Donnerstag, 01. November 2013, 09.00 Uhr

 

 

Guten Morgen, Frau Meirich.“ Lächelnd stand Daja Cornelius vor der zweiflügeligen Eingangstür des zweistöckigen Hauses im Waldweg 20.

Oh, guten Morgen, Frau Cornelius.“ Sichtlich erstaunt schaute Agnes Meirich durch die Spaltbreit geöffnete Tür in die freundlichen Augen der Oberkommissarin.

Entschuldigen Sie bitte, dass ich so früh am Tag schon störe, aber ich hätte da noch ein paar Fragen, die leider keinen Aufschub dulden.“

Eigentlich passt es mir im Moment nicht so gut, da wir gerade beim Frühstücken sind.“ Ihr Lächeln wirkte gequält. „Ich habe Besuch.“

Ich verspreche auch, dass es nicht allzu lange dauern wird. Es wird doch irgendwo in diesem riesigen Haus ein Plätzchen geben, wo wir fünf Minuten ungestört miteinander reden können.“ Um ihrer Bitte Nachdruck zu verleihen, bewegte sie sich einen Schritt auf die Hausherrin zu. Nur zögerlich öffnete diese die Tür soweit, dass Daja Cornelius sich an ihr vorbei ins Haus drängen konnte. Auf dem Korridor blieb sie stehen und wartete geduldig darauf, dass Agnes Meirich ihr den Weg weisen würde.

Kommen Sie, wir gehen in Hermanns Bibliothek.“ An der geöffneten Tür des Wohnzimmers vorbeilaufend, warf sie einen geübten Blick in den Raum. Im Hintergrund schien sich der Essbereich anzugliedern. Von Weitem war der Rücken eines Mannes zu erkennen. Eine weitere Person saß vermutlich seitlich am Tisch. Es waren nur Fragmente von Beinen zu erkennen. Sie schienen sich zu unterhalten. Leise Hintergrundmusik ertönte.

Bitte, hier entlang.“ Agnes Meirich war vorweggegangen und hatte die Tür zu einem riesigen Zimmer geöffnet. Die Einrichtung bestand aus schweren Mahagonimöbeln. Bis unter die Zimmerdecke reichende Regale waren ringsherum mit Büchern gefüllt. Ein massiver Schreibtisch stand vor dem Fenster, dessen Ausblick einen Einblick in den nahen Wald gewährte. Unmittelbar neben dem Eingang befand sich ein runder Tisch mit zwei Polsterstühlen. „Wenn es Ihnen recht ist, dürfen Sie gern hier Platz nehmen.“ Mit der Hand wies Agnes Meirich auf den links stehenden.

Danke, gern.“ Die Beine übereinandergeschlagen, setzte sich Daja Cornelius auf den angebotenen Mahagonistuhl und ließ ihre Augen möglichst unauffällig durch den Raum schweifen. Plötzlich einsetzendes Hundegebell ließ sie aufhorchen. Neben der tiefen Stimme eines offensichtlich großen Hundes, war zusätzlich noch das Kläffen eines vermutlich kleinen, zweiten Tieres zu vernehmen. Möglicherweise aber auch das eines Welpen. „Hat Gustav Zuwachs bekommen?“ Vermeintlich nebensächlich stellte sie diese Frage.

Nein, nicht wirklich.“ Agnes Meirich stieg die Röte ins Gesicht und ließ ihren Teint weniger blass als gewöhnlich erscheinen. Ihre Hände lagen auf der Tischplatte. Nervös spielten die zitternden Fingerspitzen miteinander. Erstaunt registrierte die Oberkommissarin das offensichtliche Unwohlsein der ihr gegenübersitzenden Frau. „Mein Besuch besitzt auch einen Hund, allerdings nur einen kleinen, wie nur unschwer zu hören ist.“ Sie lachte gekünstelt und rutschte auf dem Sitz hin und her.

Es ist sicherlich gut, wenn Sie derzeit nicht allein sind und sich jemand um Ihr Wohlergehen kümmert. Wahrscheinlich handelt es sich um Verwandtschaft, die zur Beerdigung angereist ist, nicht wahr?“ Geschickt gewählte Worte sollten Agnes Meirich zur Preisgabe von Namen und Personen veranlassen. Daja Cornelius hatte da so ihre Erfahrungen.

Mein Sohn ist gestern aus München angekommen. Er wird für ein paar Tage bleiben, bis alles erledigt ist.“ Ein Frosch im Hals veranlasste sie dazu, sich mehrfach hintereinander räuspern.

Ach so.“ Vor Verblüffung fiel ihr fast die Kinnlade herunter. Doch sie ließ es sich vorerst nicht anmerken. „Dann gehört ihm wohl der kleine Kläffer?“

Nein, der gehört einem Bekannten. Ich habe ihn ab und an für ein paar Stunden in Pflege, wenn er verhindert ist.“, entgegnete sie forsch. „Aber weshalb sind Sie jetzt eigentlich gekommen? Mein Besuch, Sie wissen schon…“

Ja, natürlich.“ Die Oberkommissarin legte ihre Unterarme auf dem Tisch ab und beugte ihren Oberkörper zu Agnes Meirich herüber. „Wussten Sie eigentlich über die dienstlichen Tätigkeiten Ihres Bruders Bescheid? Und wenn ja, sagt Ihnen vielleicht der Name Thomas Bräusperich etwas?“

Nein. Über seinen Beruf hat Hermann nie gesprochen. Er wollte mich mit derartigen Dingen nicht unnötig belasten.“ Sie schüttelte den Kopf und knetete ihre Fingerkuppen. „Nach wem fragten Sie mich doch gleich noch?“

Nach Thomas Bräusperich.“

Nein, der Name sagt mir nichts. Warum wollen Sie das wissen? Ihre Neugier schien geweckt.

Er hat eine mehrjährige Haftstrafe verbüßt und zählt zu dem Kreis der Verdächtigen. Schauen Sie sich doch bitte mal ein Foto von ihm an. Eventuell bringt uns das weiter.“ Aus ihrer Jackentasche zog sie ein Lichtbild und legte es mitten auf den Tisch. „Die Aufnahme ist allerdings mehrere Jahre alt und sein Besitzer mittlerweile ein wenig gealtert. Sie dürfen das Bild ruhig in die Hand nehmen.“

Mit beiden Händen nahm Agnes es auf und betrachtete den Mann darauf eingehend, bevor sie es wieder zurück auf die Tischplatte legte und der Kommissarin zuschob.

