicht auch größerer Vernunft gesegnet war als er. Während er auf die Jahre zurückblickte, überdachte er die Mischung aus Überzeugung und Rebellion, die ihn dazu getrieben hatte, seinen Vater zu zwingen, die Magie in ihm anzuerkennen.

»Als Ihr Vater Sie enterbte, habe ich ihn bei diesem Entschluss unterstützt. Als er Sie wieder als Erben einsetzte, wusste ich, dass er dazu gezwungen worden war. Als Sie die Baronie erbten, habe ich an den Erzherzog geschrieben und ihn gedrängt, den Erbfolgeerlass nicht zu unterzeichnen.«

»Ich wusste es damals«, sagte Ishmael. »Ich habe vollauf damit gerechnet, dass Sie mich beim ersten Treffen von Ihrem Land jagen würden.«

»Ich habe es in Erwägung gezogen«, erwiderte Stranhorne, »obwohl alles, was ich über Sie gehört hatte, für Sie sprach. Es sind die Tugenden der Magier und das Gute, was sie tun, das die Menschen dazu verleitet, die Beweise der Geschichte abzutun und so wiederholt sich der Zyklus. Wann werden Sie zurück sein?«

Diese plötzliche Frage traf Ishmael unvorbereitet. »Ich werde«, er räusperte sich, »daran arbeiten, mich zu befreien, sobald wir Ihre Tore passiert haben darauf können Sie sich verlassen. Wenn ich in die Stadt zurückgebracht werde, wird Vladimer mir den Rücken decken und aussagen, dass ich ihm nichts Böses wollte.«

Obwohl das bei einer Anklage wegen Hexerei und dem Verdacht, Vladimer beeinflusst zu haben, vielleicht nicht so nützlich sein würde, wie es sonst gewesen wäre. »Aber sollte sich etwas an der Situation hier ändern, wird sich auch meine verändern.«

Stranhorne stellte sein Glas beiseite und nahm Ishmael das seine ab. »Ich denke, unsere zehn Minuten sind um. Ich habe nach Jeremiah Coulter vom Bahnknoten geschickt, um den Haftbefehl zu überprüfen. Wenn er irgendeine Lücke aufweist, wird er sie finden.«

Ishmael

Die Stranhornes hatten es geschafft, Mycene im Ballsaal festzusetzen. Allerdings klang Laurels besänftigende Konversation bereits etwas angespannt, als Stranhorne und Ishmael durch die Tür traten. Ishmaels Verfolger stand fast Nasenspitze an Nasenspitze mit der Dame, obwohl er sich im Nachteil befand, da er gute fünfzehn Zentimeter weniger maß als sie. Sein Gesicht war wegen seiner Asymmetrie eher ungewöhnlich: ein Wangenknochen merklich höher und schmaler als der andere, ein Auge stand leicht versetzt zum anderen, und die Nase war durch einen alten Bruch ein wenig verrutscht. Sein schönes und glattes Haar hatte er von seiner hohen Stirn zu einem Zopf zurückgebunden, der in den Kragen reichte. Er trug einen schweren, zum Reiten geteilten Mantel von höchster Qualität und gut frottierte Reithosen. Auf der einen Hüfte saß ein Holster und auf der anderen die Scheide eines langen Messers.

Ein halbes Dutzend seiner Männer lümmelte sich an den Wänden oder saß herum erfahrene Soldaten, die ihre Kräfte für den Ernstfall schonten. Die Übrigen mussten weggeschickt worden sein, damit sie sich um die Pferde kümmerten. Dr. Balthasar Hearne stand ein wenig abseits, ausgezehrt, müde von der Reise und bis auf eine zu große Jacke im Stil der Grenzlande immer noch so gekleidet, wie Ishmael ihn zurückgelassen hatte. Aber er lebte und war anscheinend unverletzt.

»Ishmael di Studier«, forderte Mycene ihn heraus. »Ich habe einen Haftbefehl gegen Sie wegen der Ermordung meiner Verlobten Tercelle Amberley und wegen des Verdachts auf Hexerei gegen Fürst Vladimer Plantageter.« Ishmaels Kopf zuckte zu einem Mann herum, der mit verschränkten Armen und zynischem Gesichtsausdruck an der Wand lehnte. Hätte er diesen Mann nicht gekannt, hätte Ishmael ihn für einen Schmuggler gehalten. Angeblich war er das in seiner Jugend auch gewesen. Nichts lehrt einen klugen Mann das Gesetz so gut wie die Notwendigkeit, es zu umgehen. Als Jeremiah Coulter Stranhornes und Ishmaels Peilruf spürte, schüttelte er schwach den Kopf; der Haftbefehl war wasserdicht.

Wie Stranhorne gesagt und Ishmael es erwartet hatte. Der Brandy, seine Unterhaltung mit Stranhorne oder die Mischung aus beidem hatte ihn hinreichend betäubt, sodass ihm das »Ich ergebe mich in Ihre Hände« gelassen über die Lippen kam. Trotzdem war er froh, dass sich Lavender im Keller aufhielt. Laurel kaute auf ihrer Unterlippe.

