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Am Montag ging James nach dem Matheunterricht direkt in die Werkstatt von Leather & Chrome, wo er sein Motorrad abgegeben hatte, um den hinteren Blinker ersetzen zu lassen. Erschrocken erblickte er ein Dutzend verbrannter Harleys an einer Wand; die einen hatten vollkommen schwarze Karosserien, bei anderen waren die Schäden geringer, weil sie »nur« zu dicht an den Flammen gestanden hatten.

»Kein schöner Anblick«, sagte James und sog scharf die Luft ein, als Rhino die Treppe aus dem Laden herunterkam. »Der Schaden muss ja in die Hunderttausend gehen.«

Rhino nickte. »Und das sind nur die Bikes, die man retten kann oder aus denen sich wenigstens noch Ersatzteile ausbauen lassen. Vier andere haben wir gar nicht mehr mitgenommen, weil sie nur noch Schrott sind.«

»Furchtbar«, fand James.

Rhino deutete auf seine gelbe Harley Softail. »Meine sieht zwar nicht so schlimm aus, aber sie stand zu dicht an den Flammen, und Hitze ist tödlich. Ich muss die ganze Elektrik herausnehmen und ersetzen. Das bedeutet zwei bis drei Tage Arbeit und jede Menge Geld für Ersatzteile.«

»Oh Mann«, stöhnte James. »Da habe ich ja noch mal Glück gehabt.«

»Oben im Laden steht noch eine ER-5«, sagte Rhino. »Wenn es okay für dich ist, nehme ich den Blinker dieser Maschine. Wenn ich einen neuen bestelle, dauert es sicher bis Freitag.«

»Klingt gut«, meinte James. »Um wie viel wirft mich das zurück?«

»Sechsundfünfzig Pfund für den Blinker, das ist alles«, erklärte Rhino. »Der Commander hat gesagt, dass wir dir die Arbeitszeit nicht berechnen sollen, wegen der Sache mit dem Bus.«

»Cool«, lächelte James. »Das weiß ich zu schätzen. Und wie lange wird es dauern?«

»Zwanzig Minuten. Ich mache es selbst, wenn du warten willst.«

»Perfekt«, erklärte James. Er wies zur Marina-Heights -Anlage hinüber. »Ich treffe mich gleich mit Dirty Dave. Ist es okay, wenn ich in einer halben Stunde vorbeikomme und es wieder abhole?«

»Klar«, nickte Rhino. »Übrigens … ich hab deine Mutter schon lange nicht mehr gesehen. Grüß sie von mir.«

James nahm seine Lederjacke, schwang sie sich über die Schulter und ging die hintere Treppe zu den Läden hinauf. Es war erneut ein herrlicher Tag, und Dirty Dave winkte ihm von einem der Tische vor einem französischen Restaurant zu. Vor ihm standen eine Flasche Mineralwasser und ein Aschenbecher voller Kippen.

Als James sich setzte, bemerkte er auf dem Stuhl neben ihm einen offenen Helm aus Karbonfaser. Die meisten Outlaw-Biker fuhren mit offenen Helmen. Sie boten zwar weniger Schutz als geschlossene, aber man konnte besser sehen und sie sahen eindeutig cooler aus.

»Der ist für dich«, sagte Dave.

James strahlte. In einem Biker-Magazin hatte er einen ähnlichen Helm für über dreihundert Pfund gesehen.

»Der ist Wahnsinn!«, stieß er hervor. »Aber das kann ich nicht annehmen. Das ist zu viel!«

Dave zuckte mit den Achseln und sog an seiner selbst gedrehten Zigarette. »Dieser Hammer wär mir glatt in den Schädel gefahren«, sagte er. »Außerdem bekommen die Bandits die Sachen bei Leather & Chrome zum Einkaufspreis, und die Gewinnspanne bei diesen Dingern liegt bei hundertfünfzig Prozent.«

James roch an der weichen Lederpolsterung des Helmes und bewunderte sein Spiegelbild in dem verchromten Kinnriemen. »Das hätte doch jeder andere auch getan.«

»Und dann wollte ich dich noch fragen, ob du Lust hast, etwas mehr Geld zu verdienen als beim Crêpe-Backen«, fuhr Dave fort.

»Ich hab immer Lust, Geld zu verdienen«, antwortete James. Er rechnete damit, dass es um Drogen ging, aber falls es mit Waffenschmuggel zu tun hatte, konnten sie die Mission vielleicht sogar verlängern.

Dave lächelte. »Bei der Tea Party habe ich dich ohne Hemd herumlaufen sehen und bemerkt, dass du erstaunlich gut gebaut bist. Trainierst du?«

»Ein wenig mit Gewichten und so«, nickte James. Er fragte sich, ob Dave ihn als Türsteher engagieren wollte. »Und in London habe ich viel Karate und Kickboxen gemacht.«

»Weißt du, in meinem Geschäft ist Jugend alles. In deinem Alter kann jemand wie du jede Menge Kohle machen.«

James sah ihn verblüfft an. »Und was für ein Geschäft ist das?«

»Ich dachte, das wüsstest du. Mir gehört die Hälfte aller Striplokale in Devon. Was glaubst du, warum sie mich Dirty Dave nennen?«

James krachte der Unterkiefer fast bis auf den Tisch, was selbst Dave auffiel.

