9
Tammorn
Er starb nicht. Er stand mitten im Herzen der Nacht auf Gestrüpp und Heide, aber starb nicht.
Erst jetzt begriff er, wie sehr er sich gewünscht hatte, dass sich die Hohen Meister irrten, selbst wenn es seinen Tod bedeutete. Er konnte die schützende Verhexung an sich spüren, die ihn beschirmte, aber nicht einsperrte – er hatte noch immer all seine Macht über seinen Willen. Irgendwie hatten sie es geschafft, dass sich die Verhexung eher wie ein juckender Anzug anfühlte als wie eine Hülle aus Mist. Er konnte die Macht und Lebenskraft der Hohen Meister darin spüren, aber die leitende Magie war die von Perrin gewesen, obwohl sie nur ein Wildschlag zweiten Ranges war.
Fejelis würde ihn schelten, dass er nicht besser darauf geachtet hatte, was die Hohen Meister taten, und Tam würde die Schelte akzeptieren, wohl wissend, dass Fejelis nicht in untätiges Elend versunken wäre. Er hoffte, dass Fejelis es verstehen würde und er etwas für seinen Verrat wiedergutmachen konnte. Die Hohen Meister hatten ihn ausgesandt, um für sie selbst – den Tempel – Verhandlungen zu führen, und er hatte keine andere Wahl gehabt, aber er würde auch für Fejelis und die Erdgeborenen verhandeln, wenn er konnte.
Dieser Gedanke trieb ihn dazu, sich genauer umzusehen. Seine Augen schienen sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, und mit jeder verstreichenden Minute wurde sie weniger undurchdringlich. Auf den kahlen Hügeln, die ihn umgaben, lag sogar ein dünner Lichtschimmer von dem zu drei Vierteln gefüllten Mond, der im Osten aufging – wie der Glanz auf einem von Beatrices Töpfen.
Beatrice … Vor Jahren hatte er ihr inmitten der Scherben von glasierten Töpferwaren und Fliesen und zwischen den noch verbliebenen Streben der Regale und Werkbänke versprochen, sie zu beschützen, und dass sie die Tyrannen ihrer eigenen Gilde nie wieder zu fürchten brauchte. Wegen dieses Versprechens war sie zu ihm gekommen. Aber er hatte es nicht halten können. Der Tempel würde sich seine Kinder gewiss noch einmal ansehen, und wenn die Magier es wollten, würden sie ihre Erziehung übernehmen.
Er schauderte. Er spürte den kalten Nachtwind, der im Mondlicht herbeiwehte. Seine Kleidung war für das beheizte Innere des Palastes und des Tempels gefertigt. Er stand auf einem Lehmpfad eines mit Heide und Farnen bewachsenen Hangs. Er kannte solche Lehmpfade, denn er hatte seine Jugend damit verbracht, Herden über sie zu treiben, die Jahr um Jahr geschrumpft waren, weil er die Tiere für die Steuern verkaufen musste. Der Boden hier war noch ärmer als die Erde in den Vorhügeln von Wolkenherden. Aber dieses karge Land war nachtgeboren, hier kümmerten sich die Barone, wenn ihr Volk hungerte. Er lächelte bitter in die Dunkelheit. Wenn es nur ihre Prächtigkeiten gewesen wären, die litten, dann hätte er nichts für die Erdgeborenen getan – die Rache eines Bauernmagiers für die Jahrhunderte der Unterdrückung.
Durch das Mondlicht wirkte die Nacht jetzt schwärzer als zuvor. Es warf Schatten, die weitaus dichter zu sein schienen als die des Sonnenlichts. Die Schattenseite der Hügel, die Wurzeln der Farne, die Ränder des Pfades – all das wirkte, als sei es aus der Welt herausklappt worden. Er schauderte und hob den Blick zu einem Himmel so voller Sterne, die selbst ein lichtgeborenes Auge sättigten. Er hatte seit über dreißig Jahren nicht mehr freiwillig die Sterne betrachtet, seit dem Mord an seinem jüngeren Bruder, aber selbst damals hatte er ihre volle Pracht niemals gesehen. Wäre Artarian hier gewesen, hätte er sich auf die nachtfeuchten Farne geworfen, die grünen Augen weit aufgerissen vor Staunen, und sich bis zum Sonnenaufgang nicht geregt.
Magie wallte auf, so plötzlich, nah und schattengeboren, dass er hörbar schluckte. Dreißig Meter den Pfad hinunter erkannte er die Umrisse eines Mannes, zuerst kurz dunkel und dann gleißend hell erleuchtet. Tam starrte auf die rechte Hand der Person, die das Licht zu halten schien, obwohl es seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen schmerzte. Hinter dem Licht stand eine große, aber nicht gänzlich kontrollierte Macht. Im Tempel hätte der Mann nach Vollendung seiner Ausbildung vielleicht ein Hoher Meister oder sogar ein Anwärter für das Amt des Erzmagiers werden können. Er spürte, wie die Magie seine Verhexung streifte, und der Mann stieß einen Pfiff aus. »Tammorn, wenn ich mich nicht irre? Ich bin Neill. Emeya hat mich geschickt, um Sie zu treffen.«
Tam starrte immer noch die Hand des Mannes an und fragte: »Wie haben Sie das gemacht?«
Neill drehte die Hand mit der Innenfläche nach oben und zeigte den Stab darin, der kalt brannte. »Damit. Es ist ziemlich einfach.«
»Aber nicht für Lichtgeborene«, sagte Tam. »Unsere Lichter müssen vom Sonnenlicht wieder aufgeladen werden.«
»Ich werde es Ihnen zeigen, wenn wir eine Gelegenheit dazu finden.« Neill sah aus wie ein Mann von Anfang zwanzig, ebenso wie Tam, der allerdings fast fünfzig war. Trotz seiner Größe wirkte er, als sei er es nicht gewohnt, seine Muskeln zu benutzen, wenn Magie den gleichen Zweck erfüllte. Sein Gesicht war kantig, die Wangen eingefallen, und seine Stirn, sein Kinn und seine Nase hatten etwas Wölfisches. Sein dunkles Haar war gewöhnlich, gewellt und vom Wind zerzaust, und seine Augen lagen tief in den Höhlen, sodass Tam ihre Farbe nicht erkennen konnte. Über einem Rüschenhemd und schweren Hosen trug er einen langen Flickenmantel aus Leder und Fellen. Tam nahm eine Verhexung an ihm wahr, die seinen eigenen Willen bannte. Seine Lebenskraft fühlte sich wie die des Magiers an, mit dem er gesprochen hatte, als er in das Gewirr schattengeborener Macht südlich von Stranhorne hineingegriffen hatte.
Er schluckte abermals und atmete langsam ein, um seinen Magen und seine Nerven zu beruhigen. »Der Erzmagier und die Hohen Meister haben mir befohlen, Verhandlungen mit den Schattengeborenen aufzunehmen.«
»Dann sollten Sie uns zunächst einmal nicht als Schattengeborene bezeichnen. Unsere Heimat ist Atholaya.«
Er hatte den Namen schon einmal irgendwo gehört oder gelesen, aber er konnte sich nicht mehr erinnern, wo. Lukfer hatte mehr als einmal scharfe Worte wegen Tams demonstrativer Gleichgültigkeit gegenüber der Geschichte des Tempels für ihn gefunden. Wenn Tote sprechen könnten, hätte Lukfer bemerkt: »Ich habe es dir ja gesagt.«
»Bringen Sie mich dorthin?«
»Sie hat mich hierhergeschickt, um sicherzugehen, dass ihr keine Gefahr von Ihnen droht. Wir hatten in letzter Zeit einige unangenehme Schrecksekunden.« Er klang nicht so, als bedauere er diese gänzlich – aber würde die schattengeborene Erzmagierin einen treuen Gefolgsmann tatsächlich derart verhexen?
Er spürte, wie Neills Magie ihn umspielte und seine eigene Verhexung untersuchte. »Wie faszinierend«, sagte er. »Seit wann können Sie das?«
Die Instinkte eines im Turm ausgebildeten Magiers obsiegten: Vor allem musste er beeindrucken. »Seit einigen Stunden, seitdem der Nachtgeborene mit dieser Verhexung zu uns kam.«
»Der Nachtgeborene … Ah, Sebastien, was hast du nur getan? Hieß dieser Nachtgeborene zufällig Hearne?«
»Das hat man mir nicht gesagt.« Und zu seinem Bedauern hatte er auch nicht danach gefragt.
»Ich bin mir sicher, dass er so hieß.« Er seufzte. »Törichter Junge. Also hat der Tempel Sie mit einer frisch erlernten, vollkommen unerprobten Verhexung hierhergeschickt. Ich vermute, um uns zu beeindrucken, wie geschickt sie doch sind und welchen Gehorsam sie einem starken Magier abverlangen können.« Ein Zahn blitzte auf. »Sind Sie entbehrlich, Magister Tammorn?«
Tam erwiderte dieses zynische Lächeln mit gleicher Münze, antwortete jedoch nicht.
»Also … der lichtgeborene Tempel möchte ein Bündnis mit uns schließen. Weshalb?«
»Sollte ich nicht warten und das mit Ihrer Erzmagierin besprechen?«
»Das könnten Sie. Das Problem ist, dass Emeya verrückt ist. Gehen Sie direkt mit vernünftigen Argumenten auf sie zu, werden Sie nur auf Unvernunft stoßen. Ich weiß, wie man mit ihr umgehen muss.«
»Ist das der Grund, warum sie Sie verhext hat?«, fragte Tam ihn frei heraus.
