Mittwoch, 31. Oktober 2013, 08.00 Uhr
Kriminalkommissar Lasse Beerens war der erste in der Amtsstube, obgleich es am Abend zuvor nicht bei dem einen Bier geblieben war. Er füllte gerade Wasser in die Kaffeemaschine, als das Telefon klingelte.
Oh, was ist denn das für ein nervenraubendes Geräusch? Ausgerechnet jetzt, wo ich ohnehin schon Kopfschmerzen habe. Hoffentlich kommt Daja gleich, damit ich sie nach einer Schmerztablette fragen kann. Sichtlich genervt nahm er den Telefonhörer ab. „Kriminalkommissariat Berzberg, Beerens am Apparat.“
„Guten Morgen, Lasse. Ich bin’s, Kai vom Kriminaldauerdienst.“
„Hallo Kai. Was verschafft mir die Ehre schon so früh am Tag?“
„Tut mir ausgesprochen leid, dich noch vor dem Frühstück aufzuschrecken, aber wir haben eine Leiche für euch.“
„Wieso für uns? Wir sind an einem anderen Fall dran und können uns nebenbei nicht auch noch um einen weiteren Leichnam kümmern.“ Doch bevor er in der Lage war weiterzusprechen, wurde er von seinem Kollegen unterbrochen.
„Lasse, ich würde dich ganz bestimmt nicht damit behelligen, wenn ich nicht sicher wäre, dass es euren derzeitigen Vorgang betrifft.“
„Wie? Was meinst du denn damit? Spuck es aus.“ Hellhörig geworden, setzte er sich auf die Ecke der Schreibtischkante und drückte den Hörer etwas fester ans Ohr.
„Der Tote dürfte euch bekannt sein. Es handelt sich um einen eurer Zeugen.“
„Von wem zum Teufel sprichst du, Kai?“
Das Öffnen der Bürotür lenkte ihn ab. Ärgerlich legte er die Hand über die Muschel und rief dem hereinschneienden Norman zu:
„Geht es vielleicht auch ein bisschen leiser?“ Seine Stimme klang gereizt.
„Ist ja schon gut.“ Beschwichtigend hob Norman die Hände und bewegte sich demonstrativ auf Zehenspitzen vorwärts.
„Ich bin wieder da, Kai. Also, wer ist der Tote?“
„Sein Name lautet Tarek Baberg.“
„Ach, du heilige Scheiße.“ Mit einem Satz war der junge Kommissar aufgesprungen. „Wie und was ist passiert und wo befindet er sich jetzt?“
„Nun mal langsam.“, versuchte ihn der Beamte vom Dauerdienst zu bändigen. „Bis eben wolltest du nicht einmal etwas davon wissen.“
„Na, da hatte ich ja auch keine Ahnung, dass es interessant werden könnte.“ Mit der freien Hand fuhr er sich über die pochende Schläfe.
„Ein Jogger hat ihn heute Morgen auf dem Kirschberg Grillplatz außerhalb der Ortschaft entdeckt. Er saß mit eingeschlagenem Schädel auf dem Beifahrersitz seines Wagens. Der hinzu gerufene Arzt ist der Meinung, dass ein stumpfer Gegenstand als Tatwaffe infrage kommt. Wichtig für euch wäre noch der Hinweis, dass es sich bei dem Fundort offensichtlich nicht gleichermaßen um den Tatort handelt. Die Ehefrau des Toten hat bereits gestern, spät am Abend, eine Vermisstenanzeige erstatten wollen. Aber du weißt ja selber, wie wir in derartigen Situationen vorzugehen haben. Wir mussten sie mit den üblichen Worten vertrösten, dass volljährige Personen über ihren Aufenthaltsort selber bestimmen können. Es sei denn, dass der begründete Verdacht einer Straftat besteht. Na ja, davon ist sie dann halt doch nicht ausgegangen und wollte in Eigeninitiative noch bei allen möglichen Bekannten anrufen. … Die Benachrichtigung über seinen Tod ist im Übrigen auch noch nicht erfolgt.“
„Wir übernehmen den Fall sofort und machen uns gleich auf den Weg zum Tatort. Danke für die prompte Mitteilung.“
„Nicht dafür, das ist mein Job.“
„Man, man, man.“ Lautstark warf Lasse den Hörer zurück auf die Station und raufte sich die Haare. Gespannt hatte Norman Nessel das Gespräch verfolgt und wartete nun seinerseits auf eine kurze Berichterstattung seines Kollegen. Doch stattdessen griff Lasse Beerens zunächst nach seiner Packung mit den Zigaretten und zog eine daraus hervor. Mit einem Feuerzeug setzte er sie in Brand.
„Nun erzähl schon, ich platze fast vor Neugier.“ Während Norman Nessel ihn zusätzlich durch Gesten aufforderte, endlich mit der Sprache herauszurücken, wurde die Bürotür von außen geöffnet und Daja Cornelius wirbelte herein. Im Vorbeigehen warf sie ihren Rucksack auf den Schreibtisch und schmiss die Jacke obenauf. Scheinbar gut gelaunt, blickte sie in zwei angespannte Gesichter.
„Was ist denn mit euch los? Ihr seht ja so aus, als wäre eine komplette Lausfamilie über eure Leber gelaufen.“ Die Hände rechts und links in die Taille gestützt, sah sie von einem zum anderen. Norman zog ahnungslos die Schultern hoch und deutete mit dem Kopf zu Lasse.
„Ich warte auch schon eine ganze Weile, dass der werte Herr Kollege endlich einmal etwas über den Anruf von eben verlauten lässt, aber er zieht es vor, mich in Unwissenheit sterben zu lassen.“
„Darf ich mich vielleicht erst einmal ein wenig sammeln?“ Verärgert über die vermeintliche Bevormundung, drückte der den Zigarettenstummel im Aschenbecher aus und versenkte seine Hände in den Hosentaschen. „Der KDD hat soeben mitgeteilt, dass sie in den frühen Morgenstunden auf dem Kirschberg Grillplatz eine männliche Leiche gefunden haben.“ Er schien die Neugier der anderen auf die Spitze treiben zu wollen.
„Himmelherrgott! Jetzt sag endlich um wen es sich handelt.“ Norman Nessel platzte vor Ungeduld beinahe der Kragen.
„Der Name des Toten lautet: Tarek Baberg.“
„Nein!“ Sichtlich geschockt, vergaß Daja Cornelius ihren Mund zu schließen, während Norman Nessel bereits seine Jacke überzog. „Jetzt bin ich aber baff. Ist er etwa auch einem Unfall zum Opfer gefallen?“ Die Oberkommissarin schluckte trocken.
