Montag

Toter Steueramtschef – Aargauer Polizei tappt im Dunkeln.

Die Schlagzeile im nationalen Boulevardblatt war schwarz und fett, und irgendwer hatte ein Portrait von Nick gekonnt in ein Foto irgendeines blutigen Tatorts hineinmontiert. „Alles erstunken und erlogen“, ereiferte sich Peter Pfister, „aber gedruckt ist gedruckt, und wir haben wieder mal eine Zwei am Rücken. Die Journalisten haben ja keine Ahnung davon, wie es bei uns wirklich zugeht.“

„Reg dich nicht auf, Peter“, antwortete Angela, „es ist sinnlos. Sie schreiben das, was die Leser wollen oder was in ihr eigenes Weltbild passt, und in ihren Augen sind wir Versager. Lassen wir sie schreiben und kümmern wir uns darum, ihre Schlagzeilen zu widerlegen.“

„Welche Schlagzeilen?“ Nick kam ins Büro und Peter hielt ihm die 'Blick'-Titelseite unter die Nase. „Ach ja, ähnlich wie gestern in der Sonntagspresse. Kein Körnchen Wahrheit, dafür Prügel für die Polizei und Häme für den rückständigen Kanton Aargau. Ich kann mich darüber nicht mehr aufregen. Wer will einen Kaffee?“ Er machte sich an der Espressomaschine zu schaffen, die er aus der eigenen Tasche bezahlt hatte; Angela hatte eine Bezugsquelle für gute Kaffeebohnen, Peter sorgte für Milch und Zucker, und alle drei schätzten es, dass sie sich nicht mit dem üblichen faden Automatengetränk zufrieden geben mussten.

Nick blätterte in Matossis Agenda und seufzte. „Hauptsächlich geschäftliche Termine, mit Ausnahme der ärztlichen Untersuchungen, die wir schon kennen. Er hat offensichtlich seine privaten Abmachungen nicht in dieser Agenda notiert, oder überhaupt nirgends. Wenn wir nur diesen Laptop hätten!“

„Ich bin nicht sicher, ob uns das in Sachen Privatangelegenheiten weiterhelfen würde“, sagte Angela. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass jemand in seiner Position die persönlichen Kontakte, Termine und ähnliches auf dem Laptop des Arbeitgebers speichern oder seine Bankgeschäfte darüber abwickeln würde. Matossi muss noch ein Notebook und einen Blackberry oder so irgendetwas gehabt haben, davon bin ich überzeugt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber wo könnte es sein, wenn wir es weder in seiner Aktentasche noch in der Wohnung gefunden haben?“ Sie gab sich die Antwort gleich selbst: „Entweder gestohlen oder irgendwo im der Steueramt. Es muss doch möglich sein, dort zu suchen, oder nicht?“

„Ja, ich glaube schon, wenn wir den Leuten klar machen, dass wir nur an seinen privaten Unterlagen interessiert sind“, sagte Nick, „aber ohne Einverständnis von Gody geht es trotzdem nicht. Ich frage ihn gleich mal.“ Er verliess das Büro und kam nach ein paar Minuten mit einem zufriedenen Ausdruck auf dem Gesicht wieder. „Der Chef hat sich beruhigt; wir dürfen hingehen und uns umsehen, sogar ohne Voranmeldung.“

Peter erklärte, dass er um zehn Uhr Paul Hintermeister einen Besuch abstatten werde, um mehr über Gion Matossi zu erfahren. „Zusammen mit Kurt Fritschi waren die drei enge Freunde, ich habe verschiedene Fotos gefunden. Fritschi ist an Krebs erkrankt und liegt im Kantonsspital, aber Hintermeister kann mir sicher viel erzählen, auch über Maja Studer. Ich habe einfach das Gefühl, dass die Studer mir nicht die ganze Wahrheit gesagt hat; vielleicht ist ja der Kontakt zu ihren ehemaligen Schulfreunden doch nicht abgebrochen. Ich werde auf jeden Fall gut zuhören.“

„Und sieh dich auch unauffällig ein bisschen um“, empfahl Angela, „möglicherweise hat er ein Handy oder einen Blackberry zu viel.“

„Bei einem Immobilienmakler kannst du erwarten, dass er mit mindestens zwei Telefonen arbeitet, und wenn er dauernd unterwegs ist, gehört ein Notebook sicher auch zu seinen Arbeitsinstrumenten. Ich kann ja wohl schlecht fragen, ob es seine eigenen sind.“ Unwirsch wandte Peter sich ab.

Angela entschuldigte sich. „Nimm es nicht tragisch, ich greife nach jedem Strohhalm, weil wir sonst keine Anhaltspunkte haben. Wenn Hintermeister der Einzige ist, der mit Matossi in Kontakt stand, müssen wir ihn gut überprüfen. Und wenn Maja Studer lügt und in letzter Zeit Matossi oder Hintermeister getroffen hat, lohnt es sich, genau nachzufragen. Soll ich mitkommen?“

Nick griff ein, bevor Peter reagieren konnte. „Nein, auf keinen Fall. Peter muss dieses erste Gespräch allein führen. Wir wollen Hintermeister nicht kopfscheu machen, er soll erst mal möglichst viel erzählen. Angela, du kommst mit mir ins Finanzdepartement, Handy und Notebook suchen.“

*

„Good morning, Marina, geht es dir gut?“ Die Nummer auf dem Display war unterdrückt.

Marina war überrascht, die Stimme von Andrew zu hören, aber irgendwie kam sein Anruf doch nicht ganz unerwartet. „Guten Tag, Andrew, ja, es geht mir gut, ich habe heute meinen freien Vormittag.“ Seit Samstag hatte sie immer wieder an sein verlockendes Angebot gedacht: war es echt, oder hatte er nur gescherzt? Und hatte es mit ihr zu tun, oder ausschliesslich mit seinen Geschäften?

„Ich weiss, dass dein Studio heute Morgen geschlossen ist, und deshalb rufe ich an. Hast du Zeit und Lust auf einen Kaffee? Ich möchte etwas mit dir besprechen.“

„Was denn?“

„Das sage ich dir, wenn ich dich sehe. 'Starbucks', in einer halben Stunde?“

„Für einen Montagmorgen hast du es aber eilig! Gib mir eine Stunde, ja?“

„Okay, see you then.“

*

Das Haus an der Laurenzenvorstadt war von aussen nicht besonders schön anzusehen: die Farbe an den grünen Fensterläden blätterte ab, der ehemals weisse Anstrich war an der verkehrsreichen Strasse grau geworden, die Stufen zum Eingang uneben. Im Gegensatz dazu standen die auf Hochglanz polierte Bronzetafel neben dem Eingang sowie die massive, schwere Holztüre, die Peter Pfister eine Minute vor zehn Uhr aufstiess. „Hintermeister Immobilien“ stand auf der Tafel, und „bitte läuten“, was er getan hatte, worauf der Türöffner summte.

Im grosszügigen Eingangsbereich wurde ihm von einer höchstens zwanzigjährigen dunkelhaarigen Schönheit der Mantel abgenommen, und sie bat ihn, noch einen Moment Platz zu nehmen, Herr Hintermeister sei noch mit Spanien am Telefon. „Aha, Sie machen also auch internationale Geschäfte?“ stellte Peter mit fragendem Ton fest, nur um etwas zu sagen. Er fühlte sich nicht wohl in der ziemlich luxuriösen Bürolandschaft: schwarz und weiss waren die dominanten Farben, nur der Boden bestand aus dunklem, edel aussehendem Parkett. Es gab insgesamt drei Arbeitsplätze, aber zwei davon sahen unbenutzt aus, und auch die Regale waren nur halb gefüllt mit ein paar wenigen schwarzen und weissen Ordnern. Auf dem Tisch vor der ledernen Sitzgruppe lagen Hochglanzmagazine, 'Schöner Wohnen', 'Town and Country' und andere, wunderschön fächerförmig arrangiert. Sieht nicht aus, als ob ausser der Sekretärin schon jemand die Zeitschriften angeschaut hätte, dachte Peter Pfister, überhaupt wirkt das Ganze hier wie eine leere Hülle und nicht wie eine gut beschäftigte Maklerfirma.

„Willkommen in meinem bescheidenen Büro, Peter! Gefällt es dir?“ Paul Hintermeister kam mit ausgestreckter Hand auf den Polizisten zu. Er trug einen dunkelgrauen, dreiteiligen Anzug, dessen Weste sich über seiner Mitte leicht spannte, aber er sah trotzdem elegant und gepflegt aus, jedenfalls im Kontrast zur Erscheinung seines Besuchers, dessen Aufzug etwas an Detektiv Columbo erinnerte, inklusive Trenchcoat.