Die Laterne in seiner Hand sank und warf kantige Schatten über sein Gesicht. Von den tief liegenden Augen war nur noch ein Anflug der weißen Augenhaut zu sehen, die bläulich schimmerte. »Ich habe versagt, Stranhorne einzunehmen, und ein geschätztes Mitglied aus unseren Reihen wurde dabei getötet. Emeyas Meinung nach gibt es so etwas wie Versagen nicht, sondern nur mutwilligen Trotz.«
Tam senkte die Stimme. »Das müssen Sie sich nicht gefallen lassen.«
Neill hob die Laterne und streckte sie aus, sodass sie sich nahezu direkt zwischen ihren Gesichtern befand. »Versuchen Sie, mich aufzuwiegeln? Das haben bei mir schon Bessere und Näherstehendere als Sie versucht. Aber es geht weniger darum, auf welcher Seite das Brot gebuttert ist, als um die Frage, wer das Messer in der Hand hält.« Er fletschte beim Lächeln die Zähne, schärfer als zuvor. »Aber ich nehme an, Sie haben sich etwas für Ihren Versuch verdient. Also gebe ich Ihnen einen Rat: Kehren Sie zu Ihrem Tempel zurück. Sagen Sie ihnen, dass Emeya niemanden als ebenbürtig anerkennt. Wenn sie es täte, müsste sie eine anerkennen, die es ihr gewiss ist. Sollte der Tempel anderer Meinung sein, kann er seine Macht gegen Emeya auf die Probe stellen. Ich nehme an, dass er verlieren wird, obwohl es mir bei Weitem lieber wäre, er würde gewinnen. Oh ja, die Verhexung hindert mich nur, gegen ihren Willen zu handeln, aber nicht daran, meine Meinung auszusprechen.«
Es gab also eine weitere Schattengeborene, die so mächtig wie Emeya und ihre Feindin war? »Emeyas Präsenz war die mächtigste, die ich gespürt habe.«
Neills animalisches Lächeln blitzte auf. »So werden Sie mich nicht dazu bringen, Ihnen etwas zu verraten, Tammorn. Wenn Sie nicht zu Ihrem Tempel zurückkehren wollen, dann werde ich Sie wohl zu Emeya bringen müssen. Wie lauten die Bedingungen des Tempels?«
»Ich denke, dass sollte ich am besten mit Ihrer Herrin besprechen.«
»Statt mit einem bloßen Lakaien? Auf Ihre Verantwortung.« Magie wallte auf, umfing ihn und hob ihn trotz seines instinktiven Widerstands.
Als Erstes nahm er die Magie überall um ihn herum wahr – abscheuliche, besudelte Magie, die ihn an nichts so sehr erinnerte wie an ein Schlachthaus im Hochsommer. Aber wenn er damals den Überfall auf seine Sinne von verfaulendem Blut, heißem Urin und Kot hatte standhalten können, dann konnte er auch jetzt diesen Angriff auf seine Magie ertragen.
»Ich weiß nicht, warum Ihresgleichen zu Anfang derart mitgenommen ist«, bemerkte Neill. »Wir hatten gelegentlich Magier, die unserem Ruf folgten, obwohl sie alle von niederem Rang waren. Ihre Qualen werden vorübergehen, oder Sie werden an einen Punkt kommen, an dem Sie sie nicht mehr fühlen. Hier entlang. Bleiben Sie dicht bei mir.«
Tam ging neben Neill her und stolperte trotz des Lichtes, das der Mann trug. Er war schon früher über unebenen Boden gegangen, aber niemals nur mithilfe eines einzigen Lichts. Immer wieder täuschten ihn die Schatten und Vertiefungen, die Schatten nachahmten. Über dieses Land war große Gewalt gekommen und hatte es zutiefst vernarbt und ohne Büsche, Farne, Gräser und Bäume zurückgelassen. Nur Grasbüschel und Wurzelreste waren übrig geblieben, die in seine Knöchel stachen und Fallen für die Füße bildeten. Er nahm zwar wahr, dass sie sich hügelabwärts bewegten, aber während er versuchte, seinen Ekel vor der schattengeborenen Magie unter Kontrolle zu bringen und gleichzeitig nicht zu stolpern, kam ihm nicht zu Bewusstsein, wie die zerklüftete Erde neu geformt worden war, bis Neill stehen blieb. Mit offenem Mund blickte Tam geradeaus auf einen aufgetürmten Bau, geformt aus Erde und zusammengeklaubten Pflanzenresten. Er selbst hatte eine Gabe für die Manipulation unbelebter Materie, aber er hätte sich niemals vorstellen können, dass man so viel davon bewegen konnte.
Er konnte gerade noch die Kuppe der Mauer erkennen, deren Krümmung zwar noch sichtbar war und die den Umfang des Turms um ein Weites überschreiten musste. Der Hang, den sie soeben hinuntergegangen waren, entpuppte sich als die Grube, die für den Turmbau ausgehoben worden war. Sie erreichten einen Torbogen aus Erde, der nicht nur mit Ziegelsteinen verklinkert, sondern geradezu mit ihnen verschmolzen zu sein schien. Als sie hindurchschritten, betraten sie einen Pfuhl schlafender Tiere.
Es handelte sich um schlafende Ungeheuer und nicht um Farmtiere, die in das Dorf gebracht wurden, um Zuflucht zu finden. Er konnte Fell, Urin und Kot riechen, und statt des Geruchs von Korn oder Heu lag der Gestank von verwesendem Fleisch und altem Blut in der Luft. Von einem Hügel aus grauem Pelz, der an seinem Scheitel hüfthoch war, erhob sich ein speerförmiger Kopf auf einem langen Hals, und vier Schlitzaugen funkelten in das Licht. Neill murmelte ein Wort, das ebenso Zuneigung wie Befehl zu übermitteln schien, und die Kreatur seufzte und legte ihren Kopf wieder nieder.
Ein riesiger Wolf drängte sich an Tam vorbei, um Neills Knie anzustoßen. Tam hatte einen Hütehund gehabt, der das ebenfalls gern getan und für einen fröhlichen Scherz gehalten hatte, wenn er auf diese Weise Leute umwerfen konnte. Einmal hatte er es bei Tams Vater gemacht und war daraufhin auf einem Jahrmarkt im Tiefland verkauft worden. Neill ging in die Hocke, um den Wolf hinter den Ohren zu kraulen, und erlaubte ihm, an seinem Gesicht und Kinn zu schnüffeln, als hätten seine Reißer ihm nicht mit einem Biss die Kehle aufreißen können. »He, Maifliege, hattest du eine gute Jagd da draußen?«
Tam warf einen Blick auf das getrocknete Blut am Hals der Bestie und sah weg. Hinter dieser Bestie Maifliege kamen weitere, musterten Tam als mögliche Mahlzeit und beschnüffelten Neill, dessen Magie sich um sie herum und durch sie hindurch wob. Vielleicht war er ihr Schöpfer, denn Maifliege und einige der anderen wirkten fast doppelt so groß wie die Wölfe in den Vorhügeln, die Tam in seiner Jugend gejagt hatte. Gewiss aber war er ihr Herr. Neill wandte sich zungenschnalzend an Maifliege, wie eine alte Dorffrau, die ihre Hühner fütterte, dann gab er ihm zum Abschied einen Klaps und führte Tam zu der Treppe, die im Inneren des Erdbaus nach oben führte. Tam konnte nicht anders, als sich noch einmal umzublicken und sich daran zu erinnern, was Fejelis und die anderen erzählt hatten, nachdem sie das Eisenbahnhäuschen und die Gleise gegen die Kreaturen verteidigt hatten. Er schätzte ab, wie viele sich davon noch gegen die Nachtgeborenen und die Erdgeborenen seines Volkes wenden mochten, dann schritt er besorgt zum Nest der fliegenden Schattengeborenen hinauf.
Die Treppe war rau, uneben und wie der Torbogen aus Erde und Ziegelsteinen erbaut. Neill hielt das Licht neben ihm und wies ihm die Kante der Treppe, wofür Tam dankbar war. Er fragte sich, warum Neill sich von der großen Macht, über die er offensichtlich verfügte, nicht einfach nach oben tragen ließ. Aber vielleicht hatte Emeya auch diese magische Fähigkeit gebannt.
Und dann setzte ein alles andere auslöschendes Gefühl schattengeborener Magie all seinen Mutmaßungen ein Ende, und einzig Neills schneller Griff bewahrte ihn davor, zu stolpern und möglicherweise zu stürzen. »Sie ist zurück«, bemerkte er überflüssigerweise. »Und sie will Sie sehen. Sofort.«
Tam ließ sich die letzten Meter von Neill hinaufziehen und registrierte, wie sehr er ihn drängte. Doch als er sie zum ersten Mal oben an der Treppe sah, blieb er erschrocken stehen.
Sie war ein Kind, ein hellhaariges Mädchen und nicht älter als dreizehn Jahre. Sie reichte ihm nur bis zur Brust, ihre Figur hatte gerade erst zu knospen begonnen, und ihr Kleid war ein schlichter blauer Kittel mit einem Muster aus Binsen und Libellen. Grasflecken waren über ihren Knien zu sehen, und um ihren lockigen Scheitel trug sie ein Diadem aus verwelkenden, purpurfarbenen Gänseblümchen. In Neills Licht wirkte ihre Haut durchsichtig wie die seines Sohnes, der Beatrices schönen Teint geerbt hatte. Beinahe hätte er glauben können, dass sie unschuldig und aus Versehen im Zentrum dieses Strudels aus Magie gefangen war, statt in ihm zu stehen, denn kein Kind konnte so viel Macht befehligen. Sie spähte unter durchscheinenden Wimpern zu ihm empor und lächelte schüchtern.
Dann riss ihre Magie seinen Geist in Stücke.
Er hatte nicht gemerkt, wie er auf die Knie und dann auf die Hände gefallen war, aber in dieser Position fand er sich wieder, als ihre Magie von ihm abließ. Hilflos und zitternd übergab er sich, bis sein Magen vollkommen entleert war. In den ein, zwei, drei oder wie vielen unendlichen Minuten auch immer hatte sie seinen Geist geplündert, ihm seine Vergangenheit, sein Wissen über den Tempel sowie über die Magie und sogar Lukfers letztes Geschenk entrissen, wovor die Hohen Meister zurückgeschreckt waren. In einem Wirbel von Gesichtern, Orten, Gefühlen und Erfahrungen hatte sie sein Leben aus ihm herausgesogen: Seine ärmliche Kindheit, seine verfahrene Jugend, Artarians Tod, seine Wanderjahre, seine Rettung durch Darien Weiße Hand, seine Begegnung mit Lukfer, die Rettung Fejelis’ und die Strafe dafür, wie er sich in Beatrice verliebt hatte, wie er in Fejelis einen Freund fand, die Geburten seiner Kinder, Isidores Tod, Lukfers Tod und das Gemetzel im Tempel, wie er Fejelis erneut rettete, die Befehle und Wünsche der Hohen Meister, seine Hoffnungen, Wissen und Erinnerungen – alles hatte sie ihm genommen.