„Na ja, nicht so direkt. Es handelt sich wohl eher um einen Totschlag mit Todesfolge oder sogar um Mord. Dem armen Kerl wurde nämlich der Schädel eingeschlagen. Sieht ganz so aus, als hätte er zu viel gewusst oder zu viel gewollt.“ Während er sprach, kontrollierte Lasse seine Waffe und steckte sie zurück in den Achselholster. „Ich habe dem Kollegen vom KDD bestätigt, dass wir gleich rausfahren. Wer von uns soll hier die Stellung halten?“
„Das mache ich.“, meldete sich Daja Cornelius zu Wort. „Es wäre angebracht, wenn ihr beide zum Tatort fahrt. Ich habe ohnehin erst noch ein paar Telefonate zu erledigen. Falls ihr mich braucht, bin ich über Funk oder Handy zu erreichen.“
„Okay. Na, dann mal nichts wie los.“ Zielstrebig verließen die beiden Beamten das Büro.
Die Oberkommissarin
Als erstes telefonierte Daja Cornelius mit verschiedenen Zeugen, die sich aufgrund des Zeitungsaufrufes bei der Polizei gemeldet hatten. Keiner von ihnen konnte die von Baberg gemachten Angaben bezüglich eines weißen Passats bestätigen. Die meisten von ihnen wussten überhaupt nichts Konkretes bezüglich der Sache auszusagen, sondern schienen sich nur wichtigmachen zu wollen.
Lediglich ein anonymer Anrufer, der sich beim Kriminaldauerdienst gemeldet hatte, glaubte einen dunklen Golf zur Tatzeit in einem Feldweg stehen gesehen zu haben. Nähere Angaben konnte oder wollte er hierzu allerdings nicht äußern. Die Angelegenheit wurde immer mysteriöser.
Warum um alles in der Welt, wollte mir Tarek Baberg weismachen, es handele sich um einen weißen Passat? Entweder hat er gelogen, oder aber es haben etwa zur gleichen Zeit zwei unterschiedliche Fahrzeuge in verschiedenen Feldwegen gestanden. Fest steht zumindest, dass nur Baberg den weißen Passat Kombi gesehen haben will, niemand anderes außer ihm. Der dunkle Golf hingegen wurde von zwei Personen unabhängig voneinander gesichtet. Was könnte Baberg damit erreichen wollen, indem er der Polizei gegenüber falsche Angaben macht und jetzt die Welt von unten betrachtet? Entweder hat er mehr gesehen als er zugeben wollte, oder aber er gedachte sich sein Wissen zu Nutze zu machen, indem er dem Täter die Pistole auf die Brust setzt und ihn zu erpressen versuchte.
„Scheiße!“, schrie sie laut und klatschte sich mit der flachen Hand vor den Kopf. Dieser Idiot arbeitete doch beim Straßenverkehrsamt. Was, wenn er sich am Tatabend doch das Kennzeichen gemerkt und eine Halterfeststellung durchgeführt hat. Immerhin stritt er nicht ab, sich über das Fahrzeug geärgert zu haben. Da kommt man schon mal auf die Idee, etwas intensiver hinzuschauen. Vielleicht wollte er Kapital aus seinem Wissen schlagen und hat sich ein wenig übernommen. Zuzutrauen wäre es ihm. Es ist durchaus möglich, dass er seinen Gegner völlig unterschätzt hat und nicht davon ausgegangen ist, dass dieser derart skrupellos vorgeht und auch vor einem weiteren Mord nicht zurückschreckt. Aufgewühlt rannte die Oberkommissarin in ihrem Büro von einer Ecke in die andere. Fahrig strich sie sich ihren langen Pony aus der Stirn. Die Fahrzeugüberprüfungen beim Landkreis bezüglich der Kennzeichenfragmente und des Fabrikats laufen, zumindest was den weißen Passat betrifft. Ich werde dafür sorgen dass sie mir unbedingt auch noch alle dunklen Golfs mit Gössinger Kennzeichen heraussuchen. Am liebsten noch vor dem weißen Passat. Mitten im Raum blieb sie abrupt stehen und überlegte noch einen kurzen Moment, bevor sie zum Telefon eilte und die Nummer der Zulassungsstelle wählte.
Der nette Sachbearbeiter bestätigte, dass die Ausdrucke bezüglich weißer VW Passats bereits zur Dienststelle unterwegs seien und er schon im Vorfeld sagen könne, dass nicht ein einziger Kombi mit den Ziffern eins, zwei, drei, dabei sei. Einerseits verspürte Daja Cornelius eine gewisse Enttäuschung, aber andererseits bekräftigte es ihren Verdacht, dass Tarek Baberg sie mit seiner Aussage täuschen wollte, um selber freie Hand zu haben. Für was auch immer. Als nächstes gedachte sie ihren Vorgesetzten mit ihrer Vermutung zu konfrontieren. Er sollte beim Staatsanwalt eine Beschlagnahme des privaten, wie auch dienstlichen Computers des Verstorbenen beantragen. Je mehr sie darüber grübelte, desto mehr bestätigte sich ihr ungutes Gefühl, in Baberg einen miesen, kleinen Erpresser übersehen zu haben. So ein Mist aber auch. Der könnte noch leben, wenn er nicht so kopflos gehandelt hätte. Man legt sich doch nicht mit einem offensichtlich routinierten Verbrecher an, der hemmungslos den einzigen Zeugen aus dem Weg räumt. Die arme Frau und das arme Baby, es muss jetzt ohne Vater aufwachsen. Oh Gott, die Benachrichtigung steht mir ja auch noch bevor. Das muss ich unverzüglich erledigen, sobald ich mit KHK Klaus Glatzmeiser gesprochen habe. Rein mechanisch griff sie nach ihrer Jacke und dem Rucksack, um das Büro zu verlassen.
Die Nachricht vom Tode ihres Ehemannes war für Lina Baberg ein schwerer Schlag. Völlig aufgelöst schien sie von einem Nervenzusammenbruch nicht weit entfernt zu sein. Daja Cornelius hatte vorsichtshalber einen Arzt hinzu gerufen, der ihr eine Beruhigungsspritze verabreichte. Desweiteren erklärte ihre Mutter sich bereit, die nächsten Tage bei ihrer Tochter und dem Enkelkind zu verbringen. Von ihr erfuhr die Oberkommissarin auch von einem enormen Schuldenberg, den das junge Paar sich durch den Kauf der Immobilie aufgehalst hatte. Mit Erlaubnis von Lina Baberg, durfte Daja Cornelius den Laptop des Verstorbenen gleich mit zur Dienststelle nehmen.
