14
Lauren Onions – inzwischen besser bekannt als Lauren Adams – trat gerade aus dem Aufzug im achten Stock des CHERUB-Hauptgebäudes. Sie trug ein schwarzes CHERUB-T-Shirt. Neben ihr ging ihre beste Freundin Bethany Parker in einem dunkelblauen T-Shirt, das sie sich im Jahr zuvor bei einer achtmonatigen Mission in Brasilien verdient hatte.
»Dämliche Mathehausaufgabe«, beschwerte sich Bethany. »Wir sollten eine Petition einreichen: Keine Hausaufgaben an Geburtstagen!«
»Nie mehr Hausaufgaben wäre noch besser«, fand Lauren, während sie auf ihre nebeneinanderliegenden Zimmer zusteuerten. »Und All-you-can-eat-Toffee-Eiscreme in jedem Klassenzimmer!«
»Ja«, stimmte Bethany zu. »Und der Unterricht sollte von Leuten abgehalten werden, die aussehen wie Rafael Nadal ohne Hemd.«
»Der Gedanke gefällt mir«, grinste Lauren.
Gerade als Bethany ihre Tür öffnete, ertönte ein ohrenbetäubender Knall, und ein blauer Blitz schoss aus ihrem Zimmer. Dann orange-grüne Funken, ein Surren und ein weiterer donnernder Knall. Erschrocken sprang Bethany zurück und hielt sich die Ohren zu, während eine graue Rauchwolke in den Gang drang und den Rauchmelder auslöste.
»Was zum Teufel ist da los?«, schrie Lauren.
Inzwischen waren Bethanys zwölfjähriger Bruder Jake und sein Freund Kevin Sumner aus dem Zimmer direkt gegenüber gesprungen und hatten das Feuerwerk mit der Handykamera aufgenommen.
»Erwischt !«, schrie Jake.
»Du kleiner Scheißer!«, schrie Bethany zurück und wedelte mit der Hand, um den Rauch zu vertreiben. »Sieh dir das mal an! Alles stinkt nach Rauch! Du hättest das ganze Haus in Brand stecken können!«
»Waren doch nur ein paar Feuerwerkskörper in einer Keksdose«, grinste Jake. »Und wir haben die Feuerlöscher bereitgehalten.«
Bethany rannte in ihr Zimmer, um die Balkontür aufzureißen und den Rauch hinauszulassen, als sie erneut erschrak. Zwei Hände packten sie von hinten. Und dann folgte ein sanfter Kuss auf ihren Hals.
»Sag bloß, dir hat das nicht gefallen?«, fragte Bethanys vierzehnjähriger Freund Andy Lagan und grinste. »Wenn du denkst, das war laut, dann hättest du das mal von hier drinnen erleben sollen. Mir klingeln immer noch die Ohren!«
»Geschieht dir ganz recht«, rief Bethany beleidigt, während Andy seine Schutzbrille absetzte. »Du warst zumindest darauf vorbereitet!«
Doch dann lächelte sie, denn plötzlich schwang ihre Badezimmertür auf, und sie hörte ein lauthals geschmettertes Happy Birthday to You. Alle ihre Freunde traten ins Zimmer, einschließlich Laurens Freund Rat, einem Haufen Mädchen und ein paar älteren Cherubs.
Laurens sechzehnjähriger Bruder James Adams stand in der Mitte der Gruppe und präsentierte einen Schokoladenkuchen mit vielen Kerzen und der Aufschrift Alles Gute zum 14. Geburtstag.
»Happy Birthday to you, Marmelade im Schuh«, sang Jake lautstark, als er hinter Lauren das Zimmer betrat. Andy rief unterdessen verlegen in der Rezeption im ersten Stock an, um zu erklären, dass es nicht brannte und dass die Sirenen nur falscher Alarm waren.
»Ich hasse euch elende Mistkerle«, kicherte Bethany, steckte zwei Finger in den Kuchen und schmierte einen braunen Streifen über James Adams′ Wange. Dann leckte sie die Schokoladenglasur von den Fingern, behauptete, der Kuchen schmecke großartig, und umarmte ein paar ihrer Freundinnen.
»Und warum habe ich nichts davon gewusst?«, beschwerte sich Lauren.
»Du und deine große Klappe«, antwortete Jake.
James stellte den Kuchen auf Bethanys Tisch neben einen Haufen Pappteller und Gabeln. Sie hatte schon beim Frühstück einige Geschenke aufgemacht, aber auf ihrem Bett warteten noch mehr.
Bethany legte glücklich einen Arm um ihren Freund und den anderen um Jake und posierte lächelnd für ein Foto.