Er spürte, wie Neills Hände leicht auf seiner Stirn und seinem Hinterkopf ruhten, aber er fühlte die Berührung seiner Magie kaum, nur dass sein Magen endlich aufhörte, sich selbst auszuwringen. Der schattengeborene Magier schob ihm die Arme unter die Achselhöhlen und hievte ihn zuerst auf die Knie, dann auf die Füße.
»Ich habe Sie gewarnt«, stieß er durch zusammengebissene Zähne hervor. Er war um seinetwillen wütend, begriff Tam. Der schattengeborene Magier legte sich Tams Arm über die Schultern und führte ihn an der Krümmung des Erdbaus entlang. Sie befanden sich auf einer inneren Treppenflucht mit einem weiteren Stockwerk über ihnen, dort spürte er die Gegenwart fliegender Schattengeborener.
Eine weitere Erdmauer ragte vor ihnen auf, in die ein kleinerer Türbogen eingelassen war, den ein Behang verdeckte. Mit einem Schnippen seiner Hand ließ Neill den Vorhang beiseite gleiten, damit sie hindurchgehen konnten. Im Inneren entzündete er mit einer weiteren Geste mehrere in die Wände gerammte Leuchtstäbe. Er drückte Tam in einen Sessel. Der Sessel, das Bett, der Tisch – alles war mit einer Detailliertheit geschnitzt, die jeder Nachtgeborene begehrt hätte, obgleich das Holz dunkel, glatt, rosig braun und auf Hochglanz poliert war. Bis auf die beunruhigende Lichtundurchlässigkeit und die Fähigkeit, dichte Schatten zu werfen, hätten die Möbel ein Schlafzimmer im Haus eines Gildemeisters zieren können. »Ich weigere mich, im Dreck zu schlafen«, sagte Neill, der sein Interesse bemerkte.
In einem geschnitzten Korb in der Ecke regte sich ein rehbraunes Fell. Eine kleine Wildkatze fauchte Tam von dort an, wo sie um ihre Jungen geschmiegt lag. »Wo ist deine Schwester?«, fragte Neill sie, und ein Faden Magie schlängelte sich durch den Raum und lockte eine zweite Wildkatze unter dem Bett hervor. Jahrzehntelange Gewohnheit trieb Tam dazu, den Preis für die Felle zu berechnen. Neill ließ sich auf dem Boden nieder, den eine Reisematte im südlichen Stil bedeckte, und erlaubte der Katze, sich auf seinem Schoß zu lümmeln. Ihre Flanke wölbte sich unter ihrem ungeborenen Wurf. »Ich sollte dich besser zurückschicken, nicht wahr?«, sagte der Magier zu ihr. »Es gibt hier zu vieles, was große Zähne hat. Ich werde es tun, sobald sie mich lässt.«
Er blickte zu Tam auf, in diesem Licht erschienen seine Augen dunkelblau. »Das war kein besonders schönes Willkommen für den Gesandten des Tempels.«
»Warum?«, fragte Tam heiser.
»Emeya? Ich? Sie? Die Welt? Das Leben?«
»Sie hätte fragen können.«
»Die einfachste Antwort darauf lautet: Weil sie es kann, und nun wissen Sie und Ihr Tempel, dass dem so ist.« Er schüttelte den Kopf. »Sie hätten die Sache mir überlassen sollen.«
»Sie sind zwar stärker als ich«, erwiderte Tam unumwunden, »aber nicht so stark.«
Neills Mundwinkel kräuselten sich. »Und wie, wenn ich fragen darf, haben Sie dann so lange im Tempel überlebt?« Er begegnete Tams verblüfftem Blick mit hochgezogenen Augenbrauen. »Dachten Sie, wir hätten unseren Feind nicht studiert?«
»Wir haben Ihre Magie dort nicht gespürt.«
»Wir haben auch nicht gerade ein Feuerwerk gezündet. Wir wussten, dass die Nachtgeborenen Schattengeborene spüren konnten, wenn uns auch nicht bewusst war, dass das auch für lichtgeborene Wildschläge gilt. Wir haben uns auf geringere Magie beschränkt: Gestaltwandlung, wo es unumgänglich war«, das nannte er geringere Magie?, dachte Tam, »Verhexungen des Geistes«, wie bei Floria, »und etwas talismanische Magie.«
»Und was«, räusperte er sich, »ist mit der Munition, die den Turm zerstört hat?«
»Darum haben wir uns in der Fabrik außerhalb der Stadt gekümmert. In Ordnung«, sagte er zu der Wildkatze, die seine streichelnde Hand ins Maul genommen hatte, wobei ihre Zähne seine Haut nicht durchstachen. »Ich lass dich ja schon in Ruhe.« Sie hievte sich von seinem Schoß und zwängte sich wieder in ihre Zuflucht unter dem Bett.
»Wer ist Emeya? Wie ist sie geworden … wie sie ist? Woher stammt ihre Macht?«
Zuerst schien es, als habe Neill die Fragen nicht gehört, dessen Blick der Wildkatze folgte. Er ließ sie ziehen, erhob sich und nahm in dem zweiten Sessel Platz. »Wie viel wissen Sie über den Ursprung des Fluches?«
»Er wurde von der Magierin Imogene und ihren Anhängern aus Rache gewirkt, weil ihre Tochter in einem Krieg zwischen Magiern starb«, antwortete Tam prompt.
»Und warum ist der Fluch nicht mit ihnen gestorben?«
Unter Magiestudenten ein Gegenstand endloser Spekulationen, denen Tam auswich, so, wie er mit den meisten Spekulationen verfuhr. Er war ein Bauer, und es war, wie es war. Magie wurde von der Lebenskraft und dem Willen eines Magiers gestützt, und wenn beides erlöschte, verlosch auch die Magie. Der Fluch bildete die einzige Ausnahme. Das stand fest, darüber zu spekulieren, war müßig.
Dann kam ihm plötzlich ein schrecklicher Gedanke. »Sind alle Magier gestorben, die den Fluch gewirkt haben?«
»Die Frage liegt auf der Hand, und die Antwort lautet: Ja. Alle sind gestorben und noch viele mehr. Wenn Sie Emeya für ein Ungeheuer halten, hätten Sie Imogene kennenlernen sollen … Bewahren Sie Geduld«, erwiderte er, als Tam sich aufrichtete. »Ich werde auf Ihre Frage zu sprechen kommen. Aber zuerst einmal muss ich Ihnen von Imogene erzählen. Sie war ein unvergleichliches Ungeheuer. Sie hatte sich jahrelang, sogar jahrhundertelang, auf die Verhexung des Willens spezialisiert, und jeder, der in ihre Reichweite kam, wurde entweder verhext oder vertrieben, mit Ausnahme ihrer Tochter Ismene, in die sie vernarrt war. Ismene nahm sich einen erdgeborenen Liebhaber –nicht seine Entscheidung, wenn Sie verstehen, was ich meine. Es interessierte sie weder, dass er durch Sitte und Ehre an eine andere Frau gebunden war, noch dass er sich voller Scham das Leben nahm, als sie ihn verstieß. Erdgeborenes Gesetz konnte Ismene nichts anhaben und das Gesetz der Magier nur wenig. Aber die Verlobte dieses Mannes – ihr Name ist nicht überliefert – konnte es nicht vergessen. Dreißig Jahre hat sie gebraucht, bis sie zu ihrer Rache kam. Wie kann ein Erdgeborener einen Magier töten?«
Er lächelte und zeigte dabei seine scharfen Zähne. »Es scheint, die Nachtgeborenen bekommen gerade den Dreh heraus. In diesem Fall fand die Frau Verbündete. Es gab viele, die durch Magie verletzt worden waren, auf sie neidisch waren oder sie fürchteten. Und wen die Dame nicht als Verbündeten finden konnte, den kaufte sie. Sie fand Mittel und Wege, die Magiegeborenen gegeneinander aufzuwiegeln, und sorgte dafür, dass Ismene unter den Magiegeborenen viele Feinde hatte – nicht, dass dies schwierig gewesen wäre –, sodass sie ihre Magie auszehrte. Schließlich lockte sie Ismene unter die Erde und ließ einen Berg auf ihren Kopf fallen. Und das ist der Grund für den Fluch, warum Imogene eine solche Rache an den Erdgeborenen geübt hat. Er war für all jene bestimmt, die an der Ermordung ihrer Tochter beteiligt gewesen waren … Ich frage mich manchmal, was anschließend aus der Dame wurde, obwohl sie wahrscheinlich nicht allzu lange überlebt hat.«
»Hat denn niemand versucht, sie … Imogene aufzuhalten?«
»Oh doch, aber sie haben sich entweder ihr angeschlossen oder sind gestorben, weil sie sich weigerten. Das war der Krieg zwischen Magiern – auf der einen Seite die Anhänger Imogenes und auf der anderen ihre Gegner. Um dafür zu sorgen, dass der Fluch sie überleben würde, verankerte Imogene ihn in der Lebenskraft aller Geborenen und machte ihre eigenen Kinder sowie die ihrer Anhänger zu den Schlüsselsteinen der Magie. Sieben von ihnen überlebten das erste Jahrhundert, sechs lebten noch am Ende des dritten, vier nach dem fünften und zwei im achten.«
Magie, die in der Lebenskraft eines anderen verankert ist. Seit Generationen versuchten die Hohen Meister, diese verlorene Fähigkeit wiederzuerlangen. Er wusste, wie sie darauf reagieren würden, gierig, wie sie waren. »Und diese beiden sind Emeya und …«
»Imogenes jüngere Tochter, Isolde.«
»Und Sie sind?«
»Emeyas Ururenkel. Sie war so offensichtlich verrückt, dass es selbst den anderen Kindern klar war, daher hielten sie Emeya unter dem Bann einer Verhexung. Aber am Ende waren sie zu wenige. Fünfhundert Jahre verstrichen, während derer sie schlief. Sie können sich vorstellen, was das mit ihr machte. Sie ließ sich weit genug reifen, um einen Sohn zu gebären, danach ließ sie andere das Gebären für sich übernehmen.«
Fünfhundert Jahre und dann weitere fünf Generationen … Möglicherweise war dieser Mann älter als der Erzmagier mit seinen dreihundert Jahren. Er war mächtig genug, um so lange leben zu können. »Und Isolde?«
Neill stieß einen langen Atemzug durch die Nase aus. »Sie ist Imogenes zweite Tochter, die nicht ihr Liebling war, und von der man nichts erwartet hatte. Gewiss wäre ihre Mutter überrascht gewesen, wenn sie wüsste, dass Isolde alle überlebt hat. Ich bezweifle auch, dass sie bei klarem Verstand ist.«
Und wie viel sollte er davon glauben, wenn er bedachte, dass zwischen Emeya und Isolde eine Rivalität bestand, wenn nicht gar ein offener Krieg? Er wünschte, Fejelis wäre hier. Der Prinz beobachtete Menschen stets genau, wie sie sich zeigten. Magier konnten träge werden.