Wieder zurück auf dem Kriminalkommissariat, war ihr Schreibtisch mit einem riesigen Stapel Papier bestückt, bei dem es sich um die Ausdrucke des Straßenverkehrsamtes handelte. Da sie das Ergebnis bezüglich des weißen Passats bereits kannte, widmete sie sich unverzüglich dem oberen Paket, welches die dunklen Golfs beinhaltete. Insgesamt dreihundert Fahrzeuge diesen Typ mit Gössinger Kennzeichen kamen infrage. Wenn sie nur die Schwarzen in Betracht zog, waren es am Ende nur noch hundertdreißig. Einer Eingebung Folge leistend, erhob sie sich hastig von ihrem Stuhl und machte sich am Schreibtisch ihres Kollegen zu schaffen, auf dem die Akten der beiden noch zu überprüfenden Strafgefangenen lagen. Neugierig schlug sie die erste auf. Bei dem Täter handelte es sich um einen fünfunddreißigjährigen Einbrecher, der auf seiner Flucht den Hausbesitzer und einen Polizeibeamten erschossen hatte. Er saß noch immer in der Justizvollzugsanstalt Gössingen ein und sein letzter Urlaub lag bereits vier Wochen zurück. Auch der Straftäter aus der zweiten Akte verbüßte anhaltend eine mehrjährige Freiheitsstrafe, befand sich aber aufgrund einer Hirnblutung vorübergehend stationär in der Universitätsklinik Gössingen. Auch er kam als Täter der letzten Tage nicht infrage.
Seufzend schloss sie die Akte und widmete sich enttäuscht einer weiteren. Jener Aussortierten, deren Delinquent bereits vor einem Jahr, nach Zweidrittelhaft, wegen guter Führung vorzeitig entlassen wurde. Beinahe gelangweilt blätterte sie darin herum und betrachtete das Lichtbild eines etwa fünfzig bis sechzigjährigen Mannes, der starrsinnig in die Kamera blickte. Laut Personalien handelte es sich um Thomas Räusperich, geboren am ersten April neunzehnhunderteinundfünfzig. Wegen versuchten Bankraubes mit Geiselnahme zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt.
Hm, seltsam, es besteht kein Hinweis auf Angehörige. … Allerdings muss es doch irgendeine Anschrift geben, die er bei seiner Entlassung angegeben hat. Fieberhaft überflog sie die für sie interessanten Eintragungen. Wie bereits bekannt, handelte es sich um einen Fall, an dem Oberstaatsanwalt Müllerich bis zu einem gewissen Zeitpunkt mitgewirkt hatte. Das Erstaunliche daran war, dass er ihm aber kurz danach vom Richter wieder entzogen wurde. Nur ein kleiner Hinweis in Form eines überaus knappen Vermerkes deutete daraufhin. Ohne nähere Angabe von Gründen, wurde ihm Staatsanwalt Fabian Fischmops vor die Nase gesetzt und mit der Angelegenheit betraut. Zumindest ergibt sich dieses Bild für einen Außenstehenden.
Die Tür wurde geöffnet und Oberkommissar Norman Nessel und Kommissar Lasse Beerens kehrten vom Tatort zurück. Als erstes schenkten sich beide einen heißen Kaffee ein, um sodann ihrer Vorgesetzten einen kurzen Lagebericht zu erstatten.
„Tarek Baberg wurde von einem Unbekannten mit einem stumpfen Gegenstand zunächst am Kopf schwer verletzt. Dieser Schlag war zwar nicht tödlich, führte aber zu länger anhaltender Bewusstlosigkeit. Im Anschluss daran wurde ihm zu einem späteren Zeitpunkt mit brachialer Gewalt das Genick gebrochen. Der Täter wollte auf Nummer sicher gehen.“ Norman Nessel verzog angewidert das Gesicht. „Kein schöner Anblick am frühen Morgen.“
Ergänzend fügte Lasse Beerens hinzu:
„Der Täter oder ein Mittäter hat sein Opfer nach dessen Tod eiskalt auf den Beifahrersitz verfrachtet und ist mit ihm in seinem Fahrzeug zu dem Grillplatz Kirschberg gefahren. Es konnten keine verwertbaren Spuren in Bezug auf seinen Peiniger gesichert werden. Der mutmaßliche Mörder hat entweder Handschuhe getragen, oder aber alles fein säuberlich gereinigt. Der Fahrzeugschlüssel steckte im Zündschloss und wenn wir der Spusi Glauben schenken dürfen, wurde der Wagen gestern Abend letztmalig bewegt. Laut Aussagen des Gerichtsmediziners trat der Tod ebenfalls am gestrigen Abend zwischen neunzehn und zweiundzwanzig Uhr ein. Vermutlich war der Straftäter von stattlicher Statur, da der Fahrersitz ganz weit nach hinten geschoben vorgefunden wurde. Ebenso befand sich das Lenkrad in seiner höchsten Position. Der Delinquent hat sich nicht die Mühe gemacht, alles wieder in seine Ursprungsposition zu bringen. Für Tarek Baberg waren die Einstellungen jedenfalls nicht geeignet. Im Aschenbecher fanden wir mehrere Zigarettenkippen, die offensichtlich dem Getöteten zuzuordnen sind. Genaueres wird der Erkennungsdienst uns noch mitteilen. An der Kopfstütze wurden unterschiedliche Haare gefunden. Diverse helle, die vermutlich Baberg selber gehören und ein paar dunkle, die vom Täter stammen könnten.“ Er holte tief Luft und sah Daja Cornelius fragend an. „Reicht dir diese Berichterstattung fürs erste, oder willst du noch etwas Konkretes wissen?“ Schlürfend trank er seinen Kaffee.
„Das war ein perfekter Vortrag eurerseits. Ihr habt meinen allergrößten Respekt verdient.“ Den Daumen aufgerichtet, begab sie sich zu Normans Schreibtisch. „Kommt doch bitte beide einmal her zu mir.“ Mit der Hand vollführte die Oberkommissarin eine winkende Bewegung, der die beiden jungen Männer wissbegierig Folge leisteten. Entschlossen griff Daja nach der Akte mit dem Bankräuber und öffnete sie. Ihr ausgestreckter Zeigefinger wies auf das Lichtbild des Täters. „Habt ihr den Kerl schon irgendwann einmal gesehen, oder kommt er einem von euch bekannt vor?“
Den einen Kollege rechts neben sich stehend und den anderen links, blickten sie ihr über die Schulter.
„Hm, das ist doch der Typ, den ich bereits aussortiert hatte, weil er aufgrund seiner vorzeitigen Haftentlassung als Kandidat nicht in Frage kommt.“ Grübelnd kratzte Norman sich unter dem Kinn.
„Das ist soweit richtig, aber eventuell auch ein bisschen voreilig gehandelt. … Lasse, was sagst du zum Gesicht? Sieh es dir bitte in Ruhe an.“ Nachdenklich zog der die Stirn in Falten und zuckte mit den Schultern.
