Freitag
„Guten Tag, Herr Toggenburger, mein Name ist Nick Baumgarten von der Kantonspolizei. Haben Sie einen Moment Zeit?“ Toggenburger hatte gerade seinen Wagen auf dem reservierten Parkplatz vor seiner Firma abgestellt. Als er die Tür zuschlug und sich umdrehte, trat ihm Nick entgegen.
„Was fällt Ihnen ein, mich einfach so zu überfallen? Überhaupt sind Sie doch suspendiert und haben hier gar nichts zu suchen. Verschwinden Sie.“ Er trat einen Schritt vor und baute sich vor seinem Besucher auf; Nick erinnerte sich an den Tritt an die Garagentüre von gestern und spannte seine Muskeln an.
„Ich glaube, Sie sollten mir zuhören, Herr Toggenburger. Ich war gestern über Mittag in Dulliken und habe ein paar Fotos gemacht.“
„Ach ja? Was für Fotos denn? Und wo sagen Sie war das?“
„In Dulliken, vor dem Haus, in dem Ihre Dienstwohnung liegt. Die Fotos zeige ich Ihnen gerne in Ihrem Büro, dort haben wir genug Licht und sind ungestört.“ Mittlerweile waren ein paar weitere Autos auf den Firmenparkplatz gefahren; man fing früh an zu arbeiten bei der Tomet AG.
„Scheisse“, zischte der Unternehmer, „Scheisse, Scheisse, Scheisse.“ Er schaute Nick mit einem verächtlichen Ausdruck an, aber es war auch Angst in seinem Blick. „Dann kommen Sie mit, Sie niederträchtiger kleiner Erpresser.“
Der Empfang war noch nicht besetzt. Toggenburger öffnete die Tür zu seinem Eckbüro im Erdgeschoss, betätigte den Lichtschalter und warf seine Mappe Richtung Schreibtisch. Er schloss die Verbindungstür zum Sekretariat und liess sich in seinen ledernen Direktionssessel fallen, dann wies er auf einen Stuhl gegenüber, dessen Sitzfläche deutlich tiefer lag, so dass der Besucher zu ihm hinaufschauen musste.
Diese subtile Betonung der Hierarchie holte in Nick wieder die Wut hervor auf diesen Lokalkönig, der seine Macht ungeniert für seine eigenen Zwecke einsetzte, und dem niemand entgegentrat, nicht einmal der Polizeichef. Er holte die Fotos aus seiner Jacke und legte sie kommentarlos auf den Schreibtisch.
Nun verlor Toggenburger eine Spur seiner blühenden Gesichtsfarbe. „Was wollen Sie von mir, Sie Schnüffler?“
„Ich will nur wieder zurück zu meinem Team und meine Arbeit machen, sonst gar nichts“, antwortete Nick. „Sie rufen am besten jetzt gleich den Polizeikommandanten an und sagen ihm, Sie hätten sich geirrt, er solle mich wieder einsetzen.“
„Und dann schnüffeln Sie wieder in meiner Firma herum und versuchen mir etwas anzuhängen?“ Toggenburger sass immer noch auf dem hohen Ross.
„Wie gesagt, ich will nur meine Arbeit machen. Ich habe einen Mord aufzuklären, und ich werde alle Spuren verfolgen, die sich mir präsentieren.“
„Aber warum haben Sie dann meinen Finanzchef belästigt?“
„Weil Ihr Unternehmen vom Tod Matossis profitiert. Er scheint Beweise gefunden zu haben für eine Straftat; er telefonierte in seinen letzten Wochen mehrmals mit Beat Müller, das wissen Sie ganz genau.“
„Alles nur Vermutungen, das habe ich schon Hansmartin Vögtli gesagt. Auch Sie haben keinerlei Beweise, und trotzdem lassen Sie uns nicht in Ruhe.“
„Gut, Herr Toggenburger, dann werde ich jetzt ganz deutlich. Die Fotos, die Sie hier sehen, sind mit einem Tastendruck innert Sekunden bei Steff Schwager von der AZ. Er wartet darauf; ich habe angekündigt, dass ich ihm eine ganz heisse Story liefern werde. Sie haben die Wahl: entweder Sie rufen jetzt sofort meinen Chef an, oder Sie leben mit allen Konsequenzen der Publikation dieser Bilder, privat und politisch. Sie werden es morgen auf die Frontseite schaffen, da bin ich ganz sicher.“
Er stand auf, nahm die Fotos an sich und ging zur Tür.