»Warum sollten Emeya und Isolde nach all diesen Jahrhunderten ihren Blick nach Norden richten? Warum der Angriff auf das Herrenhaus?«
»Emeya kam zu dem Schluss, Atholaya sei zu klein für sie beide.« Der Tonfall klang unbefangen, aber die Bewegung seiner Augen in ihren tiefen Höhlen verriet, dass er log. Dann seufzte er, lehnte sich zurück und stützte sich dabei auf seine Hände. »Emeya hat Angst vor Isolde.«
Das mochte die Wahrheit sein, aber der Tempelmagier misstraute einem solch bereitwilligen Eingeständnis von Verletzbarkeit. Was verbarg sich noch dahinter? »Hat sie einen Grund dazu? Ist Isolde stärker als sie?«
»Um Ihre Frage zum Herrenhaus zu beantworten, so haben die Stranhornes und Strumhellers seit Jahrhunderten nichts als Ärger gemacht. Wir wollten das Herrenhaus haben. Wir hätten inzwischen beide gehabt, aber wir, oder besser gesagt ich wurde allzu selbstsicher. Der Mann sagte, er sei Baron Strumheller, und ich kannte diesen Namen, aber ich hatte noch nie so eine schwache Magie gespürt, die überdies durch Überanstrengung zerrissen war. Also unterhielt ich mich mit ihm und wartete darauf, dass Sebastien zu uns stieß, aber da schoss er auf mich – in aller Seelenruhe und mit einer Kugel, die einen Skaffern niedergestreckt hätte. Ich nehme an, ich sollte dankbar sein, dass er nicht häufiger geschossen hat. Und während ich noch meine Eingeweide zusammensetzte, fingen Midora und dieser idiotische Junge an, den Innenbereich von Stranhorne niederzubrennen, und – krawumm!« Er warf Tam einen düsteren Blick zu, dann stieß er einen Seufzer aus, schnippte mit den Fingern in Richtung Korb und ließ einen leichten Stoß Magie folgen.
Die Wildkatze fauchte, nahm aber gehorsam ein Kätzchen ins Maul und trug es zu Neills Schoß. Sie hockte sich hin und funkelte ihn an, während er das Kätzchen untersuchte, einen Finger in das kleine Maul schob, mit einer Hand über das Rückgrat strich und die Kraft seiner Hinterläufe prüfte. Die Ablenkung schien ihn zu beruhigen, und er schenkte der wütenden Katze ein zärtliches Lächeln, als er ihr das Kätzchen zurückgab. »Sie ist eine Schönheit, nicht wahr?«, sagte er zu Tam.
Ihr Pelz war gewiss dick und gesund, wenn auch zu klein, um dafür den vollen Preis zu bekommen. »Diese Kreaturen, gehören sie alle Ihnen?«
»Jetzt ja. Ich habe sie von Durran, meinem Vater, geerbt, sowie meine Fähigkeit, mit lebenden Körpern zu arbeiten. Es war ursprünglich seine Idee, die Getrennten mithilfe derer, welche die Nachtgeborenen ›Schattengeborene‹ nennen, aus Atholaya zu vertreiben und auf Dauer fernzuhalten. Sie alle hatten furchtbare Angst vor dem, was die Getrennten uns antun würden, sollten sie uns finden – er von allen am meisten.«
»Und die verwandelten Nachtgeborenen?«, hakte Tam nach. Er war zu überanstrengt und wurde zu sehr von Übelkeit geplagt, um die Magie näher zu bestimmen, die die fliegenden Geschöpfe umgab, aber dieser Mann konnte lebende Körper umwandeln, wenn überhaupt irgendein Magier dazu in der Lage war.
In seinen umschatteten Augen blitzte es weiß auf. »Ah, es ist Ihnen also aufgefallen.«
»Waren sie Ihr Werk?«, fragte er leise.
»Andernfalls hätte Emeya sie nicht am Leben gelassen, aber verwandelt waren sie ihr von Nutzen.«
»Teilen jene Ihre Meinung, dass das Leben unter allen Bedingungen lebenswert ist?«
»Sie haben nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden«, erwiderte Neill ohne Groll.
»Begreifen Sie nicht«, sagte Tam mit leiser Stimme, »dass Ihr Handeln grausam ist?«
Neill neigte den Kopf nach hinten, und das Licht verfing sich auf seinen länglichen Gesichtszügen, die nun eher fuchsartig wirkten. Sie waren nicht ganz menschlich, wie Tam in diesem hellen Licht sehen konnte, wirkten, als habe Neill beschlossen, eins seiner geliebten Tiere nachzuahmen. »Doch, durchaus. Und ich wiederhole: Sie haben nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden. Glauben Sie mir, es gibt schlimmere Grausamkeiten.«
Tam war müde, ihm war übel, und er war kurz davor zu verzweifeln, aber er kämpfte weiter. »Und Sebastien?«
»Er ist der Sohn meiner Cousine Ariadne. Emeya wollte von ihr, dass sie mit jemandem ein Kind zeugte – es muss Sie nicht interessieren, mit wem –, aber statt darauf zu warten, dass die beiden ihren Weg zueinander fanden«, seine Augen funkelten vor Wut, »belegte Emeya sie mit einer Verhexung. Ari war gerade mächtig genug, diese auf einen anderen Mann umzulenken. Und um alles noch schlimmer zu machen, wählte sie dafür ausgerechnet einen von den neuen nachtgeborenen Sklaven. Sie band ihn an sich und sich selbst an ihn. Das Kind, das sie bekamen, war magiegeboren und mächtig, also ließ Emeya sie leben. Aber von diesem Tag an waren sie gebrandmarkt. Hearne ist ein Überlebenskünstler, wenn er auch sonst nichts ist. Er überredete Ariadne, zu Isolde zu fliehen. Sie hätten den Jungen mitgenommen, aber er war zu diesem Zeitpunkt Emeyas Schoßtier, und er wollte nicht mitgehen. Da ich wusste, was Emeya Ari antun würde, half ich ihnen bei der Flucht.« Verbissen betrachtete er das Muster des Teppichs. »Wenn ich damals gewusst hätte, was ich jetzt weiß, hätte ich es nicht getan.« Er blickte auf. »Emeya braucht dieses Tempelbündnis, aber sie will dieser Tatsache einfach nicht ins Gesicht sehen.«
»Warum?«, fragte Tam.
Die tief in den Höhlen liegenden Augen sahen ihn direkt an, dunkelblau und berechnend. Tam wünschte sich einmal mehr, er wäre Fejelis oder einer der Hohen Meister, alt und gerissen, statt nur ein stumpfer, verwirrter Bauer.
Neill erwiderte nichts, offensichtlich würde er diese Frage nicht beantworten, zumindest nicht jetzt.
»Warum bleiben Sie bei ihr?«, fragte Tam.
Neill antwortete: »Ich bin ein Magier. Ich will Wissen. Ich sehne mich danach, meine Macht anzuwenden. Das ist es, was mich hält. Ich könnte nicht nach all den Regeln Ihres Tempels leben.«
Tam kannte dieses Verlangen. Im besten Fall drückte sich dieses Begehren wie bei Lukfer aus, in seinen langen Jahren des Studiums, den unablässigen Bemühungen, seine unbändige Macht zu meistern, und der Großzügigkeit, jedem sein Wissen anzubieten, der es annehmen wollte. Es lag nicht an ihm, dass so wenige es getan hatten. Und im schlimmsten Fall … Er dachte, er hätte den schlimmsten Fall kennengelernt, als die Hohen Meister ihn mit einem Bann belegten, er vor ihnen auf dem Boden lag, und sie seinen Geist durchwühlten. Aber jetzt …
Jetzt hatte er Emeya kennengelernt und wusste, dass ihre Macht die des Erzmagiers und der Hohen Meister übertraf – auch wenn er versuchte, sich einzureden, dass Emeya ihn im Gegensatz zu den Hohen Meistern überrascht hatte. Und falls Emeya über magisches Wissen verfügte, das seit der Trennung verloren war, dann würden die Hohen Meister darauf erpicht sein.
»Sie sehen ziemlich entsetzt aus«, bemerkte Neill. »Worüber denken Sie nach?«
»Über Magie. Ihre Erzmagierin. Und die Hohen Meister.«
»Es ist normalerweise kein unerträgliches Leben. Nur in letzter Zeit …« Plötzlich wich alle Farbe aus seinem länglichen Gesicht. »Sie will mich sehen«, sagte er. »Verlassen Sie diesen Raum nicht, was immer pass…« Die schattengeborene Magie ballte sich zusammen, und er war verschwunden.
Tam würgte. »›Kein unerträgliches Leben‹«, zitierte er heiser in den leeren Raum hinein. Ein Fauchen aus dem Korb und unter dem Bett antwortete ihm.
Konnte er fliehen, während Emeya mit Neill beschäftigt war? Vielleicht hatte er noch genug Kraft, um sich zu heben, so ausgelaugt er sich auch fühlte. Er war verzweifelt genug, um es zu versuchen – nach Stranhorne oder selbst nach Minhorne. Wie Lukfer ihm immer wieder ins Gedächtnis gerufen hatte, bedeutete Entfernung eher eine geistige Barriere als eine körperliche. Sein Körper weigerte sich durch die Erinnerung an all die Kilometer, die er barfuß oder in löchrigen Stiefeln gegangen war, es allein der Magie zu überlassen. Doch sollte ihm die Flucht gelingen, würde er es dann wagen, mit diesen Informationen zu den Hohen Meistern zu gehen? Würde all diese Macht, all dieses Wissen sie abstoßen oder verführen? Würden sie ihm glauben oder denken, er habe sich in Emeyas Macht geirrt? Würden sie ihn zurückschicken, um ihre Bedingungen anzunehmen? Und welche Hoffnung gab es dann für Fejelis und die Erdgeborenen?