„Der sagt mir absolut nichts. Was soll mit ihm sein?“
„Auf den ersten Blick nichts besonderes, aber auf den zweiten vielleicht doch. … Vorweg sei gesagt, die beiden anderen Akten kannst du vorerst zugeschlagen lassen, denn deren Protagonisten dürften meines Erachtens nicht dem Täterkreis angehören. Auch wenn wir noch immer nicht wissen, ob es sich bei dem Unfallverursacher um einen Mann oder eine Frau, oder gar mehrere Personen handelt. Schauen wir uns einmal die Akte dieses Mannes etwas intensiver an. Er ist ein Bankräuber, ein Einzeltäter und ein Einzelgänger. Bis zum damaligen Tatzeitpunkt war er wegen verschiedener Delikte polizeilich zwar bereits mehrfach in Erscheinung getreten. Aber es handelte sich stets um Kleinigkeiten, die ihm in der Vergangenheit noch keine Freiheitsstrafe eingebracht hatte. Ein Kleinkrimineller eben. Sein bester Kumpel hieß Georg Dragottich und verbüßt derzeit eine Haftstrafe. Erst durch den Bankraub mit Geiselnahme zählte Räusperich zum Kreis der Schwerverbrecher. Sein Pflichtverteidiger plädierte auf Unschuldig, obwohl er doch auf frischer Tat ertappt wurde. Der zur Tatzeit achtundfünfzigjährige Thomas Räusperich selber hat die Absicht des Bankraubes immer abgestritten und behauptet, man habe ihm eine Falle gestellt. Letztendlich wurde die bewaffnete Geiselnahme sein Verhängnis, auch wenn es sich bei der Tatwaffe nur um ein Messer handelte. Das Gericht verdonnerte ihn zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren, die er zu Zweidrittel verbüßt hat. Vor einem Jahr vorzeitig entlassen, müsste er nach Adam Riese mittlerweile dreiundsechzig sein. … Korrigiert mich bitte, wenn ich eurer Meinung nach etwas Falsches sage.“
„Bislang kann ich deinem Vortrag durchaus noch Folge leisten und es scheint auch alles nachvollziehbar. Aber aus welchem Grund glaubst du jetzt, er könne unser Mann sein?“ Sichtlich irritiert zog Lasse Beerens die Stirn in Falten.
„Das Wichtigste habe ich noch gar nicht erwähnt.“ Daja Cornelius griente süffisant und kreuzte triumphierend die Arme vor der Brust. „Das Merkwürdige an dem Bankraub von damals ist, dass zunächst Oberstaatsanwalt Hermann Müllerich der leitende Staatsanwalt war. Innerhalb weniger Tage wurde ihm jedoch der Fall Hals über Kopf entzogen. Die Gründe dafür sind zumindest aus der Akte nicht ersichtlich. Nun stellt sich mir die Frage, warum um alles in der Welt wird daraus ein Geheimnis gemacht? Ich kenne es aus der Vergangenheit nur so, dass beispielsweise Befangenheit ein Aspekt ist, den Fall abzugeben, beziehungsweise demjenigen zu entziehen. Oder aber, wenn der betreffende Staatsdiener anderweitig in das Geschehen involviert ist. Doch dann ist das zumindest vernünftig in der Akte vermerkt. Hier aber nicht. Seht mal, lediglich ein mickriger Zettel weist darauf hin, dass Staatsanwalt Müllerich durch Staatsanwalt Fabian Fischmops ersetzt wurde. Außerdem macht mich stutzig, dass wir keine näheren Angaben zum Verbleib Räusperichs haben. Wo ist er nach seiner Haftentlassung abgeblieben, wo untergekommen?“ Mit dem Zeigefinger tippte sie nachdrücklich auf das Foto des Mannes. „Nicht einmal Angehörige sind aufgeführt. Die ganze Sache stinkt irgendwie zum Himmel.“
„Du meinst, er ist unser Mann und hatte noch eine Rechnung mit Staatsanwalt Müllerich offen?“ Norman hatte ihr die Akte aus der Hand genommen und blätterte neugierig darin herum. „Wir sollten uns seine E-Akte aus der Aktenhaltung holen. Womöglich kommen wir damit weiter. Zumindest seine Körpergröße und die Haarfarbe sprechen jedenfalls dafür, dass er den Tatwagen gefahren haben könnte.“
„Ich hol die Kriminalakte mal. Bin gleich wieder da.“ Eilig verließ Lasse Behrens das Büro, während seine Kollegin weiterhin spekulierte.
„Angenommen, er ist wirklich unser Mann und wohnt hier in der Umgebung. Dann sollte es kein Problem sein, seine derzeitige Anschrift herauszufinden. Immer vorausgesetzt, er ist unter seinen echten Personalien angemeldet. Wovon ich nicht ausgehe. Ruf du doch bitte gleich einmal bei der Zulassungsstelle an und frag nach, ob ein Fahrzeug unter dem Namen Räusperich angemeldet ist. Ich kontaktiere derweil das Einwohnermeldeamt.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, begaben sich Beamte und Beamtin zu ihrem Schreibtisch ans Telefon.
„Nichts. Dieser Name scheint hier in der Gegend überhaupt nicht zu existieren.“ Seufzend legte Norman Nessel den Hörer zurück auf die Station. „Nicht ein einziger Wagen ist auf Räusperich registriert. Und dabei habe ich lediglich den Nachnamen genannt.“ Enttäuscht blickte er zur Tür, durch die soeben Lasse Beerens mit leeren Händen herein marschierte.
„Die Polizeiakte ist nicht auffindbar. Zielstrebig marschierte er zum Computer, um die Personalien aus der Akte der Staatsanwaltschaft einzugeben. „Ach, Leute. Hier stimmt doch irgendetwas nicht. Der Typ ist gar nicht gespeichert.“
„Das hiesige Einwohnermeldeamt hat auch keine Person mit diesem Familiennamen zu verzeichnen.“, knirschte Daja Cornelius und erhob sich von ihrem Stuhl, um frischen Kaffee aufzubrühen. „Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als alle Golfs und deren Besitzer zu überprüfen. … Sag mal Norman, welchen Eindruck hattest du eigentlich von der Person Hermann Müllerich? Wie war er dienstlich und wie privat?“
„Ich habe ihn dienstlich als eloquenten, integeren und intelligenten Menschen kennengelernt. Gradlinig und loyal, aber mit der erforderlichen Härte, die dieser Job einem Staatsanwalt abverlangt. Privat ist er mir lediglich einmal untergekommen und zwar traf ich ihn beim Einkaufen. Das heißt, ich habe ihn gesehen und erkannt, er mich aber nicht. Es ist nicht so, dass wir miteinander geredet haben.“ Sein Lachen klang verlegen. „Er war dort mit einer Frau und ist meines Erachtens nicht gerade zimperlich mit ihr umgegangen. Will damit sagen, er hat sie ziemlich unsanft am Arm hinter sich hergezogen und auch die gefallenen Worte seinerseits schienen mir nicht sonderlich nett. Das war übrigens auch der Grund, weshalb ich auf die beiden überhaupt aufmerksam geworden bin.“ Vorsichtig pustete er in die Tasse mit dem dampfenden Kaffee.