„Warten Sie, Baumgarten“, sagte Adrian Toggenburger, „geben Sie mir die Handynummer Ihres Kommandanten.“
*
Angela und Madame Buchmann waren auf dem Weg nach Frick. Auf der Aarauer Seite der Staffelegg herrschte neblig-graues Wetter, aber auf der Passhöhe öffnete sich plötzlich das Panorama nach Norden, Richtung Schwarzwald, mit blauem Himmel, Raureif an den Bäumen und einzelnen Nebelfetzen über den Viehweiden.
„An diesen Ausblick erinnere ich mich“, sagte Frau Buchmann, „unser Vater packte früher im November oft die Familie ins Auto und fuhr mit uns ins Fricktal, wo die Sonne schien. Hier oben tauchten wir immer aus dem Nebelmeer auf, und es gab ein riesiges Freudengeschrei im Auto.“ Edith Buchmann lächelte. „Manchmal klappte es nicht, es war Nebel auf beiden Seiten, und dann gab es zum Trost für uns Kinder ein Fläschchen Coca-Cola in Densbüren, bevor wir wieder zurückfuhren. Daran habe ich seit mindestens dreissig Jahren nicht mehr gedacht – danke, dass Sie diesen Weg gefahren sind.“
Angela überliess sie ihren Erinnerungen und konzentrierte sich auf die Strasse. Sie war gespannt auf das Testament und glücklich darüber, dass Frau Buchmann sie gebeten hatte, bei der Sitzung mit dem Notar anwesend zu sein. Sie habe noch nie so etwas gemacht, sie sei froh, wenn jemand dabei sei und vielleicht sogar Fragen stelle. Es schien, als ob ihr der Aufenthalt in Aarau die Realität des Todes ihres grossen Bruders plötzlich sehr nahe gebracht habe, so dass die erfahrene Geschäftsfrau dankbar war für moralischen Beistand.
Im Treuhandbüro Naef duftete es wunderbar nach Kaffee, und die Damen wurden sehr freundlich empfangen. Edith Buchmann stellte dem Treuhänder ihre Begleiterin vor und bestätigte, dass sie nicht als Polizistin, sondern als Person ihres Vertrauens dabei sei. Die Identitätsausweise wurden überprüft; dann bat Otto Naef sie in sein Büro, schenkte Kaffee ein und kam gleich zur Sache.