„Ich habe es lieber ein bisschen gemütlicher“, antwortete Pfister, „aber zum Glück sind ja die Geschmäcker verschieden. Aber grosszügig ist es schon, dein bescheidenes Büro!“

Hintermeister führte ihn durch eine weitere massive Türe ins Chefbüro, und hier sah man, dass gearbeitet wurde: Papier wohin das Auge blickte, jedes Fensterbrett war mit Mappen und Zeitschriften belegt, jeder Zentimeter des riesigen Schreibtischs voll von Zeitungen, Büchern, Zetteln, auf dem runden Besprechungstisch stapelten sich die Akten. Was für ein Kontrast zwischen aussen und innen, dachte Pfister, und Hintermeister sagte, als ob er Gedanken lesen könnte: „Keine Angst, ich finde alles! Nach aussen mag es zwar wie Unordnung aussehen, aber in meinem Kopf herrscht Ordnung, und das ist das Wichtigste. Abgesehen davon habe ich eine sehr kompetente und systematisch arbeitende Sekretärin, wie du sicher gesehen hast.“ Peter Pfister schauderte beim Anblick dieses Arbeitsplatzes; er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand in diesem Chaos zielgerichtet und effizient arbeiten konnte.

„Ein bekannter Engländer hat einmal gesagt 'a clean desk is a sign of a sick mind', ein aufgeräumter Schreibtisch ist das Zeichen eines kranken Geistes, und daran halte ich mich. Kaffee?“

Sie setzten sich,die Empfangsdame brachte den Kaffee und wurde gebeten, keine Anrufe durchzustellen. Peter zückte sein Notizbuch. „Also, Paul, was kannst du mir über Gion Matossi und sein Leben erzählen?“

„Ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll, Peter.“ Irgendwo unter den Papieren auf dem Schreibtisch erklang ein SMS-Signalton, den Hintermeister ignorierte. „Am besten ist es wohl, wenn ich dir berichte, wie wir überhaupt Freunde wurden. Wir sassen im Mathe-Unterricht nebeneinander, und Gion liess mich während den Prüfungen abschreiben. So einfach war das.“

*

„Guten Tag, Frau König. Wir möchten uns gerne nochmals in Herrn Matossis Büro umschauen.“ Nick Baumgarten lächelte, aber seine Stimme verriet, dass er keinen Widerspruch dulden würde.

„Herr Baumgarten, Frau Kaufmann, welche Überraschung. Ich glaube, wir haben Ihren Vorgesetzten mitgeteilt, dass niemand Zugang erhält zu den Akten des Steueramts.“ Ihr Gesichtsausdruck und ihre Wortwahl waren ebenso höflich wie die von Nick, nur in ihren Augen war zu sehen, dass die Überraschung eine höchst unangenehme war.

„Keine Angst, die Steuerakten interessieren uns nicht.“ Er schaute sie herausfordernd an. „Wir suchen ganz andere Unterlagen.“ Er wartete, zehn Sekunden, zwanzig Sekunden, eine halbe Minute. Frau Dr. König hielt das Schweigen aus, was ihre Fähigkeit als gewiefte Kommunikatorin einmal mehr unter Beweis stellte.

Schliesslich seufzte sie und sagte: „Wenn Sie nicht präziser werden können, Herr Kommissar, dann haben Sie den Weg hierher umsonst gemacht. Ich muss wissen, worum es geht.“ Eine Falte hatte sich über ihren Augenbrauen gebildet und an ihrer rechten Schläfe pochte eine Ader; sie war nervös und auf der Hut.

Nick beschloss, sie zu erlösen und sagte, diesmal mit einem gewinnenden Lachen in der Stimme: „Frau König, es geht wirklich nur darum, nach privaten Unterlagen zu suchen, die nichts mit dem Steueramt zu tun haben. In der Wohnung des Toten fehlen gewisse Dinge, die jeder normale Mensch zuhause aufbewahrt, wie zum Beispiel Pass, Eheschein, Testament und ähnliches. Das sind die Sachen, wonach wir suchen, und sonst nichts.“ Er schaute ihr tief in die Augen. „Ehrenwort.“

Ihre Gesichtszüge entspannten sich etwas, aber Ärger und Nervosität waren immer noch spürbar. „Weiss Herr Kyburz, dass Sie beide hier sind?“ fragte sie.

„Ich habe diese Aktion selbstverständlich mit ihm abgesprochen und ihm das Versprechen gegeben, meine Nase nicht in geschäftliche Inhalte zu stecken.“ Er räusperte sich. „Darf ich Sie jetzt bitten, uns die Tür zum Büro von Herrn Matossi aufzuschliessen?“

Es war ihr anzusehen, wie ungern sie seiner Bitte nachkam, aber sie überwand sich und nahm einen Schlüssel aus der obersten Pultschublade. Am Ende des Korridors schloss sie die gewünschte Tür auf und liess Nick und Angela eintreten. Auf einen Knopfdruck gingen die Jalousien hoch, aber der Tag war so neblig-trüb, dass Angela auch noch die Deckenbeleuchtung einschaltete.

„Vielen Dank, Frau König. Wir bringen Ihnen den Schlüssel zurück, wenn wir hier fertig sind“, sagte die junge Polizistin und hielt die Türe auf. Sarah König zögerte eine Sekunde, dann drehte sie sich wortlos um und ging. Sie wusste, wann sie geschlagen war.

„Das war sehr elegant, auch wenn du gelogen hast“, sagte Angela. „Ich bin ganz sicher, dass sie jetzt gerade Gody Kyburz anruft und unsere Geschichte überprüft.“

„Harte Nüsse muss man mit dem Hammer öffnen“, entgegnete Nick trocken, „und ich habe nicht wirklich gelogen, sondern nur nicht die ganze Wahrheit gesagt. Also, lass uns beginnen. Wir suchen ein Handy, oder ein Notebook, oder dieses andere elektronische Ding“ – er machte eine vage Handbewegung – „aber vielleicht gibt es auch irgendetwas Anderes, wie zum Beispiel diese Strickjacke hier und diese Pantoffeln.“ Er hatte die einzige Schranktüre geöffnet, an der ein Schlüssel steckte.

„Pantoffeln, ich glaube es nicht!“ Angela schüttelte verständnislos den Kopf. „Ein Wunder, dass die Frau Generalsekretärin so etwas toleriert. Dass er sein Jackett gegen eine Strickjacke tauscht geht ja noch an, aber Pantoffeln ...“

„Was ist denn so schlimm daran, sich in der Abgeschiedenheit eines Einzelbüros bequem zu kleiden?“ wollte Nick wissen. „Es ist schliesslich mühsam genug, wenn man im Kontakt mit anderen Leuten Anzug und Krawatte tragen muss.“ Zweifelnd schaute er seine Mitarbeiterin an. „Bin ich auch jemand, bei dessen Kleiderstil du in Jammern ausbrichst?“

Angela neigte den Kopf und betrachtete ihren Chef von oben bis unten. „Nur noch sehr selten, zum Beispiel wenn du deinen alten schokoladebraunen Cordanzug trägst.“ Sie lächelte verschmitzt. „Dein Stil hat sich sehr positiv verändert, seit du mit Frau Manz zusammen bist, ehrlich. Ohne sie hättest du vermutlich auch eine alte graue Strickweste für die kalten Tage im Büro.“

Sie wandte sich ab und ging zum Schreibtisch an der anderen Wand. Darüber hing ein magnetisches Anschlagbrett mit einer Reihe von Papieren: ein Ferienplan der Abteilung, ein Schreiben von Dr. Sarah König an die Vorgesetzten des Departements, wonach die beantragten Lohnerhöhungen den Mitarbeitenden keinesfalls vor der Budgetsitzung des Grossen Rats eröffnet werden durften – 'eröffnet'? was für ein schreckliches Wort – ein säuberlich ausgeschnittenes Stelleninserat, eine Liste der internen Telefonnummern, Busfahrpläne. Angela hatte sich inzwischen auch Handschuhe übergezogen und zeigte Nick die Stellenanzeige. „Schau mal, das hat er aufbewahrt. Es ist das Inserat für den Leiter des Steueramts. Meinst du, er hat sich selbst für die Stelle beworben?“

„Könnte sein, aber er wusste vermutlich, dass er in seinem Alter keine Chance hatte. Vielleicht wollte er auch einfach nur prüfen, ob der Neue die Anforderungen wirklich erfüllt. Vergiss nicht, er war ein sehr genauer Mensch.“ Angela nickte und klemmte die Anzeige wieder an die Magnetwand. Im Büchergestell neben dem Schreibtisch standen die blauen Ordner der Aargauischen Gesetzessammlung fein säuberlich nebeneinander, ebenso wie die Staatskalender der letzten zehn Jahre, die Steuergesetze der benachbarten Kantone sowie diejenigen der Eidgenossenschaft. Alle diese Unterlagen sahen nicht so aus, als hätte Matossi sie oft gebraucht; vermutlich hatte er vieles in seinem Gedächtnis gespeichert. Und natürlich in seinem Computer, der nirgends zu sehen war: Netz- und Stromkabel lagen auf dem Tisch, ein Laserdrucker stand auf dem Fensterbrett, und der Laptop, von dem Sarah König gesprochen hatte, fehlte.

