Dienstag, 29. Oktober 2013, 08.00 Uhr

 

 

Wir haben Grund zu der Annahme, dass nicht der sechsundzwanzigjährige Daniel Flohsing das auserkorene Unfallopfer war, sondern Hermann Müllerich.“ Die Frühbesprechung auf dem Kriminalkommissariat Berzberg näherte sich ihrem Höhepunkt. Die anwesenden Beamten der Schutzpolizei und der Kriminalpolizei, lauschten aufmerksam den Ausführungen ihres Vorgesetzten Kriminalhauptkommissars Klaus Glatzmeisers. „Hermann Müllerich, seines Zeichens Staatsanwalt außer Dienst, hatte vor seiner Pensionierung die leitende Position des Oberstaatsanwaltes im Raum Gössingen inne.“ Der Hauptkommissar war von seinem Platz aufgestanden und markierte mit dem Rohrstock auf der Wandkarte den Bereich um Gössingen herum. Anschließend zeigte er auf das Foto des ehemaligen Staatsanwaltes. „Unsere Aufgabe wird es sein herauszufinden, welche Fälle Hermann Müllerich als Letzte bearbeitet hat, bevor er den Dienst quittierte. Desweiteren gilt es in Erfahrung zu bringen, wer von den damals Verurteilten noch eine Haftstrafe verbüßt und wer von ihnen bereits aus der JVA wieder entlassen wurde, oder aber in den vergangenen letzten Tagen auf Hafturlaub außerhalb der Justizvollzugsanstalt aufhältig war. Gleiches gilt natürlich für Freigänger. Wichtig wäre auch zu wissen, ob es jemanden aus der Vergangenheit gibt, der bereits im Vorfeld einen Rachefeldzug gegenüber Hermann Müllerich angekündigt hat.“ Er legte eine kurze Verschnaufpause ein und ließ den Blick zu seinen Mitarbeitern schweifen. „Wenn ihr noch irgendwelche Fragen habt, wendet euch bitte an Daja Cornelius, der ich die Leitung dieses Falles übertragen habe.“ Mit dem Kopf wies er zur Oberkommissarin, die ihm gegenüber am Ende des langen Tisches saß und bestätigend nickte. Gleichzeitig erhob sie den Zeigefinger und bat um Gehör.

Klaus, wenn es irgendwie möglich ist, würde ich als direkten Partner gern Norman Nessel zugeteilt bekommen. Vorausgesetzt, du kannst ihn entbehren.“ Hoffnungsvoll wartete die zierliche Neununddreißigjährige, mit der schwarzen Kurzhaarfrisur, auf eine Antwort.

Gibt es einen bestimmten Grund, dass du ausgerechnet ihn zu deinem Team zählen möchtest?“

Ja, er kennt, beziehungsweise kannte Oberstaatsanwalt Müllerich und wir haben in der Vergangenheit gemeinsam schon viel erreicht.“

Wieso kannte?“ Kriminalhauptkommissar zog irritiert die Augenbrauen in die Höhe.

Ich habe Norman vorab gebeten ins Krankenhaus zu fahren, um Hermann Müllerich ein paar Fragen zu stellen, sobald er aus dem künstlichen Koma erwacht.“ Sie seufzte und hielt ihr Handy in die Höhe, sodass es jeder im Raum sehen konnte. „Er hat mir gerade per SMS mitgeteilt, dass Hermann Müllerich soeben an Herzversagen verstorben ist.“

Ein Raunen ging durch die Menge, bevor Betroffenheit für betretenes Schweigen sorgte.

Zwei Stunden später

Nach Beendigung der Dienstbesprechung kehrten die Beamten an ihre Schreibtische zurück. Daja Cornelius hatte ihrem Vorgesetzten gegenüber zu verstehen gegeben, dass sie außer dem blonden Norman Nessel noch einen zusätzlichen Kollegen für ihr Team benötigte. Während Norman mit seinen siebenunddreißig Jahren bereits zu den erfahrenen Beamten zählte, wollte sie dem rothaarigen Lasse Beerens eine Chance geben. Der Fünfundzwanzigjährige gehörte zwar erst seit Kurzem dem Berzberger Kriminalkommissariat an, hatte aber zuvor bereits zwei Jahre lang bei der Kriminalpolizeiinspektion in Gössingen beim KDD seinen Dienst versehen. Außerdem war er in der Vergangenheit bereits mehrmals ihr Partner im Dienste des Staates gewesen. Beide Kollegen überragten die ein Meter fünfundsechzig große Daja um mehr als einen Kopf und circa fünfzehn Kilo Körpergewicht. Durch ihre freundliche und überaus professionelle, dienstliche Vorgehensweise, war sie bei allen Mitarbeitern gleichermaßen beliebt. Zu dritt saßen sie nun in Dajas Büro und besprachen die nächsten Schritte im Mordfall Müllerich-Flohsing. Um über etwas mehr Arbeitsfläche zu verfügen, schoben sie kurzerhand einen weiteren Schreibtisch und zwei Stühle in den großzügig geschnittenen Raum.