„Ich habe hier ein Testament Ihres Bruders, Frau Buchmann, das er vor zehn Jahren aufgesetzt hat. Sie sind als Haupterbin eingesetzt und gleichzeitig als Testamentsvollstreckerin. Mit anderen Worten: alles, was Gion Matossi besass, gehört Ihnen, zumindest nach diesem Testament. Das Erbe umfasst die Einrichtung seiner Mietwohnung, sämtliche persönlichen Gegenstände, alle Gelder, die auf seinen Bankkonten liegen, sowie weitere Wertsachen aus seinem Besitz. Umgekehrt müssen Sie für folgende Kosten aufkommen: die Bestattung des Verstorbenen, Grabstein und Pflege des Grabes bis zur Aufhebung, die Räumung und Reinigung der Wohnung, die Miete bis zum Ablauf der Kündigungsfrist, und allfällige weitere Kosten, die aus dem Tod von Gion Matossi entstehen.“ Er machte eine kurze Pause und fragte dann: „Ist das für Sie verständlich, Frau Buchmann?“
Sie nickte. „Ja, bisher schon. Ich gehe davon aus, dass Sie nicht wissen, wieviel Geld Gion auf der Bank hatte.“
„Nein, das kann ich Ihnen nicht sagen, aber vielleicht weiss Frau Kaufmann mehr?“
Angela räusperte sich. „Nun, ganz genau weiss ich es nicht, vor allem kann es sein, dass wir noch nicht alle Konten kennen. Auf dem Kontokorrent liegen ungefähr zwanzigtausend Franken, und es gibt ein Sparkonto von weiteren hundertzwanzigtausend. Die Kosten sind also auf jeden Fall gedeckt.“
„Danke, Frau Kaufmann, das hilft uns sehr.“
Otto Naef war ein erfahrener Treuhänder, und er wusste, dass es für manche Erben sehr wichtig war zu wissen, in welchem Rahmen sich ihre Erbschaft bewegte. „Ich möchte Ihnen noch den letzten Satz des Testaments vorlesen, Frau Buchmann, denn darin liegt möglicherweise Sprengstoff verborgen. Hier heisst es: 'Allfällige weitere Instruktionen, die zwischen diesem Testament und meinem Tod notwendig werden, sind deponiert in meinem Schliessfach in der Ersparnisgesellschaft Kütttigen EGK. Der Schlüssel dazu befindet sich in meiner Wohnung.' Ich kann Ihnen nicht sagen, ob es solche Instruktionen gibt, und wenn ja, was ihr Inhalt ist; das müssen Sie selbst herausfinden. Ich empfehle Ihnen, das Schliessfach möglichst rasch zu öffnen, damit Sie Klarheit haben, auch über Ihre Aufgaben als Testamentsvollstreckerin.“
„Das dürfte nicht ganz einfach sein“, sagte Angela. „Wir haben bereits gründlich nach Unterlagen und Schlüsseln gesucht, aber bisher nichts gefunden. Ist es möglich, dass man Frau Buchmann das Fach öffnet, auch wenn sie keinen Schlüssel mitbringt?“
„Vielleicht hilft es, wenn Sie eine Kopie des Testaments vorweisen können. Fahren Sie doch auf dem Rückweg bei der EGK vorbei und fragen Sie. Man kann Ihnen dort sicher auch zeigen, wie der Schlüssel aussieht, dann wissen Sie, wonach Sie suchen müssen. Rufen Sie mich an, wenn man Ihnen Schwierigkeiten macht.“
Bevor die beiden Frauen sich verabschiedeten, hatte Angela noch eine letzte Frage an den Treuhänder. „Warum hat Gion Matossi vor zehn Jahren ein Testament geschrieben und es bei Ihnen deponiert?“
„Gute Frage, Frau Kaufmann, und leider eine ganz banale Antwort. Wir lernten uns an einem Seminar über Pauschalbesteuerung kennen und plauderten beim Mittagessen über Erbschaftssteuern, Stiftungen und Legate. Ein paar Tage später kam er vorbei und übergab mir seinen letzten Willen zur Aufbewahrung. Ihm war wohl einfach klar geworden, wie wichtig ein Testament ist.“
„Und hatten Sie seither Kontakt mit ihm?“
Naef schüttelte den Kopf. „Ich erklärte ihm damals, dass er periodisch ein neues Testament schreiben könne, dass es aber auch die Möglichkeit gebe, neue Instruktionen woanders zu hinterlegen. Deshalb hat er den letzten Satz dazugeschrieben. Ich habe ihn nicht mehr gesehen und auch nichts mehr von ihm gehört seither.“
*
Bei der Ersparniskasse in Küttigen wurde das Anliegen von Edith Buchmann unfreundlich abgewiesen. Sie solle mit einem Schlüssel und einer Vollmacht kommen, dann werde man ihre Identität überprüfen und ihr vielleicht das Schliessfach zeigen, aber das könne dauern. Auch dass Angela ihren Polizeiausweis zückte und den Mitarbeiter bat, mit seinem Vorgesetzten sprechen zu dürfen, nützte nichts. Der Direktor war abwesend und stand heute Nachmittag nicht mehr zur Verfügung; er allein konnte solche Ausnahmen von der Regel bewilligen und anordnen. Nicht einmal den Schlüsseltyp wollte der Mitarbeiter den Besucherinnen zeigen, er beschrieb ihn als gewöhnlichen Schlüssel mit einem beidseitigen Bart.