„Wie sah die Frau aus? Kannst du sie beschreiben?“ Gespannt sah Daja Cornelius ihren Kollegen an.
„Tja, wie sah sie aus? Du kannst vielleicht Fragen stellen.“ Nachdenklich richtete er den Kopf gen Zimmerdecke, als würde die Antwort dort oben geschrieben stehen.
„War sie blond, rot oder brünett? Mensch, konzentrier dich doch mal.“
„Na, du bist gut. Das ist mehrere Jahre her, aber soweit ich mich erinnern kann, war sie recht hübsch, zierlich und blond. Allerdings machte sie auf mich einen verstörten Eindruck, oder besser gesagt, scheu und schüchtern, wenig selbstbewusst.“ Er schnippte mit den Fingern. „Ja, genau, das ist der richtige Ausdruck. Sie erweckte den Anschein einer Frau mit wenig Selbstbewusstsein.“
„Und ihr Alter?“
„Na, das war doch der Staatsanwalt Müllerich.“, sagte er grinsend und ging vorsichtshalber in Deckung
„Du Dölmer.“ Daja verabreichte ihm aus der Ferne eine Luftbackpfeife. „Also, was glaubst du, war sie jünger oder älter als der Müllerich?“
„Auf alle Fälle jünger, vielleicht fünf bis zehn Jahre. Genau kann ich das auch nicht sagen. … Halt mal, da fällt mir ein, sie sahen sich in gewisser Hinsicht sogar etwas ähnlich.“ Sichtlich erfreut über seinen Einfall, klatschte er begeistert in die Hände.
„Dann vermute ich mal, dass es seine Schwester Agnes Meirich war, die er zum Einkaufen mitgenommen hatte. Stutzig macht mich allerdings deine Beobachtung bezüglich seiner Grobheit ihr gegenüber.“ Grübelnd zog die Oberkommissarin die Stirn in Falten. „Möglicherweise doch nicht so ein Saubermann wie anfänglich vermutet, oder was meint ihr?“
„Jetzt kann ich dir leider nicht mehr folgen.“, stöhnte Lasse Beerens. „Nur weil er seine angebliche Schwester zufällig einmal etwas unsanft angefasst haben soll, heißt das doch noch lange nicht, dass er ein Bösewicht ist. Versteh ich nicht.“ Resignierendes Schulterzucken drückte Verständnislosigkeit aus.
„Es geht nicht darum, ob er Agnes Meirich aufgrund schlechter Laune ausnahmsweise mal grob abgefasst hat oder nicht. Das kommt in den besten Familien vor. Ich will mir einfach nur ein Bild von diesem Mann machen können. Verfügt er eventuell über zwei Gesichter und ist gar nicht so ein ausgeglichener und netter Mensch wie viele zu glauben scheinen. Seine Schwester zumindest versuchte mir zu suggerieren, dass sie ein ausgesprochen gutes Verhältnis zu ihrem Bruder hat und er quasi die personifizierte Gutmütigkeit darstellt.“
„Wenn ich so recht überlege, da fällt mir noch etwas ein.“ Norman Nessel schob seinen Unterkiefer vor und kratzte sich am Kinn. „Während einer Weihnachtsfeier habe ich einmal mitbekommen, wie er unter Alkoholeinwirkung ziemlich aufbrausend auf eine relativ harmlose Situation reagiert hat.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu. „Er stand mit einem Bierglas in der Hand zusammen mit einem Kripobeamten im Bereich der Eingangstür. Die Kellnerin hatte ihn im Vorbeigehen versehentlich leicht angerempelt und sein Bier schwappte dabei etwas über. Obwohl sie sich unverzüglich bei ihm entschuldigt hat und ihm auch ein neues Glas brachte, hat er sie regelrecht zusammengeschissen. Der neben ihm stehende Beamte versuchte ihn zu besänftigen, aber anstatt sich zu beruhigen, hat er sich förmlich in Rage geredet. Erst nach einer Viertelstunde kehrte wieder Ruhe ein. Das Mädchen war danach fix und fertig.“
„Das ist ja wirklich ausgesprochen interessant. Ein cholerischer Staatsanwalt. Da werde ich bei der werten Schwester des Herrn Staatsanwaltes noch einmal nachhaken müssen, ob das Verhältnis zu ihrem Bruder wirklich so herzlich war, wie sie mir weismachen wollte.“
Ein anerkennender Pfiff ertönte vom Schreibtisch, an welchem Lasse scheinbar nebensächlich noch immer auf der Suche nach den Daten Thomas Räusperich war.
„Seht euch das einmal an. Ihr werdet es nicht glauben.“
„Was hast du denn entdeckt?“ Neugierig näherten sich die beiden anderen dem Schreibtisch und blickten ihrem Kollegen gespannt über die Schulter.
„Während ihr beiden euch angeregt unterhalten habt, ist dem cleveren Lasse ein grandioser Gedanke gekommen. Hier, schaut doch mal, wie unser Mann wirklich heißt.“ Triumphierend lehnte er sich auf seinem Bürostuhl zurück und verschränkte die Arme hinter dem Nacken.
„Das kann doch nicht wahr sein!“, tobte Daja Cornelius und raufte sich die Haare. Gleichzeitig vollführte sie auf dem Absatz eine Ganzkörperdrehung. „Wie soll man denn darauf kommen? So eine Schlamperei aber auch. Die bescheuerte Staatsanwaltschaft hat seinen Familiennamen falsch geschrieben. Unser Mann heißt gar nicht Räusperich, sondern Bräusperich. Das erklärt auch, weshalb wir überhaupt nichts über ihn gefunden haben. … Lasse, du bist eine Wucht.“ Anerkennend klopfte die Oberkommissarin ihrem jungen Kollegen auf die Schulter. „Wie kam es jetzt zu dieser genialen Idee?“
„Na ja, ich habe halt ein wenig recherchiert und es einfach mal nur mit dem Vornamen und seinem Geburtsdatum versucht. Es kam mir langsam aber sicher etwas spanisch vor, dass wir so rein gar nichts von ihm gefunden haben. Irgendwann wäret ihr auch darauf gekommen.“ Vor Verlegenheit stieg ihm die Röte ins Gesicht.