Nachdem sie die Schubladen des Schreibtisches verschlossen vorfand, fasste Angela einen Entschluss. „Ich werde jetzt dieses Schloss öffnen, ob es der Dame passt oder nicht. Achtest du bitte auf die Türe, Nick?“

Ohne sein Einverständnis abzuwarten, begann sie mit ihrem persönlichen Einbruchswerkzeug das Schloss zu manipulieren, und nach fünf Sekunden waren die Schubladen offen. Rasch und systematisch durchsuchte sie die Fächer, in denen wie überall in diesem Raum peinliche Ordnung herrschte: verschiedenes Büromaterial, leere Kartonmappen, Notizblöcke, Kugelschreiber, Bleistifte – nichts von Bedeutung. Erst in der schmalen Schublade oben rechts fand sie ein paar persönliche Dinge wie Papiertaschentücher, ein handelsübliches Schmerzmittel, ein Taschenmesser, Hustenbonbons. Ganz hinten, unter einem dicken Ferienkatalog, lag ein kleines, handliches Diktiergerät.

„Ja!“ rief sie aus und hielt das Ding in die Höhe, „hier haben wir endlich etwas. Ein modernes, aber nicht ganz neues Diktiergerät, und ein Behälter mit zehn Kassetten dazu liegt ebenfalls hier. Mal sehen, ob er uns etwas zu sagen hat, unser Gion Matossi.“ Sie drückte auf 'play', und man hörte ein leise, undeutlich sprechende Stimme. 'Verfügung für das Jahr 2007 im Fall Bäckerei M., Bremgarten. Nach eingehender Prüfung der Finanztransaktionen des oben genannten Betriebs verfügt die Steuerbehörde des Kantons Aargau ...'

Enttäuscht stoppte Angela das Gerät und schüttelte den Kopf. „Alles hier hat mit der Arbeit zu tun, verdammt nochmal, wir haben uns umsonst die Mühe gemacht. Mist!“

„Erstens würde das gestohlene Gerät mit Kassetten sowieso nicht als Beweismittel anerkannt“, tröstete Nick seine entmutigte Mitarbeiterin, „und zweitens nehmen wir das Ding trotzdem mit, hören uns die anderen Kassetten auch an und suchen in seiner Wohnung nach weiteren.“

Er machte eine Pause und trat ein paar Schritte näher. „Und drittens sind Strickjacken, beziehungsweise die Tatsache, dass sie Taschen haben, doch von Nutzen.“ In der Hand hielt er ein grosses, aufklappbares Mobiltelefon. „Gut, oder?“ Er liess es in eine Plastiktüte gleiten und steckte es in seine Hosentasche.

In diesem Moment ertönte ein kurzes Klopfen und Sarah König steckte ihren Kopf herein. „Alles in Ordnung, brauchen Sie etwas?“ fragte sie und liess ihre Augen durch den Raum schweifen. Sie brauchte nur Sekundenbruchteile, um zu sehen, was hier ablief. „Warum steht die Pultschublade offen? Ich habe den Schreibtisch persönlich abgeschlossen, weil darin ausser ein paar Taschentüchern nur geschäftliche Unterlagen zu finden sind. Haben Sie das Schloss aufgebrochen?“ Sie schloss die Tür hinter sich und kam drohend auf Angela zu, die immer noch das Diktiergerät in der Hand hielt. „Dieses Gerät ist Eigentum des Finanzdepartements und es ist den Mitarbeitern nicht gestattet, privaten Gebrauch davon zu machen. Weder das Gerät noch die dazu gehörenden Kassetten können Ihnen also weiterhelfen, meine Herrschaften.“ Sie streckte die Hand aus, und nach einem kurzen Blickwechsel mit Nick übergab Angela ihren Fund an die Generalsekretärin.

„Es müsste Ihnen beiden sowieso klar sein, dass von der Polizei gestohlenes Material vor Gericht nicht als Beweis anerkannt wird. Offensichtlich fischen Sie so sehr im Trüben, dass Ihnen jedes Mittel recht ist.“ Die Kälte in ihrer Stimme war nicht zu überhören. „Jetzt verlassen Sie bitte dieses Büro und kommen Sie erst wieder, wenn Sie von der Staatsanwaltschaft die nötigen Papiere mitbringen.“ Sie hielt die Türe auf, und die beiden Polizisten verliessen den Raum – äusserlich mit schuldbewusst gesenkten Köpfen, aber innerlich sehr zufrieden. Im Einklang miteinander, ohne sich abzusprechen, hatten sie den einen Teil ihrer Beute geopfert, um das Wichtigste behalten zu können.

*

„Dein Cappuccino, wie gewünscht mit Zimt obendrauf.“ Andrew stellte die Tasse auf den Tisch vor Marina; für sich hatte er einen grossen Latte Macchiato mitgebracht. „Wenn ich in der Schweiz bin mit den vielen Kühen, mag ich Milch viel lieber als Kaffee“, sagte er und setzte sich. „Du siehst wunderschön aus, meine Liebe: jung, frisch und ausgeschlafen. Du bist selbst die beste Werbung für dein Geschäft!“ Er musterte sie mit lachenden Augen. „Ich habe nämlich von Maggie gelernt, dass schöne Frauen mit etwas Makeup noch schöner werden, und du bist ein gutes Beispiel dafür. Nick kann sich glücklich schätzen.“

Marina war geschmeichelt, auch wenn man die Komplimente durchaus als abgedroschen bezeichnen konnte. Sie fühlte zu Andrew hingezogen, sein Abenteurergeist faszinierte sie, er brachte eine Saite in ihr zum Klingen. Er hat etwas vom jungen Tom Truninger, dachte sie, das Streben nach Unabhängigkeit, die Gier nach neuen Lebenserfahrungen, die Risikofreude; all das hat mich als Studentin an Tom so stark angezogen, und dreissig Jahre später geht es mir mit seinem besten Freund genauso. Habe ich denn wirklich nichts gelernt im Leben?

Doch, natürlich hatte sie aus ihren Erfahrungen gelernt. Sie atmete tief ein und liess ihren Verstand die Oberhand gewinnen. „Was wolltest du denn Wichtiges mit mir besprechen, Andrew?“

Er forschte in ihrem Gesicht. „Du ahnst worum es geht, und ich werde dir nicht glauben, wenn du behauptest, du hättest nicht darüber nachgedacht am Wochenende. Mein Angebot am Samstagabend war nicht einfach eine spontane Idee, sondern es ist ernst gemeint. Du wärst genau die richtige Frau für den Job: du würdest das Studio, das übrigens jetzt geschlossen ist, innert kürzester Zeit wieder zum Fliegen bringen. Unser Hauptproblem sind die ständigen Personalwechsel, und das wiederum hängt mit Vetternwirtschaft zusammen. Die bisherige Managerin, die wir vor einem Monat entlassen mussten, hat immer nur Mitglieder der eigenen Familie angestellt, auch wenn sie weder die nötigen Qualifikationen noch die richtige Einstellung zur Arbeit mitbrachten. Was wir brauchen sind intelligente und lernwillige Mädchen, die Französisch- und Englischkenntnisse haben, und denen du das Handwerk der Kosmetik beibringen kannst.“

„Aber das dauert Jahre! Bei uns gehen die jungen Frauen zuerst ein paar Monate in die Schule, bevor man sie in der Praxis unter Anleitung arbeiten lässt, und dann können sie noch längst nicht alles. Ich glaube, du bist da etwas optimistisch, Andrew.“

„Ach weisst du, wir brauchen in St. Martin nicht unbedingt die gleichen Standards wie hier in der Schweiz. Ich bin ein überzeugter Verfechter von 'learning by doing', und wenn du die richtigen Frauen auswählst, kann es sehr rasch gehen, bis sie gute Dienstleistungen erbringen. Perfektion können wir auf Dauer nicht aufrecht erhalten, wir wollen guter Durchschnitt sein. Es handelt sich nicht um ein spezialisiertes Wellness-Resort, sondern um ein Hotel der oberen Mittelklasse mit vielen Stammgästen, das an einem wunderschönen, einsamen Strand liegt. Warst du schon einmal in der Karibik?“