Ich kann mich nicht erinnern, dieses Gesicht schon einmal gesehen zu haben.“ Mit festem Blick sah sie ihr Gegenüber an.

Wie standen Sie eigentlich zu Ihrem Bruder? Ich meine, wie war Ihr Verhältnis zueinander? Abgesehen von kleinen Differenzen, die überall mal vorkommen?“

Hermann und ich führten ein harmonisches Miteinander. So, wie es unter Geschwistern eben üblich ist. Er sorgte für das Finanzielle und dafür habe ich ihm den Haushalt gemacht.“

Hat er Sie als Mensch respektiert, oder eher wie eine Angestellte behandelt?“ Die Oberkommissarin hoffte, dass sie mit dieser Frage nicht zu weit gegangen war. Doch anstatt sich darüber aufzuregen, reagierte Agnes Meirich ziemlich gelassen.

Hermann war immer gut zu mir, wenn Sie das meinen.“

Ist er zu irgendeinem Zeitpunkt Ihnen gegenüber einmal handgreiflich geworden?“

Nein, niemals.“, antwortete sie hastig.

Gut, dann soll es das vorerst gewesen sein. Wenn ich noch Fragen an Sie haben sollte, melde ich mich.“ Schwungvoll erhob sich Daja Cornelius von ihrem Platz und steckte Notizbuch und Lichtbild umständlich zurück in ihre Jackentasche. „Sie sagten, Ihr Sohn sei zu Besuch. Darf ich fragen wie er heißt und wie alt er ist?“

Er heißt Felix Meirich und ist neunzehn Jahre alt.“ Verhaltener Stolz schwang in ihrer Stimme mit, während sie die Stühle an den Tisch heran schob.

Wenn ich mich recht erinnere, äußersten Sie bei unserer ersten Begegnung, dass Ihre Ehe und auch die Ihres Bruders kinderlos geblieben ist.“

Ja, das stimmt.“ Sie fühlte sich ertappt und wusste nicht recht, wie sie aus dieser Situation wieder herauskommen sollte. „Wir haben uns viele Jahre nicht gesehen, hatten keinen Kontakt mehr. Erst durch Hermanns Tod fanden wir wieder zueinander. Er ist hauptsächlich wegen der Beerdigung hier.“ Nervös zerrte sie an ihrem Ärmel. „Ich weiß, das hätte ich nicht verschweigen dürfen. Es ist mir auch sehr unangenehm, dass Sie es auf diese Weise erfahren müssen.“

Na ja, nun ist es ja heraus. Im Übrigen wird es noch ein paar Tage dauern, bis die Leiche Ihres Bruder freigegeben wird.“

Ich würde mir wünschen, dass es nicht mehr allzu lange dauert.“ Sie schluchzte und schnäuzte sich die Nase mit einem Taschentuch.

Entschuldigung, Frau Meirich. Ich wollte Ihnen mit dieser Äußerung nicht zu nahe treten und schon gar nicht Ihre Gefühle verletzen.“ Sanft berührte sie den Arm der weinenden Frau.

Ist schon gut. Sie machen doch auch nur Ihre Arbeit. Warten Sie, ich öffne Ihnen die Tür.“

Danke, Frau Meirich. Das bekomme ich schon allein hin. Gehen Sie mal lieber wieder zu Ihren Gästen und frühstücken endlich weiter.“

Aber, es ist doch nur Felix da.“ Sie schien nicht zu verstehen.

Ja, Felix und der kleine Hund. Zählt der denn nicht als Gast?“ Augenzwinkernd drückte Daja Cornelius auf die Klinke und machte die Haustür auf. Kühle Herbstluft schlug ihr entgegen, als sie auf ihren Dienstwagen zu schlenderte. Kurz bevor sie das Fahrzeug erreicht hatte, drehte sie sich noch ein letztes Mal um. Ein junger Mann stand in der Türöffnung und hatte einen Arm um Agnes Meirichs Schulter gelegt. Vor ihnen auf dem Kies, tummelten sich die beiden Hunde.

Auf dem Kriminalkommissariat

Gegen elf Uhr betrat die Oberkommissarin das Gemeinschaftsbüro. Ihre Kollegen schienen schwer beschäftigt zu sein, da sie ihren Gruß nicht einmal erwiderten. Erst nachdem sie hinter Norman an den Schreibtisch getreten war, bemerkte er sie.

Oh, Daja. Ich habe gar nicht mitgekriegt, wie du ins Büro gekommen bist.“ Grienend lehnte er sich auf seinem Stuhl zurück und ließ den Kugelschreiber zwischen den Fingern rotieren. „Ich habe eine gute schlechte Nachricht für dich.“

Die da wäre?“

Vorhin war die Angestellte aus der kleinen Eckkneipe hier und hat ihre Aussage zu Protokoll gegeben. Sie bescheinigt dem Bräusperich für Dienstagabend ein wasserdichtes Alibi. Sie konnte mir sogar noch die Namen zweier Zeugen nennen, mit denen er Skat gespielt haben soll. So wie es aussieht, müssen wir uns wohl langsam aber sicher als Täter von ihm trennen. Auch wenn es schwerfällt.“ Seufzend warf er seinen Kugelschreiber auf das vor sich liegende Blatt Papier.

Und wie glaubwürdig schätzt du die Zeugenaussage ein?“ Daja zog ihre Jacke aus und warf sie über die Stuhllehne ihres Schreibtischstuhles.

Ich denke schon, dass wir ihr Glauben schenken dürfen. Immerhin handelt es sich um die Frau eines Kollegen vom Kriminaldauerdienst. Ihr Name ist Petra Kartuschnik, du kennst sie.“

Natürlich kenne ich Petra. Wenn sie meint, der Bräusperich war während der Tatzeit in der Gaststätte anwesend, dann ist er das auch mit hundertprozentiger Sicherheit gewesen. An der Integrität dieser Dame besteht absolut kein Zweifel. Ich wusste gar nicht, dass Petra arbeiten geht.“ Verwundert über diese Tatsache, benötigte die Kommissarin zu ihrem Kaffee erst einmal eine Zigarette.