Er hatte eine schreckliche Vision von sich selbst, wie er zum Meister und Beschützer der Erdgeborenen berufen worden war sowie Neill als Meister und Beschützer von Tieren. Wäre sein Magen nicht bereits leer gewesen, hätte er sich übergeben. Eine Stimme schlängelte sich in seine Gedanken: ›Dann also nicht.‹
Die Vision war nicht seine eigene Versuchung, sondern ihre.
In blinder Verzweiflung streckte er seine Magie nach dem Erzmagier und den Hohen Meistern aus, fand aber nur Emeyas Präsenz und ihre Macht, die ihn niederdrückte. Sie sagte: ›Bleiben Sie ruhig, sonst …‹ Er spürte, wie sich ihre Magie nach ihm ausstreckte, um ihm seine schützende Verhexung gegen die Dunkelheit zu entwinden, und wie er selbst dahinschmolz. Das Gefühl war so übermächtig, dass er für einen Herzschlag glaubte, es sei tatsächlich geschehen. Er fiel in den Sessel zurück und fühlte sich nahezu aufgelöst.
Er bemerkte nicht, wie der Wolf den Raum betrat, obwohl er die Wildkatzen fauchen hörte. Gerade noch rechtzeitig blinzelte er die Tränen aus seinen Augen weg, um zu sehen, wie der Wolf den Korb mit intelligenten, gelben Augen musterte. In einer lächerlichen Reaktion beugte sich Tam abrupt vor, weil er ein Raubtier gegen ein größeres verteidigen wollte. Dann erstarrte er, denn der Wolf richtete seinen bösartigen Blick auf ihn. Das Tier winselte, tappte herbei, und noch während Tam die Magie heraufbeschwor, die er für seine Verteidigung brauchen würde, legte der Wolf ihm seine Schnauze auf die Knie. Seine Brauen zuckten wie bei einem Hund, während er Tams Gesicht musterte.
Als Neill wieder auftauchte, wurde er noch immer von seinem Wächter auf dem Sessel festgehalten. Der Magier landete auf den Füßen und ließ sich prompt auf Hände und Knie fallen. Auf seinem Gesicht, seinem Hals und seinen Armen konnte Tam die Quaddeln erkennen – sie glichen jenen, die er bei einem Mann gesehen hatte, der in einen Schwarm Schädelquallen geraten war. Maifliege ließ von Tam ab, um Neills Ohr zu beschnuppern. Der Magier schlang einen Arm um den Hals seines Schoßtiers und lehnte sich an die zottelige Schulter. Die Striemen entlang seines Unterkiefers schienen Blasen zu werfen, als verschiedene Magien miteinander rangen – Emeyas, um zu verletzen, und seine, um zu heilen.
Ihre Magie verstärkte sich. Plötzlich platzten die Quaddeln auf, und Blasen verbreiteten sich über sein Gesicht. Er ließ von dem Wolf ab und rollte sich wie ein Fötus zusammen. Viel später als Tam erwartet hätte, begann er zu schreien.
Ihre Magie entfernte sich wirbelnd, und Neill fiel auf den Rücken. Die Blasen versiegelten sich, das rohe Fleisch trocknete, wurde dumpf und dann rosig. Minutenlang starrte er zur Decke empor, während sich seine Brust hob und senkte, dann schob er eine Hand in das Nackenfell des Wolfs und zog sich an ihm hoch. »Wie hat Ihnen diese Demonstration gefallen?«
»Gar nicht«, antwortete Tam.
»Wie Sie vielleicht erraten haben«, sagte Neill und klang dabei ein wenig atemlos, »ist sie für die Idee eines Bündnisses nicht empfänglich. Ich selbst bin der Meinung, sie verschätzt sich, was die Macht Ihrer Hohen Meister betrifft.« Seine Haut schien so unversehrt wie zuvor, aber Tam bemerkte, dass sein Gesicht die Kantigkeit verloren hatte, das Kinn kürzer geworden war und sein Gesicht jetzt zur Gänze menschlich war.
»Kommen Sie mit nach draußen«, sagte Neill abrupt. »Ich weiß, Sie haben das noch nie gesehen. Und ich weiß, dass es jetzt genau das ist, was ich sehen muss. Es schenkt mir Kraft.«
Beklommen folgte Tam ihm nach draußen, und mit noch größerer Beklommenheit stieg er hinter ihm die letzte Treppenflucht zu den Zinnen des Erdbaus hinauf. Um sich herum konnte er die zerknitterten Hügel schlafender Schattengeborener sehen, ein jeder mit einer Matte als Matratze und mit zusammengefalteten Flügeln als Decken. Er spürte, wie Neills Magie um sie herum besänftigend aufflackerte. Am Vorsprung des Erdbaus, an den er nicht allzu nah herantrat, deutete Neill gen Osten. Der bei ihrer Begegnung so dunkle Himmel hatte entlang des Horizonts den kobaltblauen Ton eines edlen Glases angenommen und war mit Wolken drapiert. »Tagesanbruch«, sagte Neill.
»Ich habe den Tagesanbruch schon einmal gesehen«, erwiderte Tam. Er würde keine Geschenke von diesem Mann annehmen, der ein derart grausamer Widerspruch in sich war.
Neill sah ihn an. »Nicht so, möchte ich meinen. Genießen Sie es. Es könnte unser letzter sein.«
Eine Welle von Magie erhob sich unter ihnen, und eine Jungenstimme schrie rau. Neill schloss in mitfühlendem Schmerz die Augen. »Ich muss gehen. Sie bleiben. Niemand wird Sie stören. Maifliege!« Der gerufene Wolf schob sich wie ein eifersüchtiges Kind zwischen sie. »Sorg dafür, dass niemand es tut.«
Neill hatte recht. Von dieser Seite des Sonnenaufgangs war der Tagesanbruch erstaunlich – das durchscheinende Gelb, das intensive Orange und der blendende Durchbruch von Sonnenlicht. Artarian hätte hier sein sollen, und Beatrice hätte diese Farben haben sollen, um ihre Töpfe zu glasieren. Fejelis hätte das Geschehen mit seinem gewohnten Interesse an allem Neuen beobachtet. Sein Sohn hätte zweifellos versucht, sich von den Zinnen zu stürzen oder in den Schlund eines Wolfs. Er wischte sich über sein Gesicht. Wie konnte ein so schöner Anblick solche Verzweiflung heraufbeschwören?
Neill kehrte zurück. Er ging die Treppe hinauf und wirkte unaussprechlich erschöpft, aber zu Tams eigenartiger Erleichterung wies er keinerlei körperliche Verletzungen auf. Der Magier der Bestien legte Maifliege eine Hand auf den Rücken und beugte sich kurz vor. »Sie hat den Jungen zurückgeholt«, sagte sie. »Sie braucht seine Macht. Und er wollte geheilt werden.«
Er richtete sich auf und drehte sich zu Tam um. Sein Gesicht wurde zur Hälfte von der frischen, orangefarbenen Sonne erleuchtet, die andere Hälfte lag im Schatten. »Sie haben gefragt, warum Atholaya zu klein für Emeya und Isolde ist, und warum Emeya neues Land braucht. Wie ich Ihnen erklärte, verankerten Imogene und die anderen den Fluch in Kindern. Nun bedenken Sie, dass Magie oft erst in seiner späten Jugend oder danach reift. Selbst magiegeborene Kinder hätten nicht die Stärke, eine Magie wie die des Fluchs aufrechtzuerhalten, deshalb musste Imogene diese Kinder verändern. Wir glauben, Isolde steht kurz vor der Wiederentdeckung, wie Imogene das gemacht hat – mit Ariadnes Hilfe. Vielleicht ist es ihr sogar schon gelungen. Sollte sie Erfolg haben, wird sie Emeya vernichten.«
»Und warum«, fragte Tam rau, »wäre das schlimmer, als Emeya«, und Ihnen, fügte er im Stillen hinzu, »zu erlauben, ungehindert fortzufahren?«
Neill warf ihm einen sehr langen Blick zu. »Aus diesem Grund: Was glauben Sie, auf welche Weise so viele von Isoldes eigenen Kindern und Enkelkindern gestorben sind?«
Telmaine
Jede Zugfahrt mit Vladimer scheint länger zu dauern als die vorangegangene, dachte Telmaine. Sie und Vladimer hatten nicht einmal das Abteil für sich allein. Fünf Offiziere der Strumheller’schen Truppe waren mit hineingezwängt worden. Sie sollte dankbar sein, dass sie im Gegensatz zu Vladimer nur neben zwei Männern saß und nicht neben dreien. Der Boden war schlammig, klebrig und übersät von Fetzen geölten Tuchs, seltsamen Kugeln und Zeitungsschnipseln. Als der Zug sich einen Hügel hinaufmühte, rutschte ein Flachmann unter ihrem Sitz hervor und prallte von ihrem Fuß ab, bevor er unter die Bank gegenüber glitt. In regelmäßigen Abständen tauchten er oder anderer Müll erneut auf. Das Abteil war zu überfüllt, als dass jemand hätte danach greifen können. Die Luft stank nach verschwitzten Männern, Seife, altem Rauch, feuchter Wolle, Öl und Munition. Der Waggon war nicht für eine Reise bei Tag entworfen worden, daher mussten alle Luftschächte geschlossen werden.
Vladimer und die Männer wirkten völlig ungerührt. Sie planten und fochten verbal Schlachten aus, genau wie ihre Brüder und deren Freunde es auf diesen unendlichen Sommerreisen zum Anwesen und wieder zurück getan hatten. Es fehlte nur noch ihre Schwester Merivan an ihrer Seite, die ihre Finger erhob, um Telmaine zu kneifen, sollte sie versuchen, an dem Gespräch der Jungen teilzunehmen.