Marina schüttelte den Kopf. „Nein, und der Gedanke an Sonne und Wärme ist sehr verlockend. Aber ich bin nicht sicher, ob du die Erfolgschancen dieses Projekts richtig einschätzt. Ich müsste viel mehr wissen, um einen definitiven Entscheid fällen zu können.“

Andrew, der erfahrene Verführer, Verhandler, Verkäufer wusste, dass er in diesem Moment dem Gespräch die erwünschte Wendung geben konnte, und er zögerte nur eine Sekunde, nicht mehr. „Du brauchst dich überhaupt noch nicht definitiv zu entscheiden, Marina. Du fliegst einfach am Samstag mit mir nach St. Martin und schaust dir das Hotel und die Bedingungen vor Ort genau an. Erst dann weisst du, worauf du dich einlässt.“ Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. „Ich zeige dir die Insel, bringe dich mit den richtigen Leuten in Kontakt, und den Rest der Zeit geniessen wir – ein klein wenig Business und ganz viel Urlaub. Weihnachten bis du wieder hier und nimmst dir Zeit, die Sache zu überdenken. Was sagst du?“

Sie entzog ihm ihre Hand. „Und Nick?“ sagte sie leise und legte ganz viele wichtige Fragen in diese zwei Worte; Fragen, die Andrew bewusst ignorierte.

„Nick hat seinen Fall und kann nicht einfach weg, das weisst du. Für ihn wird es erst schwierig, wenn du dich entscheidest, längere Zeit in St. Martin zu bleiben. Vorläufig hat er sicher nichts dagegen, wenn du ein paar Tage mit mir an die Sonne kommst.“

Täusche dich nicht, dachte Marina, Nick kann sehr eifersüchtig sein. Laut sagte sie: „Und mein Geschäft?“

In Andrews Lächeln war eine Spur von Ironie. „Du suchst Gründe für eine Absage, Marina. Lass dich doch von deinen eigenen Wünschen leiten statt von Äusserlichkeiten. Ich bitte dich, komm mit mir und schenke uns diese paar Wochen.“

Marinas Augen füllten sich mit Tränen. Abrupt stand sie auf und zog den Mantel an. „Gib mir vierundzwanzig Stunden, Andrew. Ich rufe dich morgen an.“

*

Auf dem Weg zurück ins Büro machte Nick ein fröhliches Gesicht, und auch Angela war zufrieden. Mindestens ein paar kleine Schritte müssten sie jetzt vorwärtskommen, sobald sie das Handy ausgewertet hatten: häufig gewählte Nummern, letzte Anrufe vor dem Tod Matossis, Nachrichten, kurze Mails.

Sie rieb sich die Hände. „Jetzt haben wir einen Durchbruch, Chef, da bin ich ganz sicher. Vielleicht finden wir in Matossis Wohnung ja auch noch die eine oder andere Kassette mit Informationen.“ In der kalten Luft war ihr Atem gut sichtbar. „Übrigens, hat mein Bericht über Tomet AG dir etwas gebracht?“

„Bis jetzt noch nicht, aber vielleicht finden wir auf dem Handy einen Hinweis darauf, dass Matossi noch mehr wusste. Aber du weisst ja, Hände weg von den Politikern, zumindest offiziell.“ Er zwinkerte ihr zu und lachte. „Wir reden später darüber. Ich bin jedenfalls jetzt zuversichtlicher als die ganze letzte Woche.“

Sie beschleunigten ihre Schritte, um möglichst schnell aus der feuchten Kälte ins Büro zu kommen. Angela ging mit dem Handy direkt zum kriminaltechnischen Dienst, und Nick informierte Gody Kyburz über das, was im Finanzdepartement vorgefallen war. Selbstverständlich hatte Generalsekretärin König schon angerufen, aber Gody hatte sein Versprechen gehalten und sich hinter seinen Mitarbeiter gestellt. Es war ihm gelungen, Frau König zu besänftigen und sie davon abzuhalten, den Polizeikommandanten anzurufen und sich zu beschweren. Er hatte ihr versprochen, sie über die Ermittlungen auf dem Laufenden zu halten und sie sofort zu kontaktieren, wenn der Polizei ein Durchbruch gelang, und er hatte sie daran erinnert, dass auch ihr an einer raschen Aufklärung der Sache gelegen war.

„Ein bisschen gedroht habe ich ihr auch noch, allerdings nur durch die Blume: dass am Ende die Justiz unabhängig sei von der Politik. Trotzdem, Nick, die Geschichte mit dem Diktiergerät war kein guter Schachzug.“

Nick stimmte ihm zu und erzählte dann die gute Nachricht, nämlich dass sie Matossis Handy gefunden hatten, und zwar ohne etwas aufzubrechen.

„Gut“, sagte Gody, „sehr gut. Langsam nimmt die Sache Gestalt an. Wir machen um zwei Uhr eine Besprechung, dann kann auch Peter Pfister von seinen neusten Erkenntnissen über das Privatleben des Toten berichten.“

Leise vor sich hin pfeifend ging Nick in sein Büro, hängte den Mantel auf und machte sich einen Espresso. Er schrieb eine SMS an Marina: 'Komme gut vorwärts. Soll ich einkaufen und bei dir kochen heute Abend? XXX'

Dann nahm er sich nochmals Angelas Bericht über die Firma von Grossrat Toggenburger vor. Wenn Steff Schwager sagte, aus diesen Informationen könne man keine Beweise gegen Toggenburger konstruieren, dann hatte er wohl Recht. Es war nicht verboten, im Verwaltungsrat einer Revisionsgesellschaft zu sitzen, und ein ehrlicher Mann würde in den Ausstand treten, wenn es um die Buchprüfung seiner eigenen Firma ging. Es müsste also wirklich noch andere Beweismittel für einen Steuerbetrug geben, möglicherweise auf den Diktierkassetten von Matossi – aber die waren für die Polizei verloren, zumindest vorläufig.

Am Ende des Berichts stand noch ein kleiner Satz, den er bisher ignoriert hatte, weil er wohl keine grosse Bedeutung hatte: die Firma Tomet AG besass eine Dienstwohnung, aber nicht etwa in der Nähe des Wildegger Firmensitzes, sondern in Dulliken, Kanton Solothurn, und somit ausserhalb des Operationsfelds der Kantonspolizei Aargau. Nun ja, wahrscheinlich war auch das nichts anderes als ein halblegaler Trick, um Geld am Fiskus vorbeizuschleusen.

*

„Nein, das geht leider nicht, Paul: ich darf mich von dir nicht zum Mittagessen einladen lassen, erst recht nicht nach einer Befragung. Das könnte als Bestechung ausgelegt werden, obwohl es damit ja nichts zu tun hat.“ Peter Pfister lachte und erhob sich. „Ich werde mich mit der Polizeikantine begnügen müssen. Aber trotzdem vielen Dank.“

Paul Hintermeister begleitete seinen Gast zur Tür. Die attraktive Empfangsdame war verschwunden, die Bürolandschaft ausgestorben; während des Gesprächs hatte Peter Pfister kein einziges Mal das Klingeln eines Telefons aus dem Sekretariat gehört. Aus dem Papierchaos von Hintermeister hingegen waren alle paar Minuten verschiedene Töne hervorgedrungen, als ob auf mehreren Handys Nachrichten eingingen. Darauf angesprochen sagte der Makler, in seinem Beruf müsse man zwar jederzeit erreichbar sein, aber er trenne gerne Geschäftliches und Privates und habe deshalb zwei Handys. „Nicht jeder braucht meine private Nummer zu kennen, die gebe ich nur ganz wenigen Leuten – man hat ja auch noch ein Leben ausserhalb des Geschäfts, nicht wahr.“

„Bist du eigentlich verheiratet?“ fragte Peter, obwohl er die Antwort zu kennen glaubte.