Mycene wirkte verblüfft wie ein Mann, der heftig gegen ein vorgebliches Hindernis anstürmte, nur um festzustellen, dass es nachgab. »Gut«, sagte er. »Übergeben Sie Ihre Waffen. Wir reisen nach Norden.«

»Sie werden vor morgen keinen Zug bekommen«, mischte sich Stranhorne in das Gespräch ein. »Bis Sie den Bahnhof erreicht haben, wird der heutige Zug gen Norden bereits abgefahren sein.«

»Dann reiten wir«, erklärte Mycene.

Mit einem leisen Seufzer taumelte Balthasar Hearne und glitt in tiefer Ohnmacht zu Boden. Angesichts eines solch unmännlichen Verhaltens folgte ein leicht verlegenes Schweigen, dann ließ sich Laurel vorsichtig neben ihm auf die Knie nieder und fühlte seinen Puls. Vor ihrer Schwangerschaft hatte der Arzt der Strumhellers sie wegen ihres kühlen Kopfes, ihrer ruhigen Hand und des bereitwilligen Verstehens angespannter Befehle regelmäßig als seine Assistentin engagiert.

»Der Mann ist erschöpft«, berichtete sie. »Er wird heute nicht weiterreisen, es sei denn, in einer Kutsche.«

Voller Abscheu schüttelte Mycene den Kopf. »Dann nehmen wir eben eine Kutsche.«

Stranhorne sagte: »Sie haben vielleicht noch vier Stunden bis zum Sonnenaufgang, dann werden Sie sich in den inneren Grenzlanden befinden. Ich schätze, es wird möglich sein, in einem der Haushalte Quartier zu finden, aber dann haben Sie wie viel? bestenfalls weitere zehn Stunden in der nächsten Nacht. Eine Kutsche würde Sie noch mehr aufhalten. In Anbetracht der Ausweitung des herzoglichen Befehls denke ich, dass ich mich vollkommen im Rahmen meiner Rechte bewege, wenn ich Ihnen die vierzehn oder fünfzehn Pferde aus meinen Ställen verweigere, bis diese Krise vorüber ist, Haftbefehl hin oder her.«

Sein Anwalt zeigte ein Grinsen, das ihm Ähnlichkeit mit einem Seeräuber verlieh.

»Ich biete Ihnen die Gastfreundschaft meines Haushalts bis zum morgigen Abend an«, fuhr der Baron in besonnenem Ton fort. »Wir bringen Sie und Ihre Gefangenen zum Bahnhof, wo Sie den Zug zum Endbahnhof Sommerhaus nehmen können und dann den ersten Tageszug nach Minhorne.«

Boris schaffte es nicht, sein Entsetzen zu verbergen so wenig, wie er sein Gesicht unter Kontrolle hatte, war es kein Wunder, dass seine Schwestern ihm beim Kartenspiel stets die Taschen leerten. Ishmael zeigte sich beeindruckt von Stranhornes Mut und gleichzeitig alarmiert wegen des Risikos, das er einzugehen bereit war. Tat er es um Ishmaels willen? Mit einem Keller voller Munition und der kühnen Verschwörung, die Inseln zu unterstützen, hätte Ishmael seine Feinde so schnell wie möglich zur Haustür hinausbugsiert, ob es sich nun schickte oder nicht. Vielleicht hoffte Stranhorne aber auch, ihr zutiefst beunruhigendes Gespräch fortsetzen zu können.

Ishmael wäre es lieber gewesen, wenn man ihn in Ketten gelegt nach Norden geschleppt hätte.

»Ich nehme Ihre Einladung an«, lenkte Mycene säuerlich ein. »Aber ich werde einen Wachposten für beide Männer abstellen. Di Studier ist wegen Mordes und des Verdachts auf Hexerei verhaftet und Hearne wegen Komplizenschaft. Und ich werde Sie wegen Beihilfe drankriegen, wenn nicht beide Männer morgen im Zug Richtung Norden sitzen.«

»Das Risiko, ihn hier einzuquartieren, war geringer als seinen Verdacht darauf zu lenken, was wir wohl verstecken«, murmelte Stranhorne Ishmael einige Minuten später auf der Treppe zu. Bis zur vierten Treppenflucht hatten sie ein wenig Abstand zwischen sich und Mycenes Wachposten gelegt, der einen harten Ritt hinter sich hatte. »Wir werden ihn und seine Männer mit reichlich Essen und Wein versorgen und sicherstellen, dass sie sich im Haus nicht verlaufen und auf verschlossene Türen stoßen. Und wir wissen auch, wen wir von ihnen fernhalten müssen.«

»Und Sie geben Ihrer Frau die Schuld an Lavenders Veranlagung.«

Stranhorne bedachte ihn mit einem schwachen Lächeln. »Natürlich. Es ist Laurel, die ganz nach mir kommt. Wir werden kurz nach der Sonnenaufgangsglocke speisen.«

Balthasar Hearne saß aufrecht im Bett, als Ishmael hereinkam. Stranhorne hatte Mycene überredet, die Wachen außerhalb der Räume zu postieren, die sich seine Gefangenen teilen sollten. Balthasar war bis auf seine Jacke und Stiefel noch immer voll bekleidet und hatte sich eine Decke übergelegt. Er wirkte müde, aber durchaus wachsam. Er wartete, bis Ishmael die Tür geschlossen hatte, dann sagte er beschämt: »Es war das Einzige, was mir eingefallen ist, um sie aufzuhalten. Alles andere hatte ich bereits erschöpft.«

»Es war überzeugend«, räumte Ishmael erleichtert und insgeheim erheitert ein. Verflucht! Ein Mann, der sich nach einer verheirateten Frau sehnte, sollte auf keinen Fall ihren Ehemann mögen.