Norman, setz du dich bitte als erstes mit der Staatsanwaltschaft Gössingen in Verbindung und lass dir die Aktenzeichen der Fälle geben, die Hermann Müllerich im letzten halben Jahr vor seiner Pensionierung bearbeitet hat. Fordere die Akten jener Täter an, die aufgrund seiner Fürbitte eine mehrjährige Haftstrafe zu verbüßen hatten, oder noch haben. … Ach, was sage ich da. Fahr am besten selber hin und hol den Kram persönlich ab. Sind schließlich nur fünfunddreißig Kilometer.“

Okay, dann düse ich gleich mal los, damit ich bis zum Mittag wieder zurück bin.“ Ein Blick auf die Wanduhr signalisierte ihm, dass es Viertel nach zehn war. „Bis später dann.“ Im Weggehen trank er den letzten Schluck Kaffee aus seiner Tasse und stellte sie auf die Ablage des Waschbeckens, welches sich neben der Eingangstür befand.

Ja, bis nachher.“ Daja Cornelius wirkte abwesend und pustete eine Strähne ihres langen, schräg verlaufenden Ponys aus dem Gesicht. Gleichzeitig widmete sie sich wieder dem Bildschirm ihres Computers. Neben ihr auf der Schreibtischkante, saß Kriminalkommissar Lasse Behrens, dessen rotblonde Haare bis über die Ohren reichten und seinen sommersprossigen Typ unterstrichen.

Welche Aufgabe gedenkst du mir zu zuteilwerden zu lassen?“ Grinsend fuhr sich Lasse mit der Hand über seinen Dreitagebart.

Och, Lasse. Nun sprich doch bloß nicht so geschwollen. Du bist hier weder auf der Hochschule, noch befindest du dich im Kreis erlesener Richter und Höhergestellter.“ Die Stirn in Falten gezogen, sah sie ihn mit vorgeschobener Unterlippe vorwurfsvoll an.

Ist ja schon gut, ich habe es bereits verstanden.“ Beschwichtigend hob Lasse Beerens die Hände. „Also, wie lautet dein Plan für mich?“

Du kümmerst dich bitte um die Anhörungen der Zeugen und Angehörigen. Und prüf bitte auch deren Alibis und lass dir die Fahrzeuge aller Betroffenen zeigen. Ganz gleich, ob es sich nun um Tatverdächtige handelt oder nicht. Laut Aussage eines unabhängigen Zeugen, soll es sich bei dem Tatwagen eventuell um einen dunklen VW handeln. Was aber nicht automatisch heißen muss, dass es auch tatsächlich so ist.“ Seufzend blickte sie zu ihm auf.

Ist schon klar. Gibt es sonst noch etwas, was ich tun kann?“

Nein, für den Anfang sollte das reichen. Um alles andere kümmere ich mich vorerst selber. Sobald ich Hilfe benötige, melde ich mich über Funk, oder aber telefonisch bei dir.“

Okay. Ich bin dann mal weg.“ In Windeseile warf sich Lasse Beerens seine Jacke über und holte die Dienstwaffe aus dem Waffenschrank.

Sieh aber bitte zu, dass du spätestens um fünfzehn Uhr wieder hier bist, damit wir uns noch austauschen können.“, rief Daja Cornelius ihrem Kollegen hinterher.

Alles klar, Frau Kommissar.“

Daja Conradi fuhr mit dem Dienstwagen noch einmal zum Tatort, um sich bei Tageslicht ein exaktes Bild von den Gegebenheiten zu machen. Die Spurensicherung hatte ganze Arbeit geleistet und es war nicht das kleinste Teilchen mehr zu finden, das auf den tragischen Unfall hätte hinweisen können. Während sie die Strecke zu Fuß abschritt, bemerkte sie vom Feldweg kommend, eine Frau mit Kinderwagen und Hund. Die Hände in ihren Jackentaschen vergraben, marschierte die Kriminalbeamtin auf die junge Mutter zu.

Hallo.“, sagte sie freundlich lächelnd.

Hi.“, erwiderte die langhaarige Schönheit und sah sie neugierig an.

Mein Name ist Daja Cornelius, von der Kripo Berzberg.“ Sie zog ihren Dienstausweis aus der Innentasche ihrer Daunenjacke und hielt ihn der interessiert Dreinblickenden vor die Nase.