„Geschieden bin ich, und das seit Jahren. Meine Kinder sind erwachsen, ich zahle mittlerweile keine Alimente mehr, nur noch Unterhalt für meine Ex, die sich weigert zu arbeiten. Na ja, das ist halt das Schicksal geschiedener Männer. Ich verdiene genug, um mir einen schönen Lebensstil zu leisten, aber heiraten werde ich sicher nie wieder, das schwöre ich.“

Sie sprachen noch ein paar Minuten über die Immobiliengeschäfte von Hintermeister, der auf die Vermittlung von hochwertigen Neubauten spezialisiert war. Im Gespräch tönte er an, dass er bei einem prestigeträchtigen Projekt in Biberstein sehr gut verdient hatte, obwohl man natürlich im Baugewerbe nicht den ganzen Profit über schriftliche Rechnungen laufen lasse, sonst fresse einem der Staat ja alles weg. „Da wird viel bar bezahlt, mein Lieber, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich könnte dir Stories von bekannten Unternehmern und Politikern erzählen, da überkommt einen das Grauen.“

In seiner Stimme war aber eher Bewunderung als Grauen zu hören, stellte Peter Pfister in Gedanken fest. Laut sagte er: „Keine Angst, das fällt nicht in mein Ressort, Paul, da wäre eher Matossi zuständig gewesen. Und abgesehen davon bin ich auch der Ansicht, dass der Staat zu viel Geld verbraucht, man kann ja nicht mal mehr seine Rente richtig geniessen.“

„Ja, da hast du eindeutig Recht. Meinem Freund Gion habe ich natürlich diese Geschichten nicht erzählt, aber er war trotzdem misstrauisch. Beweisen konnte er mir nie etwas, auch wenn er es immer wieder versuchte – ich war zu clever. Vermutlich hat sich auch deshalb unsere Freundschaft in den letzten Jahren mehr und mehr abgekühlt, er war ausserordentlich stur und liess nicht locker.“ Hintermeister wurde nachdenklich und schüttelte traurig den Kopf. „Und jetzt ist er tot und nimmt alle seine Geheimnisse mit ins Grab.“

„Was für Geheimnisse?“ fragte Peter erstaunt.

„Ach, keine speziellen“, antwortete Paul Hintermeister etwas zu rasch und fuhr fort, „du weisst ja, jeder hat irgendwelche Geheimnisse, das ist sogar ein beliebter Spruch von dir, Herr Kommissar.“

Er hatte zu viel gesagt, das merkte Peter Pfister, was seinen Eindruck des ganzen Gesprächs bestätigte. Hinter den detailreichen Anekdoten, die Hintermeister mit Genuss und Jovialität aus der Vergangenheit der Freunde erzählt hatte, verbarg sich etwas Dunkles; die Geschichten sollten Verborgenes übertönen und zudecken. Mit anderen Worten: Paul Hintermeister, der clevere Gymnasiast, streute Sand in die Augen des dummen Bezirksschülers Peter Pfister. Dass dieser das Spiel dank seiner langjährigen Berufserfahrung durchschaute, bewies für ihn einmal mehr, dass akademische Bildung nicht gleichzusetzen war mit Intelligenz.

Beim Abschied gab der Makler seinem Besucher ein paar Hochglanzbroschüren mit, die verschiedene Neubauprojekte in der Region anpriesen. „Nicht dass du dir mit deinem Beamtengehalt ein solches Domizil leisten könntest“, lachte Hintermeister, „aber es zeigt dir, woran ich arbeite und womit ich mein Geld verdiene. Wenn du noch etwas wissen willst, rufst du einfach an. Tschüss Peter, es war ein Vergnügen, mit dir zu plaudern, gar nicht wie ein Verhör!“ Leise kichernd schloss er die Tür hinter seinem Gast.

„Frechheit“, murmelte der, als er in die beissende Kälte hinaustrat. Er schlug den Mantelkragen hoch, klemmte die Broschüren unter den Arm, steckte die Hände in die Taschen und ging mit raschen Schritten den Tellirain hinunter. Er würde Nick Baumgarten und Angela Kaufmann viel zu erzählen haben, auch wenn er noch nicht alles wusste. Aber dass es in der Vergangenheit von Gion Matossi, Paul Hintermeister und Kurt Fritschi ein Geheimnis gab, das wusste er ganz sicher.

*

Marina fand in ihrer Wohnung an der Schifflände keine Ruhe. Sie setzte sich an den Küchentisch und trank ein Glas Wasser, nach zwei Minuten stand sie auf und wanderte ins Wohnzimmer. Obwohl sie seit Jahren nicht mehr rauchte, zündete sie sich eine der Zigaretten an, die sie für rauchende Gäste vorrätig hatte. Sie legte sich eine Wolldecke über die Schultern und trat auf den Balkon hinaus, aber dort schmeckte die Zigarette nicht, und die Kälte liess sie zittern. Sie musste irgendetwas unternehmen, wegfahren, nach Zürich vielleicht, sie hielt es nicht aus zuhause.

Sie wollte unbedingt die vierundzwanzig Stunden nutzen, um die Optionen mit ihrem Verstand zu analysieren und zu einem rationalen Entschluss zu kommen, aber es gelang ihr nicht, den Schalter umzulegen und ihre Emotionen zu bändigen. Abenteuer! jubelte das lebensfrohe Kind in ihr, Reisen! Neues erleben! Ausbrechen! Als Kontrast hörte sie die mahnende elterliche Stimme: Sei vernünftig! Du kannst doch nicht einfach alles stehen und liegen lassen! So etwas tut man nicht! Denk an die Konsequenzen!

Dabei wusste sie natürlich ganz genau, was zu tun war. Wie sie es vor ein paar Jahren bei einem guten Therapeuten gelernt hatte, stellte sie sich vor den Spiegel und schaute sich selbst in die Augen. 'Ich bin kein ungestümes Kind, und ich bin auch keine mütterliche Spielverderberin. Ich bin eine erwachsene Frau, die sich selbst mit allen Stärken und Schwächen einigermassen gut kennt, und die in der Lage ist, das Problem ruhig und überlegt anzugehen.'

Ganz so rasch wie gewünscht liess sich die innere Ruhe allerdings nicht herstellen, die Nervosität hielt an. Schliesslich packte Marina ihre Sporttasche, zog sich warm an und lief mit langen Schritten durch die Stadt zum Fitnessclub. Körperliche Anstrengung und Schwitzen würden ihr helfen, wieder Boden unter den Füssen zu gewinnen und klar zu denken. Eins wusste sie schon jetzt: bevor sie mit Nick sprach, musste sie für sich selbst eine Antwort haben. Sie schickte ihm eine Mitteilung: 'Kochen bei mir ist gut, aber ohne einkaufen, habe vollen Kühlschrank. Bin jetzt 2 Std. im Fitness/Sauna. X'. Dann schaltete sie das Handy aus und das Laufband ein.

*

„Der letzte eingehende Anruf auf Matossis Handy kam von der Firma Hintermeister Immobilien, und zwar am Samstag um elf Uhr dreissig. Wie lange das Gespräch dauerte, wissen wir noch nicht, das muss uns die Swisscom mitteilen. Morgen kriegen wir die Details.“ Angela hatte die Liste der Anrufe und Mitteilungen auf Matossis Mobiltelefon vor sich. „Hat Herr Hintermeister dazu etwas gesagt, Peter?“

„Ja, das kann ich bestätigen. Als ich ihn nach seinem letzten Kontakt mit Gion Matossi fragte, erwähnte er dieses Telefongespräch. Er wollte mit ihm ein Bier trinken gehen, einfach so, und den neusten Klatsch austauschen, aber Matossi hatte keine Zeit und wohl auch kein Interesse. Er habe jedenfalls keinen anderen Termin vorgeschlagen, sondern nur vage gesagt, er melde sich wieder. So wie Hintermeister das Gespräch schilderte, kann es höchstens zwei Minuten gedauert haben. Mal sehen, ob das stimmt.“ Peter nickte vielsagend.