»Nicht schlecht«, meinte Laurel bedächtig, »für einen Mann.« An Ishmael gewandt sagte sie: »Ist es Vater gelungen, sie hinzuhalten? Dann sollte ich besser gehen und eine Beschäftigung für Lavender finden. Es ist zu spät, um sie wieder auszuschicken, und ich sollte mich wegen des Dinners mit der Haushälterin besprechen.« Sie rauschte aus dem Raum.

Ishmael umfasste Balthasars Hände. »Schön, Sie wiedergefunden zu haben«, bemerkte er und setzte sich. »Haben Sie es zum Herrenhaus geschafft?« Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war er nicht mehr in der Lage gewesen, Haus Strumheller als sein Zuhause zu bezeichnen, so sehr seine Schwester ihn deswegen auch tadelte.

»Mit Verzögerung. Mycene wartete am Bahnhof«, antwortete Balthasar, und die Anspannung um seinen Mund verriet, was sein beherrschtes Gesicht zu verbergen suchte. »Sie haben mich verhört.« Das war kein geringes Martyrium für einen Mann, der vor weniger als einer Woche bei einer Befragung fast zu Tode geprügelt worden war. »Sie gaben vor, mir nicht zu glauben. Dann haben sie mich zum Herrenhaus gebracht und erklärt, Sie hätten es irgendwie geschafft, sich an ihnen vorbeizuschleichen. Es war ohnehin kurz vor Sonnenaufgang.« Also hatten Reynard und Noellene das zweifelhafte Vergnügen gehabt, Mycene und seinen Trupp einen Tag lang zu unterhalten. »Ihre Schwester war großzügig und überaus erleichtert zu erfahren, dass die Berichte über Ihren Tod nur ein Irrtum waren. Ihr Bruder trat als tadelloser Gastgeber auf. Er hat mir eine Nachricht für Sie mit auf den Weg gegeben und sagte, diesmal würde er das Erbe vor Gericht regeln.«

»Ah, nun, das überrascht mich nicht«, entgegnete Ishmael. »Mein Bruder ist kein schlechter Mensch, er wurde nur zu oft enttäuscht.« Selbst die von ihrem Vater arrangierte Ehe Reynards war eine Enttäuschung gewesen. Nach zehn Jahren der Kinderlosigkeit und der zunehmenden Entfremdung hatte seine Frau auf einer Scheidung bestanden. »Ich bin wie eine dieser Gassenkatzen. Gerade wenn man meint, mich zum letzten Mal gepeilt zu haben, tauche ich wieder auf.«

»Ihre Schwester hat ihrer Enttäuschung Ausdruck verliehen, dass Sie Ihrem Bruder keinen persönlichen Brief geschrieben haben.«

Dies entlockte ihm ein Grinsen: Bei Noellenes Geburt war Ishmael sechzehn gewesen. Sie hatte die Schönheit und Kultiviertheit ihrer aus der Stadt stammenden Mutter geerbt. Aber sie war durchaus ihres Vaters Tochter, wenn es darum ging, ihren Gedanken unverblümt Ausdruck zu verleihen, wenn man sie ernsthaft erzürnte. Was den Brief betraf, hatte sie wahrscheinlich recht, aber nun war es nicht mehr zu ändern. »Sie konnten es genauso gut erklären wie ich. Und dann sind Sie heute Nacht auch noch hergekommen. Es war ein harter Ritt, nicht wahr?«

»Ich kann nicht behaupten, dass ich mich an die letzte Hälfte erinnern würde«, gab Balthasar zu. »Ich habe mich nur darauf konzentriert, nicht aus dem Sattel zu fallen.«

»Keine geringe Leistung in dieser Gesellschaft. Also, ich habe Neuigkeiten für Sie, und es sind keine guten. Ich denke, Stranhorne und ich müssen beide Ihre Meinung dazu hören wenn man bedenkt, dass Sie mehrere Amtszeiten im Interkalaren Rat tätig waren und Seite an Seite mit einer Lichtgeborenen leben.«

»Floria, ja.«

»Dies betrifft Ihre « Er war sich nicht sicher, wie er Balthasars Beziehung zu seiner Nachbarin bezeichnen konnte oder sollte. Sie waren so intim, wie ein Mann und eine Frau es sein konnten, die sich niemals in Person begegnen würden, so viel wusste er. Und er wusste, was Balthasars Ehefrau diesbezüglich empfand. »Mistress Floria«, sagte er schließlich und schob seine Verlegenheit beiseite, »da sie zur Leibwache des lichtgeborenen Prinzen gehört. Isidore ist tot.«

»Tot? Wie?«

»Die Lichter in seinen Räumen haben während der Nacht versagt.«

»Das ist unmöglich!«, entgegnete Balthasar. »Die Lichter des Prinzen werden von mehreren Magiern verzaubert. Sie hätten nicht versagen können nur, wenn all diese Magier zur gleichen Zeit gestorben wären.«

»Oder die Magie freigelassen oder aufgehoben worden wäre.«

»Das ist nicht möglich«, beharrte Balthasar.