Haben Sie gestern zufällig etwas von dem Unfall mitbekommen?“ Während sie fragte, riskierte die Oberkommissarin einen Blick in den Kinderwagen. Doch aufgrund eines aufgetürmten Federkissens war von dem Baby nichts zu sehen. Der kleine, angeleinte Terrier hingegen reagierte allergisch auf ihr Vorhaben und kam kläffend auf sie zu. Nur durch einen raschen Sprung an die Seite und das Ende der Zugleine, konnte sich die Kommissarin eines Angriffs auf ihr Bein erwehren. „Uiuiui, der ist aber gallig.“, pustete sie und machte vorsichtshalber einen weiteren Schritt nach hinten.

Ja, er ist ein guter Wachhund und will meinen Sohn beschützen.“, lachte die schwarzhaarige Hundehalterin und begann den Wagen zu schuckeln. „Ob ich von dem Unfall etwas mitbekommen habe? Nein, nicht wirklich. So spät sind wir drei nicht mehr unterwegs, jedenfalls nicht in dieser Konstellation.“ Das Baby begann zu schreien und sie versuchte es mit dem Nuckel zu beruhigen.

Was meinen Sie mit nicht wirklich und nicht in dieser Konstellation?“ Hellhörig geworden, hakte Daja Cornelius nach.

Na ja, abends geht immer mein Mann mit dem Hund raus, während ich den Kleinen bade, füttere und ins Bett bringe.“ Sie hatte ihre liebe Not, Kind und Hund gleichermaßen ruhigzustellen.

War Ihr Mann zum gestrigen Unfallzeitpunkt unterwegs?“

Ja und nein. Er hatte die besagte Stelle bereits hinter sich gelassen und war schon um die Ecke gebogen, als es passiert sein muss. Er hat nur das Quietschen von Autoreifen wahrgenommen und nicht geglaubt, dass wirklich etwas Ernsthaftes passiert ist. Erst später beim Sport, hat er von dem tragischen Unglück erfahren.“

Wissen Sie auch wer es ihm erzählt hat?“

Na, ich vermute mal, seine Fußballkumpels.“

Und was haben Sie sonst noch von dem Unglück mitbekommen?“

Nichts weiter. Ich war zu Hause mit dem Kleinen beschäftigt. Alles was ich darüber gehört habe, kenne ich nur aus Tareks Erzählungen. Also, von meinem Mann. … Er ist gestern wie immer, gegen halb sieben mit Costa, unserem Hund, Gassi gegangen. Weil er anschließend noch zum Fußballtraining wollte, musste er sich beeilen, damit er rechtzeitig wieder zurück war. Um halb acht beginnt montags das Training und das darf er seiner Ansicht nach auf gar keinen Fall verpassen.“ Sie lachte bitter auf. „Ich würde auch gern mal wieder zum Sport gehen, aber mich fragt ja keiner.“ Seufzend zog sie den Hund mit sich, der gerade dabei war, ein Mauseloch zu vergrößern. „Aber das gehört nicht hierher.“

Wie war das denn jetzt mit dem Unfall?“, lenkte Daja das Gespräch wieder in konkrete Bahnen.

Kurz vor sieben befand er sich auf dem Rückweg und war ziemlich sauer auf den Besitzer eines Fahrzeugs, das mitten auf dem Feldweg parkte. Tarek geriet beim Ausweichen in den schlammigen Bereich abseits des Weges. Ich kann mir schon vorstellen, wie verärgert er darüber war. Zumal er aufgrund der Dunkelheit nicht einmal richtig sehen konnte wohin er trat. Vermutlich hat er mit der Faust auf die Motorhaube geschlagen.“ Sie kicherte. „ Zumindest ist er verärgert weitergegangen und hat sich seinen Äußerungen nach zufolge erst wieder umgedreht, als er längst auf dem befestigten Fußweg war. Wie Sie ja sicherlich wissen, verläuft der parallel zur Straße. Man kann es von hier aus wegen der Büsche nicht sonderlich gut erkennenn.“ Sie reckte ihren Hals in die Höhe, so als könne sie dadurch einen weiteren Einblick gewinnen. „Da stand der Wagen seiner Meinung nach noch immer an der gleichen Stelle. Glaubte er zumindest. Ich wäre mir bei dem nebligen Wetter jedenfalls keineswegs sicher, auf die Distanz überhaupt etwas sehen zu können.“ Erst jetzt bemerkte Daja Cornelius, dass die junge Mutter eine Brille trug. Doch schon fuhr sie fort:

Er hat mir erzählt, dass auf der anderen Straßenseite zwei einzelne Personen gelaufen seien. Eine davon habe ebenfalls einen Hund dabei gehabt. Allerdings konnte er aufgrund der diesigen Witterung auch hier nicht allzu viel erkennen. Normalerweise hätte er mir das überhaupt nicht gesagt, weil er abends nach der Arbeit nicht sehr gesprächig ist. Aber er meinte eben, dass es wohl jene zwei Leute wären, die kurze Zeit später in diesen schrecklichen Unfall verwickelt wurden. Den Hergang selber hat er wie bereits erwähnt, gar nicht mitbekommen. Um allerdings zum Sport zu gelangen, musste er anschließend mit dem Auto einen Umweg fahren, weil die Straße gesperrt war.

Ja, das war sie die ganze Nacht über. Zunächst mussten die Unfallopfer geborgen werden und gleichzeitig erfolgte die Spurensicherung durch den Erkennungsdienst. Eine Tatortbesichtigung ist stets mit akribischer Kleinarbeit verbunden, es darf Nichts übersehen werden. Die Umleitung war aber relativ günstig eingerichtet, sodass es zu keinen großartigen Verspätungen führte, wenn man sie benutzte. … Wann kann ich eigentlich Ihren Ehemann erreichen? Oder besser noch, geben Sie mir doch einfach seine Handynummer, damit ich ihn telefonisch zu der Angelegenheit befragen kann.“

Zu Hause ist er circa so gegen siebzehn Uhr, aber seine Nummer kann ich Ihnen natürlich gleich geben.“ Mühsam kramte sie ein Handy aus der Innentasche ihrer Jacke hervor und suchte nach dem Kontakt ihres Ehemannes. „So, hier ist sie. …“

Eifrig tippte die Oberkommissarin die genannte Rufnummer in ihre Telefonliste.

Dankeschön. Wenn Sie mir jetzt noch sagen können, was Ihr Mann beruflich macht, lasse ich Sie auch umgehend wieder in Ruhe mit Hund und Kind weiterziehen.“

Er arbeitet beim Straßenverkehrsamt.“

Super. Das liegt doch rein zufällig auf meinem Rückweg. Dann werde ich ihn dort gleich einmal aufsuchen.“ Nach einem letzten Blick in den Kinderwagen, verabschiedete sich Daja Cornelius von der jungen Frau und marschierte zielstrebig zu ihrem Dienstwagen zurück. Über Funk meldete sie sich bei der Einsatzzentrale und kündigte ihre weitere Vorgehensweise an.

Vor dem Straßenverkehrsamt angelangt, stellte sie ihren Dienstwagen auf einem Besucherparkplatz ab und begab sich in das Gebäude. Nachdem sie am Schalter ihren Ausweis vorgelegt hatte, wurde sie von einem übereifrigen Sachbearbeiter zu Tarek Babergs Büro geführt. Er stellte beide einander vor. Der Besuch der Kriminaloberkommissarin schien den Siebenundzwanzigjährigen nicht sonderlich zu überraschen. Er machte einen ruhigen und besonnenen Eindruck auf die ermittelnde Beamtin. Freundlich lächelnd kam er auf sie zu und begrüßte sie mit einem kräftigen Händedruck.

Hallo.“, sagte er ohne Umschweife und kratzte sich am Hinterkopf. „Meine Frau Lina hat mich bereits angerufen und mir mitgeteilt, dass Sie hier wohl auftauchen werden.“

Hallo, Herr Baberg. Mein Name ist Cornelius, Daja Cornelius. Ich bin zuständig für die Aufklärung des gestrigen Verkehrsunfalls, der vermutlich keiner war. Aber das wissen Sie wahrscheinlich längst, oder?“

Na ja, so etwas spricht sich immer schnell herum und die Zeitung ist doch auch voll davon. Schreckliche Sache.“

Das kann man wohl sagen.“ Daja Cornelius hatte auf dem angebotenen Stuhl Platz genommen und betrachtete ihr Gegenüber eingehend. „Vielleicht können Sie mir einmal genau erzählen, was Sie gestern Abend beobachtet haben.“ Sie zückte ihr Notizbuch samt Stift und sah ihn erwartungsvoll an. „Als erstes interessiert mich brennend, um was für einen Fahrzeugtyp es sich handelte, den Sie im Feldweg haben stehen sehen.“

Es war ein weißer Passat, ein Kombi. Ich weiß es deshalb so genau, weil meine Eltern den gleichen Wagen fahren.“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

Uppps, das ist ja merkwürdig.“ Daja legte die Stirn in Falten. „Ein anderer Zeuge will einen schwarzen Golf gesehen haben.“