„Nur keine falsche Bescheidenheit, mein Lieber. Wie du treffend erwähntest, wären auch wir irgendwann stutzig geworden, aber das hätte ebenso gut noch ein paar Stunden dauern können.“
„Gibt es denn nur Idioten bei der Staatsanwaltschaft?“ Wutentbrannt griff Norman nach der Akte der STA, um sie dann zurück auf die Tischplatte zu knallen. „So etwas darf doch nicht passieren. Das nennt man Behinderung in Ausübung des Amtes.“
„Nun bleib mal geschmeidig und komm allmählich wieder runter.“ Daja versuchte ihren Kollegen zu besänftigen, indem sie seinen Arm festhielt. „Lass uns gemeinsam tief durchatmen und dann voller Elan an die veränderte Situation herangehen. Noch ist nichts verloren und wir können froh sein, dass unser Küken so weitsichtig gehandelt hat.“ Augenzwinkernd rempelte sie den neben sich stehenden Norman an.
„Du hast ja recht. Ärgern bringt uns auch nicht viel weiter.“ Der Oberkommissar holte tief Luft und nahm die Akte erneut in die Hand, um sie nun noch einmal in aller Ruhe zu studieren. „Der Personalbogen wurde offensichtlich falsch ausgefüllt und dann für den kompletten Vorgang übernommen, einschließlich des Aktendeckels.“
Angespannt starrte Lasse auf seinen Bildschirm. „Hier im Auszug seiner Kriminalakte ist sogar eine Anschrift vermerkt, die er nach seiner Entlassung aus der JVA angegeben hat.“ Seine Stimme überschlug sich fast. „Ihr werdet es nicht glauben, aber er lebt doch tatsächlich hier in Berzberg und zwar auf dem Kastanienplatz.“
„So, und jetzt das Ganze noch einmal in Bezug auf eine Halteranfrage. Her mit der Liste der Golfs.“ Ungestüm eilte die Oberkommissarin auf den Berg mit Ausdrucken zu. „Wollen doch mal sehen, wen oder was wir unter dem Namen Bräusperich finden.“ Hastig blätterte sie die ersten Seiten des Blockes durch und überflog die aufgelisteten Namen. Mit dem Finger fuhr sie von oben nach unten. Ziemlich am Ende des Buchstaben B hielt sie plötzlich inne. Siegessicher tippte sie mehrmals hintereinander auf ein und dieselbe Stelle, bevor der Zeigefinger zielstrebig nach rechts glitt, bis er zitternd auf dem Fabrikat hängenblieb. „Ein Golf, er fährt einen schwarzen Golf vier.“, lachte sie laut auf. Ihre Augen blitzten listig auf, als sie sich ihren Kollegen zuwandte. „Das Kennzeichen lautet: Gössingen, TB 451. … Hab ich es doch geahnt, der Baberg hat gelogen.“
„Wahnsinn.“, staunte Norman und gesellte sich zu ihr, um die Korrektheit der Daten selber zu überzeugen. „Na, dann statten wir dem Herrn doch gleich einmal einen Besuch ab, oder?“, grinste Norman.
„Ich habe nichts dagegen.“, feixte Daja zurück und schnappte sich ihre Jacke. Auf dem Weg zur Tür rief sie dem verdutzt dreinschauenden Lasse zu: „Halte die Stellung, bis wir wieder zurück sind. Wir machen einen kurzen Abstecher zum Kastanienplatz. Du kannst ja in der Zwischenzeit deinen Tatortbericht schreiben.“
„Moment mal. Ihr könnt mich doch nicht allein zurücklassen.“, protestierte Kommissar Lasse Beerens. „Immerhin habt ihr es mir zu verdanken, dass wir ein riesiges Stück weitergekommen sind. … Scheiße, weg sind sie.“ Seufzend holte er sein Notizheft aus der Brusttasche seines Flanelloberhemdes und machte sich daran, den Bericht über die am Morgen aufgefundene Leiche zu schreiben. Das Klingeln des Telefons schreckte ihn aus seinen Gedanken hoch. Ein Kollege von der Spurensicherung teilte mit, dass von Tarek Babergs Laptop aus ein Erpresserbrief geschrieben wurde. Desweiteren hatte er auf seinem dienstlichen PC eine Halteranfrage zu einem schwarzen Golf durchgeführt. Fahrzeug und Kennzeichen waren auf Thomas Bräusperich zugelassen. Die neu gewonnenen Erkenntnisse teilte er umgehend telefonisch seiner Kollegin mit.
Thomas Bräusperich
Wie so oft in den letzten Tagen, hatte Thomas Bräusperich vom Küchenfenster aus das Treiben auf dem Kastanienplatz beobachtet. Er kannte die Fahrzeuge der hier lebenden Anwohner und hatte im Laufe der Jahre einen sogenannten Riecher für Bullen entwickelt. Die letzten Schulkinder waren in den Wohnungen verschwunden und nun herrschte Mittagsruhe. Ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er den Zivilwagen der Kriminalpolizei auf das Gelände fahren sah. Es hatte verdammt lange gedauert, bis sie den Weg zu ihm hier heraus gefunden hatten. Er war auf Besuch vorbereitet. Nur zwei Minuten später klingelte es an seiner Wohnungstür.
Immer mit der Ruhe, werte Bullerei. Dreimal solltet ihr schon schellen, bevor der liebe Onkel Thomas euch zu sich in sein Reich lässt. Das sieht ja sonst so aus, als hätte ich euch bereits erwartet.
Er gluckste vor Lachen und begab sich in aller Ruhe zur Tür, als es erneut bimmelte. Tagsüber war die Haustür immer geöffnet, also standen sie jetzt vermutlich direkt auf seiner Matte. Beim Spähen durch den Spion erkannte er einen Mann und eine Frau. Sie wirkten ungeduldig. Das Weib mehr als der Mann. Jetzt drückte sie ihren Daumen nochmals auf den Klingelknopf. Mit einem Ruck riss er die Tür auf. Die Augenbrauen erstaunt in die Höhe gezogen, schaute er in zwei perplexe Beamtengesichter. Sie schienen nicht damit gerechnet zu haben, derart schnell eingelassen zu werden.
„Einen schönen guten Tag.“ Höflich lächelte er die beiden an. „Was kann ich für Sie tun?“ Neugierig blickte er von einem zum anderen.
„Hallo.“, sagte Daja Cornelius und zückte ihren Dienstausweis. „Mein Name ist Cornelius, von der Kripo Berzberg. Das ist mein Kollege Nessel.“ Mit dem Kopf wies sie in Normans Richtung, der zustimmend nickte und ebenfalls seinen Ausweis präsentierte. „Wir hätten ein paar Fragen an Sie. Dürfen wir reinkommen?“
„Oh, die Polizei. Was verschafft mir die Ehre?“ Scheinbar überrascht öffnete er die Tür großzügig so weit als möglich. „Wenn ich bitten darf. Es muss ja nicht gleich jeder mitkriegen, dass wir die Polizei im Haus haben.“ Die Beamten traten ihre Schuhe auf der Matte ab und marschierten an Thomas Bräusperich vorbei. „Immer geradeaus in die gute Stube.“, rief er ihnen nach und schloss die Eingangstür sorgfältig. „Sie dürfen gern Platz nehmen.“ Einer Handbewegung zufolge durften sie nebeneinander auf der Couch Platz nehmen. Selber setzte er sich ihnen gegenüber in einen verschlissenen Ledersessel, der bei jeder Bewegung kneternde Geräusche von sich gab.