Wir können schließlich auch nicht alles wissen.“, erwiderte Norman und schwenkte eine dünne Aktenmappe in der rechten Hand. „Hier, das ist mein Tatortbericht. Wenn du ihn lesen willst, er ist fertig.“

Später, erst muss ich mich mal wieder sammeln. Leg ihn doch bitte auf meinen Schreibtisch. Sag mal, was ist denn mit Lasse los? Der hat immer noch nicht mitbekommen, dass ich zurück bin.“ Lachend blickten sie zu zweit in seine Richtung. Er schien zu merken, dass über ihn gesprochen wurde und unterbrach seine Tätigkeit am Computer.

Wollte nur noch rasch fertiglesen. Ist total interessant, was der Gerichtsmediziner und die Spurensicherung uns alles so mitzuteilen haben.“ Allwissend verschränkte er die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich entspannt zurück.

Erzähl schon und spann uns nicht lange auf die Folter.“, forderte Daja ihn auf und trank einen Schluck Kaffee.

Unser Verdacht hat sich im Wesentlichen bestätigt. Daniel Flohsing wurde zuerst überfahren. Hermann Müllerich folgte im Anschluss daran. Auch wenn der exakte Todeszeitpunkt nicht auf die Minute festgestellt werden konnte, ist der Doktor sich seiner Sache ziemlich sicher. In beiden Fällen hat der Täter sein jeweiliges Opfer voll mit Stoßstange, Kotflügel und Motorhaube erwischt. Wobei davon auszugehen ist, dass Flohsing sofort tot war, weil er mit dem Hinterkopf unglücklich auf die Bordsteinkante geschlagen und einem Blutgerinnsel erlegen ist. Bei Müllerich hingegen soll die Wucht des Aufpralls eindeutig stärker gewesen sein. Was wiederum auf eine gesteigerte Wut des Täters schließen lässt. Müllerich ist trotz Notoperation innerlich verblutet. Die Verletzungen sollen derart heftig gewesen sein, dass kaum eine Überlebenschance für den ehemaligen Staatsanwalt bestand. Es trifft auch nicht zu, dass er erst in den Morgenstunden verstorben ist, sondern bereits während der Operation. Wir sind es halt erst am nächsten Tag gewahr geworden. Ein unverzeihliches Versäumnis der Klinikleitung.“

Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach:

Die Spurensicherung hat Vergleichsspuren von Bräusperichs Golf genommen. Und jetzt haltet euch fest. Die Reifenspuren auf dem Feldweg stammen eindeutig von seinem Fahrzeug. Da hat er uns wohl die Wahrheit gesagt. Die Spuren des Unfallverursachers hingegen haben ein völlig anderes Profil und auch eine andere Reifengröße. Sie gehören zu einem VW mit Spurverbreiterung. Was für uns bedeutet, Bei dem Golf des Bräusperich handelt es sich eindeutig nicht um das Tatfahrzeug. Nun seid ihr dran.“ Beinahe triumphierend klatschte er mit der flachen Hand auf sein Knie.

Tja, nun muss ich mich wohl allmählich an die Tatsache gewöhnen, dass nicht Bräusperich unser Mann ist, sondern irgendein anderer.“, knirschte Daja und wandte sich Lasse Beerens zu. „Lasse, hast du sonst noch irgendetwas Bedeutungsvolles herausbekommen, was ich unbedingt wissen muss?“

Nö, das war’s fürs Erste. Sollte für den Anfang ja wohl ausreichen. Immerhin musste ich nebenbei auch noch meinen Tatortbericht schreiben und für euch Hansel Telefondienst machen. Wo wir gerade beim Telefon sind, fallen mir explizit noch zwei Dinge ein. Zum einen habe ich nach langem hin und her endlich jemanden bei der Staatsanwaltschaft erreichen können, der sich an den Vorgang Bräusperich erinnern konnte. Zumindest ansatzweise. Ihm war bekannt, dass Müllerich der Fall wegen Befangenheit entzogen wurde. Gerüchten zufolge wurde behauptet, es handele sich bei dem Angeklagten um einen Verwandten dritten oder vierten Grades seinerseits. …“

Also doch. Es konnte nur etwas in der Art sein.“, trumpfte Daja Cornelius auf. „Und die zweite Sache?“

Eine Nachbarin von der Meirich hat sich gestern telefonisch über Lärmbelästigung durch lautstarke Musik beschwert. Sie schien ziemlich erbost über die Pietätlosigkeit im Hause Müllerich-Meirich, da es sich doch über ein Trauerhaus handelt.“

Das ist ja wirklich merkwürdig.“ Grüblerisch marschierte die Oberkommissarin im Büro auf und ab.

Was findest du daran ungewöhnlich?“ Verständnislos zog Norman Nessel die Augenbrauen in die Höhe und kratzte sich unter dem Kinn.

Na, würdet ihr zu Hause die Musik laut aufdrehen, wenn gerade einer aus der Familie verstorben ist? Ich zumindest nicht.“

Hm, jeder geht mit seiner Trauer eben anders um. Ich kann daran nichts Anstößiges finden.“

Vielleicht hat die Meirich ja auch die Musik ihres verstorbenen Bruders gehört, um ihm nahe zu sein?“, glaubte Lasse zu wissen.

Oder sie haben eine Freudenparty gefeiert.“, erwiderte Daja und zog ihre Jacke wieder an.

Was meinst du denn mit SIE?“ Irritiert sahen die Männer zu der einzigen Frau im Raum.

Mir ist da gerade so eine Idee gekommen, der ich ganz gerne auf den Grund gehen möchte. Wenn zutrifft, was mir seit geraumer Zeit durch den Kopf geistert, ist alles ganz anders als wir es bisher angenommen haben. Doch bevor ich deswegen womöglich unnötigerweise die Pferde scheumache, will ich erst einmal den werten Herrn Sohn der Meirich überprüfen.“ Schnell tippte sie seinen Vornamen und Nachnamen in das polizeiliche Auskunftssystem ein und wartete ungeduldig auf eine Antwort. „Mist, es gibt mehrere männliche Personen, die Felix Meirich heißen. Aber wartet mal, was hat sie doch gleich gesagt wie alt er ist?“ Nachdenklich zog sie die Stirn in Falten.