Nein, auf gar keinen Fall. Bei dem Wagen, den ich gesehen habe, handelt es sich mit hundertprozentiger Sicherheit um einen weißen Passat.“

Hm, das ist ja seltsam.“ Nachdenklich kaute sie auf dem Stiftende herum. „Konnten Sie sehen, wie viele Personen in dem Fahrzeug saßen?“

Ganz sicher bin ich mir zwar nicht, aber vermutlich nur der Fahrer. Die Scheiben waren beschlagen und ich hatte es ziemlich eilig.“

So wie ich Sie einschätze, haben Sie sich das Kennzeichen gemerkt?“ Gespannt sah sie ihn an. Obwohl es in dem Raum nicht sonderlich warm war, schien er zu schwitzen. Mit einem Papiertaschentuch wischte er sich den Schweiß von der Stirn.

Also, es handelte sich eindeutig um ein Gössinger Kennzeichen.“ Grübelnd tippte er mit dem Zeigefinger an seiner Schläfe herum. „Die Kennbuchstaben weiß ich nicht mehr, aber es waren auf jeden Fall zwei. Dafür konnte ich mir die Zahlen merken.“ Triumphierend sah er sie an.

Die da wären?“ Ganz Ohr wartete sie auf seine Antwort.

Eins, zwei, drei. Es waren die Ziffern eins, zwei und drei. … Normalerweise ist mein Gedächtnis diesbezüglich nicht sonderlich gut, aber eins, zwei, drei kann sogar ich für eine gewisse Weile behalten.“ Er wirkte verlegen.

Wieso Haben Sie dieses Wissen eigentlich nicht der Polizei mitgeteilt? Die Stirn missmutig in Falten gezogen, hoffte die Oberkommissarin auf eine plausible Erklärung.

Ich hielt es ehrlich gesagt nicht für sonderlich wichtig. Na ja und wirklich etwas gesehen habe ich doch auch gar nicht.“ Sein Lächeln kam einer Entschuldigung gleich.

Ihnen ist aber schon bekannt, dass wir auf jeden noch kleinen Anhaltspunkt aus der Bevölkerung angewiesen sind? Außerdem ist es als Bürger Ihre Pflicht, derartige Hinweise unverzüglich der Polizei zu melden.“

Sie haben vollkommen recht.“ Ein wenig zerknirscht sah er sie an. „Es kommt auch ganz bestimmt nicht wieder vor.“

Gut, dann will ich Ihnen das mal glauben. Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Von dem Unfall selber haben Sie nichts mitbekommen, oder?“

Nein, ich hörte von Weitem lediglich das Quietschen von Reifen und habe mit eingeklemmtem Kopf auf einen Knall gewartet.“ Wie zur Veranschaulichung, zog er die Schultern hoch. „Der kam aber nicht.“, seufzte er und ließ die Schultern ruckartig wieder nach unten sacken.

Okay. Das war es dann fürs Erste, Herr Baberg. Ich werde Sie allerdings noch auf die Dienststelle bitten müssen, um Ihre Aussage als Protokoll aufzunehmen. Die Anschrift und Telefonnummer habe ich ja.“ Bei den letzten Worten erhob sie sich und reichte dem jungen Mann zum Abschied die Hand.

War es denn nun wirklich Mord?“, konnte sich Tarek Baberg nicht verkneifen zu fragen.

Das wird sich erst noch herausstellen. Bislang steht nur fest, dass der Unfallverursacher im Anschluss an das Unglück Fahrerflucht begangen hat und dieses Verhalten zählt auch nicht gerade zu den typischen Kavaliersdelikten. … Eine Frage hätte ich noch. Was sagen Ihnen die Namen der beiden getöteten Männer?“

Wie bitte? Wieso sprechen Sie von zwei Toten? Ich denke, nur Daniel hat es voll erwischt und der alte Mann lebt noch?“ Sichtlich irritiert starrte er die Kommissarin an.

Leider ist auch Herr Müllerich zwischenzeitlich an den Folgen der schweren Verletzungen gestorben. … Bitte beantworten Sie doch einfach meine Frage. Kannten Sie Herrn Müllerich und Herrn Flohsing?“

Den Müllerich vom Sehen, wenn er mit seinem Labrador unterwegs war. Aber Daniel ist während der Grundschulzeit mal in meiner Klasse gewesen. Er wohnte eigentlich nicht mehr hier in Berzberg, sondern besuchte nur ab und zu seine Eltern. Ehrlich gesagt, hatten wir seit damals keinen Kontakt zueinander. Gerüchten zufolge soll er sich in Drogenkreisen bewegt haben und das ist als Sportler nun überhaupt nicht mein Ding.“

