15
Die Kaffeemaschine signalisierte Mark mit lautem Blubbern, dass sie nahezu fertig war, als zeitgleich Sven und Jake vor dem Haus eintrafen. Er lächelte, als er Jakes Motorrad sah. Die Suzuki mit Plastikverkleidung und hoher PS-Zahl war typisch für ihn, der im Gegensatz zu Sven, Dirk und ihm derartige Rennmaschinen bevorzugte. Ein Punkt, der ständig zu heftigen, aber freundschaftlichen Diskussionen zwischen ihnen führte.
Dirk betrat die Küche und lehnte sich gähnend gegen die Arbeitsplatte. Er sah müde aus, wirkte aber gelassen. »Hast du schon Alex getroffen?«
»Ja. Und ich wurde zum Kaffeekochen verdonnert.«
»Dann machst du wenigstens was Sinnvolles«, kommentierte Sven von der Küchentür aus.
Statt zu antworten, nahm Mark vier Kaffeebecher aus dem Schrank und stellte sie auf die Arbeitsplatte. »Sonst noch Wünsche?«, erkundigte er sich mit übertriebener Freundlichkeit, während er absichtlich nur seinen Becher füllte.
Schnaubend schob Dirk ihn zur Seite. »Nicht gerade überzeugend, dein Auftritt als Kellner. Den ›Sprich-mich-an-und-ich-leg-dich-um‹-Part hast du besser hinbekommen.«
Gelassen prostete Mark Dirk zu. »Touché, ich arbeite dran.« Grinsend füllte er die restlichen Becher und schob sie Jake und Sven zu. »Also gut, dann zum Thema. Ich hatte in Little Creek Befehle bekommen, die mir nicht gefielen. Dazu musste ich noch mein Wort geben, keine eigenmächtigen Interpretationen vorzunehmen, sondern mich exakt an die Anweisungen zu halten. Hätte ich das nicht getan, wäre mir wegen Laura der Fall sofort entzogen worden, und das wollte ich auch nicht. Den Rausschmiss aus der Navy wegen Befehlsverweigerung hätte ich ja noch in Kauf genommen, aber das hätte mich oder eher uns bei diesem Fall nicht weitergebracht.« Verlegen trank Mark einen Schluck Kaffee und wusste nicht, ob Sven und Dirk ihn verstehen würden. »Ich nehme es eben ernst, wenn ich mein Wort gebe. Bis gestern Abend wusste ich einfach nicht, wie ich da rauskommen sollte.«
So knapp wie möglich fasste Mark die Informationen über das Leck bei den SEALs zusammen. Stille folgte seiner Eröffnung, sodass selbst das leise Zischen der Isolierkanne unangenehm auffiel.
»Dann sollten Jake und Dirk eher Köder als verdeckte Ermittler sein«, stellte Sven nachdenklich fest und drehte am Deckel der Kaffeekanne.
»Stimmt. Wobei ich nicht sicher bin, inwieweit sie von Dirk wissen, von Jake vermutlich schon.«
Amüsiert verfolgte Mark, dass Sven die Kanne wegstellte, ohne seinen Becher nachgefüllt zu haben. Geistesabwesend führte er den leeren Becher an den Mund und betrachtete ihn dann verständnislos. »Anscheinend brauchst du doch einen Kellner«, stellte Mark süffisant fest.
Seufzend griff Sven erneut nach der Kanne. »Ich verstehe einfach nicht, wie Kranz da reinpasst.«
Hilflos hob Mark eine Schulter. »Das ist die Frage. War das Ganze eine absichtliche Provokation? Will jemand, dass wir hier sind? Dazu Kranz’ Verschwinden und eure gelöschte Anfrage. Ich weiß es nicht und hatte gehofft, dass dir etwas einfällt.«
Mit einem lauten Knall stellte Sven die Kanne auf der Arbeitsplatte ab. »Ich weiß nur, dass Dirks Liste vom Verfassungsschutz gelöscht wurde. Aber mir ist es ein Rätsel, wie das mit euch oder den SEALs zusammenhängt. Allerdings wurde ich ausdrücklich davor gewarnt, mit euch zusammenzuarbeiten.«
Als Mark die wissenden Mienen der anderen sah, wurde ihm klar, dass ihm am Vortag einiges entgangen war. »Von wem?«
»Stephan Reimers, Abteilungsleiter beim Verfassungsschutz. Ich dachte, er wäre ein Freund.«
Nach einem Blick auf die Uhr stellte Dirk seinen Becher weg, griff zur Kaffeekanne und schenkte Sven nach. »Hier, ehe du verdurstest.«
»Danke, dir nehme ich den Kellner wenigstens ab.« Spöttisch musterte Sven seinen Partner, der zwar noch keine Krawatte und kein Sakko trug, aber mit dunkler Hose und weißem Hemd bereits für seinen Auftritt als Wirtschaftsprüfer gekleidet war. »Nettes Outfit übrigens. Willst du das nicht auch zukünftig im Büro tragen?«
»Noch so ein Spruch, und der nächste Kaffee landet auf deiner Jeans.«
»Oder du nimmst Nachhilfe im IT-Bereich, dann bleibt dir der Anzug erspart«, schlug Jake vor, der lediglich ein graues Hemd zu einer schwarzen Jeans trug.