„Herr Bräusperich, mein Kollege und ich würden gern wissen, wo Sie sich am Montagabend zwischen achtzehn und zwanzig Uhr aufgehalten haben. Das Gleiche gilt für Dienstagabend von achtzehn bis zweiundzwanzig Uhr.“ Daja Cornelius saß vornübergebeugt auf dem Sofa und betrachtete den Mann auf der anderen Seite des Tisches eingehend.
„Ui, Sie erwarten von mir gleich zwei Alibis auf einmal. Gibt es dafür einen bestimmten Grund?“ Die langen Beine lässig übereinandergeschlagen, ließ er den obenauf befindlichen Fuß unentwegt auf und ab wippen. Seine stoische Ruhe machte Daja Cornelius nervös.
„Sie werden von den ungewöhnlichen Todesfällen der letzten Tage sicherlich schon gehört haben.“ Erwartungsvoll sah sie zu ihm rüber.
„Wenn Sie die Sache mit den grässlichen Unfällen meinen und den furchtbaren Mord an dem dazugehörigen Zeugen, dann muss ich leider zustimmen. Die Zeitungen sind bezüglich des gestrigen Abends davon voll mit Nachrichten und Spekulationen. Aber was habe ich damit zu tun?“ Seine gekräuselte Stirn wies unzählige Falten auf.
„Genau die Angelegenheit betrifft es.“ Die Oberkommissarin räusperte sich, bevor sie weitersprach. „In der Nähe des Unfallortes wurde ein VW Golf gesichtet, dessen Beschreibung auf Ihren Wagen zutrifft. Können Sie uns das erklären?“
„Selbstverständlich gibt es eine plausible Begründung dafür.“ Seine Miene erhellte sich schlagartig, bevor er aufstand und die Tür zum Nebenraum öffnete. Nach einem kurzen Pfiff tobte ein kleiner Hund herein und sprang, freudig mit der Rute wedelnd, ohne Vorwarnung auf das Sofa. „Darf ich vorstellen, das ist Promi, mein Hund. Er benötigt hin und wieder Auslauf, wie das bei Vierbeinern halt so der Fall ist.“ Sein Grinsen vertiefte sich. „Also bin ich an besagtem Montag mit ihm in die Feldflur gefahren, um dort einen ausgiebigen Spaziergang zu unternehmen.“ Der Kleine schien sich zwischen den Kommissaren wohl zu fühlen. Seine Zunge schleckte wechselweise über den Unterarm der Kommissarin und über die Hand ihres Kollegen. Norman Nessel versuchte ihn durch Kraulen im Nacken davon abzuhalten.
„Aber Sie waren doch nicht mehrere Stunden unterwegs, oder? Zeugen wollen Ihren Wagen nämlich über einen längeren Zeitraum dort haben stehen sehen.“ Daja Cornelius befand sich in Lauerstellung.
„Gott bewahre mich.“, entrüstete sich Bräusperich. „Nein, natürlich nicht. Wir sind etwa gegen achtzehn Uhr dreißig dort angekommen und…“ Sichtlich konzentriert dachte er nach. „Ja, etwa eine Stunde später war ich wieder zu Hause. Zumindest in der näheren Umgebung.“
„Das wäre dann so circa gegen neunzehn Uhr dreißig gewesen. Da müssen Sie doch etwas von dem Unfall mitbekommen haben.“
„Tut mir leid, aber in diesem Fall muss ich sie doch tatsächlich enttäuschen. Der Wagen stand die ganze Nacht über auf dem Feldweg. Er ist nämlich nicht wieder angesprungen und ich bin mit Promi zu Fuß Richtung Heimat marschiert. Noch am selben Abend habe ich den Schnellreparaturservice angerufen, damit sie meinen Golf abschleppen, oder zumindest anderweitig wieder fahrtüchtig machen. Die verfügen über einen Rund-um-die-Uhr-Dienst und sind schätzungsweise so gegen dreiundzwanzig Uhr vor Ort gewesen, denn um dreiundzwanzig Uhr dreißig bin ich deswegen von meiner Stammkneipe aus nach Hause gekommen. Der Chef selber rief mich an, dass Sie mein Fahrzeug nicht abzuschleppen brauchten, sondern es ohne große Aufhebens wieder in Gang bringen konnten. Gegen dreiundzwanzig Uhr dreißig bin ich deshalb von meiner Stammkneipe aus zu meiner Wohnung gegangen, damit der Mann seine Kohle kriegte. Meinen Golf haben sie netterweise auf dem Parkplatz, gleich gegenüber dem Wohnblock, abgestellt. Dort steht er seitdem ununterbrochen. Sie können bei dem Herrn gern nachfragen. Außerdem war noch ein zweiter Mann dabei, der den anderen PKW gefahren hat.“ Es sprudelte nur so aus ihm heraus.
„Was sagen Sie da?“ Völlig konsterniert ließ die Oberkommissarin den Kugelschreiber aus der Hand auf die Tischplatte fallen. Ratlos blickte sie ihren Kollegen an, der ebenso überrascht wirkte und sofort nachhakte:
„Von welchem Weg sprechen Sie? Beschreiben Sie ihn uns bitte einmal etwas genauer.“
„Na ja, es war der direkte Verbindungsweg zur Hauptstraße.“ Schulterzuckend steckte sich der Verdächtige eine Zigarette an. „Eben jener, der auch in den Medien genannt wurde und auf dem Leute der unterschiedlichsten Gesinnung meinen PKW gesehen haben wollen.“ Tief inhalierte er den Tabak und blies kleine Rauchwolken in die Luft.
„Sie wollen uns wirklich ernsthaft glauben machen, Ihr Golf habe mehrere Stunden hintereinander auf dem Feldweg gestanden und niemand von der Polizei hat es mitbekommen?“ Norman Nessel hatte sich vom Sofa erhoben und marschierte unruhig durch den Raum.