„Kommen Sie am Montag wieder, dann schauen wir mit dem Chef, wie es weitergeht. So pressieren wird es wohl nicht mit dem Erben.“ Die beiden Frauen tauschten einen Blick und verliessen die Bank wortlos.
Draussen schlug Angela vor, jetzt erst mal etwas essen zu gehen; am Nachmittag wollten sie die Wohnung von Gion Matossi nochmals auf den Kopf stellen, um den Schlüssel zu finden. Angela rief Peter an, fasste kurz die Ergebnisse des Vormittags und ihre Pläne für den Nachmittag zusammen. Peter sagte, er habe ein Gerücht gehört, wonach Nick wieder zum Team stossen werde, vielleicht schon sehr bald. Er sagte auch, er kenne den Direktor der Küttiger Bank persönlich und habe sogar seine Handynummer, notfalls könne man das Prozedere also beschleunigen.
„Wir suchen zuerst nach dem Safeschlüssel, Peter, warte noch mit dem Anruf. Ich melde mich, und du dich auch, bitte, falls Nick auftaucht. Ich kann jederzeit zu einer Besprechung kommen.“
*
Der Anruf seines Chefs erreichte Nick im Auto. „Ich weiss nicht, was du angestellt hast, aber Grossrat Adrian Toggenburger hat mit dem Kommandanten telefoniert und sich für seine Beschwerde über dich entschuldigt. Es handle sich um ein Missverständnis, und man solle dich bitte unverzüglich mit allen Ehren wieder einsetzen. Er werde dir keine Steine mehr in den Weg legen bei den Ermittlungen, und auch das Finanzdepartement werde sich kooperativ verhalten, dafür werde er sorgen.“ Gody machte ein Pause, und man konnte förmlich hören, wie sein Hirn arbeitete. „Kannst du mir bitte erklären, was das Ganze soll?“
Nick beschloss, seinen Vorgesetzten zappeln zu lassen. „Nein, kann ich nicht.“
„Kannst du nicht oder willst du nicht?“
„Kein Kommentar.“
„Hast du etwas in der Hand gegen Toggenburger?“
„Kein Kommentar.“
Vom anderen Ende der Leitung war ein tiefer Seufzer zu vernehmen. „Gut, wie du willst. Ich erwarte dich in einer Stunde bei mir im Büro, und zwar mit einem Bericht zu dem, was du während der letzten sechsunddreissig Stunden getrieben hast, dienstlich meine ich. Ich lasse dich erst wieder zum Team, wenn ich sicher bin, dass du nichts Illegales getan hast.“
Nick fuhr direkt ins Polizeikommando, parkte seinen Wagen und ging an der Aare spazieren. Er überlegte, was er berichten konnte und was nicht; er hatte Toggenburger versprochen, von den Fotos keinen Gebrauch zu machen, solange sich der Unternehmer an die Abmachungen hielt. Die Drohung, dass die Fassade des treu besorgten, auf christliche Werte pochenden Familienvaters heruntergerissen und damit seine Glaubwürdigkeit zerstört werden könnte, hatte ihn zum Einlenken bewegt; allerdings hatte er nur dem Druck nachgegeben, Einsicht schien keine Rolle zu spielen.
Als Nick die Forderung nach Selbstanzeige in Steuersachen stellte, wäre der Deal beinahe gekippt, so sehr regte sich Toggenburger auf.