Ishmael, dachte Telmaine gereizt, würde nicht die ganze Zeit mit Reden verschwenden. Ishmael war praktisch veranlagt. Er würde seine Waffen vorbereiten, seine Leute beruhigen und dann schlafen. Sollte Vladimer sich doch in Rage reden – sie hatte das Gefühl, dass das eben seinem Naturell entsprach –, aber Telmaine würde Ishmael nacheifern. Sie bewegte sich, bis ihr Kopf mit unbequem hochgezogenen Schultern mehr oder minder an der Wand des Abteils lehnte, dann atmete sie langsam ein und aus. Das erinnerte sie an Balthasars Bemühungen, sie vor der Geburt der Mädchen zu hypnotisieren. Wenn alles vorüber war – und sie musste glauben, dass es irgendwie vorübergehen würde –, würde sie etwas ganz Alltägliches tun, das nichts mit Magie zu tun hatte. Vielleicht noch ein Kind bekommen?
Sie nahm den Geruch von Zitronentee wahr, der durch die Ausdünstungen der in den Krieg ziehenden Männer trieb.
Ishmael saß auf dem Boden eines Zugabteils und reinigte seine Waffen. Sie konnte die große Hitze spüren, die von ihm ausging, gerade so, als sei er frisch in Ton gebrannt und zum Abkühlen hinausgestellt worden. Er hob nur langsam den Kopf, als sie das Wort an ihn richtete. Und seine Waffen waren seltsam. Gab es so etwas wie ein Gewehr mit zwei Läufen? Die Waffe konnte nicht ganz richtig sein, da sie in beide Richtungen zielte. Er hob den Kopf und peilte sie mit einem schrecklichen Bedauern. Dieser Gesichtsausdruck war ganz anders als jeder, den sie je an ihm gesehen hatte, und dann drückte er ab. Sie beobachtete, wie er fiel, so wie der Mann auf dem Bahnsteig, als der Pfeil aus Vladimers Gehstock ihn in den Bauch getroffen hatte. Sie berührte ihren Unterleib und spürte, wie ihre Hände in die Wunde sanken, die er ihr zugefügt hatte.
Eine Männerstimme erklang: »Prinzessin, geht es Ihnen gut?«
Ihr Bewusstsein kehrte wieder ins Abteil zurück, ihr Gesicht war nass von Tränen. Einer der Männer reichte ihr ein Taschentuch, das sauber und von guter Qualität war, aber dem der Geruch von allzu häufigem Waschen anhaftete. Sie nickte trotzdem dankbar und tupfte sich das Gesicht ab. »Ich hatte einen schlimmen Albtraum«, flüsterte sie. Die Männer murmelten einige verständnisvolle Worte, obwohl sie ahnte, dass sie nicht verstanden.
»Wir sind gleich da«, sagte der Mann, der ihr sein Taschentuch gespendet hatte. »Die Sonne ist bereits aufgegangen.«
Nachdem Ishmael sie beschenkt und versucht hatte, ihr durch die Berührung ihres Geistes seine magischen Fähigkeiten zu übermitteln, hatte sie seine Träume geträumt, war durch die Schattenlande gelaufen und hatte Schlachten aus seinen Erinnerungen ausgefochten. Aber selbst als im Gefängnis sein Leben in Gefahr gewesen war, hatten seine Träume niemals sie oder ihn selbst bedroht, und waren auch nie derart verzweifelt gewesen.
Oder hatten so vor Magie gelodert. Wenn sie eines verstand, dann dass er Hilfe brauchte.
Aber sie konnte die Männer hier nicht in Gefahr bringen, indem sie in einem derart beengten Raum, der nur durch die Seitenwand eines Zuges vom Tageslicht getrennt war, Magie benutzte, auch wenn sie sich sicher war, dass Vladimers Schuss diesmal sein Ziel nicht verfehlen würde. Zudem verspürte sie keinen besonderen Wunsch zu sterben. Sie verschränkte ihre behandschuhten Hände ineinander und ertrug die letzten, unendlichen Minuten, als der Zug vor dem Bahnknoten Stranhornes stillstand, um die lichtgeborenen Wachen absteigen zu lassen. Sie lauschte auf den gerufenen Wortwechsel zwischen den Lichtgeborenen draußen und den Nachtgeborenen drinnen. Die alltägliche Unbefangenheit des Ganzen hätte Balthasar ermutigt.
Im Gegensatz zu Strumheller verfügte der Bahnknoten Stranhorne über einen geschlossenen Bahnsteig mit Türen, die sich aus sicherem Abstand bedienen ließen. Ausgerechnet Vladimer hielt inne, um ihr beim Aussteigen zu helfen – aber nur um sich dicht zu ihr vorzubeugen und zu fragen: »Was spüren Sie?«
Was sie spürte, war … überwältigend. Menschen – Nachtgeborene – drängten sich dicht auf und unter dem Bahnsteig, außerhalb des Bahnhofs und auf der anderen Seite der Gleise. Tausende von ihnen befanden sich in nächster Nähe und waren verletzt, in Trauer, grimmig, entschlossen, verängstigt und verständnislos. Sie taumelte, und er musste sie stützen. »Schattengeborene?«, zischte er.
»Nein, das ist es nicht.« In dem ganzen schockierenden Miasma von nachtgeborenen Empfindungen und ihrem Leid war kein schattengeborener Makel zu spüren. »Nur Nachtgeborene. Es sind so viele.«
»Gut, kommen Sie mit mir. Und sagen Sie Broomes Leuten, dass sie uns folgen sollen.«
Sie tat es zaghaft, wohl wissend, dass Phoebe Broome weder ihre Anwesenheit noch ihre Benutzung von Magie auch nur ansatzweise gutheißen würde, aber sie erhielt keinen Tadel. Vladimer ging selbstbewusst über die verzogenen, knarrenden Bretter des Bahnsteigs auf etwas zu, das sich als eine Treppe aus bröckelnden Steinen entpuppte, die mit Metall verkleidet worden waren. Er war schon einmal hier gewesen. Über seine Schulter sagte er: »Dies war eine der ersten Siedlungen, die nach der Trennung wieder errichtet wurde. Hier gibt es viele unterirdische Lagerhäuser und Keller, die ursprünglich als Lager und zum Schutz gegen Plünderungen benutzt wurden, unmittelbar nach der Trennung dienten sie jedoch den Nachtgeborenen als Zuflucht.«
Telmaine erinnerte sich an seine Führung durch den erzherzoglichen Palast in Minhorne, als sie zusammen zu Floria Weiße Hand gegangen waren, um sie zu befragen. Sie wollte nicht undankbar sein, aber sie hoffte, dass dies nicht genauso werden würde, Vladimers Vorlieben für Anekdoten neigten zum Makaberen. »Hat Ishmael Ihnen davon erzählt?«
»Nein, Maxim di Gautier, während er über die Privatbibliotheken des Palastes herfiel … Nach der Trennung haben die Stranhornes die Tunnel zwischen den Räumen ausgedehnt und weitere eröffnet. Das Tunnelsystem ist ziemlich weitläufig. Falls Stranhorne den Rückzug antreten muss, gäbe es keinen besseren Ort dafür.«
Telmaine dachte an die Brände der Schattengeborenen und erwiderte nichts darauf. Sie konnte spüren, wie die Magier eilig hinter ihnen herkamen. »Wohin gehen wir?«
»Dorthin, wo wir vermutlich den Zuständigen finden werden.«
Bretter und Läufer markierten die Passage durch den überfüllten, unterirdischen Raum unter dem Bahnsteig. Bretter und Steinblöcke waren zu groben Raumteilern und Möbeln zusammengestellt worden und erlaubten es Erwachsenen, sich hinzusetzen, und den Kranken und Müden, sich niederzulegen, während Kinder zwischen den Gruppen umherwuselten und das Fangspiel »Soldat und Schattengeborene« spielten. Der freie Durchgang übte natürlich eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus. Drei Bengel rannten den Durchgang entlang und hätten ohne Farquhar Broomes Eingreifen Vladimer und Telmaine gerammt. Als ob ihnen die Luft ausgegangen wäre, taumelten sie gegen einige Karten spielende Männer, die sich mit Gebrüll aufrichteten und ihnen Ohrfeigen versetzten. In verspäteter Hektik eilten Schwestern und Mütter den Kindern zu Hilfe. Ungeniert ließ Vladimer zu, wie ein Streit zwischen den Parteien entbrannte, und führte sie durch einen Tunnel unter den Eisenbahngleisen.
Vielleicht muss ich mir um Brände keine Sorgen machen, dachte Telmaine, als sie die Feuchtigkeit roch.
Sie kamen in einer runden Bahnhofshalle wieder zutage, die aussah wie eine Miniaturausgabe des Bolingbroke-Bahnhofs in Minhorne. Doch während der im letzten Jahrhundert erbaut worden war, musste dieser, nach den rauen Steinen und dicken Mauern zu urteilen, viel früher entstanden sein. Die meisten Verkaufsstände entlang des äußeren und inneren Rings der Bahnhofshalle waren verschlossen und verbrettert gegen das Gedränge von Flüchtlingen, aber bei einigen waren die Bretter herausgehauen und sogar die Kassen gestohlen worden.
»Mein lieber Junge«, hörte sie Farquhar Broome von hinten sagen, »wohin gehen wir?«
Vladimer streckte die Hand aus. »Nach oben.« Über ihr konnte Telmaines Sonar den Rand einer Galerie und das harte Echo von eisernen Geländern ausmachen.
Sie drängelten sich mit einiger Mühe am Rand der Eingrenzung entlang, da nicht alle den Durchgang frei hielten. Im Gegensatz zu Vladimer, der seine erklärte Absicht in die Tat umsetzte, jeden in den Militärdienst zu pressen, den er auf seinem Weg liegend vorfand, und dabei keine Ausreden gelten ließ. Nach den ersten drei Männern lief eine Welle der Warnung an der Eingrenzung entlang, und alle, die dort nichts zu suchen hatten, huschten davon.
