Epilog
Ishmael
Keine Reliefkarte oder zumindest keine, die er jemals berührt oder gepeilt hatte, verzeichnete die Insel. Sie war ein Felsen, von der Tafel des Landes ins Meer geworfen und vergessen worden, und lag weit südöstlich des Festlandes. Als er genug von seinem Verstand zurückgewonnen hatte, vermutete er, dass Isolde diese Insel einmal besucht haben musste. Oder vielleicht einer der anderen. Von irgendjemandem musste er dieses Wissen erhalten haben.
Er erinnerte sich nicht mehr, wie er die Höhle gefunden hatte. Sie war tief genug, um falls nötig der Sonne zu entgehen. Von einem unbekannten Vorgänger hatte er einen zerbeulten Kochtopf und einen verbogenen Schöpflöffel geerbt, außerdem ein kleines Säckchen mit Münzen sowie eine Decke, die in der Feuchtigkeit modrig und faulig geworden war. Die Münzen ließen darauf schließen, dass der frühere Bewohner nicht einfach weitergezogen war. Er drehte eine der Münzen in den Fingern und versuchte, sich zu erinnern, warum er sie für bedeutungslos und zugleich für äußerst wichtig hielt.
In jenem ersten Jahr hatte er nicht viel Zeit, um sich Gedanken zu machen. Um zu überleben, ging er auf Nahrungssuche und machte auf den überwucherten Hügeln, unter den Felsen und in den Gezeitentümpeln Jagd auf alles Essbare. Er improvisierte einen Haken und eine Schnur und ging mit zugegebenermaßen gemischtem Erfolg fischen. Aus einem Streifen, den er von seinen zunehmend zerlumpten Kleidern abgerissen hatte, fertigte er eine Schlinge und lehrte die gierigen Möwen, sich vor ihm in Acht zu nehmen.
Er wusste von Anfang an, dass auf der Insel Nachtgeborene in einem Dorf lebten, das nur vom Meer und seinen viel bereisten Pfaden vor schwerer Inzucht bewahrt wurde. Wenn der Wind richtig stand, konnte er die Glocken von den Bojen, die in der Dünung außerhalb der Bucht schaukelten, und den herben Klang ihrer schartigen Warnglocken in der Stille des Sonnenunter- und -aufgangs hören. Manchmal vernahm er auch ihre Stimmen, wenn sie von ihren nächtlichen Fischfängen zurückkehrten.
Ihm war jedoch nicht klar, dass sie auch von ihm wussten, bis er einmal mit seiner mageren Beute vom felsigen Strand zurückkehrte und ein eingewickeltes Päckchen auf seiner Schwelle fand: einen frisch gefangenen Fisch. Es folgten noch mehr Geschenke mit weiteren Fischen, Kartoffeln, besseren Fischhaken und Angelschnüren, einem Messer, einer verrosteten Axt, einem Stück Tuch und sogar einem nicht unterschriebenen Brief, in dem stand, wo er ein schäbiges, kleines Boot finden konnte, das er behalten durfte, wenn er es reparierte. Aber ihre Freundlichkeit und das Wissen, das man ihn nicht vollkommen verstoßen hatte, war das größte Geschenk von allen. Außer seinem Dank gab es nichts, was er seinen Wohltätern seinerseits hätte geben können, nicht einmal einen Namen. Bis zum Beginn des zweiten Jahres, als er hörte, wie die Dorfglocke Alarm läutete.