„Wissen Sie, was mich das kostet? Mindestens soviel wie Sie in einem ganzen Jahr verdienen, Sie dreckiger kleiner Beamter! Das werde ich auf gar keinen Fall tun, da können Sie ewig warten.“
Darauf war Nick wieder aufgestanden und davongegangen, und diesmal kam er bis zu seinem Auto, bevor Toggenburger ihn zurückrief. Er erklärte sich bereit, mit Hansmartin Vögtli reinen Tisch zu machen, aber nur unter der Bedingung, dass nichts davon an die Öffentlichkeit dringe. Darauf habe er keinen Einfluss, sagte Nick, das sei eine Sache zwischen Toggenburger und dem Finanzdirektor.
Zähneknirschend rief der Unternehmer Frau Generalsekretärin Sarah König an und vereinbarte einen Termin, „um ein paar alte Steuersachen meiner Firma ins Reine zu bringen, unter Umständen schulde ich Ihnen noch etwas.“
Bevor er die Tomet AG verliess, öffnete Nick die Tür zum Direktionssekretariat und bat die Assistentin um die Agenda des Chefs. Dort begegnete er einem hieb- und stichfesten Alibi für den Mord an Gion Matossi: eine zweitägige Klausur der Kantonalpartei in Braunwald, geleitet von Adrian Toggenburger.
Nach einer halben Stunde an der frischen Luft wusste Nick, was er seinem Chef erzählen würde und was nicht: im Prinzip die Wahrheit, aber nicht die ganze Wahrheit. Was er in Dulliken gesehen hatte, würde er für sich behalten.
*
Angela Kaufmann machte sich keine grossen Hoffnungen, schliesslich hatten sie die Wohnung von Gion Matossi bereits systematisch durchsucht. Sie sah aber, dass Edith Buchmann ganz anders vorging als die Polizei: sie suchte überall dort, wo man einen Gegenstand von der Grösse eines Schlüssels in der Menge von anderen Gegenständen übersehen konnte. Ihr erstes Ziel waren die Besteckschubladen, dann kam der Spiegelschrank im Bad dran, der Verbandskasten, der Nähkorb. Sie schüttelte den Kopf. „Gion war ein Bastler, aber ich sehe nirgends Werkzeug. Er muss ein Kellerabteil haben, das gehört doch in der Schweiz zu jeder Mietwohnung.“
„Ja, das hatte er, aber da sind wirklich nur Werkzeuge, angebrauchte Farbtöpfe, leere Kartonkisten. Der Schlüssel hängt hinter der Küchentüre.“
Angela begleitete die Schwester ins zweite Untergeschoss zum Keller, der mit Holzrosten in etwa drei Quadratmeter grosse Räume unterteilt war. In den meisten herrschte das nackte Chaos, nur in wenigen waren die Dinge ordentlich untergebracht.
Gion Matossi hatte auf einer Seite ein Kellerregal aus rohem Holz aufgestellt; gegenüber war eine Pavatexplatte mit Haken, an denen Zangen, Scheren, Schraubenzieher, Pinsel und viele andere Werkzeuge hingen. An der dritten Wand stand ein Weingestell mit etwa drei Dutzend Flaschen.
Edith Buchmann konzentrierte sich auf das Regal, auf dem wie in einem Verkaufsladen für Kinder kleine Schubladenmöbel standen, die sorgfältig angeschrieben waren. In mindestens zwanzig Schubladen lagerten Polsternägel und Bilderhaken, dünne und dicke Schrauben, Dübel, Elektroklemmen, alles fein säuberlich geordnet. Nach wenigen Minuten hatte sie den gesuchten Gegenstand zwischen einer Anzahl von unterschiedlichen Inbusschlüsseln gefunden und hielt ihn hoch. „Er ist sogar angeschrieben, 'Safe EGK' steht auf dem Anhänger“, sagte sie. „Mein Bruder war schon als Junge ein sehr ordentlicher Mensch; er hielt es nicht aus, wenn die Dinge nicht zusammenpassten oder die Löffel nicht in die gleiche Richtung schauten.“
Angela nickte anerkennend und gab zu, dass sie und ihre Kollegen wohl nicht gründlich genug gewesen waren. „Ich bin sehr froh, dass Sie uns helfen, Frau Buchmann. Ohne Sie hätten wir wohl noch lange gesucht.“
Die Frauen schlossen den Keller wieder ab und fuhren mit dem Lift nach oben. Während Angela mit Peter telefonierte, ging die Schwester langsam durch die Räume der Wohnung und machte sich ein Bild von dem, was durch das Testament nun in ihrem Besitz war. Nur wenig gefiel ihr; sie würde ausser ein paar Bildern und den persönlichen Unterlagen wohl alles verkaufen oder verschenken.