Wie kommst du denn plötzlich auf den Sohn der Meirich?“ Beide Kollegen waren hinter ihre Vorgesetzte getreten und blickten ihr über die Schulter. „Ich denke, aus der Ehe sind keine Kinder entsprungen?“

Das dachte ich bislang auch. Agnes Meirich war vorhin aber nicht alleine zu Hause. Ihr Sohn war zu Besuch, angeblich wegen der anstehenden Beerdigung seines verstorbenen Onkels. Sie hat sich mir gegenüber verplappert.“

Sieh mal einer an.“ Norman stieß einen überraschten Pfiff aus. „Wieso hat sie den bisher verheimlicht?“

Keine Ahnung. Unter Umständen hat sie ihn verleugnet, weil sie über Jahre hinweg keinen Kontakt zueinander hatten.“

Ich finde daran nichts Ungewöhnliches. So etwas kommt in den besten Familien vor. Pack schlägt sich und Pack verträgt sich. Hat schon meine Oma immer gesagt.“

Absolut weiser Spruch von deiner Großmutter.“ Den Daumen ironisch aufgerichtet, rümpfte Daja Cornelius die Nase. „Nur glaube ich in diesem Zusammenhang nicht daran.“

Inwiefern hegst du Zweifel?“, hakte Lasse Beerens nach.

Weil die gute Frau einerseits den Eindruck erweckte, stolz auf ihren Sohn zu sein. Andererseits aber ziemlich nervös auf mich wirkte. Das wiederspricht sich doch. Zumal sie mir den Kerl nicht einmal vorgestellt hat, obwohl wir über ihn gesprochen haben. Hinzu kommt, dass sie mich am liebsten erst gar nicht ins Haus hineingelassen hätte. Wenn ich im Nachhinein darüber nachdenke, sind mir noch ein paar andere Dinge seltsam vorgekommen. Zum einen glaubte ich eine weitere Person gesehen zu haben, zumindest ansatzweise in Form von Unterschenkeln. Und die Anwesenheit des zweiten Hundes hat mich irritiert. Ich weiß aber nicht wieso und kann mich auch in jeder Hinsicht irren. Es handelt sich lediglich um ein Bauchgefühl.“

Das benötigen wir in unserem Beruf. Ohne Bauchgefühl wären wir nur halb so gut.“, lachte Norman. „Was sagst du, wie alt könnte der Sohn von der Meirich sein?“ Insgesamt zwölf männliche Personen mit diesem Namen waren auf dem Bildschirm aufgelistet. Der Reihe nach klickte Norman diese an und gemeinsam sahen sie anschließend deren Personalien durch.

Neunzehn!“, rief Daja unerwartet laut. „Agnes Meirich hat erzählt, dass er neunzehn Jahre alt ist. Sieh mal, der da dürfte durchaus infrage kommen. Mit dem Zeigefinger deutete sie auf das Geburtsdatum eines Felix Meirich, der neunzehnhundertvierundneunzig geboren wurde. „Los, ruf ihn auf. Das scheint er zu sein.“ Aufgeregt warteten sie zu dritt auf nähere Angaben bezüglich seiner Identität und den Straftaten, die dieser Mann in der Vergangenheit verübt hatte.

Schaut euch das an.“ Erfreut registrierte Daja, dass es sich offensichtlich um den von ihr gesuchten Felix Meirich handelte. „Die Personalien drucke ich mir gleich erst einmal aus.“ Während sie mit den EDV-Daten zum Schreibtisch ging, um die Angaben in Ruhe zu studieren, rief Norman ihr zu:

Wir haben nähere Angaben zu seinem Strafregister. Abgesehen von diversen Ladendiebstählen, ist er wegen Körperverletzung und Drogenkonsums bereits mehrfach polizeilich in Erscheinung getreten. Vom Erkennungsdienst in München liegen Fingerabdrücke und ein Lichtbild des vorletzten Jahres vor. Willst du alles ausgedruckt haben?“

Natürlich möchte ich alles uns zur Verfügung stehende Material. „Wieso fragst du überhaupt?“ Ihre Stimme verfügte über einen leicht gereizten Unterton. „Wie sieht es mit einem Fahrzeug aus? Ist da irgendetwas in seiner Akte vermerkt?“

Nein, es existieren keine Angaben zu einem Wagen. Aber er ist im August ja auch erst neunzehn geworden und somit gehe ich davon aus, dass er vor zwei Jahren, also mit siebzehn, noch keinen Führerschein besaß.“

Stimmt.“, stellte Daja ernüchtert fest. Daran habe ich nicht gedacht. Aber er ist auf jeden Fall unser Mann. Das ist doch wenigstens schon einmal was. Unter Angehörige steht hier nämlich der Name seiner Mutter vermerkt, Agnes Meirich.“ Nachdem Daja Cornelius den kompletten Text gelesen hatte, legte sie den Ausdruck auf ihren Schreibtisch. Nachdenklich spazierte sie im Zimmer auf und ab.

Oh, Daja. Kannst du bitte mit der ständigen Lauferei aufhören, oder zumindest deine Klapperschuhe ausziehen? Das ewige Klackern deiner Absätze geht mir auf den Sack.“ Missgelaunt sah Norman vom Desktop auf, während sein Kollege sich das Lachen kaum verkneifen konnte. „Was gibt es denn da zu gackern? Könnt ihr euch nicht einmal auf das Wesentliche konzentrieren?“

Kommt, Jungs. Rauchen wir zusammen eine Zigarette, damit sich unser aller Nerven ein wenig beruhigen.“ Zu dritt versammelten sie sich um den kleinen Tisch, der von drei Holzstühlen umgeben, in der Nähe des Fensters stand. Während Lasse Kaffee in die Tassen füllte, zückte Norman seine Schachtel Zigaretten und bot sie seinen Kollegen an.

Mir ist gerade etwas eigefallen.“ Vorsichtig stellte Lasse eine Tasse nach der anderen ab. „Daja, du hast doch irgendwann mal gesagt, dass der Ehemann von der Meirich bereits vor langer Zeit verstorben ist.“ Zustimmung heischend sah er sie an.

Ja, das stimmt. Wenn ich mich recht erinnere, hat sie etwas von ungefähr zwanzig oder dreiundzwanzig Jahren erzählt.“

Genau so habe ich es in Erinnerung.“ Lasse nickte heftig mit dem Kopf. „Angenommen, das trifft zu. Dann frage ich mich doch ernsthaft, wie sie von ihm einen neunzehnjährigen Bengel haben kann. Ich habe mal gehört, dass eine Schwangerschaft in der Regel neun Monate dauert.“

Daja verschluckte sich am Kaffee und erlitt einen Hustenanfall. Prustend rannte sie zum Waschbecken und spuckte das Coffein haltige Getränk wieder aus. Unter fließendem Wasser erfrischte sie sich, bevor sie tief Luft holend zu ihren Kollegen zurückkehrte.

