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Die Londoner Bandits sind mit neununddreißig vollwertigen Mitgliedern der größte Bandits-Club in Großbritannien, doch der Club von South Devon unter dem sogenannten Commander Ralph Donnington ist mit Abstand der reichste und mächtigste. Aufgrund lukrativer Grundstücksgeschäfte im Gebiet von Salcombe wurde Donnington zum Millionär, und auch viele langjährige Mitglieder der South-Devon-Bandits sind infolgedessen zu Reichtum gekommen.
Obwohl der South-Devon-Club selbst nur neunzehn vollwertige Mitglieder zählt, herrscht er de facto über zwei große Anhänger-Clubs: die in Exeter ansässigen Dogs of War und eine aus drei Clubs aus Devon und Cornwall bestehende Gang namens Monster Bunch. Sie verfügen insgesamt über mehr als einhundert Vollmitglieder und bis zu dreimal so viele Verbündete.
Der mit dem erfolgreichen Neubau des Clubhauses von Salcombe einhergehende Reichtum hat die Biker allerdings nicht von kriminellen Aktivitäten abgehalten. Dem lokalen Polizeibericht zufolge kontrollieren die South-Devon-Bandits rücksichtslos den örtlichen Drogenmarkt. Das Sicherheitspersonal eines jeden größ eren Pubs und Nachtclubs in South Devon stammt aus den von den Bandits gegründeten Gesellschaften, und die Mitglieder ihrer Anhänger-Clubs wurden bereits mit den unterschiedlichsten Verbrechen – von organisierter Prostitution bis hin zu bewaffnetem Raubüberfall – in Verbindung gebracht.
Innerhalb der letzten Jahre hat sich South Devon zu einem Umschlagplatz für illegale Schusswaffen und Munition entwickelt, der Kriminelle sogar bis aus Newcastle und Glasgow anlockt. Der lukrative Waffenhandel und die damit verbundenen Schmuggeloperationen werden angeblich von Mitgliedern der Bandits kontrolliert.
Die bisherigen polizeilichen Untersuchungen bezüglich dieser Waffengeschäfte wurden sowohl durch die enggeknüpften Strukturen der Bikergemeinde behindert als auch durch die Tatsache, dass die ländlich strukturierte Polizei nicht die notwendigen Ressourcen hat, um sich mit Verbrechen im größeren Stil zu befassen.
Deshalb wurde Anfang 2006 die Entscheidung getroffen, einen Polizisten undercover in die Motorradgangs von South Devon einzuschleusen. Von diesem Zeitpunkt an suchte ein achtundzwanzigjähriger Beamter den regen Kontakt zum Monster Bunch. Drei Monate später wurde er in den Club gewählt, und im Frühling 2007 wurde er Schatzmeister des Clubs von Salcombe. Der nächste Schritt seiner Undercover-Operation wird der schwierigste werden: die Bandits selbst zu infiltrieren.
Auszug aus einem vertraulichen Bericht des Innenministeriums, verfasst von Chief Inspector Ross Johnson im März 2008.

Neil Smith fuhr seine Harley-Davidson wie ein Profi, hatte sich die Haare lang wachsen lassen und trug ein zwanzig Zentimeter großes Monster-Bunch-Tattoo auf der Schulter.
Die Polizei hatte ihm erlaubt, an ein paar Drogendeals teilzunehmen und einen Raubüberfall auf einen Laster zu inszenieren, um seinen kriminellen Ruf festigen zu können.
Nachdem Sergeant Neil Gauche nun schon seit zwei Jahren eine Lüge lebte, fühlte er sich als Neil Smith in der Gegenwart der meisten Monster und Bandits sogar ganz wohl. Allerdings konnte ihn der Commander immer noch in Angst und Schrecken versetzen. Im Augenblick saßen sie nebeneinander auf dem Rücksitz eines silbernen Mercedes AMG, nur getrennt von einer hellbraunen Lederarmstütze in der Mitte.
Nachdem sie von einer Landstraße auf einen Feldweg eingebogen waren, zu dessen beiden Seiten der Weizen wogte, hatte Teeth, der Fahrer, den Motor abgeschaltet. Das einzige Geräusch, das jetzt noch zu hören war, war ein leises Tickern von irgendetwas, das unter der Motorhaube abkühlte.
Der Commander hielt eine Rasierklinge in der Hand, und Neil hegte keinen Zweifel daran, dass er ihn einfach aufschlitzen würde, wenn ihm danach war. Der Präsident der Bandits mochte zwar graues Haar und einen Bauch haben, aber nach ein paar Bier zu viel konnte er genauso verrücktspielen wie ein betrunkener Teenager.