»Es sei denn, der Tempel hätte Prinz Isidore seinen Schutz entzogen.«

»In der ganzen Geschichte des Paktes hat der Magiertempel nur ein einziges Mal Verträge mit einem Prinzen gekündigt, aber mit zahlreichen Vorwarnungen und erst, nachdem dieser auf ekelhafte Weise Magie und Magier missbraucht hatte. Isidore hatte keine derartige Vorgeschichte und er ist auch nicht verwarnt worden. Floria hätte mir davon erzählt, wenn es auch nur den geringsten Hinweis darauf gegeben hätte.« Er hielt inne. »Waren es Schattengeborene?«

»Ich vermute es«, sagte Ishmael grimmig. »Das würde heißen, sie sind stark genug, um die Hohen Meister der Lichtgeborenen zu überwältigen. Oder es bestand eine Verschwörung.«

Er wartete, und sein Sonar spielte über Balthasars Gesicht, während dieser darüber nachdachte.

»Dass wir dieser Art von Macht noch nicht begegnet sind, bedeutet nicht zwangsläufig, dass es sie nicht gibt«, meinte Balthasar langsam. »Vielleicht war sie bisher einfach noch nicht vonnöten. Aber was eine Verschwörung betrifft Nein, ich denke, falls Lichtgeborene selbst lichtgeborene Magier beteiligt gewesen wären, hätten sie ihre Forderungen direkt gestellt. Sie haben durch den Pakt zwischen Erd- und Magiegeborenen überlebt. Lichtgeborene Magie«, fügte er mit einem deutlich hörbaren Einspruch in der Stimme hinzu, »ist nicht chaotisch.«

»Ich hoffe, Sie liegen damit richtig, Hearne.«

»Haben Sie noch einmal etwas von Telmaine gehört, nachdem sie sich im Zug mit Ihnen in Verbindung gesetzt hatte?«

»Nein«, antwortete Ishmael und bemerkte, dass er sich unbewusst an die Brust gegriffen hatte. Er ließ die Hand beiläufig sinken und hoffte, dass Balthasar seine Geste nicht bemerkt hatte. »Ich weiß, dass ich ihr damals Angst gemacht habe. Ihr war vorher nicht klar, welchen Schaden ich davongetragen hatte.«

»Sie hätten es ihr und Vladimer gegenüber verdeutlichen sollen«, sagte Balthasar gelassen. »Wir haben unsere Pläne in der Annahme gemacht, dass Sie und Telmaine in der Lage sein würden, über Magie miteinander zu kommunizieren.«

»Verflucht, Hearne.« Er zügelte seine Reaktion. »Sie haben recht. Das hätte ich tun sollen. Ich habe mir nicht gestattet, darüber nachzudenken, wie schlimm es sein könnte. Jetzt lassen Sie es gut sein.«

Und Balthasar Hearne ließ es gut sein. »Der Prinz hätte nicht durch Magie sterben dürfen. Die lichtgeborene Polizei missbraucht Magie. Sie und nicht wir hätte sich um den Schattengeborenen kümmern sollen, gegen den wir gekämpft haben. Sind Sie sicher, dass wir es wirklich mit etwas Schattengeborenem zu tun haben und nicht mit Querelen innerhalb der oberen Magierränge, sowohl bei den Lichtgeborenen als auch den Nachtgeborenen?«

»Sie meinen einen Magierkrieg?«, fragte Ishmael. Grundgütige Imogene nicht nur Vladimer und Stranhorne, jetzt auch noch Balthasar. Er hätte Stranhorne um die ganze Flasche bitten sollen.

»Ja«, erwiderte der Arzt schlicht und wartete ab.

»Einige Schattengeborene wie beispielsweise Glasen«, er deutete auf die Stelle, wo Narben seine Mundwinkel durchfurchten, da er wusste, dass Hearne die Geschichte bereits kannte, »benutzen bei ihrer Jagd Magie. Sie sind Tiere und verwenden sie instinktiv, aber ich kenne das Gefühl. Die gleiche Magie habe ich bei dem Lebewesen an Vladimers Bett gespürt. Sie ist einzigartig Telmaine hat sie ebenfalls gespürt , und Sie glauben, dass die Lichtgeborenen sich mit dergleichen verschwören würden?«

»Bei meinem Wissen über den Magiertempel«, begann Balthasar langsam, »glaube ich, dass die Lichtgeborenen entweder herrschen oder sich nur mit Gewalt unterwerfen lassen würden. Und wenn die Lichtgeborenen herrschten, wäre es gesetzmäßig und nicht chaotisch.«

Als Magier niedersten Ranges verfügte Ishmael nur über Beziehungen zum Tempel, die kaum der Rede wert waren, aber als er den Broomes den Oberhäuptern der Magiergemeinschaft innerhalb Minhornes zugehört hatte, hatte auch er sich eine Meinung von ihren buchstabengetreuen Regeln gebildet. »Als letzte Möglichkeit legte Stranhorne dar, dass der Fluch keine Ausnahme der magischen Regel ist, sondern dass eine von Imogenes Konklaven oder sogar Imogene selbst überlebt hat, um ihn aufrechtzuerhalten.«