»Mein idiotischer Bruder und mein idiotischer Freund«, grinste sie. »Aber ich liebe sie alle beide.«

Acht Stockwerke tiefer saß der dreizehnjährige Dante Welsh – früher Dante Scott – in Zara Askers Büro. Zara war zwei Jahre zuvor zur neuen Vorsitzenden von CHERUB ernannt worden und gerade im fünften Monat schwanger. Die Bilder des vierjährigen Joshua und der zweijährigen Tiffany schmückten den Schreibtisch und das Fensterbrett hinter ihr.
»Wie ist es, wieder hier zu sein?«, fragte Zara.
»Komisch«, gab Dante zu und fuhr sich mit den Händen durch das schulterlange rote Haar. Er hatte einen leichten Belfaster Akzent.
»Ich habe mir die Statistiken angesehen«, sagte Zara und ging von ihrem Schreibtisch zu einem Jalousieschrank neben dem Kamin auf der anderen Seite des Raumes. »Vierunddreißig Monate – das ist die zweitlängste Mission, die wir je hatten, und bei Weitem die längste eines Agenten, der derzeit auf dem Campus wohnt.«
»Dabei sollte ich eigentlich nur sechs Wochen lang weg sein«, lächelte Dante. »Ich habe ein paar nette Leute getroffen, aber ich bin nicht allzu traurig, wenn ich nie wieder in die Nähe einer Belfaster Neubausiedlung komme.«
»Und der Daumen?«, fragte Zara.
Dante hielt den Daumen hoch und zeigte eine fiese Narbe, um die herum noch die Stiche zu sehen waren. »Fühlt sich fast schon wieder ganz normal an. Dieser Chirurg hat ihn richtig gut angenäht.«
»Dein Einsatzleiter Eimear hat gesagt, dass du sehr fleißig warst, um deinen Fitnesslevel zu halten.«
»Ja«, antwortete Dante. »Ich wollte nicht hierher zurückkommen, nur damit mir der alte Large im Nacken sitzt. Also hab ich mir ein paar Gewichte und eine Hantelbank besorgt. Ich bin gelaufen, wann immer ich konnte, und mit Eimear habe ich sogar etwas Sparring gemacht, damit wir auch beim Combat fit bleiben.«
»Sehr gut«, lächelte Zara. »Es ist wirklich beeindruckend, dass du während einer so langen Mission im Training geblieben bist. Obwohl du dir um Mr Large keine Sorgen mehr machen musst. Er ist nicht mehr bei uns.«
»Oh, Gott sei Dank!«, stieß Dante hervor. »Ich bin heilfroh, ihn nicht mehr sehen zu müssen. Apropos sehen – ich kann es noch gar nicht fassen, dass ich nach so langer Zeit zurückkomme und Holly in Neuseeland beim Skifahren ist! Ich habe jede Woche mit ihr über die Webcam gesprochen, und letzten Sommer haben wir ein paar Wochen zusammen im Jugendlager verbracht, aber jetzt habe ich mich schon wahnsinnig darauf gefreut, wieder richtig mit ihr zusammen zu sein.«
»Deine Schwester ist ein äußerst kluges kleines Mädchen«, erklärte Zara. »Mein Sohn Joshua erhält gerade seinen ersten Unterricht auf dem Campus. Holly ist nur ein klein wenig älter als er, aber er behauptet, sie hätte schon einen richtigen Kommandoton drauf.«
»Dann werden Ihre Kinder also auch CHERUB-Agenten?« , fragte Dante. »Ich wusste gar nicht, dass das erlaubt ist.«
»Vor drei Monaten hat uns der Innenminister die Erlaubnis erteilt, die Regeln zu ändern, weil wir immer zu wenig Rekruten haben. Und eine inoffizielle Umfrage hat ergeben, dass eine erstaunlich hohe Anzahl von Ex-Cherubs sich sehr darüber freuen würde, wenn ihre Kinder eines Tages CHERUB-Agenten werden könnten.«
»Dann könnten meine Kinder also auch mal Agenten werden?«, fragte Dante.
Zara nickte. »Zu Beginn werden wir aber nur Kinder akzeptieren, deren Eltern beide auf dem Campus arbeiten, oder wenn beide Elternteile früher CHERUB-Agenten waren.«
»Na, auf dem Campus laufen genügend hübsche Mädchen rum, mit denen ich mich vermehren kann«, grinste Dante.