»Du willst also ein Bandit werden?«, fragte der Commander. Er nuschelte vom Alkohol und roch nach Pommes Frites und Essig.
»Schon mein ganzes Leben lang«, gestand Neil.
»Dann nimm die Klinge und mach diesen Monster-Bunch-Scheiß auf deiner Jacke weg«, befahl der Commander.
Es war heiß, daher lag seine Lederjacke zusammengeknüllt auf der Fußmatte des Wagens. Neil nahm die Rasierklinge und schnitt damit den Nylonfaden durch, mit dem er kaum ein Jahr zuvor sein Monster-Bunch-Abzeichen angenäht hatte. Nach ein paar durchtrennten Stichen fuhr er mit dem Daumen unter das Abzeichen und riss es ab.
Daraufhin holte der Commander ein gesticktes Abzeichen mit der Aufschrift South Devon hervor. Neil würde es unten auf seine Jacke nähen, damit es ihn als Anwärter kennzeichnete. Ein weiterer Schritt in die Welt der Bandits, aber das Recht, ihr vollständiges Logo zu tragen, würde er erst nach einigen Monaten bekommen – wenn er die Drecksarbeit erledigt hatte und ihn die neunzehn Vollmitglieder einstimmig in ihren Club wählten.
»Danke«, sagte Neil, aber als er nach dem Abzeichen griff, zog der Commander es wieder zurück.
»Dirty Dave sagt, du seist ein guter Mann«, lächelte der Commander. »Er hat bei dem Überfall auf den Zigarettenlaster, den ihr beide durchgezogen habt, eine Menge Geld gemacht. Aber wir mussten dich natürlich überprüfen. Deine Herkunft. Alte Schulen, Ex-Arbeitgeber, Insassen dieser Jugendstrafanstalt.«
Die NPBTF hatte eine Menge Arbeit in die Erstellung seines falschen Lebenslaufs gesteckt. Es war ziemlich einfach, in eine Anhänger-Gang wie den Monster Bunch zu kommen, aber um ein vollwertiges Bandits-Mitglied zu werden, brauchte es nicht nur die Bewerbungsformulare der Hauptclubs in den Staaten, sondern man musste auch der Überprüfung durch einen Privatdetektiv standhalten.
»Ich habe nichts zu verbergen, Commander.«
»Die Jungs, die sich mit deiner Vergangenheit befasst haben, sagen, dass der Job in dieser Autowerkstatt in Ordnung ist, und auch dein Gefängnisaufenthalt und die Liste der Festnahmen. Sie sind neulich bei dir eingebrochen und haben sich umgesehen, aber auch da haben sie nichts Ungewöhnliches gefunden.«
Neil lächelte innerlich. Er hatte immer mit der Möglichkeit eines Einbruchs gerechnet, oder damit, dass einer der Biker, die gelegentlich nach einer Party bei ihm übernachteten, sich ein wenig umsahen, um irgendetwas mitgehen zu lassen. Daher hatte er die Aufzeichnungen, die er täglich verfasste, zusammen mit allen anderen Hinweisen auf seine wahre Identität hinter einem falschen Brett am Boden eines Küchenschrankes versteckt.
Allerdings gefiel es ihm nicht, dass dieses Gespräch hier draußen im Nirgendwo stattfand. Warum unterbreitete ihm der Commander das Angebot, ihn als Anwärter aufzunehmen, um zwei Uhr morgens statt im Club bei ein paar Drinks?
Der Commander war unberechenbar, sodass sich jede Begegnung mit ihm nur sehr schwer einschätzen ließ. Er stand an der Schwelle zum Psychopath, und Neil wusste, dass er es genoss, wenn sich die Leute vor ihm wanden.
»Du weißt, dass es nicht gerade leicht ist, nach einem Mann namens Smith zu suchen«, fuhr der Commander fort. »Es ist der gewöhnlichste Name im ganzen Land. Ich meine, wenn dein Name Eustace von Hasselhoff oder auch Ralph Donnington wäre, dann wäre es ein Kinderspiel, ihn zurückzuverfolgen. Aber es gibt hier Tausende von Neil Smiths. Wenn du also ein Undercover-Cop wärst, würdest du dir wahrscheinlich auch einen Namen wie Smith, Jones oder Edwards aussuchen.«
Neil spürte, wie sein Herz schneller schlug. Er war beunruhigt, während er zugleich wusste, dass es unmöglich war, auch nur ein paar Stunden in Gesellschaft von Bikern zu verbringen, ohne dass einer von ihnen irgendwo einen Spitzel oder Verräter vermutete. Dafür hatten schon viel zu viele Undercover-Cops den Untergang der verschiedensten Gangs auf der ganzen Welt herbeigeführt.