„Der letzte Anruf, den Matossi selbst tätigte, war an die Hauptnummer des Kantonsspitals Aarau. Das war ebenfalls am Samstag, um sechzehn Uhr. Die Telefonzentrale dort hat bestätigt, dass er weiterverbunden wurde mit einem Patienten auf der Onkologiestation, aber einen Namen wollen sie uns nicht nennen ohne richterlichen Beschluss. Sag mal, Peter, liegt nicht der Dritte im Bunde, dieser Fritschi, mit Krebs im Kantonsspital?“

Wieder nickte Peter. „Soviel ich gehört habe, kann er allerdings kaum mehr sprechen, und vermutlich auch nicht telefonieren. Es könnte also auch ganz jemand anderes gewesen sein. Ich erkundige mich aber bei Hintermeister, vielleicht weiss der etwas.“

„Gibt es weitere Anrufe, die relevant sein könnten?“ fragte Gody Kyburz etwas ungeduldig, „häufig gewählte Nummern zum Beispiel, oder Auslandsgespräche?“

„Nein“, antwortete Angela, „mit jemandem im Ausland hatte er in den letzten dreissig Tagen zumindest über dieses Gerät hier nicht zu tun, weder via SMS noch Telefon oder Mail. Der grösste Teil des Verkehrs scheint geschäftlich gewesen zu sein, viele der Nummern gehören zur Kantonsverwaltung oder zu Firmen, die wahrscheinlich mit seinem Beruf in Zusammenhang stehen, das werden wir noch genauer untersuchen. Dazu kommen die Nummer des Hausarztes und von Dr. Hivatal, ein Reinigungsunternehmen, ein Hotel in Ascona. Nach sieben Uhr abends gibt es praktisch keine Anrufe, weder ein- noch ausgehend, nur noch SMS. Leider hat unser ordentlicher Herr Matossi die Nachrichten immer gleich gelöscht, vielleicht damit der Speicher nicht voll wurde. Inhaltlich haben wir also überhaupt nichts, was uns weiterhelfen würde.“ Aber Angela war trotz dieser mageren Ausbeute noch nicht bereit, das Handtuch zu werfen. „Als nächstes werde ich mich mit den häufigsten geschäftlichen Kontakten befassen. Es könnte ja sein, dass eine der Firmennummern gar nichts mit dem Steueramt zu tun hat, sondern privat ist, zum Beispiel könnte er eine Freundin gehabt haben, die er an ihrem Arbeitsort anrief.“

„Gut, und mach Druck auf die Swisscom, sie sollen uns die Daten schnell liefern.“ Nick wandte sich Peter Pfister zu. „Was hast du herausgefunden heute Morgen? War der Immobilienmakler gesprächig?“

„Das war er wirklich“, sagte Peter, „sogar zu gesprächig für meinen Geschmack. Er hat von tiefer Freundschaft, gemeinsamen Reisen und fröhlichen Gelagen erzählt, aber ich wurde den Eindruck nicht los, dass es noch etwas gab, was die Freunde verband, irgendein Geheimnis.“

„Kannst du uns sagen, warum dieser Eindruck entstanden ist?“ fragte Gody Kyburz, der zwar um die Wichtigkeit von Intuition in ihrem Beruf wusste, aber trotzdem lieber mit Fakten arbeitete.

Peter schüttelte den Kopf. „Es war eher ein Bauchgefühl. Du weisst aus eigener Erfahrung, dass wir immer misstrauisch werden, wenn einer bei der Vernehmung zu viel labert. Erstens hat er für mein Gefühl zu sehr geschwärmt von der grossen Freundschaft, und zweitens war er rückblickend viel zu schnell bereit, mir Auskunft zu geben. Er hält mich für etwas beschränkt, das war schon immer so, und das wollte er ausnützen. Substanziell ist bei diesem Gespräch wenig herausgekommen, ausser dass die drei Freunde alle ungefähr zur gleichen Zeit heirateten und sich anschliessend weniger häufig sahen. Hintermeister behauptete, die Frauen seien nicht gut miteinander ausgekommen, und man wisse ja, dass Ehefrauen ihre Männer von den alten Freunden trennen wollten. Insbesondere Maja Studer habe sich neue Freunde und Bekannte gesucht, weil ihr die alten Klassenkameraden gesellschaftlich zu wenig relevant gewesen seien. Sie sei schon damals ziemlich arrogant gewesen und habe sich für etwas Besseres gehalten, was ich im Übrigen nur bestätigen kann. So habe man sich auseinander gelebt und sei erst wieder in näheren Kontakt gekommen, nachdem sowohl Matossi wie auch Hintermeister geschieden wurden. Seit etwa fünf Jahren trafen die Herren sich regelmässig alle paar Monate zum Essen im 'Schützen', zumindest Matossi und Hintermeister. Fritschi sei immer noch verheiratet und habe wenig Interesse gezeigt an gemeinsamen Abenden. Der Schützenwirt bestätigt übrigens, dass sowohl Hintermeister wie Matossi Stammgäste waren, aber dass er die beiden häufig zusammen in seinem Restaurant gesehen hätte, konnte er nicht behaupten. Er ist ein Klassenkamerad von mir und kennt die beiden von früher, deshalb habe ich so unbürokratisch Auskunft erhalten.“

„Gut gemacht, Peter“, sagte Nick und schmunzelte, „deine Kontakte sind wirklich viel wert. Aber wo ist jetzt das grosse Geheimnis?“

„Das wüsste ich auch gern“, sagten Angela und Gody gleichzeitig.

„Eben, das ist ja die Frage! Ihr könnt mich auslachen, aber ich weiss, dass da noch etwas ist, ich bin ganz todsicher. Entweder haben die drei im jugendlichen Leichtsinn irgendeinen Blödsinn gemacht, oder sie haben später, als Erwachsene, ein krummes Ding gedreht. Meine Theorie ist die, dass sie genau wegen dieses Geheimnisses den Kontakt abgebrochen und sich kaum mehr gesehen haben. Erst als Matossi begann, Hintermeister wegen der Steuern zu durchleuchten, trafen sie sich wieder.“

„Interessant“, sagte Gody, „es bestand also auch eine geschäftliche Verbindung zwischen den beiden, nicht nur eine private?“ Sein Blick ging zu Nick, und der wiederum lächelte auf den Stockzähnen. Er hatte es gewusst.

„Ja und nein, denn als geschäftliche Verbindung kann man das ja nicht bezeichnen“, erklärte Peter. „Hintermeister ist ein Angeber, und ich nehme mal an, er hat bei vielen Leuten, wie bei mir heute, damit geprahlt, dass er haufenweise Geld verdiene und praktisch keine Steuern zahle, alles ganz legal. Weil Matossi, oder einer seiner Mitarbeiter, davon Wind bekam, schauten sie genauer hin und prüften die Unterlagen, fanden allerdings nichts, was einen Betrug bewiesen hätte. Er ist stolz darauf, Hintermeister meine ich, und er sagt klar und deutlich, dass im Baugewerbe ein erheblicher Prozentsatz der Umsätze schwarz bezahlt werde. Hier habe ich ein paar Prospekte, und da seht ihr, mit was für Luxuswohnungen der Makler sein Geld verdient. Dieses Objekt hier, die Terrassensiedlung in Biberstein mit der Traumaussicht, war offensichtlich sehr lukrativ für alle Beteiligten. Hintermeister hat mir allerdings klar gemacht, dass so eine Wohnung für einen wie mich finanziell sowieso nicht in Frage käme, auch wenn mit gewissen Zahlungsmodalitäten noch ein tüchtiger Rabatt erzielt werden könnte.“

„Er hat also direkt und unverblümt versucht, dich zu bestechen?“ fragte Angela mit gespielter Entrüstung. „Welche Frechheit!“

„Nein, du Dummerchen, natürlich nicht. Es war nur eine Karotte, die er mir vor die Nase hielt, eine Art Köder, ebenso wie seine Einladung zum Mittagessen im 'Chez Jeannette'. Ich bin nicht drauf eingegangen, und mein Haus in Spanien ist mir viel lieber als eine Bonzenwohnung am Jura.“

Inzwischen hatte Angela in den attraktiven Broschüren geblättert. Auch für sie waren diese Wohnungen unerschwinglich, aber träumen durfte man ja. Auf den letzten Seiten waren jeweils die an Planung und Ausführung beteiligten Firmen aufgelistet: Generalunternehmer für die Überbauungen war in jedem Prospekt die Firma Hintermeister Immobilien, die Architekten und ausführenden Handwerker wechselten je nach Region. Was ihr in die Augen sprang war der Lieferant von Fenstern, Wintergärten, Balkonen und Briefkästen: es handelte sich in sämtlichen Fällen um die Tomet AG. „Schau mal, Nick.“

Er zog die Augenbrauen hoch, als er realisierte, was sie gesehen hatte. Er hatte keine Wahl, er musste in die Offensive gehen, ohne Rücksicht auf Verluste.

„Siehst du, Gody, hier ist die Verbindung, von der ich schon lange behaupte, dass es sie gibt. Matossi war Hintermeister auf der Spur, aber er hatte einen noch viel grösseren Fisch an der Angel. Ich bin fast sicher, dass er sich intensiv mit der Firma von Adrian Toggenburger beschäftigte, die in jeder dieser Broschüren auftaucht. Unser toter Steuerfahnder wollte wissen, ob und in welchem Umfang die Tomet AG und ihr Inhaber Toggenburger an dieser Schwarzgeldgeschichte beteiligt waren. Falls er Beweise für einen Betrug in grösserem Umfang gefunden hatte, wäre das unserem Herrn Grossrat sehr ungelegen gekommen.“

„Verdammt nochmal, ich habe dir gesagt ...“ rief Gody mit hochrotem Kopf.