»Aber hoffentlich erst in ein paar Jahren!«, sagte Zara streng, doch sie lächelte dabei. »Und da wir gerade von Regeln sprechen … Du weißt, dass ich dir – obwohl du auf deiner dreijährigen Mission eine hervorragende Leistung erbracht hast – kein schwarzes T-Shirt geben darf? Das gibt es nur bei mehr als einer Mission mit hervorragender Leistung.«
Dante nickte. »Das ist mir egal. Ich bin erst dreizehn, da hab ich noch viel Zeit.«
»Ich finde diese Regel ziemlich albern«, gestand Zara. »Ich würde sie gern ändern, aber das muss vom Ethikkomitee und vom Innenminister genehmigt werden, und ehrlich gesagt, habe ich Besseres zu tun. In diesem Fall habe ich allerdings das Ethikkomitee dazu überredet, dir eine Extramission zu genehmigen. Dabei geht es um die äußerst schwierige Wiederfindung eines verschwundenen grünen Leuchtmarkers irgendwo in diesem Büro. Deine Mission ist es, ihn zu finden und wieder in meine Stiftebox zu legen. Ich glaube, zuletzt wurde er unter deinem Stuhl gesehen.«
Dante sah auf den Boden und hob den grünen Marker auf, der zwischen den verchromten Stuhlbeinen lag.
»Dieser hier?«
»Also, wirklich! Was für eine hervorragende Leistung bei dieser Mission!«, rief Zara fröhlich, griff in den Schrank und nahm ein nagelneues CHERUB-T-Shirt heraus. »Gratuliere Dante, du hast dir soeben dein schwarzes T-Shirt verdient.«
Dante war verblüfft und fühlte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen.
»Sie haben ja keine Ahnung, wie verzweifelt ich war, als ich vor fast fünf Jahren hierherkam«, sagte er. »Aber CHERUB hat mir mit der ganzen Vorbereitung auf die Ausbildung ein neues Ziel gegeben, und ich habe neue Freunde gefunden. Ich weiß nicht, was ohne CHERUB aus mir geworden wäre oder wo ich gelandet wäre.«
»Ich hoffe, du bist noch nicht zu alt für eine Umarmung«, sagte Zara. Dante stand auf und Zara legte ihm die Arme um die Schultern. »Wenn deine Eltern noch am Leben wären, wären sie verdammt stolz auf dich, Dante. Und jetzt lauf nach oben zu deinen Freunden.«
Bester Laune verließ Dante Zaras Büro. Aber auf dem Weg zum Lift, mit einem großen Rucksack über der Schulter und einem Rollkoffer in der Hand, verschlechterte sich seine Stimmung plötzlich. Im achten Stock hatte er zwar ein Zimmer, aber nach der Grundausbildung war er kaum zwei Monate dort gewesen.
Die Wohnsiedlung in Belfast und die Leute, die er während seiner Mission kennengelernt hatte, schienen ihm viel eher seine Freunde zu sein als die Kinder, die er vor drei Jahren auf dem Campus getroffen hatte. Wahrscheinlich hatten sie ihn schon längst vergessen.
Im Flur des achten Stocks roch es verdächtig nach Schießpulver.
Am Tag zuvor hatte Zara das Reinigungspersonal in Dantes Zimmer geschickt, damit es dort sauber machte und das Bett frisch bezog. Außerdem lag eine neue CHERUB-Uniform für ihn bereit, und vor dem Bett standen nagelneue Stiefel, schließlich passierten zwischen zehn und dreizehn eine Menge Veränderungen. Daher war ihm die Freizeitkleidung in seinem Schrank auch viel zu klein geworden, und Dante fühlte eine Mischung aus Verlegenheit und Nostalgie, als sein Blick auf die Wrestling-Poster an den Wänden und die Action-Figuren auf dem Regal über seinem Sofa fiel.
In der Tasche seines Kapuzenpullovers steckte sein neues schwarzes T-Shirt. Schnell streifte er den Pulli ab, doch bevor er in das T-Shirt schlüpfte, konnte er nicht widerstehen, sich in seiner Spiegelschranktür zu begutachten. Das wilde rote Haar und der muskulöse Oberkörper gefielen ihm, aber es wäre ihm lieber gewesen, nicht ganz so blass zu sein, und beim Anblick eines sprießenden Pickels auf seiner Schulter schüttelte er grimmig den Kopf.
»Ich hole den Staubsauger!«, hörte er ein Mädchen auf dem Gang rufen. »Ist nicht so schlimm, solange es niemand auf dem Teppich festtritt.«
Die Stimme erinnerte Dante an seinen allerersten Tag auf dem Campus. Er riss die Tür seines Zimmers auf, und das Mädchen stieß einen erschrockenen Schrei aus.