»Diese Möglichkeit war schon immer gegeben«, sagte Balthasar, der eher nachdenklich als verängstigt klang. »Angesichts der Aufmerksamkeit, die die Magier den Schattenländern im Lauf der Jahre gezollt haben, hätten sie eine derart überwältigende Kraft inzwischen gefunden haben sollen, sofern es sie irgendwo dort gibt.«

»Meines Wissens ist es beinahe unmöglich zu erkennen, ob ein Magier über gewisse Kräfte verfügt, wenn er diese nicht benutzt oder sich gut unter Kontrolle hat es sei denn, man kennt diese Person. Und es gibt weder auf der einen noch auf der anderen Seite des Sonnenaufgangs jemanden, der alt genug wäre, um Imogene zu kennen.«

»Achthundert Jahre«, entgegnete Balthasar ein wenig schwach. »Wenn Imogene überhaupt bösartig genug war, uns dies anzutun, hätte sie nicht achthundert Jahre gewartet, um es zu Ende zu bringen. Und falls sie von einer späten Reue erfasst worden wäre «

Ishmael schnaubte. »So einer Reue bin ich noch nie begegnet.«

Balthasar holte tief Luft, und Ishmael konnte das Beben seines Zwerchfells hören. Hearne hielt die Luft an und atmete dann sanft aus. »Bei einigen dieser Szenarien können Sie und ich nichts ausrichten. Sie sind ein Magier ersten Ranges, der unter einer schweren Verausgabung leidet.« Zumindest war er freundlich genug gewesen, nicht »Untauglichkeit« zu sagen. »Und man hat mir gesagt, ich verfüge nur über ein sehr rudimentäres Gefühl für Magie, das es mir zwar ermöglicht zu spüren, ob das Wetter magisch beeinflusst wurde, mehr aber auch nicht. Also«, Balthasars Stimme klang angespannt, aber fest, »unsere Verpflichtung bleibt unverändert. Wir müssen herausfinden, was vor sich geht und die Information an jene weiterleiten, die etwas unternehmen können.«

Ishmael legte ihm eine Hand auf die Schulter und stand auf. »Und das haben wir getan, zumindest für den Moment. Nun stehen für uns beide erst mal das Dinner und ein Bad an. Die Damen werden es uns nicht danken, wenn wir hereinkommen und durchdringend nach Schweiß, Schlamm und Pferden stinken.«

Balthasar

Das Dinner wurde in einem kleinen Speisezimmer in einem der neueren Bereiche des Herrenhauses serviert. Für Balthasar hatte die Situation die Unwirklichkeit eines Salondramas, als seien Komfort und Sicherheit ihm bereits fremdartiger als Schmerz und Gefahr. Vor wenigen Stunden war er in Ferdenzils Gefolge über die Straßen geprescht. Jetzt steckte er in geborgter Abendkleidung und verzehrte von den Scallon-Inseln importierte Schnecken in der Gesellschaft von Ishmael di Studier, Ferdenzil Mycene, Baron Stranhorne, dessen Sohn und den Damen des Hauses.

»Wissen Sie, wir waren sechzehn«, sagte Baronesse Lavender, während sie mit einer sparsamen Drehung ihrer zweizinkigen Gabel eine Schnecke aus ihrem Gehäuse löste.

»Wir sollten im folgenden Jahr in die Gesellschaft eingeführt werden«, fügte Baronesse Laurel hinzu. »Das hieß, sofern Prinzessin Calliope di Reuther dabei ein Wörtchen mitzureden hatte. Sie hatte beschlossen, ein Interesse an uns armen, mutterlosen Dingern zu fassen.« Klugerweise den exotischen Speisen gegenüber argwöhnisch, bedeutete sie einem Diener, ihr eine weitere Portion geräuchertes Huhn nachzulegen.

»Sie wollte herausfinden, ob eine von uns hinreichend für ihren geliebten Sohn zurechtgestutzt werden konnte«, bemerkte Lavender boshaft. »Als wären wir töricht genug gewesen, uns in ihre Reichweite zu begeben.«

Balthasar beschloss, nicht zu erwähnen, dass dieser ›geliebte Sohn‹ mit Sylvide, einer engen Freundin seiner Frau, verheiratet war, aber er konnte ihre Einschätzung Prinzessin Calliopes nicht bestreiten. Der Vater der Zwillinge hörte mit einer Miene wohlwollender Erheiterung zu. Zweifellos hatte er all dies früher schon einmal gehört.

»Und«, kehrte Laurel zu ihrem gemeinsamen Bericht zurück, »wir haben die gänzlich falsche Art von Literatur gelesen.«

»Ja«, brummte Ishmael, »das stimmt.«

»In diesen Geschichten«, erklärte Lavender Balthasar heiter, »musste ein Mädchen nur Knabenkleidung und eine Kappe tragen, um als Junge durchzugehen, aber immer fiel die Kappe in einem ungünstigen Moment herunter und verriet sie. Wir haben sichergestellt, dass unsere Kappen selbst einem Sturm standhalten konnten.«

»Wir sind mit den Grenzsoldaten Stranhornes kurze Runden durch die Umgebung geritten«, sprach Laurel weiter. »Wir hatten alles über Baron Strumheller gehört, der mehr als zwanzig Jahre Schattenjäger gewesen war, und wir brannten darauf, ihn kennenzulernen.« Sie schenkte Balthasar ein klägliches Lächeln. »Wir hatten keine Ahnung, dass Frauen sich anders bewegen als Männer.«