»Ich weiß, was du denkst«, sagte er. »Aber man wird nicht schwul davon, nur weil man ein männlicher Stripper ist. Im Gegenteil, es verleiht dir Stil. Du bist siebzehn, siehst aber jünger aus. Ich könnte dich in einem winzigen Kostüm auf eine Bühne in einem meiner Clubs in Taunton stellen. Du tanzt ein wenig, zeigst deine Muskeln und wackelst einem alten Saftsack mit dem Hintern vor der Nase herum. Ich zahle dir fünfzig Pfund für eine vierstündige Schicht und du bekommst alles, was du an Trinkgeld zugesteckt kriegst, und das kann bei jemandem wie dir eine Menge Geld sein.«

James sah ihn entgeistert an. »Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Aber natürlich nicht«, beharrte Dave. »Ich kann dich ja mal in den Club mitnehmen, damit du es dir ansehen kannst. Der Manager und die anderen Jungs könnten dir ein Kostüm aussuchen, dir ein paar Tanzschritte beibringen und dir zeigen, wie man mit den Kunden umgeht.«

James hatte auf seinen CHERUB-Missionen ja schon allerhand erlebt, aber in diesem Moment war er völlig perplex und lief dunkelrot an.

»Oh«, stotterte er, »das … das ist jetzt eine Überraschung. Ich meine … kann ich vielleicht ein oder zwei Tage darüber nachdenken und dann Bescheid sagen?«

»Du bist verblüfft«, stellte Dave fest und zeigte auf den Crêpe-Stand, »sogar verlegen. Kann ich gut verstehen. Aber wenn du den ganzen Abend lang Crêpes backst, verdienst du … wie viel? Fünfundzwanzig oder dreißig Pfund? In deinem Alter und mit deinem Körper kannst du zwanzig Mal so viel verdienen! Warum also nicht deine Vorzüge zu deinem Vorteil einsetzen?«

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Lauren lachte so sehr, dass sie vom Sofa fiel, sich mit einer Hand den Bauch hielt und mit der anderen immer wieder auf den Boden schlug. Das war das Lustigste, was sie je gehört hatte.

»Oh, bitte macht, dass ich aufhöre«, japste sie. »Ich kriege keine Luft mehr! Ich sterbe!«

Chloe versuchte, sich wie eine vernünftige Erwachsene aufzuführen, und war in die Küche gegangen, um sich zu beruhigen, doch James hörte, dass sie sich vor Lachen bog.

»So lustig ist das nun auch wieder nicht«, protestierte er und warf mit der Fernbedienung nach Lauren.

»Doch, ist es!«, brüllte sie. »Oh Gott! Ich kann es gar nicht erwarten, es allen auf dem Campus zu erzählen.«

Dante hatte bei Anna Hausaufgaben gemacht und schob ein paar Minuten später sein Fahrrad die Auffahrt hinauf.

»Was ist denn so lustig?«, wollte er wissen, als er ins Wohnzimmer trat.

»James hat das Angebot, in einem von Dirty Daves Schwulenclubs in Taunton zu strippen«, erzählte Chloe, die gerade aus der Küche kam. Sobald sie Lauren ansah, fing sie wieder zu lachen an.

Dante lachte nicht ganz so laut wie die Mädels, bis Lauren aufsprang, auf den Couchtisch hüpfte und zu tanzen begann. »Ich bin James, der Stripper, los, steckt mir ein paar Scheinchen in die Hos′!«, trällerte sie.

»Und? Wirst du es machen?«, grinste Dante. »Ich sehe dich schon auf der Bühne, wo dich schmierige Geschäftsleute ansabbern.«

»Ich glaube, das ist der perfekte Weg für ihn, die Bandits zu infiltrieren«, lachte Chloe. »Er kann das ein paar Jahre machen und selbst wenn es nicht funktioniert, kann er sich ein hübsches Sümmchen zusammensparen.«

Lauren sprang vom Tisch, verlor dabei aber das Gleichgewicht und verbog sich den Daumen, als sie ungeschickt auf dem Sofa landete.

»Geschieht dir recht«, freute sich James, als sie sich stöhnend die Hand hielt. »Ich gehe hoch und ziehe mich für die Arbeit um.«

»Lederkappe und Tiger-Tanga?«, grinste Dante, woraufhin Lauren wieder losprustete.

Chloe hielt James auf, als er zur Tür stürmte. »Mal im Ernst. Jetzt, wo wir wissen, dass Dirty Daves Vorschlag nichts mit Waffenhandel zu tun hat, solltest du dich darauf vorbereiten, dass wir hier abziehen. Ich möchte, dass ihr euren Freunden erzählt, es sähe so aus, als würde ich es mit eurem Vater noch mal versuchen, und dass ihr am Wochenende nach London zurückgeht. Aber brecht nicht alle Brücken hinter euch ab, falls der eine oder andere von uns noch mal zu einer zweiten Mission herkommen muss.«