„Wir können heute leider nicht mehr in die Bank, Frau Buchmann, sie schliesst in einer Viertelstunde. Sie wissen ja, von Kundendienst hält man dort nicht viel.“ Angela erklärte, dass sie aber vermutlich nicht bis Montag warten müssten, sondern gleich morgen früh das Schliessfach öffnen könnten. „Das wird noch bestätigt, in einer halben Stunde wissen wir, ob es klappt. Könnten Sie noch eine Nacht bleiben?“
„Ungern, aber es bleibt mir wohl nichts anderes übrig. Und sonst komme ich nächste Woche wieder.“
„Das wird hoffentlich nicht nötig sein, wir können das sicher morgen erledigen. Ich muss jetzt zu einer Teambesprechung, kann ich Sie vorher ins Hotel fahren?“
Aber Edith Buchmann wollte noch eine Weile in der Wohnung ihres Bruders bleiben und sich erinnern. Später würde sie zu Fuss zurück zum Hotel gehen.
*
Das Team brauchte fast drei Stunden, um alle neuen Fakten und Informationen zu sammeln und zu ordnen. Alle freuten sich, dass Nick Baumgarten wieder dabei war; ohne ihn hatte der Ankerpunkt der Ermittlungen gefehlt, oder die Spinne im Netz, wie Peter halb sarkastisch anmerkte. Angela schob den Gedanken beiseite, dass mit ihrem Chef irgendetwas immer noch nicht in Ordnung war; Hauptsache, er war wieder präsent und koordinierte ihre Bemühungen um die Lösung des Falls. Seine Ausführungen brachten allen wieder ins Bewusstsein, dass sie in der Frage Mord oder Selbstmord nach wie vor keine Klarheit hatten.
„Wir haben immer noch keinen Mörder“, fasste Nick zusammen, „und wir wissen nicht einmal, ob es einen gibt. Aber wir haben inzwischen viele Informationen, mit denen wir arbeiten können. Zunächst darf ich feststellen, dass einer meiner ursprünglichen Verdächtigen, Adrian Toggenburger, entlastet ist. Sein Alibi ist unumstösslich: er leitete eine Klausur, die das ganze Wochenende dauerte, und zwar in Braunwald im Kanton Glarus. Er feierte mit seinen Leuten bis tief in den Sonntagmorgen, was der Barkeeper bestätigt. Es ist faktisch unmöglich, dass er frühmorgens nach Aarau und wieder zurückgefahren ist, um Matossi zu erschiessen; Braunwald ist nicht mit dem Auto zu erreichen. Toggenburger profitiert zwar kurzfristig vom Tod Matossis, aber er weiss genau, dass der nächste Steuerprüfer ihn ebenfalls unter die Lupe nehmen wird, auch wenn es ein paar Monate dauert. Toggenburger ist nicht dumm, sein Metier ist die Günstlingswirtschaft, und er findet immer Mittel und Wege, sich aus einer brenzligen Situation herauszuwinden.“
Angela unterbrach. „Darf ich erfahren, wieso Toggenburger überhaupt mit dir geredet und dich nicht einfach aus der Firma geschmissen hat?“
Nick lächelte, liess aber seinen Chef darauf antworten. „Nick hat ihn mit einer Tatsache konfrontiert, die der Herr Grossrat nur ungern in der Zeitung gelesen hätte“, sagte Gody Kyburz, „das erleichterte die Kommunikation ganz erheblich.“
Damit löste er bei Angela und Peter lautes Gelächter aus. „Simple Erpressung, verstehe ich das richtig?“ Peter konnte sich kaum erholen. „Woraus bestand denn diese heisse Information?“
Nick schüttelte den Kopf: „Kein Kommentar. Jedenfalls wird Toggenburger die Mitarbeiter des Steueramts in Zukunft freundlicher behandeln, und er wird seine vergangenen Sünden Finanzdirektor Vögtli beichten, dafür habe ich gesorgt.“ Nick schaute seinen Mitarbeitern in die Augen. „Darüber bewahren wir absolutes Stillschweigen, auch gegenüber der eigenen Familie, klar?“ Alle nickten.