Lasse, du bist eine Granate.“, hüstelte sie und klopfte ihm zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden auf die Schulter. „Ausgerechnet einem Mann muss das auffallen, wie beschämend.“ Beide Männer grinsten sie verwegen an.

Nur, wer außer ihrem damaligen Ehemann könnte als Erzeuger sonst noch infrage kommen? In der Kriminalakte ist lediglich seine Mutter als einzige Verwandte angegeben. Mit dem Hinweis, sie sei aufgrund psychischer Labilität nicht in der Lage, sich um den Sohn zu kümmern.“ Norman Nessel drückte seinen Zigarettenstummel aus und blies den Rauch in Richtung Fenster. „Er ist übrigens in einem Privatheim aufgewachsen, weit weg von zu Hause. Die Unterbringung muss im Laufe der Jahre eine schöne Stange Geld gekostet haben.“

Fehlt nur noch, dass der werte Herr Staatsanwalt Inzucht betrieben hat und der Vater von Felix Meirich ist.“ Kommissar Lasse Beerens glaubte eine Erklärung gefunden zu haben.

Meinst du ehrlich, dass er zu so etwas in der Lage wäre?“ Daja Cornelius hatte sich von ihrem Hustenanfall wieder erholt und schüttelte ungläubig den Kopf. „Ein Mann in seiner Position? Nein, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Zeig doch mal das Foto her, vielleicht bringt es uns ein bisschen weiter.“

Er sieht seiner Mutter ähnlich.“, antwortete Norman und ging zum Schreibtisch, um den Ausdruck zu holen. Kritisch musterten sie nacheinander das Foto eines siebzehnjährigen Jungen, der trotzig in die Kamera blickte. Seine schmalen Lippen und die fein geschwungene Nase erinnerten Daja Cornelius an Agnes Meirich. Aber irgendetwas in seinem Gesicht irritierte sie.

Gib mal her.“ Die Oberkommissarin entriss ihrem Kollegen das Blatt Papier und musterte die Aufnahme kritisch. „Diese schwarz weiß Fotos sagen nicht sonderlich viel aus. Aber vielleicht erfahren wir anhand seiner körperlichen Merkmale mehr über ihn. Wollen doch mal sehen, was er aufzuweisen hat. “ Suchend glitt ihr Blick über den Ausdruck. „Ah, hier steht es ja. Er ist einen Meter siebenundachtzig groß, von kräftiger Statur, hat leicht abstehende Ohren und graue Augen. Auf dem rechten Oberarm befindet sich eine flächendeckende, farbige Tätowierung in Form eines Jokers, der mit vier Spielkarten bestückt ist. Jede dieser Spielkarten ist mit einem Buchstaben versehen. Die erste beinhaltet ein H, die zweite ein A, die dritte ein F und die vierte ein T.“ Grüblerisch zog sie die Stirn in Falten. „Welcher normale Mensch lässt sich denn das Wort HAFT einritzen?“

Keine Ahnung. Jedenfalls kenne ich niemanden aus meinem Bekanntenkreis, der es tun würde. Hat er denn irgendwann einmal in der Vergangenheit eine Haftstrafe verbüßt?“ Interessiert blickte Norman seine Kollegin an.

Ja, im Alter von fünfzehn Jahren einen Jugendarrest von vierzehn Tagen.“

Steht da auch, weshalb?“

Wegen Körperverletzung. Nachdem er die fünfte Klasse wiederholen musste, wechselte er von dem Kinderheim in ein Internat. Dort wurde er von älteren Jugendlichen gemobbt. Doch anstatt stillzuhalten, hat er sich gewehrt und zwei von denen fürchterlich zusammengeschlagen. Daraufhin wurde ihm ein Antiaggressionstraining auferlegt, das er während des Aufenthaltes in der Jugendstrafanstalt zum Teil schon absolviert hat. Im Anschluss daran ist er offiziell zwar nicht mehr handgreiflich geworden, hat dafür aber Drogen konsumiert und sie teilweise auch vertickt.“

Also ein Dealer. Wer weiß, was der noch so alles auf dem Kerbholz hat. Steht da auch was in Bezug auf die Unterbringung im Internat? Ich meine, wer hat die Kosten des Aufenthalts übernommen? Internate werden in der Regel nicht vom Vater Staat bezahlt.“

Nee, darüber steht hier nichts geschrieben. Wäre ja auch zu schön. Ich denke mal, dass seine Mutter dafür gesorgt hat, dass er einen vernünftigen Schulabschluss erhält.“ Daja Cornelius unterbrach ihren Lesefluss.

Oder sein Vater.“, fügte Lasse schlagfertig hinzu. „Wenn der Herr Papa dann auch noch Hermann Müllerich heißt, erklärt sich so manches von ganz allein.“

Du meinst wirklich, er ist sein Erzeuger?“ Daja zog die Nase kraus.

Nicht nur der Erzeuger, sondern auch der Täter.“

Und welches Motiv sollte er haben?“

Na ja, Felix Meirich hat halt herausbekommen, dass Müllerich sein Vater ist und wollte sich deshalb an ihm rächen.“

Unmöglich ist es zumindest nicht.“ Daja wiegte bedächtig den Kopf hin und her. „Was meinst du dazu, Norman?“

Zumindest sollten wir ihn als Täter nicht außer Acht lassen. Wenn es zutrifft was Lasse mit der Inzucht bereits angedeutet hat, dann hat der Kerl mehr Dreck am Stecken, als ich es ihm jemals zugetraut hätte.“ Schnaubend marschierte er zu seinem Schreibtisch. „Ich gehe mal davon aus, dass wir dem Trauerhaus einen kleinen Besuch abstatten werden.“

Genau das werden wir tun. Ich begebe mich jetzt zu unserem Hauptkommissar Klaus Glatzmeiser und unterrichte ihn vom derzeitigen Stand der Dinge. Er muss unverzüglich dafür sorgen, dass wir auf die Schnelle einen Durchsuchungsbefehl von der Staatsanwaltschaft erhalten. Erst danach haben wir die Möglichkeit, uns ungehinderten Zugang zum Trauerhaus zu verschaffen. Ihr beiden sorgt bitte dafür, dass der Kriminaldauerdienst über unseren Einsatz Bescheid weiß und wir notfalls Unterstützung anfordern können. Wir fahren mit zwei Zivilfahrzeugen zum Einsatzort. Ich schätze mal, dass es so circa ein bis zwei Stunden dauern wird, bis ich grünes Licht erhalten habe. Seht zu, dass ihr eure hungrigen Mäuler bis dahin gestopft habt und bleibt bitte jederzeit für mich erreichbar. Bis später.“ Die rechte Hand zum Gruß erhoben und mit den Fingern wedelnd, verließ sie eiligen Schrittes das Büro.

