Montag
Ein kalter Wind wehte über den Kirchberg am Montagvormittag, die Wolken hingen tief, es wollte nicht Tag werden. In einer Ecke des Friedhofs, dort wo die ältesten Gräber lagen, sah man ein hell erleuchtetes Zelt, in dem sich verschiedene Gestalten hin und her bewegten. Sie waren seit Stunden an der Arbeit. Nick Baumgarten trat aus dem Zelt und telefonierte. Nach ein paar Minuten bewegte sich aus der Richtung des Parkplatzes eine Gruppe von drei Männern und zwei Frauen auf das Zelt zu und trat ein.
„Wir haben Patrizia Obrist gefunden“, sagte Nick, „sehen Sie, da unten liegt sie, zusammengerollt wie ein kleines Kind.“ Er liess den Strahl seiner Taschenlampe über das Skelett gleiten. „Und hier, an der einen Seite des Schädels, liegt der Ohrring, Silber mit Türkis. Gion Matossi muss ihr den anderen abgenommen haben, bevor Sie sie in das offene Grab warfen.“
„Nicht warfen“, protestierte Paul Hintermeister, „wir behandelten sie sanft. Sie sah ganz friedlich aus, als ob sie schliefe. Gion und ich hoben sie auf und gaben sie an Aschi weiter, der im Grab stand. Er legte sie hin und deckte sie mit Erde zu.“
„Wir mussten unbedingt vermeiden, dass jemand an der Beerdigung am nächsten Tag etwas merkte“, sagte Maja Studer. „Sie sollte für immer verschwunden bleiben, und ohne Gions unsägliche Gewissensbisse wäre sie das auch.“ Bitterkeit lag in ihrer Stimme, und Resignation.
„Heilige Mutter Gottes, bitte für uns.“ Ernesto De Cicco bekreuzigte sich. „Es tut mir Leid für die Familie des Mädchens.“
„Kommen Sie.“ Angela öffnete die Zeltplane und liess den anderen den Vortritt.
„Und jetzt?“ fragte Maja Studer draussen auf dem Friedhof. Sie fror, hatte kaum geschlafen in der Zelle.
„Sie können alle nach Hause gehen“, sagte Nick emotionslos, „die Geschichte ist zu lange her. Aber kommen Sie mir nie mehr unter die Augen.“ Er stapfte davon durch den zertrampelten Schnee.
Peter und Angela zögerten einen Augenblick, ehe sie ihrem Chef folgten. „Und Matossi?“ zischte Peter aufgebracht, „den hat doch garantiert die Studer umgelegt. Er lässt sie einfach laufen!“ Angela hob die Schultern und liess sie wieder fallen. „Er glaubt ihr, und er glaubt an den angekündigten Selbstmord in den Aufzeichnungen von Gion Matossi. Wahrscheinlich hat er Recht, wie immer.“
*
Auf dem Friedhof Kirchberg blieben drei durchfrorene, einsame Menschen zurück, die vor dreiundvierzig Jahren den toten Körper von Patrizia Obrist in ein offenes Familiengrab gelegt hatten.
Als Maja Studer, Paul Hintermeister, Kurt Fritschi und Gion Matossi ihre Schulfreundin frühmorgens im Schlafraum der Waldhütte leblos vorfanden, erstickt an ihrem Erbrochenen, gerieten sie in Panik. Statt den Rettungsdienst oder die Polizei zu rufen, luden sie die Leiche in ein Auto und fuhren zum Friedhof, wo ihnen Kurt Fritschis Fussballfreund Aschi half, das Mädchen zu beerdigen. Sie glaubten, ihre Zukunftschancen würden zerstört, wenn jemand von dem gemeinsamen Drogentrip erfuhr, der für eine von ihnen so schrecklich schiefgegangen war. Wie zerstörerisch ihr Verhalten wirklich war, erlebten sie seither jeden Tag am eigenen Leib.
Gion Matossi, damals der Anführer ihrer Clique, hatte alles fein säuberlich aufgeschrieben. Er glaubte, dass ihm ein langsamer Abstieg in die Demenz bevorstand und entschied sich, reinen Tisch zu machen. Ernesto 'Aschi' De Cicco war einverstanden, Kurt Fritschi auch; Paul Hintermeister wusste nicht so recht, was er davon halten sollte; nur Maja Studer war strikte dagegen. Sie fuhr von St. Moritz nach Aarau, um ihren Exmann von seinem Vorhaben abzubringen, aber er blieb stur. Sie müsse ihn schon erschiessen, um ihn davon abzuhalten; er gab ihr sogar seine Pistole und forderte sie auf, abzudrücken. Sie stritten sich lange und lautstark in seiner Wohnung, aber die Diskussion war fruchtlos, und Maja Studer fuhr unverrichteter Dinge wieder zurück ins Engadin.
Gion Matossi beendete seine Aufzeichnungen, steckte die Parabellum mit den Abdrücken seiner Exfrau in die Aktentasche und ging zu Fuss hinüber ins Finanzdepartement. Dort trat er ab, mit einem lauten Knall.