„.. dass ich die Finger von den Politikern lassen soll, ja. Aber hier haben wir einen klaren Hinweis, den ich nicht einfach ignorieren kann. Ich werde nicht gleich zu Toggenburger gehen und ihn damit konfrontieren, aber ich will, dass Finanzdirektor Vögtli und seine Generalsekretärin Auskunft geben darüber, ob Gion Matossi diesen Fall untersuchte oder nicht.“

„Und dann? Was willst du tun, wenn er sich wirklich damit befasste?“ fragte Gody mit sichtlichem Ärger.

„Dann haben wir ein mögliches Mordmotiv, und die Finanzdirektion wird uns wohl oder übel Einblick geben müssen in Matossis Arbeitsunterlagen. Wenn der Fall hingegen nicht in seinen Händen war, löst sich die Geschichte in Luft auf.“ Nick sprach eindringlich; es war ihm wichtig, dass sowohl seine Mitarbeiter wie auch sein Vorgesetzter verstanden, worum es ihm ging. „Ich habe nicht die geringste Lust, mich mit Toggenburger anzulegen, glaubt mir, denn im Grunde kann mir das nur schaden. Trotzdem, wenn dort ein so deutliches Motiv liegt, können wir nicht einfach darüber hinweg sehen und an anderen Orten suchen, sonst machen wir nur die halbe Arbeit. Es käme mir sehr gelegen, wenn Regierungsrat Vögtli und Frau König das Dossier Tomet AG einem ganz anderen Mitarbeiter übertragen hätten, und noch lieber wäre mir, wenn es im Steueramt gar kein aktuelles Dossier Tomet AG gäbe. Dann wäre ich nämlich auf dem Holzweg und könnte mich mit gutem Gewissen den übrigen Ermittlungen zuwenden.“ Er machte eine Pause und schaute jedem in die Augen. „Habe ich mich klar ausgedrückt, oder gibt es Fragen?“

Angela und Peter waren mit ihrem Chef einig, aber für Gody Kyburz war noch längst nicht alles klar.

„Ich soll also den Kommandanten davon überzeugen, dass du trotz seinen Instruktionen mit dem Finanzdirektor sprechen willst. Du bist und bleibst ein sturer Bock, weisst du das?!“ Er schüttelte ungläubig den Kopf, dann traf er eine Entscheidung. „In Ordnung, aber du kommst mit zum Chef und erklärst ihm mit deinen Argumenten und Worten, warum du seinen Befehl missachten willst. Ich unterstütze dich, aber wenn er 'Njet' sagt, dann bleibt es bei diesem Nein, und zwar endgültig, klar?“

„Danke Gody, ich weiss das zu schätzen. Gehen wir gleich, dann ist es entschieden.“

Die beiden verliessen das Büro, und Angela wandte sich an Peter. „Was hast du denn zu deiner Freundin Maja Studer erfahren? Hat Hintermeister von der Liebesgeschichte zwischen ihr und Matossi erzählt?“

„Nicht viel, und vor allem nicht viel Neues. Maja Studer ging in die Parallelklasse und war oft mit unserem Trio zusammen, aber Matossi und sie waren damals noch kein Paar. Die Liebesgeschichte habe sich erst während der Studienzeit entwickelt; man habe sich jedoch allgemein gewundert, dass sich die lebenslustige Studer ausgerechnet Matossi ausgesucht habe, den introvertierten Streber. Es sei ja dann auch nicht lange gut gegangen, und nach der Scheidung habe Matossi sich nicht mehr bemüht, eine Frau zu finden. Ab und zu eine Affäre, das habe schon stattgefunden, aber nichts Ernstes, zumindest soviel er, Hintermeister, wisse.“ Peter seufzte. „Interessant ist einfach, dass ich ihm praktisch keine Fragen stellte. Es klang, als ob er sich das alles zurechtgelegt hätte; er hat von sich aus alle Aspekte berührt, an denen ich interessiert war. Findest du das nicht auch seltsam?“

Angela hob die Hände und liess sie wieder fallen. „Kann schon sein, dass er gut vorbereitet war, ich kenne ihn nicht. Jedenfalls scheint er zu glauben, dass du seine Geschichten für bare Münze nimmst, und das kann uns durchaus nützlich sein. Falls wir ihn nochmals befragen – und das werden wir vermutlich – könnten du und Nick 'good cop, bad cop' mit ihm spielen: du als derjenige, der ihm glaubt, und Nick als der, der ihn wie einen Verdächtigen behandelt. Vielleicht hilft ihm das auf die Sprünge, wer weiss.“ Sie ging zur Tafel und schrieb 'Tomet AG', aber mit einem Fragezeichen dahinter. Sie zeichnete eine gestrichelte Verbindung sowohl zu Hintermeister wie auch zu Matossi.

Peter murmelte: „Du mit deinen neumodischen Verhörmethoden, das hast du garantiert aus einem amerikanischen Fernsehkrimi.“ Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch.

„Nein, aus dem 'Tatort', du Nörgler“, flapste sie zurück und malte weiter mit dicken Filzstiften an ihrem Beziehungsgeflecht.

Nach ein paar Minuten kam Nick allein zurück, mit einem fröhlichen Gesicht. „Ich habe heute Abend um sieben Uhr einen Termin mit Herrn Vögtli und Frau König, das hat der Kommandant persönlich eingefädelt. Er hat dem Finanzdirektor am Telefon gesagt, ich werde mit wenigen ganz spezifischen Fragen kommen, und sie bräuchten sie nur wahrheitsgemäss mit Ja oder Nein zu beantworten. Es bestehe keine Gefahr, dass sensible Daten in die falschen Hände gerieten. Da konnte Vögtli sich nicht mehr verweigern und erklärte seine Bereitschaft, mit uns zusammenzuarbeiten. Gut, oder?“ Er tänzelte mit leichten Schritten zur Kaffeemaschine und machte sich einen Ristretto. „Sonst noch jemand Kaffee? Nein? Gut, dann machen wir weiter, Gody kommt nicht mehr.“

Peter wiederholte, was er schon mit Angela besprochen hatte, und Nick fand die Idee mit dem Rollenspiel gar nicht so schlecht. Er bemerkte allerdings, das auch Angela als 'bad cop' eingesetzt werden könnte, was wiederum Peter zum Lachen brachte. „Sie ist doch sonst immer das gute Mädchen, die liebe Angela, und auf einmal soll den harten Bullen markieren? Ob sie das kann?“

„Wir werden es auf jeden Fall versuchen, wenn wir Hintermeister nochmals befragen müssen“, bestimmte Nick. „Haben wir sonst noch etwas?“

Peter verneinte und sagte, er würde sich wie vereinbart bei Hintermeister erkundigen, wie es Kurt Fritschi gehe, aber dann habe er genug getan für heute.

Angela bat um den Schlüssel zu Matossis Wohnung, sie wolle nach Diktierkassetten suchen. „Falls ich etwas finde, hat unser kriminaltechnischer Dienst sicher ein Abspielgerät.“

„Gut, und bitte vergesst vor lauter interessanten Spuren nicht, dass wir immer noch sowohl mit Selbstmord wie auch mit Mord rechnen müssen – also keine voreiligen Schlüsse. Ich widme mich jetzt dem Papierkram, bevor ich ins Finanzdepartement gehe.“

Zu allererst aber schrieb er eine SMS an Marina: 'Kann erst gegen acht bei dir sein, dringender Termin mit Chef FD. XXX' Er wusste, dass sie nicht enttäuscht sein würde, denn sie kannte seinen Beruf und die damit verbundenen ungeplanten Einsätze. Wahrscheinlich würde sie sich entscheiden, selbst etwas zu kochen und seine Portion warmzuhalten. Eine wunderbare Frau: tolerant, selbständig und unkompliziert.

*

„Die Lage muss ernst sein, wenn sich der Polizeikommandant persönlich für Sie einsetzt, Herr Baumgarten.“ Hansmartin Vögtli wirkte hellwach und frisch, obwohl er sicher einen langen Arbeitstag hinter sich und möglicherweise einen Anlass vor sich hatte. Nick fühlte sich einen Moment lang unwohl in seinem zerknitterten Hemd, auch weil Sarah König ebenso aus dem Ei gepellt war wie ihr Chef. Damit entstand ein subtiles Gefälle, ein Gefühl von 'oben' und 'unten', man gab dem Polizisten zu verstehen, welchen Platz er in dieser Hierarchie einnahm. Nun ja, es würde sich zeigen, wer am längeren Hebel sass.