Zweieinhalb Stunden später, circa 14.30 Uhr

Nach einem ausführlichen Gespräch mit dem diensthabenden Staatsanwalt Bullrich und ihrem Vorgesetzten, KHK Glatzmeiser, befand sich Oberkommissarin Cornelius soeben auf dem Rückweg in ihr Büro. Mit zügigen Schritten und einem Durchsuchungsbeschluss in der Hand, eilte sie den langen Korridor entlang. Noch schnell einen Abstecher auf die Toilette machen wollend, klingelte ihr Handy genau in dem Moment, als sie im Begriff war, die Türklinke niederzudrücken. Hastig zog sie es aus der Jackentasche.

Ja, was gibt es?“

Wo bist du denn Daja?“, hörte sie die aufgeregte Stimme ihres Kollegen Lasse Beerens.

Ich bin auf dem Weg zu euch. Wollte nur noch schnell mal aufs stille Örtchen, aber das scheint mir ja nicht vergönnt zu sein.“, scherzte sie.

Okay, dann warte ich noch ein paar Minuten mit meinen neuesten Erkenntnissen. Du wirst staunen, was der liebe Lasse nebenbei so herausgefunden hat.“ Seine Stimme klang euphorisch.

Na, da bin ich aber gespannt. Ist Norman auch anwesend?“

Der ist kurz beim Kriminaldauerdienst, kommt aber gleich zurück.“

Gut. In fünf Minuten darfst du mit mir rechnen.“

Alles klar, bis gleich.“

Der Bursche ist besser als ich vermutet habe. Bin froh, ihn in meinem Team zu haben. Sein Ehrgeiz ist Gold wert. Er hat ein Auge fürs Detail. Nicht schlecht, Herr Specht. So, noch schnell Hände waschen und dann nichts wie ab ins Büro.

Kriminalkommissar Lasse Beerens

Ungeduldig wartete Lasse Beerens auf Dajas Rückkehr. Seine neu erworbenen Feststellungen würden wie eine Bombe einschlagen. Während Dajas Abwesenheit hatte er sich ausgiebig mit den körperlichen Merkmalen des Fekix Meirich auseinandergesetzt. Eine heimliche Leidenschaft von ihm, außergewöhnliche Tätowierungen zu analysieren. Selber trug er als Kriminalbeamter nur ein winziges Tattoo auf dem linken Oberarm. Es wunderte ihn nicht sonderlich, dass der damalige Beamte vom Erkennungsdienst keinen zusätzlichen Vermerk bezüglich der Lettern auf den Spielkarten, hinzugefügt hatte. Vermutlich war ihm nicht einmal aufgefallen, dass drei der vier Buchstaben durchgestrichen waren. Lasse wusste aus eigener Erfahrung, dass es mit der erkennungsdienstlichen Behandlung manchmal überstürzt zuging. Nicht alle Täter oder Tatverdächtigen richteten sich nach der üblichen Dienstzeit und verübten ihre Straftaten zwischen acht und sechzehn Uhr. Gerade, als die Tür von außen geöffnet wurde, ertönte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Den Eingangsbereich im Auge behaltend, nahm er den Hörer ab.

Kriminalkommissariat Berzberg, Lasse Beerens am Apparat.“, ratterte er seinen Spruch herunter,

Hallo Lasse.“, tönte es an sein Ohr. „Ich bin‘s, Peter vom Kriminaldauerdienst.“

Hallo Peter. Was hast du denn auf dem Her…?“ Noch bevor er zu Ende fragen konnte, wurde er von dem Beamten unterbrochen.

Vor wenigen Augenblicken ist bei uns ein Notruf eingegangen. Eine Frau Meirich aus dem Waldweg zwanzig, hat uns um Hilfe gebeten. Sie wird angeblich von einem Mann mit Schusswaffe bedroht. Das Telefongespräch wurde durch einen Schrei abrupt beendet. Meine Leute sind bereits auf dem Weg dorthin. Sieht ganz danach aus, als würde es sich um euren Fall mit dem Staatsanwalt handeln. Fahrt ihr hin?“

Ach, du Scheiße. Jetzt wird’s aber richtig spannend. Natürlich übernehmen wir. Sind praktisch schon so gut wie unterwegs.“ Hastig schmiss er das Telefon zurück auf die Station und sprang vom Stuhl auf. Überrascht registrierte Daja das ungestüme Verhalten ihres jungen Kollegen. Aufgrund ihrer langjährigen Erfahrung wusste sie, dass etwas Ungewöhnliches passiert sein musste und deshalb Eile geboten war. Wortlos hielt sie ihm die Tür auf und wartete auf seine Berichterstattung, die während des Laufens auf dem Flur erfolgte.

Die Meirich hat über die eins, eins, null einen Notruf abgesetzt. Sie fühlt sich von einer männlichen Person bedroht. Einzelheiten sind allerdings nicht bekannt.“

Im Treppenhaus trafen sie auf Norman Nessel, der herzhaft in ein belegtes Brötchen biss. Als ihm seine beiden Kollegen, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, entgegengerannt kamen, ahnte er Böses. Zusammen mit der Serviette, steckte er es kurzerhand in seine Jackentasche und folgte den Hastenden nach draußen zu den Dienstwagen.

Was ist los?“, rief er und versuchte Daja einzuholen.