Bevor er recht wusste, was er tat, lief er mit dem Messer im Gürtel und der Axt in der Hand den Pfad zum Dorf hinunter. Die am Strand versammelten Dorfbewohner waren zu verstört, um das plötzliche Erscheinen seiner ausgezehrten Gestalt mit dem stümperhaft geschnitten Haar und Bart sowie den zerlumpten Kleidern zu bemerken. Etwas war aus dem Meer gekommen und hatte zwei der Kinder gepackt, die am Rand des Wassers Krabben und Muscheln gesammelt hatten. Etwas …
Er lief ans Wasser, bewegte automatisch die Hand, um sein Gewehr zu ziehen, während sein Sonar über das Wasser drosch. Doch nur die Wellen bewegten sich, und er hatte auch kein Gewehr … Er spürte, wie eine neue Kraft von ihm ausging, die erheblich mächtiger als sein Sonar war und das Wasser durchpflügte. Er fand die verblassende Lebenskraft eines Kindes und daneben etwas Hungriges. Nicht alle Schattengeborenen wurden von Magie genährt und hatten mit ihren Schöpfern den Tod gefunden. Er hob seine Axt und ließ sie niedersausen, um den Sand zu spalten, und er registrierte, wie die Magie Wasser und Knochen zerteilte. Der Wind trug den Geruch von Salzwasser und Blut heran, und mit einem Kräuseln der Wasseroberfläche legte das Meer wie ein gehorsamer Hund zwei kleine Körper auf den festgetretenen Sand zu seinen Füßen.
Nach einigen Wochen erstarben die Gerüchte, und die Dorfweisen kamen überein, das Überleben der Kinder sei ein Geschenk der Mutter. Aber wenn die Kinder nun auf die Suche nach Muscheln und Krabben gingen, standen Frauen oder alte Männer Wache, sie wussten, dass sie die Großzügigkeit der Mutter nicht voraussetzen konnten. Die Wache war jämmerlich schwach, wenn sich tatsächlich irgendetwas Gefährliches in der Bucht aufgehalten hätte – er wusste, dass dem nicht so war –, aber er mischte sich nicht ein. Er war zu beschäftigt. Die Inselbewohner mochten sich zwar einem glücklosen und wahnsinnigen Gestrandeten gegenüber mildtätig zeigen, aber ein erwachsener Mann, der auch nur einen Funken Verstand hatte, musste zusehen, wie er sich selbst ernährte. Also war er emsig damit beschäftigt zu lernen, wie er sein kleines Boot abdichten konnte, wie man eine reißfeste Schnur flocht, den richtigen Köder auswählte, ein Netz wob, reparierte und von einem Boot auswarf, ohne ihm ins Wasser zu folgen. Er lernte, sich mit den Neckereien abzufinden, wie man denn auf Wellen seekrank werden könne, die doch so sanft sein, dass sie ein Baby in seiner Wiege eingelullt hätten – das behaupteten die Leute jedenfalls. Ihm war der Spott der Menschen so willkommen wie ihre Freundlichkeit. Er fand außerdem einen Namen, den er ihnen nennen konnte: Ish.
Er blieb in der Höhle und zog nicht ins Dorf. Zwar vertraute er sich selbst genug, um in ihrer Nähe zu arbeiten, aber nicht, um dort zu schlafen oder zu träumen. Er machte es sich zur Gewohnheit, seine Gerätschaften und Vorräte draußen zu lagern, nachdem er sie beim Erwachen einmal zu oft um sich herum verstreut gefunden hatte. Er besaß zu wenig, um es achtlos zu zertrümmern. Er lehnte die Angebote aller ab, die ihm helfen wollten, die Höhle wohnlicher zu machen, wie zum Beispiel Wände einzuziehen oder Möbel zu bauen. Er hätte eine zersplitterte Wand oder zerbrochene Möbel nicht erklären können, oder vielmehr keine Erklärung für solche Gewalttätigkeit finden wollen. Außerdem brauchte er Zeit für sich allein und seine Übungen, die er vor Jahren erlernt hatte, um seine geringe Kraft zu bündeln. Nun musste er einen Weg finden, die Beherrschung von so viel mehr Macht zu meistern, wie sie sich kein vernünftiger Mensch wünschte. Die Magie schien erpicht zu sein aufzutauchen, ganz gleich, wie entschlossen er versuchte, sie unter Verschluss zu halten.
Trotz allem vermutete er, dass er nach den meisten Maßstäben nicht als geistig gesund gelten würde. Er fristete ein karges Dasein auf einem Felsbrocken an der Grenze der bekannten Welt, lernte Fischen, nahm bei toten Männern Unterricht in Magie und versuchte, sich alles bewusst zu machen, was der nachtgeborene und lichtgeborene Erzmagier versucht hatten, ihm bei ihrem Tod zu schenken. Sollte er seine Macht nicht meistern, würde er derjenige sein, der Ungeheuer in die Welt setzte und seinen Ruf aussandte.