Kann ich durchaus verstehen.“ Sie fuhr sich mit der Hand durch das Haar. „Ich melde mich, sobald es etwas Neues gibt. Und danke Ihnen für die Zeit, die Sie sich genommen haben, um meine Fragen zu beantworten.“

Gern geschehen. Ich muss dann auch mal wieder an die Arbeit.“

Durchaus möglich, dass wir dienstlich noch miteinander zu tun haben werden Herr Baberg.“

Wie meinen Sie das denn?“

Na ja, wegen der Halterfeststellungen, die noch durchzuführen sind. … Die tätigt man doch in der Regel beim Straßenverkehrsamt, oder etwa nicht?“

Doch, schon. Aber dafür bin ich nicht zuständig. Da müssen Sie sich schon an meine Kollegen wenden.“

Das werde ich zu gegebener Zeit veranlassen, worauf Sie sich verlassen können.“ Im Weggehen winkte sie ihm andeutungsweise zu.

Wieder im Dienstwagen, klingelte ihr Handy.

Ja, was gibt es denn, Norman?“

Hi, Daja. Ich befinde mich auf dem Rückweg von der Staatsanwaltschaft und fahre umgehend zur Dienststelle zurück. Wann kannst du da sein?“

Kommt ganz darauf an, was du mir Dringendes zu berichten hast.“

Ich bringe ein paar überaus interessante Akten mit, die uns eventuell weiterhelfen könnten.“

Gut, dann verschiebe ich meine Befragungen kurzerhand auf einen späteren Zeitpunkt und laufe ebenfalls die Dienststelle an. Bin in einer Viertelstunde da.“

Okay, bis gleich.“

Kurz nach 13 Uhr auf dem Kriminalkommissariat in Berzberg

Sechs dicke Akten lagen übereinandergestapelt vor Kriminaloberkommissar Norman Nessel auf dem Schreibtisch. Den Kopf in die Hände gestützt, schien der smarte Schwiegersohn Typ vertieft in eine vor sich liegende, siebte Akte, zu sein. In Gedanken versunken, merkte er nicht einmal, dass Daja Cornelius das Büro betreten hatte.

Hallo!“, rief sie und warf ihre Jacke über die Stuhllehne. „Sag schon, was hast du herausgefunden?“ Wissbegierig stellte sie sich auf die Zehenspitzen und schielte ihrem Kollegen von hinten über seine Schulter.

Norman Nessel verschränkte die Arme hinter dem Kopf und streckte seine Beine unter dem Schreibtisch aus.

Es gibt insgesamt nur sieben Fälle, an denen Oberstaatsanwalt Müllerich im gesamten letzten Halbjahr seiner Dienstzugehörigkeit mitgewirkt hat. Vier Vorgänge davon führten am Ende der jeweiligen Verhandlung lediglich zu einer Ersatzfreiheitsstrafe. In allen vier Fällen konnten die Delinquenten ihre Strafe in Form einer zu zahlenden Geldstrafe abgelten. In den anderen drei, schwerwiegenderen Vorgängen, wurden die Täter jeweils zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Einer davon aber bereits vor einem Jahr wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Somit sollten wir den ausschließen können, denn einen Rachefeldzug erst ein Jahr später zu starten, erscheint mir doch ein bisschen weit hergeholt. Demzufolge bleiben nur noch zwei böse Buben übrig.“ Grinsend sah er seine Kollegin an.

Für den Anfang gar nicht mal so schlecht. Du hast gute Arbeit geleistet, Norman.“ Anerkennend knuffte sie ihm in die Rippen. „Wenn es tatsächlich so ist, dass der werte Herr Staatsanwalt nur diese paar Vorgänge bearbeitet hat, dann dürften sich unsere Ermittlungen diesbezüglich nicht allzu lange hinziehen. Immer vorausgesetzt, der Mörder ist nicht ganz so clever wie er meint, sondern denkt und handelt in unserem Sinne. Dennoch sollten wir alle anderen Kandidaten nicht von vornherein außer Acht lassen, sondern sie allenfalls lediglich ein bisschen auf die Seite verfrachten.“ Grienend demonstrierte sie ihre Ansicht und schob den Aktenstapel zur Mitte des angrenzenden Schreibtisches der gegenüberliegenden Seite.

Meinetwegen kann er da bis Weihnachten liegenbleiben.“, lachte Norman und zündete sich eine Zigarette an. „Magst du auch eine?“, fragte er und hielt seiner Kollegin die Schachtel vor die Nase.