Auf der Galerie fanden sie die Verteidiger vor, von denen einige bereits schliefen. Sie lagen ausgestreckt mit den Waffen in Reichweite auf Matten, Taschen und Bündeln. Jene, die wach waren, reinigten und reparierten ihre Waffen und Rüstungen, spielten Karten, unterhielten sich, teilten Rationen, Flaschen und Pfeifen ein, und machten es sich auch ansonsten bequem. Nach der unterirdischen Zuflucht und der Bahnhofshalle kam ihnen der Pfeifenrauch wohlduftend vor. Als sie die nächste Treppenflucht zu dem Stockwerk hinaufgingen, das sich direkt unter der Kuppel befand, blieben die Offiziere zurück, um Plätze für ihre eigenen Männer zu arrangieren.
Unter der Kuppeldecke fanden sie fünfzehn oder zwanzig Männer um einen runden Tisch versammelt, auf dem jemand etwas aus nassem Sand modelliert hatte. Telmaine nahm an, dass es ein Relief der Umgebung von Stranhorne war, die mit edlen Spielsteinen und grob geschnitzten Holzdübeln markiert war.
Fürst – nein, Herzog – Ferdenzil Mycene stützte sich mit den Ellbogen auf den Tisch. Er war klein genug, um es eher nach einer lässigen als nach einer erschöpften Pose aussehen zu lassen. Er wirkte ausgelaugt, was sie nie für möglich gehalten hätte. Die hochgewachsene junge Frau neben ihm war Baronesse Laurels Zwillingsschwester. Sie lehnte gegen den Tisch und stritt mit ihm. Ihre Stimme klang nach zu großer Beanspruchung heiser. Beide drehten sich um und peilten die Neuankömmlinge sichtlich erheitert, obwohl Mycenes Ausdruck der Erleichterung schnell einen säuerlichen Anstrich erhielt.
»Mycene«, begrüßte Vladimer den Herzog. »Baronesse Stranhorne.«
»Vladimer Plantageter«, sagte Mycene. »Welch Überraschung.«
»In der Tat. Auf ein Wort, Mycene, wenn ich bitten darf.« Er nahm den Mann zur Seite.
Für einen Moment verspürte Telmaine Mitleid mit Mycene. Ihre Wahl wäre nicht auf Vladimer gefallen, um einem Mann die Nachricht vom Tod seines Vaters zu überbringen. Erst recht nicht, wenn sie die Gerüchte über die Frage, wer Vladimers Vater sein mochte, und die Feindlichkeit zwischen ihm und Mycene bedachte. Ihr Sonar fing Mycenes Bewegung auf, als er den Kopf in eine behandschuhte Hand sinken ließ und sich abwandte. Da er einst ihr Verehrer gewesen war, den ihre Familie von Herzen billigte, hatte sie seine Gedanken durch eine Berührung gelesen, um zu erkennen, ob sie ihn lieben konnte. Daher wusste sie um den Zorn, den er für seinen tatkräftigen und ehrgeizigen Vater hegte. Aber es sind gerade jene mit ihrer großen, gierigen Lebenskraft, die so viel von den Menschen in ihrem Umfeld verzehren, dass sie die größte Leere zurücklassen.
Die Baronesse fragte: »Was ist passiert?« Überrascht peilte Telmaine Sorge in ihren Zügen, obwohl sie doch eben gestritten hatten.
»Vladimer sagt ihm gerade, dass sein Vater gestorben ist.«
»Sachevar Mycene?«, krächzte Lavender. »Wie?«
»Es war ein Schattengeborener«, antwortete Telmaine. Zumindest hier würde niemand abstreiten, dass sie existierten.
»In der Stadt?«, wollte einer der Männer wissen.
Vladimers Rückkehr rettete sie vor weiteren Fragen. Ferdenzil Mycene folgte ihm, obwohl sich Telmaine fragte, wie viel er jetzt wohl noch mitbekommen mochte. Seine Miene wirkte angespannt und benommen. Sie selbst hörte kaum etwas von Vladimers Berichterstattung an die Stranhornes und bekam nur geringfügig mehr mit, als ein wortgewandter Mann mit Schurkengesicht, der als der Stranhorne’sche Anwalt vorgestellt worden war, seinerseits Vladimer über die Ereignisse in Stranhorne informierte, nachdem sie gehört hatte, dass es keine Nachricht von Ishmael gab.
Die Stranhornes und ihre Verstärkungen hatten den größten Teil der Nacht damit verbracht, das Gebiet zu durchkämmen, Überlebende einzusammeln und umherstreifende Schattengeborene zu töten. Gerüchten zufolge hatte die schattengeborene Hauptstreitmacht ein Bollwerk östlich von Stranhorne errichtet. Das, dachte sie, hätte ich ihnen auch sagen können. Und wären sie auf die Idee gekommen, die Magier zu fragen, hätte auch Farquhar Broome es ihnen gewiss sagen können. Also bestand für sie keine Notwendigkeit zu bleiben. Leise und – wie sie hoffte – unbemerkt, schob sie sich zwischen Vladimer und Mycene hindurch und raffte ihre Röcke, damit sie nicht raschelten.
Ein schwacher Peilruf umriss den Raum unter der Kuppel. Zwei schwere, verriegelte Außentüren schlossen bündig mit der Kuppel ab und mussten nach draußen führen, aber durch vier weitere Türen schien man in andere Innenräume zu gelangen. Sie versuchte, eine Tür zu öffnen, aber sie war verschlossen. Nachdem sie sich aus dem Hinrichtungsraum befreit hatte, konnte sie sehr gut mit Schlössern umgehen, aber das würde jetzt Magie erfordern und Aufmerksamkeit erregen. Die nächste Tür war jedoch unverschlossen. Sie öffnete sie, schlüpfte hindurch und stolperte prompt über einen Haufen Decken auf dem Boden, die vielleicht die Baronesse oder der Fürst beiseitegeschafft hatten. Die Luft war drückend, und die Wand heiß. Von der Sonne, begriff sie und schauderte leicht.
Aber der Raum würde genügen. Die Tür war einigermaßen massiv, und, wie Telmaine vermutete, lichtdicht. Für alle Fälle. Sie setzte sich auf einen hohen Schreibhocker vor dem Pult und schob mit einer Grimasse des Unbehagens das entflammbare Papier darauf zur Seite. Schnell, bevor sie sich eines Besseren besinnen konnte, rief sie sich das Gefühl ihres Traums und von Ishmael darin ins Gedächtnis zurück. Sie öffnete ihre Sinne, streckte ihre Magie aus und vertraute darauf, dass die Zuneigung zwischen ihnen die Verbindung ermöglichen würde, wie damals, als sie in der Stadt und er im Zug gewesen war.
›Ishmael?‹
Der Hitzeschwall riss sie brutal aus der Trance. Sie tastete und warf wilde Peilrufe umher, aber sie fand nichts Brennendes oder Schwelendes und roch auch keinen Rauch. Keuchend presste sie ihre Hände an ihr Mieder und rang nach Atem. Die Hitze strahlte von Ishmaels Seite. Wo seine Magie und die sie speisende Lebenskraft einst wie mit Asche bedeckte Kohlen gewirkt hatten, kamen sie jetzt einem Brennofen gleich. Es kostete sie all ihre Liebe, die sie für ihn empfand, um ihre Gedanken noch einmal zu öffnen. ›Ishmael di Studier. Ishmael.‹
Etwas regte sich in diesem Brennofen, etwas Vertrautes. Sie spürte, dass er versuchte, sich zu verständigen.
›Ishmael? Was ist mit Ihnen passiert?‹
Ein Wasserfall von Eindrücken und die Hitze scheußlicher, durch diese Glut tobender Magie stürzten auf sie ein. ›Ishmael‹, flehte sie, ›Sie tun mir weh.‹
Sofort wurde die Hitze gelöscht. Für einen schrecklichen Moment glaubte sie, dass er sich magisch überanstrengt hatte und gestorben sei. Doch sie spürte nichts von der schrecklichen Auszehrung und dem Schmerz, der ihr letztes Gespräch beendet hatte.
›Was tun Sie da?‹, fragte Phoebe Broome unweigerlich.
Telmaine biss die Zähne zusammen. Wie konnte es diese Frau wagen sich einzumischen, obwohl sie gesellschaftlich derart weit unter ihr rangierte?
›Ich mag gesellschaftlich unter Ihnen stehen, Prinzessin Telmaine …‹
›Ich habe mit Ishmael gesprochen.‹
›Ishmael? Das war Ishmael?‹ Auch sie brach die Verbindung ab – Magier hatten einfach keine Manieren. Dann spürte Telmaine die zarte Berührung von Farquhar Broomes Magie, und einen Atemzug später stand der Mann, gebückt unter der Wölbung der Kuppel, persönlich vor ihr. »Das war mutig von Ihnen, mein liebes Mädchen, aber nicht allzu klug.«
»Was ist mit ihm passiert? Er ist es doch, oder?«
»Natürlich. Seine Präsenz ist unverkennbar. Aber er muss eine bemerkenswerte Veränderung durchlaufen haben …«
›Telmaine.‹ Ein roher Hilferuf streckte sich ihr aus dem Brennofen entgegen. Trotz bestem Vorsatz hörte sie sich selbst vor Schmerz wimmern.
Farquhar Broome legte ihr eine Hand leicht auf den Kopf. Seine Magie umhüllte sie, und das Gefühl von Hitze und Druck verringerte sich. ›Mein lieber Junge‹, sagte er, ›seien Sie sanfter zu der Dame, wenn Sie so freundlich sein würden.‹
›Magister Broome?‹ Nun richtete sich dieser geschmolzene Strom von Eindrücken auf den Magier siebten Ranges. Farquhar Broome ächzte, taumelte rückwärts und glitt an der Wand zu Boden. Dann verschwand Ishmaels Präsenz ebenso abrupt, wie sie gekommen war. »Oje«, sagte der Erzmagier der Nachtgeborenen atemlos. »Das stellt in der Tat ein Problem dar.«
Sie ließ sich von dem Hocker gleiten und kniete sich neben ihn. »Hat er Ihnen erzählt, was ihm zugestoßen ist?«, fragte sie drängend. »Können wir ihm helfen?«
»Meine liebe Dame«, antwortete Farquhar Broome. Sie spürte ein Zucken in ihrer Tasche, und ihr geliehenes Taschentuch sprang in seine Hand. Er wischte sich damit die Stirn ab und gab es ihr mit einem einfältigen Lächeln zurück. Ihr fiel nichts anderes ein, als zu sagen: »Es ist schmutzig.«
Die Tür flog auf, und Phoebe Broomes Peilruf traf sie. Einen Moment herrschte ein vielsagendes Schweigen, dann fragte die Magierin mit beherrschter Stimme: »Vater, was genau war das?«
Farquhars Lächeln wirkte plötzlich viel weniger einfältig und sehr unglücklich. »Das war unser Freund Ishmael, mein liebes Mädchen. Soweit ich seine Situation verstehe, wird er von einer der beiden Magierinnen gefangen gehalten, die noch aus der Zeit stammen, als der Fluch gewirkt wurde.«
»Das ist …« Sie besann sich eines Besseren, als »unmöglich« zu sagen.