Im dritten Jahr, während der mittsommerlichen Zeit des Stillen Meeres, ließ er sich dazu überreden, mit einem Schiff dem Festland einen Besuch abzustatten. Zu diesem Zeitpunkt erwachte er nur noch selten inmitten eines Trümmerhaufens. Auch hatte er es geschafft, seine Höhle mit einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl zu versehen, eine Feuerstelle und einen Schornstein zu errichten, und mit dem Bau einer gewölbten Steinmauer zu beginnen, die den Eingang seiner Höhle verschließen sollte. Er fand, er könne es riskieren, das Eiland zu verlassen – er war halb wahnsinnig vor Inselfieber.
Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war er ständig unterwegs gewesen, und jetzt begrenzten die Ufer einer kleinen Insel und das unfreundliche Meer seine Welt. Er musste von der Insel herunter, von der er jede Felsspalte und jeden Riss kannte, und etwas anderes kosten und riechen als Fisch. Er brauchte Neuigkeiten aus dem Norden, um zu erfahren, ob jene, die gekämpft und überlebt hatten, auch das gewonnen hatten, was sie verdienten. Er wollte Samen von Gewürzpflanzen kaufen und erinnerte sich daran, wie er vor langer Zeit hoch im Norden in einer Gefängniszelle gesessen und Prinzessin Telmaine erzählt hatte, dass er sich zurückziehen und auf einer einsamen Insel Gewürze anbauen wollte.
Er musste Gewisstheit haben, dass er nicht auch sie umgebracht hatte.
Also nahm er ein Schiff zum Festland. Der Hafen war zwar nur ein Drittel so groß wie der Seehafen von Stranhorne. Doch nach der Zeit auf der Insel wirkte er auf seine Sinne und Magie nach der Insel trotzdem so überfüllt, dass er den ersten Tag schlaflos im Gasthaus des Fischers verbrachte und Angst hatte, einen schweren Fehler begangen zu haben. In der zweiten Nacht zwang er sich, auf den Markt zu gehen und um Samen und Kräuter für ein Rezept gegen Seekrankheit zu feilschen, das er vor Jahren erlernt hatte. Kein Überfluss an magischer Kraft schien die Überzeugung seines Körpers unterdrücken zu können, dass er nicht auf das Wasser gehörte. Danach fand er den Weg in eine Seemannskneipe und benutzte etwas von dem kleinen Münzvorrat, um sich einen Teller Lammeintopf zu bestellen und eine neue Runde von Getränken und Tratsch in Gang zu setzen.
Während er an seinem Bier nippte, erfuhr er, dass im Norden Frieden herrschte. Die Magier und der Halbbruder des Erzherzogs waren nach Süden ins Exil gegangen. Schließlich gab es immer Ärger, wenn zwei Brüder von der gleichen Mutter, aber nicht vom gleichen Vater stammten. Köpfe nickten selbstgefällig – als seien alle Männer im Raum die Söhne der Väter, von denen sie abzustammen behaupteten. Es war die Rede von einer Eisenbahnlinie, die vom Norden durch die Schattenlande bis ganz in den Süden führen und nur dreihundert Kilometer vor der Küste enden sollte. Außerdem wurde in Minhorne eine neue Art von dampfbetriebenem Schiff gebaut. Ishmael seufzte und bedauerte, dass keine Frauen von Seemännern anwesend waren. Die einzige Fertigkeit, die Vladimer Frauen je zugebilligt hatte, war ihre Nützlichkeit, wenn es um Klatsch und Tratsch ging. Wenn Ishmael mehr über die Menschen erfahren wollte, musste er nach Norden gehen.
Aber dazu war er noch nicht bereit. Stattdessen kehrte er auf das Eiland zurück, fischte, baute in der salzdurchtränkten, kargen Erde Gewürze an und lernte, die Erde zu verstehen und sie zu verändern. In diesem Herbst erlebte die Insel ihre beste Kartoffelernte aller Zeiten, und Ishmael sein erstes Mahl aus gewürzter Seezunge. Er fragte sich, ob er nicht Zitronen anbauen könnte.