Oh je, eigentlich wollte ich nicht mehr so viel rauchen. Aber das Gehirn arbeitet unter Nikotin einfach viel besser.“ Lachend ergriff sie die Gelegenheit beim Schopf und inhalierte genießerisch. „Ah, das tut richtig gut. Wenn ich dazu jetzt noch einen frisch aufgebrühten Kaffee hätte, könnte es perfekter nicht sein.“

Hörst du seine gurgelnden Laute nicht? Er läuft schon durch.“ Mit erhobener Hand machte der Oberkommissar seine Kollegin auf das Geräusch aufmerksam. „Die Kaffeemaschine schreit geradezu nach einem Kalkreiniger. Das solltest du dir einmal zu Herzen nehmen, sonst dauert es nicht mehr lange und du darfst dir eine neue kaufen.“

Solange sie noch solch schmatzende Laute von sich gibt, ist die Welt in Ordnung. Entkalker gibt es jedenfalls nicht, eher besorge ich ein Ersatzteil, das ist weniger umständlich.“, frotzelte Daja und widmete sich wieder ihrem gemeinsamen, aktuellen Vorgang. „Zieh doch bitte mal Erkundigungen ein, ob die beiden restlichen Straftäter noch einsitzen. Und wenn ja, bitte mit dem Hinweis in welcher Justizvollzugsanstalt? Wichtig wäre auch zu wissen, ob es sich um Freigänger handelt, oder ob sie innerhalb der letzten Zeit beurlaubt wurden. Bleib dran an der Sache und erstatte mit umgehend Bericht, sobald du Näheres herausgefunden hast. Ich kümmere mich derweil um die eingegangen Anrufe und habe anschließend noch ein Date mit unserem Pressesprecher. Deshalb würde ich meine, wir treffen uns in zwei Stunden wieder. Bis dahin sollte auch Lasse von seinem Einsatz zurück sein. Notfalls sind natürlich Überstunden angesagt.“ Nebenbei schenkte sie Kaffee in ihre Tasse ein und verbrannte sich beim hastigen Trinken prompt die Zunge. „Satan Hacke, war das eben heiß.“ Schmerzlich verzog sie den Mund und ließ etwas kaltes Wasser hinzu laufen, um das Coffein haltige Getränk ein wenig abzukühlen.

Frisch aufgebrüht, werte Kollegin. Sonst beschwerst du dich immer, dass der Kaffee zu kalt ist.“ Lachend wandte er sich wieder seinen Unterlagen zu.

Gegen Abend

Der Brief war fertig geschrieben. Sichtlich erregt überflog er die Zeilen noch einmal, bevor er das Schriftstück zusammenfaltete und in den dafür vorgesehenen Umschlag packte. Er würde ihn noch heute in den Briefkasten des Empfängers stecken. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in seinem Inneren aus, als er daran dachte, künftig vermutlich über mehr Geld verfügen zu können. Seine Beobachtungen gedachte er für sich zu behalten. Bis auf eine bestimmte Person sollte niemand anderes davon erfahren. Zumindest vorerst nicht. Nachdem er seine Jacke übergestreift und die Autoschlüssel von dem Garderobenschrank genommen hatte, verließ er die Wohnung so leise wie möglich. Auf dem Weg zum Auto pfiff er gut gelaunt vor sich hin. Wie auch am Vortag, war es um diese Zeit bereits dunkel.

Seinen Überlegungen zufolge, musste der Adressat des Briefes im letzten Mehrfamilienhaus des Kastanienplatzes wohnen. Hausnummer zwölf. Zielstrebig lenkte er sein Fahrzeug die wenigen Kilometer bis dorthin. Nicht weit entfernt vom Wohnblock fand er unter einer Kastanie eine freie Parklücke und stieg aus dem Wagen aus. Noch einmal tastete er nach dem Umschlag, den er in der inneren Brusttasche verwahrt hielt. Im Schein der Straßenlaterne suchte er die Briefkästen nach einem bestimmten Namen ab. Als er ihn gefunden hatte, blickte er sich noch einmal vorsichtig nach allen Seiten um, bevor er das Kuvert in den Kasten warf. Dann drückte er auf den Klingelknopf und wartete ungeduldig, bis sich über die Gegensprechanlage eine männliche Stimme meldete. Hastig sprach er die wohl durchdachten Worte.