„Gut. Der nächste Kandidat ist Paul Hintermeister, der offensichtlich in die Wohnung von Matossi eingebrochen ist und den Laptop mitgenommen hat. Wir wissen noch nicht, was er suchte. Für Toggenburger ist Hintermeister übrigens ein nichtssagendes kleines Würstchen, obwohl sie immer wieder gemeinsam grosse Bauprojekte abwickeln; er glaubt nicht, dass der Immobilienmakler in grösserem Stil Steuerbetrug begangen hat. Schall und Rauch, sagt er, Hintermeister versteuere jedes Fränkli, das er verdiene. Entweder schützen sich die beiden gegenseitig, oder sie kämpfen um den Titel des grössten Schlitzohrs. Vielleicht sagt Toggenburger aber auch die Wahrheit, und dann stehen private Motive im Vordergrund, wie zum Beispiel das Verschwinden dieser Patrizia Obrist, oder was auch immer hinter dem 'Geheimnis' steckt. Sobald Hintermeister wieder in Aarau ist, nehmen wir ihn uns vor, und zwar ohne Samthandschuhe. Wir müssen ihn überraschen, er darf die Dateien auf dem Laptop keinesfalls löschen. Möglicherweise hat er das Passwort noch nicht geknackt; Matossi war der Typ, der sein Passwort regelmässig ändert und nirgendwo aufschreibt. Wir können nicht nach Davos fahren und ihn verhaften, aber ich möchte, dass sein Handy geortet wird, so dass wir informiert sind, sobald er sich auf den Heimweg macht. Peter, das ist dein Job, bitte.“
Peter mochte solche klar definierten Aufgaben, er nickte. „Ich sorge dafür. Im Übrigen habe ich mit dem Direktor der Bank in Küttigen gesprochen; er steht uns morgen Vormittag zur Verfügung, um das Schliessfach zu öffnen. Wann wollt ihr dort sein?“ Sie einigten sich auf neun Uhr, Angela würde Edith Buchmann im Hotel abholen, Nick wollte ebenfalls mitkommen.
„Und was ist, wenn der Safe leer ist?“ warf Gody ein, „oder wenn er nichts Relevantes enthält?“
„Dann konzentrieren wir uns auf Hintermeister. Wenn jemand etwas weiss, dann er; ich bin sicher, dass er uns weiterhelfen kann. Er hat eine Ahnung von dem, was auf Matossis Computer gespeichert sein könnte, und das werden wir aus ihm herausholen.“
„Und Fritschi, was ist mit ihm?“ Peter war immer derjenige, der kein Detail vergass, und der keinen Faden verlor. „Soll ich nochmals mit ihm reden?“
Nick schüttelte den Kopf. „Warten wir ab. Wenn wir am Montag nichts Neues haben, wenn uns Hintermeister nicht ein Motiv liefert oder eine glaubhafte Geschichte, dann können wir uns überlegen, ob wir Fritschi nochmals befragen wollen. Aber ehrlich gesagt, in mir sträubt sich alles dagegen, einen sterbenskranken Menschen zu befragen.“
„Priester oder Pfarrer tun das aber auch“, warf Angela ein, „manchmal kann eine letzte Beichte den Tod erleichtern.“
„Vielleicht, aber ich bin kein Priester“, sagte Nick, „und auch kein Sterbebegleiter. Ich will zuerst die anderen Spuren verfolgen.“
„Gut, dann lasse ich euch arbeiten“, sagte Gody und stand auf. „Ich bin sehr froh, dass du wieder dabei bist, Nick, und dass die Geschichte mit Toggenburger glimpflich abgelaufen ist. Wir hätten alle zusammen mit dir untergehen können, das weisst du. Ich bin übers Wochenende mit der Familie im Wallis, aber übers Handy könnt ihr mich erreichen. Ciao!“
Peter machte sich daran, die Handyüberwachung von Hintermeister zu organisieren, Angela rief Edith Buchmann an und versprach, sie um viertel vor neun abzuholen; Nick liess sich in seinem Bürosessel zurückfallen und dachte nach.