»Noch nie ist es jemandem gelungen, einen Club der Bandits zu unterwandern«, sprach der Commander weiter, »weder in Großbritannien noch irgendwo im Ausland. Und es versteht sich von selbst, dass jeder Bulle oder Verräter, den wir unter unseren Leuten finden, einen langsamen und qualvollen Tod sterben wird.«
»Ich bin ein offenes Buch«, erklärte Neil. »Ich bin schon seit zwei Jahren mit den Bikern hier aus der Gegend unterwegs. Und wenn ihr was über mein Leben davor wissen wollt, dann fragt einfach. Wenn ihr glaubt, dass es für mich zu früh ist mit der Anwärterschaft, dann warte ich eben. Ihr wisst, was ich will, aber ich respektiere die Bandits und sehe ein, dass diese ganzen Sicherheitsmaßnahmen notwendig sind.«
Der Commander drehte sich jetzt so auf seinem Sitz herum, dass er Neil direkt ansehen konnte. Dann legte er ihm die Hände auf die Schultern und zog ihn zu sich heran, Nase an Nase.
»Gib′s zu«, sagte der Commander. »Du bist ein Cop. Ich weiß, dass du ein Cop bist.«
Neil war nervös, brachte aber ein Lachen zustande.
»Du willst mich wohl verarschen. Pfadfinderehrenwort, beim Leben meiner Mutter, rosaroter Superschwur. Was soll ich sagen, Boss? Ich kann′s nur immer wiederholen. Glaub mir oder glaub mir nicht. Aber ganz ehrlich – ich bin der Meinung, dass ich durch die Arbeit als Schatzmeister für den Monster Bunch und durch das Geld, das ich eingebracht habe, eine Chance bei den Bandits verdient hätte.«
»Du bist ein Cop«, sagte der Commander erneut und ließ sich in den Ledersitz zurückfallen.
Sein veränderter Tonfall erschreckte Neil. Der Mann, der durch Immobiliendeals reich geworden war und für alle Ewigkeit bequem von seinem legalen Einkommen hätte leben können, liebte es umso mehr, die Leute mit seinen Spielchen in Angst und Schrecken zu versetzen. Sei es jemand, der ihm Geld schuldete, sei es eine verängstigte Kellnerin, der ein Schlag ins Gesicht drohte, wenn sie ihm das falsche Essen servierte. Doch jetzt klang der Commander nicht einmal mehr so, als ob er Spielchen spielte.
»Es ist schon lustig, Neil«, lächelte er. »Die Cops müssen Hunderte von Arbeitsstunden investiert haben. Sie haben dich in die Archive eingetragen: Sozialversicherung, Steuerakten, Geschwindigkeitsübertretungen, Vorstrafenregister. Und dann haben sie alles mit deinem Bike versaut.«
Neil zuckte zusammen, als Teeth eine Automatikwaffe aus dem Handschuhfach holte und eine Kugel einlegte.
»Hat es dir die Sprache verschlagen?«, fragte Teeth und grinste Neil mit seinem typischen zahnlosen Lächeln an.
»Komm schon, Neil«, bat der Commander leise. »Spiel mit! Warum fragst du nicht, wie wir herausgefunden haben, dass du ein Cop bist?«
Neil wusste, dass er ein toter Mann war, wenn das tatsächlich stimmte.
»Egal, was für Informationen ihr habt, sie sind falsch«, behauptete er und versuchte, nicht nervös zu klingen. »Also sag mir, was es ist.«
»Vor drei Jahren kam ein Fall vor Gericht«, erzählte der Commander. »Vier gestohlene Bikes wurden aus Kanada nach Großbritannien gebracht, zerlegt und hier verkauft, wo Harleys teurer sind. Zwei Biker aus irgendeiner läppischen Gang im Norden wurden verhaftet und zu zwei Jahren verknackt. Die kanadischen Bike-Eigentümer haben ihr Geld von der Versicherung bekommen, und anstatt die Bikes wieder nach Kanada zu verfrachten, verkaufte die Versicherung sie hier in Großbritannien auf einer Auktion. Drei wurden von einem Gebrauchthändler gekauft. Die Vierte aber erwarb die Einkaufsabteilung der Metropolitan Police und lieferte sie prompt an die Polizeiwache von Hornsey, die zufällig das Hauptquartier der NPBTF ist.«
»Das ist doch inszeniert!«, behauptete Neil.