»Schon klar, Jake. Ich erinnere dich daran, wenn du dich das nächste Mal in deine Uniform schmeißen musst.«
»Wenn ihr mit euern Kleiderfragen durch seid, hätte ich noch eine Frage«, beendete Sven das Geplänkel. »Wollt ihr wirklich bei VirTech rein? Auch wenn ihr jetzt wisst, dass sie vermutlich wissen, dass ihr oder zumindest einer von euch kommt?« Sven schnaubte und grinste schief. »Himmel, ist das kompliziert. Also, vielleicht wäre es wirklich besser, ihr verzichtet darauf. Wir könnten auch anders an die Informationen gelangen.«
Keiner der beiden würdigte Sven einer Antwort.
Nachdem Jake und Dirk gegangen waren, zogen Sven und Mark sich in Dirks Arbeitszimmer zurück.
»Sag mal, wieso weiß Alex eigentlich, dass ich hier bin?«, fragte Mark und ließ sich auf dem Sofa nieder.
Zum ersten Mal an diesem Morgen lachte Sven befreit auf. »Vor unseren Frauen kann man einfach nichts verbergen. Das Haus, das Dirk für dein Team organisiert hat, liegt fast genau gegenüber von Nataschas Haus. Als sie Jake zufällig gesehen hat, hat sie natürlich sofort bei Alex angerufen, und dann haben die beiden dein Team besucht. Ganz stilecht mit Kuchen und Muffins zur Begrüßung.«
Natascha war eine Staatsanwältin, die mit Dirk und Alex befreundet war und die ihnen im letzten Jahr einige Eigenmächtigkeiten hatte durchgehen lassen. Da wäre er gerne dabei gewesen. »Und wie ist es gelaufen?«
»Die Küche war wohl überraschend aufgeräumt, aber die Ersatzmunition und die schusssicheren Westen im Flur haben sie irgendwie gestört.«
Mark grinste, wurde aber gleich wieder ernst. »Also, wenn Kranz nicht weiß, dass ich ein SEAL bin, sondern immer noch glaubt, ich wäre beim Schatzamt, dann macht der Angriff auf unser Team keinen Sinn.«
Sven nickte und zog sich Dirks Schreibtischsessel heran. »Trotzdem liegt es auf der Hand, dass die Auswahl von Rages Team kein Zufall war.«
Der nächste Punkt war genauso rätselhaft: Wenn wirklich ausgerechnet sein Team nach Hamburg gelockt werden sollte, war die Löschung der Anfrage des LKA absolut unverständlich.
Sven betrachtete angelegentlich einen Punkt an der Wand hinter Mark. »Dir ist aber schon klar, was unser nächster Schritt sein wird?«
Ehrlich ratlos zuckte Mark mit der Schulter, ahnte aber, dass Svens nächste Worte ihm nicht gefallen würden.
Tief durchatmend sah Sven ihn direkt an. »Egal, wie du es drehst, Laura ist in den Mist verwickelt.«
Als Mark widersprechen wollte, hob Sven entschieden eine Hand. »Nun lass mich doch erst einmal ausreden. Doch nicht in die Verbrechen, sondern ich vermute, sie weiß etwas, das ihr selbst nicht bewusst ist. Deshalb auch diese Einschüchterungsversuche, denn was anderes ist es nicht. Eine echte Gefahr kann ich bei zerstörten Reifen oder einer eingeschlagenen Scheibe nicht erkennen. Trotzdem müssen wir mit ihr reden. Suche es dir aus: Rede du mit ihr, oder ich übernehme das. Und wenn sie wirklich dichtmachen sollte, habe ich auch kein Problem, sie offiziell vorzuladen.«
»Das würde sie nicht tun. Wir hatten nur … ein paar Differenzen. Ich kläre das.«
»Bist du sicher, dass du das …?« Marks drohender Blick reichte, Sven brach mitten im Satz ab, aber seine skeptische Miene sprach für sich.