Der Fall schien ungreifbarer zu werden, obwohl das Team viele verschiedene Spuren entdeckt hatte; alles war vage und wenig konkret. 'Vielleicht' und 'möglicherweise' waren die Worte, die immer wieder auftauchten; es schien beinahe, als ob die Ermittlungen seine privaten Emotionen spiegelten. Auch dort gab es keine Sicherheit, nur Vermutungen.
Mit einem tiefen Seufzer nahm er sich die Akte von Patrizia Obrist nochmals vor. Gody Kyburz hatte zwar mit einem der damaligen Ermittler gesprochen, aber es war nichts Neues dabei herausgekommen. Nach Abschluss ihrer Matura hatten die jungen Leute in einer Waldhütte oberhalb von Biberstein ein Fest gefeiert, das von Mittwochabend bis Freitagmittag dauerte. Insgesamt hatten etwa vierzig Maturanden aus verschiedenen Parallelklassen daran teilgenommen, darunter Gion Matossi, Paul Hintermeister, Kurt Fritschi und Maja Studer, allerdings nicht alle gleichzeitig. Laut und ausgelassen sei es gewesen, aber das sei verständlich am Ende der Schulzeit, sagte ein Nachbar damals.
Am Freitagabend meldete die Familie Obrist ihre Tochter Patrizia als vermisst, und der Marathon der Befragungen und Untersuchungen begann. Alle hatten Patrizia am Fest in der Waldhütte gesehen, allerdings erinnerte sich keiner an den Zeitpunkt, als sie nicht mehr da war. Die Mitschüler waren sich einig, dass die junge Frau viel trank, aber sie war bei weitem nicht die einzige. Es gab einen Raum mit etwa fünfzehn Matratzen, wo man seinen Rausch ausschlafen konnte, bevor man nach ein paar Stunden wieder mit dem Trinken anfing. Eine Freundin erinnerte sich, Patrizia dort laut schnarchend gesehen zu haben, aber sie hatte keine Ahnung mehr, wann das war.
Man suchte die Umgebung mit Hunden ab, weitete die Suche zur Aare hin aus, fahndete schliesslich in der ganzen Schweiz und im Ausland nach ihr – ohne den geringsten Erfolg. Ihre beste Freundin behauptete, sie wäre niemals einfach abgehauen, ohne etwas zu sagen. Selbstmord wurde ausgeschlossen; alle waren sich darüber einig, dass Patrizia eine fröhliche junge Frau war, die ihrem zukünftigen Leben optimistisch entgegenblickte. Es musste also ein Verbrechen sein, nur gab es keine Spuren, keine Beweise, kein Motiv, kein Geständnis.
Nach drei Jahren erstellte die Kantonspolizei einen Schlussbericht; danach blieb Patrizia Obrist zwar auf der Vermisstenliste, aber die Untersuchungen wurden eingestellt. Eine Fahndung würde erst wieder eingeleitet, wenn glaubwürdige neue Hinweise auftauchten. Der vage Tipp eines Reporters oder die Beschreibung eines Mediums gehörten wohl nicht dazu, dachte Nick, auch nicht sein eigenes Gefühl, dass der Tod von Gion Matossi etwas zu tun hatte mit dem Verschwinden von Patrizia Obrist. Auf seine Gefühle konnte sich Nick Baumgarten im Moment sowieso nicht verlassen, zu gross war der Aufruhr in seinem Herzen.