»Oh mein Gott, ich dachte schon, ich sehe einen Geist!«, stieß Lauren hervor, fasste sich mit beiden Händen ans Herz und begann dann zu strahlen. »Dante! Wo zum Teufel hast du dich herumgetrieben?«
»Überall und nirgendwo«, grinste er. »Hier und da und irgendwo.«
»Du hast ja einen irischen Akzent!«
»Nun ja, wenn du dich drei Jahre lang irgendwo aufhältst, wirst du wahrscheinlich auch irgendeinen Akzent annehmen«, erklärte Dante. »Du riechst auf jeden Fall besser als beim letzten Mal, als wir uns gesehen haben.«
»Wann war das denn?«
»Damals hast du den ganzen Tag damit verbracht, Gräben auszuheben – zur Strafe dafür, dass du Mr Large mit einem Spaten geschlagen hast«, grinste Dante. »Du warst voller Schlamm und hast ungefähr so gerochen wie das hintere Ende einer Kuh.«
»Oh, nein, ich erinnere mich. Das war einfach ekelhaft«, stöhnte Lauren. »Ich hab den Gestank kaum mehr aus meinen Haaren gekriegt.«
»Du wolltest gerade wieder mit der Grundausbildung anfangen, und ich wurde nach Belfast geschickt«, fuhr Dante fort. »Aber wenn ich mir dein schwarzes T-Shirt so ansehe und dein wunderschönes Lächeln, dann schließe ich daraus, dass es dir ganz gut ergangen sein muss.«
Lauren freute sich über das Kompliment. »Du alter Schmeichler!«, grinste sie. »Und du siehst aus, als hättest du mit Gewichten trainiert. Willst du immer noch Wrestler werden?«
Dante lachte. »Puh, das ist ziemlich lange her. Und inzwischen sind mir glatt Gerüchte zu Ohren gekommen, dass bei diesem Wrestling gar nicht alles echt ist.«
»Nein, du machst Witze!«, kicherte Lauren. »Übrigens feiern wir gerade Bethanys Geburtstag«, fuhr sie dann fort und zog Dante am Handgelenk mit sich. »Komm mit rüber, alle anderen sind in ihrem Zimmer!«
Dabei vergaß Lauren vollkommen, dass sie eigentlich einen Staubsauger hatte holen wollen, und Dante hatte immer noch das neue schwarze T-Shirt in der Hand und betrat Bethanys überfülltes Zimmer mit nacktem Oberkörper.
»Seht mal, wer da ist!«, rief Lauren begeistert.
Allerdings waren einige der Kinder wie Rat und Andy erst zu CHERUB gekommen, als Dante schon bei seiner Mission war, sodass sie ihn gar nicht kannten. Andere hatten ihn zwar noch kennengelernt, aber nach drei Jahren war es schwierig, das Gesicht mit einem Namen zu verbinden.
»Wow, ein richtiger Kerl zu meinem Geburtstag«, grinste Bethany und kam auf Dante zu. »Willst du vielleicht für mich strippen?«
»Ich war gerade dabei, mich umzuziehen«, erklärte Dante. »Lauren hat mich einfach hierhergeschleift.«
»Bis jetzt ist das auf jeden Fall das beste Geschenk«, stellte Bethany lächelnd fest.
James trat auf den Balkon hinter Rat und Andy.
»Na, Jungs, kommt ihr ins Schwitzen?«, zog er sie auf. »Ich glaube, ihr kriegt ganz schön Konkurrenz.«
»Red keinen Scheiß, James«, erwiderte Andy wegwerfend.
»Ich trete ihm in den Hintern, wenn er es bei Lauren versucht«, versprach Rat.
Nachdem Dante ein paar Hände geschüttelt und ein paar der Mädchen umarmt hatte, bemerkte Bethany das schwarze T-Shirt in seiner Hand.
»Los, zieh es an!«, verlangte sie sofort. »Oh mein Gott, du bist der absolute Schwarzhemden-Superstar!«
Fünf Mädchen sahen gebannt zu, wie Dante die Verpackung dramatisch mit den Zähnen aufriss und sich das T-Shirt über den Kopf zog. Als er fertig war, brandete ein wenig Applaus auf, und Bethany und Lauren stellten sich rechts und links neben ihn und küssten ihn auf die Wange.
James bemerkte die verärgerten Blicke von Rat und Andy und flüsterte ihnen säuselnd zu: »Oh, dieser Dante ist ja so einmalig! Am liebsten würde ich mich sofort bis auf meine rosa Höschen ausziehen und mich von ihm überwältigen lassen!«
Andy sah James finster an und befahl ihm, die Klappe zu halten. Und immer wenn Rat wütend wurde, verstärkte sich sein australischer Akzent. »Ich hab zwar noch kein Wort mit diesem Dante gesprochen«, knurrte er, »aber ich bin der Meinung, dass er ein Vollidiot ist.«