»Nun«, sagte Lavender mit einem hinterhältigen Grinsen, »das hat er zumindest behauptet. Zudem hatten wir keine Ahnung, welche Arten von Vergnügungen es in der Stadt gab, die einen Mann lehrten, eine Frau in Männerkleidern zu erkennen.« Ishmael öffnete den Mund und schloss ihn klugerweise wieder, wie Balthasar fand. »Haben Sie die Burlesken besucht, Dr. Hearne?«

Balthasar erinnerte sich an einen der frühen Vorträge in seiner Ausbildung über die Unterschiede der männlichen und weiblichen Anatomie. Schon damals hatte er die beachtliche Leistung des Dozenten erkannt, der es verstanden hatte, sechzig junge Männer mit den intimen Details des weiblichen Körpers zu langweilen. Er beschloss, diese Leistung nicht zu wiederholen, obwohl er versuchte, dessen Ton nachzuahmen. »Ich bezweifle, dass Ihnen das Theater ein besseres Material für Ihre Verkleidungen geliefert hätte als Ihre Abenteuergeschichten Ich entnehme Ihren Worten, dass Ishmael Sie als junge Damen erkannt hat.«

»Sofort und bei unserer ersten Begegnung«, antwortete Lavender. »Obwohl er uns erst später beiseitenahm, nachdem er sich ein Urteil über unsere Fähigkeiten gebildet hatte. Dann hat er uns beiden eine ordentliche Standpauke gehalten und uns mit einer Eskorte direkt nach Hause geschickt. Wir waren zu schockiert, um auch nur weinen zu können.«

»Er hat uns weder angeschrien noch beleidigt«, erklärte Laurel, »aber er hat uns unmissverständlich klargemacht, wie wenig wir auf die Art von Kampf vorbereitet waren, die er erwartete, und dass wir unser Leben und das Leben der Männer, die uns begleiteten, aufs Spiel gesetzt hatten.«

»Wir blieben danach wochenlang in Ungnade«, berichtete Lavender weiter. »Zugegeben, es hatte auch seine guten Seiten, denn Prinzessin Calliope verlor gründlich ihr Interesse an uns als potenziellen Schwiegertöchtern. Und«, sie bettete das Kinn auf ihrer sehnigen Hand und warf Ishmael einen neckenden Peilruf zu, »sobald wir uns von dem Schock erholt hatten, verliebten wir uns in ihn. Vergessen Sie nicht, wir waren sechzehn.«

Ishmael suchte Ablenkung auf seinem Teller. Ferdenzil Mycenes Gesichtsausdruck lag irgendwo zwischen Faszination und Entsetzen. Balthasar konnte dies nachvollziehen, auch wenn er sich als fortschrittlichen Mann verstand. Alles an den Zwillingen war empörend von ihrem Gebaren, einen so viel älteren Mann beim Vornamen zu nennen, über ihre unbefangene Erörterung von Dingen, die die städtische Gesellschaft als quälend unschicklich empfunden hätte, bis hin zu ihrer Bereitschaft, mit Grenzsoldaten auszurücken. Dennoch konnte er nur hoffen, dass er in fünfzehn Jahren mit seinen eigenen erwachsenen Töchtern eine derart gemütliche und zwanglose Mahlzeit würde teilen können.

»Wir haben den ganzen Winter, Frühling und den halben Sommer mit dem Versuch verbracht, die Mängel wettzumachen, auf die uns Ishmael so unbarmherzig hingewiesen hatte. Und dann fuhren wir mit einer Eskorte und in aller Schicklichkeit mit dem Zug nach Strumheller, um zu beweisen, dass wir zum Soldatentum taugten.«

»Er hat eingeräumt, dass sich unsere Fähigkeiten verbessert hatten«, griff Laurel den Faden von ihrer Schwester auf. »Und Wunder über Wunder, er konnte Vater die Zustimmung abringen, dass wir in der Nähe der Grenzlande Besucher und dergleichen eskortieren durften.«

»Es überrascht mich«, sagte Ferdenzil, wobei sein Tonfall eine stärkere Regung vermuten ließ, »dass Ihr Vater das gestattet hat.«

Es folgte ein kurzes verunsichertes Schweigen. Vielleicht waren es die Damen nicht gewohnt, städtische Vorurteile an ihrem eigenen Tisch zu hören. Stranhorne murmelte nur: »Bisweilen überrascht es mich selbst.«

»Seine Zustimmung hängt mit den Glasen zusammen«, warf Ishmael ein, »einer der gefährlichsten Arten der Schattengeborenen. Die meisten haben ungefähr die Größe eines massigen Hundes, aber sie können einen Mann so verhexen, dass er sich bei lebendigem Leibe fressen lässt. Wir wissen nicht, warum, aber sie greifen nur Männer an. Eine Frau mit einer ruhigen Hand und starken Nerven kann ein Dutzend Leben retten, wenn nicht sogar mehr.«

Diesmal war das Schweigen von anderer Beschaffenheit. Balthasar erinnerte sich daran, wie Ishmaels Anwalt ihm erzählt hatte, dass die Narben auf Ishmaels Gesicht Narben, wie kein Magier gleich welcher Macht sie tragen sollte von einem Glasen stammten. Falls diese jungen Damen ihn so gut kannten, wie es schien, kannten sie diese Geschichte vielleicht.