»Es scheint mir, sie hat erfolgreich versucht, Ishmaels magische Stärke zu vergrößern.« Er hob eine Hand. »Helft mir auf.«
Phoebe und der in den Grenzlanden geborene Magier, der zuvor mit dem Kutscher gestritten hatte, hoben ihn hoch. Zittrig sagte er: »Es war eine ziemlich brutale Prozedur und wäre bei einem weniger robusten Mann gescheitert. Wie Sie gespürt haben, hat er die Magie kaum unter Kontrolle.«
»Aber er hat doch mit uns die Magie studiert«, wandte der Magier aus den Grenzlanden ein.
»Mein lieber Junge, all seine Bemühungen zielten darauf ab, die Wirkung seiner wenigen Magie zu verstärken. Selbst unter den denkbar günstigsten Umständen würde es dauern, sich darauf einzustellen.«
»Wurde er verhext?«, fragte Phoebe entsetzt.
Ihr Vater wandte sich ihr zu. »Das konnte ich nicht erkennen.« Er stützte sich kurz am Türrahmen ab und schob sich dann hindurch. Vladimer wartete mit Mycene und der Baronesse an seiner Seite vor dem Raum. »Ich denke, Fürst Vladimer«, sagte Farquhar zu Vladimer, »ich muss Sie bitten, rasch nach unten zu gehen, und den Bereich zwischen den Stockwerken abzuriegeln.«
»Was ist passiert?«
»Mit Ihrer Erlaubnis«, erwiderte der Magier, »es wird schneller gehen, wenn ich es Ihnen einfach zeige.«
Vladimer peilte ihn und nahm wahr, dass Farquhar jede Exzentrik und Schrulligkeit abgelegt hatte. Vladimers Schultern spannten sich an, dann stieß er die geballte Faust in Farquhars Richtung, der seine Hand leicht darum schloss. Auf Vladimers Zügen zeichnete sich Erschrecken ab. »Ishmael?«
Farquhar drückte seine Hand und ließ sie los. »Ich fürchte, es ist so, mein lieber Junge. Erklären Sie es den anderen.«
»Denken Sie, Sie können …«
»Ich? Das bezweifle ich. Aber möglicherweise bin ich mithilfe meiner Lieben hier in der Lage, Ishmael zu geben, was er braucht, und vielleicht könnte mir gestattet werden, mit den Lichtgeborenen zu sprechen. Es ist wahrscheinlich sicherer für alle Unbeteiligten, sich nicht in der Nähe aufzuhalten, wenn Sie verstehen?«
Natürlich verstand Vladimer, nachdem er am Frühstück des Erzherzogs teilgenommen hatte. »Wenn Sie nicht stark genug sind«, sagte Vladimer eindringlich, »dann befehle ich Ihnen zu warten, bevor Sie irgendetwas unternehmen. Es hat keinen Sinn, dass Sie sich und Ihre Leute in Gefahr bringen. Fejelis dürfte inzwischen den Palast erreicht haben. Geben Sie ihm Gelegenheit, zu den Hohen Meistern durchzudringen.«
Farquhar bedachte ihn mit einem breiten Lächeln. »Ich werde es ganz gewiss versuchen. Jetzt gehen Sie bitte nach unten.«
»Aber …«, wandte Lavender di Gautier heiser ein.
»Husch, husch!«, sagte Farquhar mit entsprechenden Gesten.
Vladimer zögerte, und auf seinem Gesicht spiegelte sich eine seltsame Mischung aus Ärger und Hilflosigkeit wider. Dann sagte er über die Schulter an die anderen gewandt: »Nach unten. Ich werde alles erklären.« Sein Sonar streifte Telmaine. »Prinzessin Telmaine?«
Sie schüttelte energisch den Kopf, ihrer Stimme traute sie nicht. Ishmael brauchte sie, und zwar jetzt umso mehr, weil die Magier, die er als seine Freunde betrachtete, ihn anscheinend als eine Gefahr gebrandmarkt hatten, wenn nicht gar als einen Feind. Das hatte er nicht verdient. Sie stand angespannt da und machte sich auf einen Widerspruch gefasst, als Vladimer Mycene, die Baronesse und ihre Männer die Treppe hinunterführte.
»Meine Lieben«, hob Farquhar Broome zu sprechen an, dann brach er ab und breitete hilflos die Hände aus.
»Schon gut, Vater.«
»Es ist nicht gut.« Telmaine spürte das schnelle und verschlüsselte Zwischenspiel von Magie zwischen ihnen, und fühlte sich einmal mehr von ihnen ausgeschlossen. Aber diesmal maß sie sie ab, verglich deren Magie mit diesem Inferno, das sie von Ishmael gespürt hatte. Sie konnten es nicht mit ihm aufnehmen – das verriet ihr Farquhar Broomes Verhalten. Aber wenn Ishmael sie vernichtete, könnte er sich damit selbst töten. Sie musste an den Traum denken. War er eine Warnung gewesen?
›Setzen wir uns‹, sagte Farquhar Broome. Ohne Rücksicht auf ihren Rang verteilten sie sich im Raum, suchten sich Stühle, Hocker und Truhen und setzten sich hin. Für Telmaine blieb nur ein Hocker, auf dem sie Platz nahm und ihre Röcke um sich herum ausbreitete.
›Ich werde ein letztes Mal versuchen, Kadar zu erreichen‹, sagte er, ›aber ich werde mich nicht dabei verausgaben. Wenn sie ihre Entscheidung getroffen haben, dann soll es eben so sein.‹ Er sprach, wie sie begriff, von dem lichtgeborenen Tempel. War Kadar der Erzmagier? ›Einen Moment, meine Lieben.‹ Sie konnte spüren, wie er seine Magie sammelte und formte, wie er Lebenskraft zu Energie umwandelte, um sie mit einer sicheren, zarten Berührung über weite Entfernung auszustrecken, ohne einen Hauch Lebenskraft zu vergeuden. Wie alt mag er sein?, fragte sie sich. Hundert Jahre? Zweihundert? Noch älter?
Er atmete aus und schüttelte den Kopf. ›Nein, es hat keinen Sinn. Man kann nur darauf vertrauen, dass sie ebenfalls in der Lage sind, sich gegen die Schattengeborenen abzuschirmen, oder alles wäre umsonst gewesen. Wir sollten uns nun sammeln. Und dann, liebes Mädchen‹, bemerkte er zu Telmaine, ›werde ich Sie bitten, noch einmal zu versuchen, Ishmael zu erreichen. Ich denke, von uns allen ist es am unwahrscheinlichsten, dass er Ihnen Schaden zufügen wird. Obwohl das nicht bedeutet, dass Sie in Sicherheit sind.‹
Niemand, der diesen Brennofen von Magie spürte, hätte auf diesen falschen Gedanken verfallen können.
Der Gedanke sickerte zu ihr durch, Farquhar Broomes Gesicht, das einem verrunzelten Apfel glich, verzog sich zu einem Lächeln.
Telmaine holte tief Luft, um sich zu beruhigen, und flüsterte dann: ›Ishmael.‹
Diese Hitze, diese überwältigende Hitze. Auch wenn sie wusste, dass sie nicht körperlich war, änderte es nichts an dem, was sie fühlte. Aber in dieser Hitze konnte sie seine Wachsamkeit spüren, seine lauschende Präsenz. Darauf konzentrierte sie sich. ›Ishmael, ich bin es, Telmaine. Was können wir tun, um Ihnen zu helfen?‹
Es kamen keine Worte und kein Versuch einer Unterhaltung. Schreckte er zurück, um sie nicht zu verletzen? Wenn sie doch nur hätte vorgeben können, dass seine Magie keine Wirkung auf sie hatte. ›Ishmael, Magister Broome und seine Freunde sind bei mir.‹ Sie zögerte, aber dies war tatsächlich Ishmael. Er konnte nicht ihr Feind sein. ›Wir sind am Bahnknoten von Stranhorne und gerade angekommen. Balthasar lebt noch, aber er wurde von einem der Schattengeborenen als Gefangener nach Minhorne gebracht. Dann ging er als Gesandter an den lichtgeborenen Hof. Laut Telegramm ist er mit einer Verhexung belegt worden, die ihn gegen Licht schützt.‹ Er würde gewiss spüren, welche Angst sie um Balthasar hatte, wie verzweifelt sie sich wünschte, all dies möge vorüber und er in Sicherheit sein – dass sie alle in Sicherheit wären. ›Ishmael, dies ist wichtig: Der lichtgeborene Tempel hat einen Repräsentanten geschickt, Magister Tammorn, einen mächtigen Wildschlag … Wissen Sie, dass Magier aus den Blutlinien schattengeborene Magie nicht spüren können? Der Tempel hat Magister Tammorn zu den Schattengeborenen geschickt. Wir denken, sie wollen ein Bündnis.‹
›Wie bitte?‹
Das war nicht Ishmael. Sie schreckte schnell zurück, aber nicht schnell genug. Magie spaltete ihren Geist wie die Samenhülse, ergoss sich und stocherte durch die Kerne darin: Ihre Begegnungen mit den Schattengeborenen, mit Tammorn, mit Vladimer, Fejelis, dem Erzherzog, Ishmael. Verschwommen nahm sie das Auflodern von Ishmaels Entrüstung und noch verschwommener Farquhar Broomes Bemühungen wahr, sie zu erreichen. Die Schattengeborene – es war eine Frau – sagte nachdenklich: ›Er würde also für Sie kämpfen, ja? Das kann ich benutzen.‹
Und sie spürte, wie sich die schattengeborene Magie wie ein großes Laken über sie legte, und sie gehoben wurde.