Im folgenden Jahr besuchte er wieder das Festland, obwohl seine Börse keine Zitronenbäume hergab. Aber er hatte größere Sorgen als die Landwirtschaft. Die Küste war den ganzen Sommer von Plünderungen durch eine Schar Gesetzloser heimgesucht worden, die sich in einem Dorf im Westen eingenistet hatten. Ishmael lauschte mit dem Ohr eines Veteranen den Berichten über ihre Gräueltaten und stimmte zu, dass die Plünderer vertrieben werden mussten, bevor sich ihre Anzahl vermehrte und ihr Ehrgeiz weiter anschwoll, doch die vorgeschlagenen Taktiken entsetzten ihn.
Mit beträchtlichem Gebrüll und einer Demonstration seiner Schießfertigkeit – so eingerostet sie auch war – verschaffte er sich Gehör, und weiteres Geschrei und Getobe brachte ihm Zeit ein, einen zusammengewürfelten Haufen Freiwilliger auszubilden. Zudem musste er selbst etwas von seiner alten Form zurückgewinnen. Zwar konnte er Diskussionen mit Männern gewinnen, aber nicht mit den Jahreszeiten, der Einbruch des Winters zwang sie zu einem Angriff, lange bevor er befand, dass sie bereit dazu waren. Gegen Männer zu kämpfen, war eine schauerliche, übelkeiterregende Arbeit, und sie erlitten viel zu große Verluste, als dass er ihren Erfolg als Sieg hätte bezeichnen können. Das Schlimmste war jedoch, dass er weder den Verwundeten helfen, noch ihrem Schmerz entkommen konnte. Er blieb drei Tage und Nächte wach, bis er vor Erschöpfung taumelte und wie ein Toter schlief.
Im nächsten Sommer blieb er auf der Insel, fischte, baute Gewürze und Kartoffeln an, bewachte die Bucht und errichtete die Mauer, die vielleicht eines Tages seinen Obstgarten umschließen würde. Er sagte sich, es sei vielleicht klüger, auf der Hut zu sein, für den Fall, dass sich ein Bericht an der Küste entlang verbreitete. Er erinnerte sich an Vladimers Worte: »Wenn ein Mann wahrhaft verschwinden möchte, muss er seine alten Gewohnheiten aufgeben.«
Er heilte den gebrochenen Flügel einer Seemöwe, dann die Wunden an seinen Händen, die ihm der Schnabel des Vogels beigebracht hatte, und er streichelte ein Krebsgeschwür weg, das die Katze des Gemeindehauses langsam tötete. Schafe, dachte er. Er sollte Schafe halten. Wenn man den Hirten in Strumheller Glauben schenken durfte, waren Schafe für jedes bekannte Gebrechen anfällig. Schafe würden ihm Übung verschaffen.
Eines Nachts im Spätsommer saß er auf einem Fass draußen vor seiner Höhle und flickte ein Netz. Zwar war die Nacht noch klar, aber im Westen zog ein Sturm auf, und nur die Abgehärtesten und Hungrigsten hatten sich über die Bucht hinaus gewagt. Er war weder das eine noch das andere, aber er hielt Wache über diese Fünkchen von Lebenskraft auf dem kalten Meer. So kam es, dass er das Schiff spürte, das vor dem Wind segelte, noch bevor er seine Glocke hörte, die seine Vorbeifahrt signalisierte. Er spürte das Schiff, die Mannschaft, seine beiden Passagiere und diese vertraute, magische Berührung, die herrlich gereift und verfeinert war.
Er stand auf, und das Netz glitt ihm unbemerkt aus den Händen. Er atmete den sturmschweren Wind tief ein und war sich bewusst, dass plötzlich der Schmerz einer Wunde nachließ, die sich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht geschlossen hatte.
›Prinzessin Telmaine. Wie schön, wieder mit Ihnen zu sprechen.‹