Ishmael selbst brach das Schweigen. »Obwohl ich sie nicht als Soldaten wollte.«

»In der Tat, nein«, lachte Lavender und wedelte mit der Hand, um ihn aufzufordern, seine Worte näher zu erläutern.

»Die beiden sind Baronessen, zu Herrinnen des Anwesens erzogen und in der Lage, ein Personal von hundert oder mehr Bediensteten zu leiten und Dinge zu organisieren, die Hundertschaften betrifft. Sie hatten die Unterstützung der Männer ihrer Truppe gewonnen, also wusste ich, dass sie als Anführerinnen taugten. Ich wollte ihnen zwei oder drei Sommer geben, um Erfahrungen zu sammeln, und sie dann mit der Truppenversorgung betrauen. Es war nicht leicht, ihren Vater zu einer Zustimmung zu bewegen, aber ich denke, er hat die Vorzüge seiner Entscheidung schon vor langer Zeit begriffen.«

Stranhorne prostete Ishmael mit einem trockenen Lächeln zu.

»Und das«, bemerkte Lavender, »haben wir in den vergangenen drei Jahren gemacht Pläne entworfen, die Versorgung organisiert und die Verteidigung der Grenzen Stranhornes überwacht.« Sie lächelte Ferdenzil zuckersüß zu. »Schockierend, nicht wahr?«

Ishmael räusperte sich leise, als wolle er sie warnen, dachte Balthasar.

»Und billigt Ihr Ehemann Ihr Tun?«, fragte Mycene Laurel. Wenn Balthasar es richtig verstanden hatte, war sie mit dem Gesandten Stranhornes vermählt, der sich am Hof der Herzöge von Myerling auf den Inseln aufhielt.

»Natürlich nicht gerade jetzt«, antwortete sie sittsam. »Aber ich habe ihn kennengelernt, als ich in der Eskorte geritten bin.«

»Reiten viele Ihrer Frauen mit den Grenzsoldaten?«, erkundigte sich Ferdenzil.

Ishmael wandte sich wachsam und ohne die Spur eines Lächelns Lavender zu. Dass er ihr unter dem Tisch auf den Fuß trat, konnte Balthasar nicht mit Bestimmtheit sagen, aber er vermutete es, weil sie zusammenzuckte. Sie sagte kühl: »Sind Sie einer von jenen, die von ›Männern‹ ausgehen, wenn von ›man‹ die Rede ist, Fürst Ferdenzil? Die Anzahl der Soldaten unseres stehenden Heers liegt innerhalb des herzoglichen Befehls von 6/29 und umfasst gleichermaßen Männer als auch Frauen.«

»Ich vermag nicht zu verstehen, wie Frauen ein Gewinn für eine Truppe sein können. Es mangelt ihnen an Stärke und Kampfgeist.«

»An roher Stärke vielleicht, aber eine Waffe in der Hand einer Frau ist ebenso tödlich wie in der eines Mannes«, bemerkte Ishmael, »und Frauen haben häufig schärfere Ohren und ein besseres Urteilsvermögen, wann ein Schuss vonnöten ist.«

»Aber niemand ist so gut wie du«, sagte Lavender unbeirrt. »Ich war dabei, als er einen Skaffern erschoss. Ishmael befand sich vor uns auf der Straße, und das Erste, was wir mitbekamen, waren sein Warnruf und ein Schuss. Könnten Sie einen Schattengeborenen auf sechshundert Meter treffen, Fürst Ferdenzil?«

»Ich würde es gar nicht erst versuchen«, antwortete Ferdenzil. »Der Sonar ist sicher, aber bei allem außerhalb der Ultraschallreichweite stellt man nur eine Gefahr für seine eigenen Leute dar.«

»Es ist eine andere Art der Kriegsführung«, bemerkte Ishmael, legte seinen Löffel beiseite und sprach Mycene direkt als einen Mann an, der seine Erfahrung mit einem anderen teilte. »Sobald ein Skaffern nahe genug ist, um ihn zu peilen, hat man höchstens noch zwei Schüsse. Unsere Leute kennen unsere Routen und wissen, wie sie auf Bedrohungen reagieren müssen, sodass wir jemanden nach Gehör herausfordern und schießen können, solange wir die Kampfformation halten. Aber Sie haben recht, sobald diese aufgebrochen ist, müssten wir uns auf unseren Ultraschallsinn verlassen, um zu schießen, statt das Risiko einzugehen, einen unserer eigenen Leute zu treffen.«

Lavender Stranhorne faltete die Hände vor ihrem Teller und rutschte auf ihrem Stuhl herum, als zöge sie die Füße unter sich. »Wenn Sie es nicht schätzen, über das Sonar hinauszuschießen, kann es Ihnen keine große Freude bereiten, zwischen den Inseln zu segeln, Fürst Ferdenzil«, sagte sie mit seidenweicher Stimme.