Ein Notfall. Wir fahren mit zwei Wagen zum Waldweg zwanzig. Agnes Meirich scheint sich in Gefahr zu befinden.“ Die Oberkommissarin griff in ihre Jackentasche und beförderte die Autoschlüssel zutage. „Ich nehme mit Lasse den Audi. Schnapp du dir den Kombi und komm möglichst schnell hinter uns her. Die Schlüssel stecken noch von vorhin im Zündschloss. Das Fahrzeug steht gleich vorn in der Tiefgarage. Der Täter hat eine Schusswaffe, also sei vorsichtig.“

Okay, alles klar.“ Während Daja und Lasse ihren Wagen bereits erreicht hatten, musste Norman noch ein paar Meter weiter flitzen. Über Funk setzten sie die Zentrale von dem Einsatz in Kenntnis.

Erzähl, was du herausbekommen hast, damit ich auf dem Laufenden bin.“ Daja Cornelius lenkte das Fahrzeug ungeduldig an der sich öffnenden Sicherheitsschranke vorbei.

Die Tätowierung auf Felix Meirichs Oberarm ließ mir keine Ruhe. Ich habe sie auf dem Computer vergrößert und festgestellt, dass drei der vier auf den Spielkarten befindlichen Buchstaben durchgestrichen sind. Meiner Meinung nach, bedeutet das Wort HAFT nämlich nicht die Haft im herkömmlichen Sinn, sondern beinhaltet die Anfangsbuchstaben verschiedener Personen, die mit Felix Meirich im Zusammenhang stehen dürften. Das H könnte für Hermann stehen, das A für Agnes, das F für Felix und das T für Thomas. Bis auf das F, also den Felix, sind alle Buchstaben durchgestrichen. Was wiederum bedeuten könnte, dass Felix Meirich sich an diesen Personen rächen und sie töten will.“

Mensch, Lasse. Du bist der absolute Hammer. Ach, was sage ich da. Ein komplett gefüllter Werkzeugkasten ist nichts gegen dich.“, lachte sie glockenhell. „Dass wir darauf nicht schon eher gekommen sind.“ Mit der flachen Hand klatschte sie sich vor die Stirn. „Verdammte Scheiße, ich könnte mich ohrfeigen wegen so viel Blindheit. Genau so wird es sein. Er will all jene fertigmachen, die verantwortlich dafür sind, dass er im Heim aufwachsen musste. Aber was um alles in der Welt, kann der Bräusperich damit zu tun haben?“

Keine Ahnung, wie der in die Sache involviert ist. Doch das werden wir sicher recht bald erfahren. … Kannst du nicht vielleicht ein bisschen sinniger fahren? Mir ist schon speiübel von deiner ruckartigen Fahrweise.“ Die Hände auf dem Armaturenbrett abgestützt, schaukelte er mit dem Oberkörper hin und her.

Noch fünf Minuten, dann haben wir es geschafft.“ Kurz vor der scharfen Kurve schaltete die Oberkommissarin runter in den zweiten Gang. Mit quietschenden Reifen rumpelte der Wagen über die Bordsteinkante.

Oh, oh, oh!“, schrie der junge Kommissar. „Langsam aber sicher wird’s gefährlich mit dir zu reisen.“

Ach, stell dich nicht so mädchenhaft an. Du fährst auch nicht viel besser.“, lachte Daja Cornelius und sah ihren blassen Kollegen von der Seite an. „Ach, du heiliger Strohsack. Jetzt fällt mir auch wieder ein, wieso mich der zweite Hund bei der Meirich hat stutzig werden lassen. Die kleine Kröte sah genau so aus, wie der freche Köter von dem Bräusperich. Wahnsinn. Manchmal hat man doch wirklich ein Brett vor dem Kopf.“

Damit bestätigst du indirekt meine Theorie. Wir kommen der Sache immer näher.“

Sieh mal, die Kollegen vom Kriminaldauerdienst sind schon anwesend.“ Die Oberkommissarin brachte den Dienstwagen unmittelbar hinter einem Polizeifahrzeug zum Stehen. „Und Norman ist auch direkt hinter uns.“ Beinahe gleichzeitig sprangen die Beamten aus dem Wagen heraus und rannten auf das Haus zu. Die Haustür stand sperrangelweit geöffnet. Auf dem Flur lag, langausgestreckt auf dem Rücken, Thomas Bräusperich. Er bewegte sich nicht. Sein blutdurchtränktes Sweatshirt ließ auf eine schwere Verletzung hindeuten. Ein Mann von Kriminaldauerdienst hockte neben ihm und fühlte seinen Puls. Während Norman Nessel und Lasse Beerens mit gezogener Waffe an dem ungleichen Paar vorbeistürmten, blieb die Oberkommissarin bei dem Verwundeten und ihrem Kollegen stehen.

Was ist mit ihm?“

Er ist tot.“, sagte der Beamte in nüchternem Tonfall und richtete seinen Körper auf. „Erschossen. Der Täter hat sich mit einer Geisel im Esszimmer verschanzt.“ Mit dem Kopf deutete er in Richtung Wohnzimmer. „Es liegt hinter der Stube. Sebastian steht vor der Tür und versucht den Kerl zur Aufgabe zu bewegen.“

Habt ihr eine Ahnung, um wen es sich bei der männlichen Person handelt?

Nein, nicht wirklich. Aber die Vermutung liegt nahe, dass es der Stimme nach zu urteilen, ein junger Mann sein könnte.“

Durchaus möglich, dass er der Sohn der Bedrohten ist. Ich gehe einfach mal davon aus und probiere mein Glück. …Felix!“, rief Norman Nessel und klopfte mit den Knöcheln der Faust gegen das Türblatt. „Mein Name ist Norman von der Kripo und ich möchte, dass du unverzüglich die Tür öffnest.“ Mit einer Handbewegung deutete er den restlichen Beamten an, still zu sein. Es polterte in dem verschlossenen Raum und ein erstickter Schrei war zu vernehmen, bevor wieder Ruhe einkehrte. „Felix, ich weiß genau, dass du dich hier im Zimmer aufhältst. Es wäre für alle Beteiligten das Beste, wenn du machst was ich dir sage, sonst müssen wir die Tür aufbrechen.“ Zur Untermalung seiner Worte, hämmerte er energischer als zuvor gegen das Türblatt. Geduldig warteten alle einen Moment lang, bevor Norman dem Kollegen vom Kriminaldauerdienst und auch Lasse ein Zeichen gab, sich nach draußen hinter das Haus zu begeben.