Seufzend beugte sich Dirk vor und schaltete den MP3-Spieler aus. Nach den harten Klängen von AC/DCs Hells Bells wirkte die plötzliche Stille ungewohnt, aber es hätte kaum zu seinem Image als seriöser Wirtschaftsprüfer gepasst, mit dröhnenden Boxen vorzufahren. Mit einem letzten Blick vergewisserte er sich, dass das Fax vom Außenwirtschaftsministerium, das ihn zu der angeblichen Prüfung bevollmächtigte, griffbereit in der Notebooktasche steckte.
Wegen der Sicherheitsmaßnahmen zog Dirk es vor, außerhalb des Firmengrundstücks zu parken. Bei Tageslicht war der Eindruck eines Hochsicherheitsbereichs noch deutlicher. Energisch unterdrückte Dirk einen Anflug von Nervosität. Selbst wenn sie erfahren sollten, dass er fürs LKA arbeitete, würden sie feststellen, dass er sich durchaus zu wehren wusste, auch ohne seine Sig Sauer, die im Handschuhfach lag. Er seufzte leise. Leider hatten sie keine Möglichkeit gefunden, dass er die Waffe unauffällig bei sich trug. Seine Tarnung wäre sofort aufgeflogen, und das war die zusätzliche Beruhigung nicht wert.
Vor der gläsernen Eingangstür standen zwei Wachleute, bei denen er sich mit Personalausweis und dem Fax des Ministeriums ausweisen musste, erst dann wurde er durchgelassen. Der Eingangsbereich verband die beiden Gebäudeflügel miteinander. Rechts, in der Halle mit den Laderampen, vermutete er die Produktionsanlagen, während der linke Flügel wie ein typischer Bürobereich wirkte. Mit einem unverbindlichen Lächeln ging er auf den Empfangstresen zu und ließ sich dabei nicht anmerken, dass er den Mann, mit dem die Frau am Tresen sprach, kannte. Offensichtlich hatte sie schon auf ihn gewartet, denn die Blondine, deren Namensschild sie als Angelika Göhrlich auswies, verstummte mitten im Satz und begrüßte ihn mit einem liebenswürdigen Lächeln. »Sie müssen Herr Richter sein.«
»Richtig.« Dirk nickte ihr und Jake freundlich zu.
Frau Göhrlich tippte auf die Tastatur ihres Computers und lächelte dann angestrengt. »Wir haben leider ein kleines Problem mit unseren PCs und der Telefonanlage, ich sage Herrn Westinghaus rasch persönlich Bescheid, dass Sie eingetroffen sind, Herr Richter. Nehmen Sie doch bitte Platz.« Zuvorkommend wies sie auf eine Gruppe Ledermöbel und war bereits auf dem Weg in den linken Gebäudetrakt. Erst kurz vor einer weiteren Glastür schien sie sich an den anderen Besucher zu erinnern. »Danach sage ich unserem EDV-Leiter, dass Sie da sind«, rief sie wesentlich kühler Jake zu.
Aus den Augenwinkeln beobachtete Dirk, wie der angebliche IT-Experte bei dieser Behandlung ironisch eine Augenbraue hob. Über seine Notebooktasche gebeugt senkte Dirk seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern: »Tja, Anzugträger eben. Solltest du drüber nachdenken.« Jakes Mundwinkel zuckte, die Augen funkelten amüsiert, dann saß die ausdruckslose Miene des SEALs wieder.
Wenig später saß Dirk dem Geschäftsführer in dessen Büro bei einer Tasse Kaffee gegenüber. Obwohl sich Westinghaus freundlich zeigte, registrierte Dirk eine unterschwellige Spannung. Den Gedanken, seine Tarnung könnte bereits aufgeflogen sein, verdrängte er. Niemand hatte gerne Prüfer im Haus, da war VirTech keine Ausnahme.
Obwohl Westinghaus seiner Sekretärin Anweisung gegeben hatte, keine Anrufe durchzustellen, wurden sie vom Klingeln des Telefons unterbrochen.