»Ganz im Gegenteil, Baronesse«, erwiderte Mycene achtlos, »ich finde die Methoden der Inseln, das Problem der Navigation anzugehen, überaus einfallsreich.«

»Aber leider auch umstritten«, murmelte Balthasar und erregte damit die Aufmerksamkeit beider Parteien. Er nahm einen wohlberechneten Schluck Wein. »Ich habe mehrere Amtszeiten im Interkalaren Rat verbracht, der zwischen den Völkern schlichtet, wenn die Alltagsgeschäfte des einen Auswirkungen auf die der anderen haben. Die Entscheidung für die Positionierung von Signalglocken und Nachrichtentrommeln an den Ufern ist nicht unumstritten, schließlich schlafen die Lichtgeborenen bei Nacht.«

»Ich fand es immer mutig«, warf Ishmael ein, »in diesen Gewässern zu segeln, und dabei auf die Kenntnis der Region, auf die Fähigkeit, Geschwindigkeit und Richtung der Fahrt abzuschätzen, und auf das Läuten der Glocken zu vertrauen. Manchmal kann ein Mann froh sein, wenn sein Magen ihn beschäftigt und davon abhält, allzu viel an die Felsen und Untiefen zu denken.«

»Und was«, fragte Lavender, »würden Sie über einen Mann sagen, der auf dem Meer auf Schattenjagd geht?«

»Ich bin mir vollauf im Klaren darüber«, gab Ferdenzil Mycene kalt zurück, »dass di Studier hier in den Grenzlanden im Rang eines Volkshelden steht. Aber ich habe einen Haftbefehl für ihn wegen der Ermordung meiner Verlobten Tercelle Amberley, daher werden Sie mir wohl vergeben, wenn ich Ihre Bewunderung nicht teile.«

»Fürst Mycene«, hob Lavender zu sprechen an, »Baron Strumheller ist mehr als nur ein Volksheld. Er hat die Baronien organisiert, damit die seit Generationen existierende Geißel daran gehindert wird, unsere Städte und Dörfer zu plündern. Währenddessen haben all Ihre feinen Herzöge und Fürsten aus dem Norden uns nichts anderes als Misstrauen und Argwohn entgegengebracht und gedroht, uns als Rebellen zu unterdrücken, falls wir die Streitmacht aufstellten, die wir für unsere Verteidigung brauchten.«

»Lavender«, mahnte Ishmael, »der Haftbefehl gegen mich wurde vom Erzherzog unterzeichnet, und das Gesetz des Landes steht hinter ihm. Genau wie beim herzoglichen Befehl, der es den Grenzlanden ermöglicht, Truppen auszuheben.«

»Ja«, sagte die Baronesse verbittert, »jetzt, da die Schattengeborenen in der Stadt sind.« Sie stand auf. »Vater, Fürst Mycene, entschuldigen Sie mich bitte. Wenn ich bleibe, werde ich noch etwas sagen, das ich bedauern werde, wenn auch nicht annähernd so sehr, wie ich sollte.« Sie verließ den Raum, und ihre langen Schritte ließen ihre Röcke hin und her schwingen.

Auf dem Weg zurück in die Suite, die Ishmael sich mit Balthasar teilte, führte er den Bericht der Zwillinge fort. Wie ihrem Vater versprochen, hatte er sein Möglichstes getan, ihnen weniger riskante Pflichten zuzuweisen wie beispielsweise die Eskorte von hochgeborenen Besuchern auf den Straßen der inneren Grenzlande. Zur einzigen Begegnung mit einem Schattengeborenen war es während einer verbotenen Spritztour ins Hochland gekommen, als sich Ishmael weit unten im Landesinneren befunden und geholfen hatte, die Truppe und Reserve von Odons Grabhügel zu organisieren.

»Ich war noch nie so kurz davor gewesen, an Ort und Stelle in Ohnmacht zu fallen wie an jenem Tag, als ich diesen Brief las«, gestand er. »Glücklicherweise konnte ich es ihrem Vater überlassen, ihnen den Kopf zu waschen.« Der, wie Laurel ihm versichert hatte, seine Sache großartig gemacht und ihnen eine Standpauke gehalten hatte, die Ishmaels durchaus würdig gewesen wäre. »Laurels Schüsse haben den Schattengeborenen niedergestreckt. Lavender ist auf die Entfernung die bessere Schützin, aber Laurel hat den kühleren Kopf.«

Sobald sie die Tür der Suite geschlossen hatten, fügte er in nüchternerem Ton hinzu: »Den Damen bereitet es Vergnügen, die Geschichte so zu erzählen, als seien die Truppen ein Abenteuer. Den Rest habe ich erst Monate später erfahren. In dem Jahr, bevor mein Vater starb, und ich mich noch immer als Schattenjäger verdient machte, hatte mich eine Dame in einem kleinen Herrenhaus an der Grenze zwischen Stranhorne und Strumheller engagiert. Ihr fünfzehnjähriger Sohn, Herr des Anwesens, war unterwegs verschwunden. Wir suchten fast vier Wochen in den Schattenlanden nach ihm, fanden aber keine Spur. Der Junge und Lavender hatten einander von Kindesbeinen an gekannt und waren wild entschlossen, sich zu vermählen, sobald sie volljährig waren.«

»Und die jungen Damen haben es Ihnen nicht erzählt.«

»Nein. Ich habe es von ihrem Vater erfahren.«