Der Commander lächelte. »Die Fahrgestellnummer deines Bikes passt zu der Nummer im Auktionskatalog.«
Neil versuchte, nicht laut aufzuschreien. War es tatsächlich möglich, dass die Polizei so viel Zeit in seine falsche Identität gesteckt hatte, nur um ihn dann auf einem Bike auf Undercover-Mission zu schicken, das sie ganz offen bei einer Auktion gekauft hatte?
»Ich glaube, der Privatdetektiv, den wir angeheuert haben, ist sein Geld wert, meinst du nicht auch, Neil Smith? Oder sollte ich lieber Neil Gauche sagen, Polizeisergeant von Leicester, derzeit tätig für die Biker-Sondereinheit?«
Neil wusste, dass es zwecklos war, sich weiter zu verstellen. Zwei Jahre lang hatte er in dem Bewusstsein gelebt, dass seine Tarnung auffliegen könnte. Millionen Mal hatte er sich die Szene vorgestellt. Aber jetzt, da ihn die Wirklichkeit einholte, fühlte sich sein Mund trocken an und sein Kopf so tot wie eine Walnuss.
»Raus aus dem Wagen«, befahl der Commander und öffnete seine Jacke, unter der eine Waffe zum Vorschein kam. »Ich will dein Blut nicht überall auf meinen Ledersitzen haben.«
Neil sah sich um, als er an den Wegesrand trat. Um ihn herum wogte das hohe Korn, aber es gab keinerlei Fluchtmöglichkeiten. Teeth war bereits ausgestiegen und sobald er sich bewegte, würde er ihm eine Kugel in den Rücken jagen.
»Hände hinter den Kopf«, schrie der Commander. »Und dann ab ins Feld!«
Neil hätte am liebsten zu weinen angefangen, als er sich vorstellte, wie nun alles ablaufen würde. Um sechs Uhr morgens sollte er sich bei seinem Einsatzleiter melden. Wenn seine Bosse merkten, dass er verschwunden war, würden sie die Suche nach ihm einleiten. Falls man seine Leiche im Weizenfeld zurückließ, würde man sie wahrscheinlich nach ein paar Tagen finden. Aber noch wahrscheinlicher war es, dass der Commander bereits für eine Grabstätte Hunderte von Kilometern entfernt gesorgt hatte oder dass er seinen Körper in Dutzende von Stücken hackte und hungrigen Schweinen zum Fraß vorwarf. Vielleicht würde man es eines Tages herausfinden. Vielleicht würde es eine Fernsehsendung über das Verschwinden eines heldenhaften Undercover-Polizisten geben …
Neil dachte an seine Mutter. Sie war über sechzig. Sie würde sich furchtbar aufregen, dabei hatten sie sich nicht einmal sonderlich nahegestanden. Seit er mit achtzehn auf die Universität gegangen war, hatte er sie nur ein paar mal im Jahr besucht. Frau und Kinder hatte er nicht. Dieser Mangel an familiären Bindungen war einer der Gründe gewesen, warum Neil für die Undercover-Arbeit ausgewählt worden war. Doch er selbst hatte sich immer ausgemalt, eines Tages etwas weniger anstrengende Polizeiarbeit zu leisten und Frau, Kinder und eine Hypothek zu haben.
Das Korn rauschte, bis die drei eine Lichtung im Feld erreicht hatten.
»Zeit, sich hinzuknien, Neil«, wies ihn der Commander grinsend an und schraubte einen Schalldämpfer auf seine Pistole. »Das hier wird echt Ärger geben, weißt du? Hast du irgendeine Vorstellung davon, was wir alles durchmachen müssen, wenn ein toter Undercover-Cop auftaucht?«
»Dann erschieß mich eben nicht«, sagte Neil bebend. »Du bist doch ein cleverer Mann. Wenn du einen Cop tötest, hast du so viele Detectives am Arsch, dass du nicht mehr arbeiten kannst.«
»Ein Cop muss sterben«, erklärte der Commander. »Alles andere wäre das falsche Signal.«
Irgendein Insekt surrte an Neils Kopf vorbei, Weizenstoppeln stachen durch das ausgefranste Knie seiner Jeans.
Scheiße, dachte er, als der Commander ihm den Schalldämpfer an den Hinterkopf hielt.