Mit einem entschuldigenden Lächeln griff der Geschäftsführer zum Hörer. »Das passt im Moment schlecht.« Sein Blick irrte zu einem kleinen Aktenschrank. »Ich melde mich dann.«
Wortreich entschuldigte er sich anschließend bei Dirk für die Störung, bevor er endlich höflich lächelnd zur Sache kam. »Sie können sich bestimmt vorstellen, dass wir gestern von der Ankündigung Ihrer Prüfung überrascht worden sind.«
»Natürlich, eigentlich müsste ich mich für diesen Überfall entschuldigen. Ich habe keine Ahnung, was im Ministerium schiefgegangen ist, schließlich bin ich schon vor zwei Monaten beauftragt worden, diese Prüfung für die Berliner Kollegen durchzuführen. Leider war ich bis gestern im Urlaub, ansonsten hätte ich mich selbstverständlich früher mit Ihnen in Verbindung gesetzt.«
»Ist es nicht ungewöhnlich, dass die Behörde keine Beamten aus Berlin herschickt?«
»Nein, dieses Vorgehen ist mittlerweile gängiger Usus.« Dirk trank lächelnd einen Schluck Kaffee. »Kosteneinsparungen und Effizienzsteigerungen sind dort keine Fremdworte mehr, sodass häufig Wirtschaftsprüfer vor Ort mit kleineren Aufträgen betraut werden. Die Kollegen aus Berlin werden nur noch bei längeren, aufwendigeren Prüfungen tätig. Hier geht es um eine reine Routineangelegenheit, die gut delegierbar ist und die wir bestimmt rasch erledigt haben.«
Offensichtlich war es Dirk gelungen, den Umfang der Prüfung ausreichend herunterzuspielen, denn der Geschäftsführer wirkte erleichtert. »Wie lange werden Sie brauchen?«
»Ich rechne mit drei Tagen. Wahrscheinlich reicht es, wenn ich bis zum frühen Nachmittag vor Ort bin.« Am liebsten hätte er einen längeren Zeitraum angegeben, wusste aber nicht, ob Westinghaus oder ein Mitarbeiter von ihm Erfahrungen mit derartigen Prüfungen hatte. Bereits mit dieser Zeitangabe bewegte er sich bei dem kaum vorhandenen Exportgeschäft von VirTech am obersten Rand dessen, was vertretbar war.
»Gut, das entspricht dem, was mir der Leiter unserer Buchhaltung gesagt hat. Herr Fehling hat bereits bei einem anderen Unternehmen eine solche Prüfung begleitet und wird Sie tatkräftig unterstützen.«
»Schön, das vereinfacht meine Aufgabe.« Dirk achtete sorgfältig darauf, dass sein Gesichtsausdruck nichts verriet. Genau das hatte er nicht hören wollen, sondern gehofft, sich möglichst selbstständig umsehen zu können. Abwartend sah er Westinghaus an, dem anzumerken war, dass er noch etwas sagen wollte, aber offensichtlich nicht wusste, wie er es anfangen sollte. Dirk hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, worum es ging, und fragte sich gespannt, wie der Geschäftsführer ihm den Zusammenbruch des Computernetzwerks verkaufen würde.
Mit einem leisen Seufzer stellte Westinghaus schließlich seine Kaffeetasse ab. »Herr Richter, ich will ganz offen sein. Ich kann Ihnen heute gerne alles zeigen, allerdings haben wir derzeit ein ernsthaftes Problem mit unserer EDV-Anlage. Ein Fachmann ist bereits beauftragt worden, und wir sind sicher, dass morgen wieder alles im gewohnten Rahmen funktionieren wird. Ein Zugriff auf die Daten der Buchhaltung ist zurzeit leider nicht möglich.«
Dirk konnte sich gut vorstellen, wie unangenehm dem Geschäftsführer dieses Eingeständnis war. Zum Glück ahnte der Mann nicht, dass der vermeintliche Fachmann derjenige war, der die Computeranlage am Vorabend mit etwas Hilfe einer amerikanischen Computerfirma erfolgreich lahmgelegt hatte. Dirk bemühte sich um einen bedenklichen Gesichtsausdruck. »Das klingt nicht gut. Kommt das öfter vor?«
Westinghaus hob abwehrend die Hände. »Nein, natürlich nicht. Es gab ein Sicherheitsproblem mit unserem Mailserver. Wir sind das Opfer eines Virenangriffs geworden. Unsere EDV-Abteilung spielt gerade die Back-ups ein, und wir werden mit externer Hilfe sicherstellen, dass sich ein solcher Vorfall nicht wiederholen kann und wird.«
Mit diesen offenen und ehrlichen Worten hatte Dirk nicht gerechnet. »Gut, dann schlage ich vor, dass mir einer Ihrer Mitarbeiter die Räume und Ähnliches zeigt, und ich beginne morgen früh mit der Prüfung. Ist Ihnen das recht?«
Wieder zeigte sich Erleichterung auf Westinghaus’ Gesicht. »Ich bin Ihnen für Ihr Entgegenkommen wirklich verbunden. Herr Fehling wird Sie herumführen und steht Ihnen auch sonst für Fragen zur Verfügung.«
»Vielen Dank.« Wie erwartet wäre er in kürzester Zeit wieder im Präsidium, aber wenigstens hatte Dirk einen ersten Eindruck von der Firma. Westinghaus konnte er noch nicht einschätzen, normalerweise müsste der Geschäftsführer in eventuell illegale Machenschaften verstrickt sein. Entweder fühlte er sich verdammt sicher, oder er war unschuldig. Dann würde ihre Theorie, dass VirTech ein Giftgasproduzent war, allerdings wie ein Kartenhaus zusammenfallen.