„Ein ungeklärter Todesfall ist immer etwas Ernstes, Herr Vögtli. Sie wissen, dass wir an unserer Aufklärungsquote gemessen werden, und ich bin Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir helfen, die Hintergründe des Todes von Gion Matossi zu erhellen.“ Die Sache mit der Aufklärungsquote war ihm auf dem kurzen Fussmarsch ins Telli-Hochhaus eingefallen; er wusste, dass Finanzdirektor Vögtli in jeder seiner öffentlichen Reden den Ausdruck 'messbare Leistung' mehrmals erwähnte.

Jetzt lachte Vögtli. „Sie schlagen mich mit den eigenen Waffen, gut gemacht, Herr Baumgarten. Also, Ihr Vorgesetzter sprach von ein paar konkreten Fragen. Schiessen Sie los!“

„Gut. In den meisten Organisationen ist es üblich, dass komplexe, schwierige oder heikle Dossiers zur Chefsache erklärt werden. Gilt das auch für das Steueramt?“

„Das kommt drauf an“, antwortete Sarah König, „aber im Normalfall stimmt es.“

„Galt das auch für den Sektionsleiter juristische Personen, Gion Matossi?“ fragte Nick weiter.

„Ja, meistens.“ Wieder war es die Generalsekretärin, die antwortete. „Es kam allerdings vor, dass wir gewisse Dossiers sogar ganz oben ansiedelten, das heisst beim Chef des Steueramts.“

„Und dieser Posten ist seit einigen Monaten vakant, wenn ich mich richtig erinnere?“

Jetzt hakte Vögtli wieder ein. „Das ist richtig; deshalb kam es in letzter Zeit auch vor, dass ich mich selbst mit Steuerfällen befassen musste. Wie Sie richtig sagen, komplexe Fälle gehören in die oberste Etage der Organisation.“ Er rieb sich die Hände, wahrscheinlich vor Freude darüber, dass er selbst in der obersten Etage sass, dachte Nick. Dann ging er zum Angriff über.

„War das Dossier der Tomet AG in Wildegg auch bei Ihnen angesiedelt?“

Die Antwort liess eine oder zwei Sekunden auf sich warten, und Nicks Gesprächspartner tauschten einen Blick.

„Ja, das war es, und zwar in abgeschlossenem Zustand.“ Vögtli verschränkte seine Arme und lehnte sich im Stuhl zurück. Klare Körpersprache, dachte Nick, er will möglichst nichts mehr sagen.

„Was heisst das?“

„Ihr Chef hat uns versprochen, dass wir Ihre Fragen mit Ja oder Nein beantworten können, Herr Baumgarten.“ Ein ironisches Lächeln umspielte die Lippen von Sarah König. „Vielleicht könnten Sie sie entsprechend formulieren.“

Wie du willst, dachte Nick, ich bin mindestens so gut vorbereitet wie ihr zwei. Seine nächsten Fragen kamen wie aus der Pistole geschossen, ebenso die Antworten von Frau König.

„Hat Matossi ursprünglich das Dossier bearbeitet?“

„Ja.“

„Hat er Unregelmässigkeiten gefunden?“

„Ja.“

„Hat sich der Firmeninhaber bei Ihnen über Matossi beschwert?“

„Ja.“

„Haben Sie ihm deswegen das Dossier weggenommen?“

„Ja.“

„Haben Sie das Dossier aus politischen Rücksichten geschlossen?“

„Kein Kommentar.“ Diese letzte Antwort kam von Vögtli, der sich gleichzeitig erhob.

„Ich glaube, das genügt jetzt für Ihre weiteren Ermittlungen, Herr Baumgarten. Gion Matossi war nicht mehr mit dem Fall Tomet AG betraut, das Dossier war abgeschlossen, und somit können Sie wohl ausschliessen, dass der Tod unseres Sektionsleiters damit in irgendeinem Zusammenhang steht. Ich danke Ihnen und wünsche einen schönen Abend.“

„Eine allerletzte Frage habe ich noch. Wann wurde Matossi der Fall entzogen?“

Wieder tauschten Vögtli und König einen Blick, Vögtli nickte und Sarah König antwortete. „Irgendwann zu Beginn dieses Jahres.“ Also kurz vor den Grossratswahlen im März, dachte Nick.

„Gut, vielen Dank, Herr Vögtli, Frau König.“ Er gab beiden die Hand und ging zum Lift. Als er einstieg, stand Sarah König immer noch im Korridor – sie wollte sicher sein, dass ihr Gast das Haus, oder zumindest den neunzehnten Stock, auch wirklich verliess. Er winkte ihr zu, als die Türen sich schlossen.

*

Als die Nachricht kam 'Bin in 5 min bei dir, xxx', schob Marina den vorbereiteten Lauchkuchen in den Ofen, mischte Sherry-Essig und Olivenöl für das Salatdressing und schenkte sich noch ein Glas Chardonnay aus der Provence ein. Sie war nervös, hatte sich mit dem Gemüsemesser einen kleinen, aber schmerzhaften Schnitt im linken Zeigefinger zugefügt, war in Tränen ausgebrochen über dieser Bagatelle. Sie hatte keine Wahl, sie musste heute Abend mit Nick reden, bevor morgen die Planung mit ihren Mitarbeiterinnen begann. Sie hob das Glas mit dem kühlen Weisswein an ihre heisse Stirn und sprach sich Mut zu. Ich muss es tun, sagte sie zu sich selbst, nein, ich will es tun. Wenn ich diese Gelegenheit vorbeigehen lasse, werde ich es für den Rest meines Lebens bereuen.

„Mhm, das riecht ja wunderbar!“ Nick brachte die Kälte von draussen in die Wohnung. „Es schneit, hast du gesehen?“ Er nahm ihr warmes Gesicht zwischen seine eiskalten Hände und küsste ihre vollen Lippen. „Jetzt machen wir es uns richtig gemütlich an der Wärme. Und ich habe viel zu erzählen, heute ist es ausgezeichnet gelaufen. Ich glaube, wir sind auf der richtigen Spur.“ Er schaute in ihre grossen braunen Augen und erschrak, als er die roten Ränder sah. „Hast du geweint?“ Sie nickte. „Kopfschmerzen?“ Sie schüttelte den Kopf, und die Tränen waren schon wieder da. „Ist jemand gestorben?“

Marina schaffte ein gequältes Lächeln. „Nein, ganz so schlimm ist es nicht. Komm in die Küche und trink ein Glas Wein mit mir. Ich habe auch etwas zu erzählen.“

*

Drei Stunden später sassen sie immer noch in der Küche. Das Essen war kaum angerührt, aber der Wein war leer, und mittlerweile stand der spanische Brandy auf dem Tisch.

Nick rieb sich die brennenden Augen. „Dann gibt es also nichts, was dich umstimmen könnte?“ Marina schüttelte den Kopf. Sie hatte versucht, ihm ihren Entschluss zu erklären, aber er verstand nicht, warum sie einfach so alles und alle im Stich lassen konnte. Er wollte wissen, ob er etwas damit zu tun habe, oder Andrew, oder der kalte Winter – er suchte einen greifbaren Grund, und sie konnte ihm keine konkreten Antworten geben.

„Du hast mir einmal versprochen, Nick, dass du mich nie in einen Käfig sperren würdest, sondern dass die Türe immer offen sein werde. Jetzt ist der Tag gekommen, wo ich davon Gebrauch mache, und es ist nicht deine Schuld, auch nicht die von Andrew. Es hat nur mit mir zu tun, mit meiner Abenteuerlust, vielleicht auch mit einer Lebenskrise; Andrew hat nur die Möglichkeit und den Auslöser geliefert. Ich will diese Gelegenheit beim Schopf packen, auch wenn es sich am Ende herausstellt, dass alles nur eine Seifenblase war. Ich kann nicht anders!“

Jetzt waren sie beide erschöpft, es gab nicht mehr viel zu sagen, die Worte wiederholten sich und klangen hohl. „Darf ich wenigstens heute Nacht noch hier bleiben?“ fragte er leise. Sie nickte, nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Schlafzimmer. Sie liebten sich, aber nicht leidenschaftlich und lachend wie sonst, sondern ernst, eindringlich. „Ich liebe dich“, flüsterte er bevor er einschlief, „bitte lass mich nicht allein.“

Hellwach blieb sie in seinen Armen liegen und begann in Gedanken schon zur organisieren, zu packen, abzureisen. Erst als es von der nahen Stadtkirche drei Uhr schlug, fiel auch sie in einen tiefen Schlaf. Am Morgen suchte sie vergeblich nach einem Zettel mit einer Nachricht, oder nach sonst einem Zeichen. Er war einfach gegangen.