In Ihrem Briefkasten befindet sich eilige Post.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt und hastete zurück zu seinem Wagen. Mit klopfendem Herzen nahm er wieder auf dem Fahrersitz Platz und zündete sich eine Zigarette an. Nebenbei konnte er von seinem Standpunkt aus die außerhalb des Gebäudes angebrachten Briefkästen überblicken. Vor lauter Nervosität merkte er nicht einmal, wie die Asche zwischen seine Oberschenkel fiel. Nur wenige Augenblicke später trat ein circa sechzig Jahre alter Mann vor die Haustür. Lediglich mit Jogginghose und T-Shirt bekleidet, waren die Tätowierungen an seinen Armen nicht zu übersehen. Sein Blick glitt suchend über das Gelände, bevor er mit einem Schlüssel seinen Postkasten öffnete und den Umschlag daraus entnahm. Scheinbar gelangweilt riss er ihn auf und überflog die wenigen Zeilen, um dann in Richtung Mülltonnen zu marschieren und das Kuvert in aller Seelenruhe darin zu entsorgen. Das Schreiben selber faltete er sorgsam zusammen und steckte es sich in den Hosenbund. Anschließend schlenderte er betont lässig an den parkenden Autos vorbei.

Ich verdammter Idiot. Wieso musste ich auch warten, bis das Arschloch aus dem Haus rauskommt. Warum bin ich nicht gleich wieder abgedampft. Jetzt ist es zu spät. Scheiße, scheiße, scheiße. … Überhastet warf der Mann im Auto seine glühende Zigarette aus dem Seitenfenster und versuchte sich hinter dem Lenkrad so klein wie möglich zu machen. Schweiß brach aus all seinen Poren und er verfluchte jenen Augenblick des gestrigen Abends, als er glaubte, die beste Idee seines ganzen Lebens in die Tat umsetzen zu können. Nur ein kleiner Erpressungsversuch und er wäre alle Schulden los.

Der Empfänger des Briefes

Er hatte zufällig am Fenster gestanden, als der silbergraue Touran auf das Gelände des Kastanienplatzes fuhr. Aufgrund des gestrigen Vorfalls und seines ausgeprägten, gesunden Misstrauens, warf er häufiger als gewöhnlich einen Blick aus dem Küchenfenster. Ausgesprochen günstig, vom dritten Stock aus den Eingangsbereich und einen Großteil des großzügig angelegten Wohnparks überblicken zu können, ohne selber gesehen zu werden. Seine Befürchtung, die Bullen wären durch irgendeinen dummen Zufall auf ihn aufmerksam geworden, schien sich zum Glück bislang nicht bestätigt zu haben. Argwöhnisch beobachtete er den Mann, der mit einem Briefumschlag in der Hand auf das Achtfamilienhaus zusteuerte, in dem er vor einiger Zeit eine Zweizimmerwohnung bezogen hatte. Der Typ verhielt sich viel zu auffällig, als dass er ein Schnüffler sein könnte. Niemand aus seiner Vergangenheit wusste über seinen jetzigen Aufenthaltsort Bescheid. Auch sein äußeres Erscheinungsbild war nicht mehr das von damals. Seine Verbitterung und sein Hass hinterließen nicht nur innere Spuren, sondern wirkten sich auch auf seine Gesichtszüge aus. Das ehemals lange, schwarze Haar, war einem schmutzigen Grauton gewichen und wurde auf ein Minimum gekürzt. Der einst klare Blick seiner stahlgrauen Augen war von Unnachgiebigkeit und Härte geprägt. Die schmalen Lippen von Verbissenheit gezeichnet. Mit Erstaunen registrierte er, dass es sein Briefkasten war, den der Fremde für seine Zwecke auserkoren hatte. Als im nächsten Moment auch noch die Klingel ertönte, ahnte er bereits, dass nicht alles so problemlos verlaufen würde, wie es seinem Wunschdenken entsprach.

Im Büro der Oberkommissarin

Also, Leute. Es ist mittlerweile schon nach neunzehn Uhr. Ich würde sagen, wir machen für heute Feierabend.“ Gähnend reckte sich Daja Cornelius und klopfte ihrem jüngeren Kollegen Lasse Beerens auf die Schulter. „Wir haben mehr erreicht, als ich jemals für möglich gehalten hätte.“ Die Singlefrau verspürte Sehnsucht nach etwas Ruhe und einem anspruchslosen Fernsehprogramm.

Morgen ist auch noch ein Tag.“, ergänzte Norman Nessel und machte Anstalten, die letzte der sieben Akten zuzuklappen. „Auf geht’s. Wer hat noch Lust auf ein Bier?“ Fragend sah er in die kleine Runde.

Ich möchte lieber direkt nach Hause und ein erfrischendes Bad nehmen.“, erwiderte seine Kollegin und zog sich die Jacke über.

Wie sieht es mit dir aus, Lasse?

Ich komme noch mit, aber nur auf eins.“ Augenzwinkernd erhob er sich von seinem Schreibtischstuhl und folgte dem Älteren.