Hilfe!“, schrie in diesem Moment eine weibliche Stimme aus dem Esszimmer, bevor ein Schuss die anschließende, Sekundenstille unterbrach. Ohne zu zögern, rammte Oberkommissar Norman Nessel mit seiner rechten Schulter mehrmals hintereinander die Tür, bis sie laut krachend aus den Angeln flog. Gleichzeitig erfolgte von außen das Einschlagen der Fensterscheibe durch Kriminalkommissar Lasse Behrens, sodass Felix Meirich vom Eindringen der Beamten durch die Türöffnung abgelenkt wurde und sein Augenmerk auf das Fenster richtete. Irritiert ließ er kurzfristig von seiner Mutter ab, sodass diese die Gelegenheit nutzen und auf allen Vieren kriechend, sich hinter der Glasvitrine verstecken konnte. Ängstlich zitternd, saß sie zusammengekauert und hielt ihren Kopf im Schoß der angezogenen Beine verborgen. Blut sickerte aus ihrem Ärmel und ließ auf eine Schusswunde vermuten. Erst, nachdem Felix Meirich von Norman und seinem Kollegen überwältigt und an den Händen fixiert worden war, begab sich Oberkommissarin Daja Cornelius zu der am Boden kauernden, verstörten und verletzten Frau. Vorsichtig berührte sie ihre Schulter.

Es ist vorüber, Frau Meirich. Er kann Ihnen nichts mehr tun. Kommen Sie.“ Doch anstatt sich zu erheben, begann Agnes Meirich wie wild um sich zu schlagen und hysterisch zu lachen.

Lassen Sie mich in Ruhe! Weg da, gehen Sie weg. Ich will hier keinen Menschen sehen! Thomas! Wo bist du?!“

Schnell, fordert einen Krankenwagen an, sie benötigt dringend etwas zur Beruhigung und der Streifschuss muss ebenfalls versorgt werden.“, rief Daja Cornelius ihren Kollegen zu und versuchte die Tobende zu bändigen.

Er hat auf Thomas geschossen!“, brüllte sie und setzte sich mit der Kraft einer Verzweifelten zur Wehr. „Mein Gott. Es hätte doch so schön werden können, aber dieser Idiot musste alles kaputt machen. Warum nur?“, schluchzte sie und ließ unerwartet, kraftlos die Arme sinken. „Ich liebe sie doch alle beide.“ Tränen rannen ihr die Wangen herunter und vermischten sich mit der Wimperntusche. Die Haare hingen ihr wirr ins Gesicht und blieben vereinzelt an den Rinnsalen des Tränengemischs kleben. „Felix, warum hast du das bloß getan?“ Fassungslos schüttelte sie den gesenkten Kopf.

Du wagst es wirklich, nach dem Warum zu fragen?“, schrie Felix wütend zu ihr herüber und stampfte mit dem Fuß auf. „Machst einen auf liebevolle Mutter, aber in Wahrheit hast du dich die ganzen Jahre über einen Dreck um mich geschert. Erst als du den fiesen, alten Sack loswerden wolltest, fiel dir ein, dass es ganz praktisch wäre, den eigenen Sohn dafür mit einzuspannen.“ Von Norman und dem Beamten des Kriminaldauerdienstes an den gefesselten Oberarmen festgehalten, versuchte er aus der Ferne, Agnes Meirich anzuspucken.

Nein, Felix. Das stimmt so nicht.“, begehrte Agnes Meirich auf. „Solange du auf der Welt bist, habe ich an dich gedacht. Jeden Tag und jede Stunde meines beschissenen Lebens. Habe immer gehofft, dass du noch lebst und ich dich eines Tages wiedersehen werde. Habe davon geträumt, wie schön es wäre, gemeinsam mit dir und deinem Vater in einem Haus zu wohnen, wenn Hermann erst einmal nicht mehr da ist. Wie oft habe ich in den letzten Tagen versucht, dir meine Situation zu erklären.“

Wie oft habe ich in den letzen Tagen versucht, …“, äffte Felix Meirich sie nach. „Ich kann es nicht mehr hören. Schon vor langer Zeit habe ich den Entschluss gefasst, mich an euch zu rächen für das, was ihr mir angetan habt. Weißt du überhaupt, was ich in den Heimen durchmachen musste? Nee, davon hast du absolut keine Ahnung. Aber es hat dich auch einen feuchten Kehricht interessiert, oder? Hauptsache, dir und dem werten Herrn Staatsanwalt ging es gut.“ Zornig zerrte er an seinen Fesseln und versuchte die Arme freizubekommen.

Nein, nein, so war das nicht.“ Schluchzend verbarg Agnes Meirich ihr Gesicht in den Händen. „Wenn du glaubst, dass es mir bei meinem Bruder gutging, dann irrst du dich gewaltig. Er war derjenige, der mir deinen Tod suggeriert hat. Er hat mich wie eine Leineigene behandelt und duldete niemals Widerspruch. Sobald ich es gewagt habe, mich seinen Anweisungen zu widersetzen, musste ich hinterher seinen Zorn ausbaden. Er war nicht der gütige, ältere Herr, für den ihn alle gehalten haben und auch nicht der ehrenwerte Staatsanwalt. Nein, das war er ganz und gar nicht. Im Gegenteil. Nur nach außen hin spielte er den seriösen, integeren Oberstaatsanwalt mit der weißen Weste. In Wirklichkeit aber war er verantwortlich dafür, dass dein Vater vier Jahre seines Lebens hinter Gittern verbringen musste. Nur weil er ihn nicht leiden konnte und befürchten musste, dass er seinetwegen nicht zum Oberstaatsanwalt befördert wird. So oft es ging, habe ich nach dir gesucht, weil ich nicht glauben konnte und wollte, dass du tot bist. Aber mir waren die Hände gebunden, weil er alles so eingefädelt hatte, dass es keinerlei Spuren über deinen Verbleib gab.“

Das Gespräch zwischen den beiden gestaltete sich ausgesprochen interessant für die Kriminalbeamten, die einfach nur den Dialogen lauschten. Scheinbar nebensächlich erfuhren sie von dem Drama, das innerhalb der Familie des Staatsanwalts stattgefunden hatte. Inzwischen war der Rettungswagen eingetroffen. Ein Notarzt der Besatzung stellte den Tod Bräusperichs fest und versorgte anschließend Agnes Meirichs blutende Wunde am Arm. Zusätzlich verabreichte er ihr eine Beruhigungsspritze. Als sie vom Tod ihres Geliebten erfuhr, erlitt sie einen Nervenzusammenbruch und musste in die Klinik eingewiesen werden.