„Ja, wenn ich es doch sage. Rufen Sie Erich Kominski an, der wird meine Aussage bestätigen. Ihm gehört der Schnellreparaturservice in der Gössinger Landstraße. Und bevor Sie danach fragen wie die an meinen Autoschlüssel gekommen sind, kann ich Ihnen gleich sagen, ich hatte ihn von innen am linken Hinterrad deponiert.“ Es dauerte eine Ewigkeit, bis er seine Kippe im Aschenbecher ausgedrückt hatte. Keine Ahnung, warum die Polizei ihn nicht auch gesehen hat.“
„In welcher Gaststätte sind Sie aufhältig gewesen?“ Daja Cornelius wartete ungeduldig auf eine Antwort.
„Gleich hier um die Ecke, im Biereck.“ Mit dem ausgestreckten Arm deutete er zum Küchenfenster hinaus. „Da war ich im Übrigen auch gestern Abend, falls es Sie interessiert.“ Grienend fuhr er sich mit der Hand durch sein ergrautes Haar.
„Ich sehe mir seinen Wagen mal an.“ Eilig verließ Norman Nessel die Wohnung und lief die Treppe hinunter, während die Oberkommissarin dem auffallend souverän wirkenden Mann weitere Fragen stellte.
Der Golf stand ordnungsgemäß geparkt, rückwärts in einer Parklücke. Schlammspuren an den Seiten konnten durchaus von einer Fahrt auf unbefestigten Wegen herrühren. Nicht eine einzige Delle oder Beule deutete auf einen Unfall oder Zusammenstoß hin. Für einen Laien befand sich das Fahrzeug zumindest äußerlich in einem unfallfreien Zustand. Immer wieder ging Norman Nessel prüfend um den Wagen herum. Besah ihn aus der Nähe und aus einer gewissen Distanz. Kopfschüttelnd wischte er mit einem Papiertaschentuch über die Motorhaube.
Nichts, da ist absolut kein Blechschaden vorhanden, weder hier noch an irgendeiner anderen Stelle. Der Dreck haftet fest am Lack und scheint nicht erst von heute zu stammen. Da wurde weder etwas repariert noch ausgetauscht, seltsam und mysteriös.
Nachdenklich strich er sich über das Kinn, bevor er resignierend den Hauseingang anstrebte. Vom Podest aus warf er noch einen letzten Blick auf den PKW, bevor er die Treppe zum zweiten Mal an diesem Tag nach oben marschierte. Daja hatte zwischenzeitlich den Reparaturdienst angerufen, dessen Chef genau das bestätigte, was Thomas Bräusperich zuvor ausgesagt hatte. Auch der Wirt aus der Kneipe vor der Wohnanlage, unterstrich das Alibi von Bräusperich, zumindest was den Tatzeitraum vom Montag betraf. Bezüglich des gestrigen Abends war er sich nicht sicher, um welche Uhrzeit Thomas Bräusperich in der Gaststätte aufgetaucht war. Er wollte diesbezüglich seine Angestellte befragen und sich dann bei der Oberkommissarin wieder melden. Auf die Frage, ob er Staatsanwalt Hermann Müllerich kannte, antwortete er mit einem müden Lächeln:
„Das wissen Sie doch ganz genau, Frau Kommissarin. Er war es, der mich damals in den Knast gebracht hat. So etwas vergisst man nicht. Was aber nicht heißen soll, dass ich einen Hass auf ihn verspürte. Immerhin war es sein Job.“ Die Arme vor der Brust verschränkt, stand er breitbeinig mit dem Rücken vor dem Fenster. Mit düsterer Miene sah er sie an. „Oder glauben Sie wirklich, ich würde meine Bewährung aufs Spiel setzen und freiwillig wieder zurück ins Gefängnis gehen?“ Sein Lachen klang bitter. „Nee, nee, die vier Jahre haben mir vollkommen gereicht. Ich bin in dieser Zeit ein anderer Mensch geworden, das können Sie mir glauben.“
„Und was ist mit Tarek Baberg? Kannten Sie den auch?“ Daja Cornelius beobachtete seine Reaktion genau.
„Nein, den kannte ich nicht.“ Er löste seine Arme aus der Verschränkung und steckte die Hände in die Hosentaschen. „Wurde er wirklich umgebracht?“ Seine Neugier schien echt.
„Ich denke, Sie haben die Zeitung gelesen?“, konterte die Oberkommissarin und erhob sich von ihrem Sitzplatz. „Leben Sie eigentlich allein hier in der Wohnung? Ihr Blick glitt suchend durch den Raum.
„Nicht ganz allein. Promi wohnt auch hier.“, erwiderte er trocken und nahm seinen Hund auf den Arm, um ihm den Kopf zu kraulen.
„Auch wenn Sie glauben, Sie seien wegen Ihres Alibis aus dem Schneider, werde ich Sie weiter im Auge behalten. Und sobald Ihnen auch nur der kleinste Fehler unterläuft, kriege ich Sie, das schwöre ich Ihnen, Herr Bräusperich.“ Die Augen von Daja Cornelius waren zu Schlitzen zusammengezogen, während sie ihre Schreibutensilien in die Tasche packte. „Wir wissen, dass Tarek Baberg einen Erpresserbrief verfasst hat. Nur leider hat er vergessen, ihn mit einer Anrede zu versehen. Somit sind wir nicht in der Lage zu beweisen, dass Sie der Empfänger waren. Ebenso ist uns bekannt, dass er ihr Kennzeichen überprüfen ließ und somit wusste, dass es sich bei dem im Feldweg stehenden Auto um ihr Fahrzeug handelt.“
Lässig zog er die Schultern hoch und zündete sich eine weitere Zigarette an.
Norman Nessel hatte dem Gespräch die ganze Zeit über wortlos gelauscht. Erst als seine Vorgesetzte ihn erwartungsvoll ansah, begann er zu reden.
„Nichts. Sein Fahrzeug ist völlig unauffällig. Abgesehen davon, dass der Wagen mal eine Grundreinigung vertragen könnte, sind keinerlei Unfallspuren zu sichten.“
„Okay, dann sind wir fürs Erste hier durch.“ Daja Cornelius musste sich auf die Zunge beißen, um nur ja nicht die Contenance zu verlieren. Dieser Typ war so selbstsicher und überheblich, dass es sie regelrecht ankotzte. „Sie hören von uns.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, begab sie sich zielstrebig über den Flur zur Wohnungstür. Norman Nessel folgte ihr dicht auf den Fersen.
„Auf Wiedersehen, Frau Kommissarin. Ich wünsche Ihnen und Ihrem Kollegen noch einen angenehmen Tag.“, rief er den beiden nach, bevor die Tür ins Schloss fiel. Grinsend stellte er sich mit Promi auf dem Arm ans Küchenfenster und schaute zu, wie die beiden Beamten in ihren Dienstwagen stiegen und ohne einen weiteren Blick nach oben zu werfen, davon brausten.
„So eine Scheiße!“, brüllte Daja und hämmerte mit der Faust auf das Lenkrad. „Der Kerl hat es faustdick hinter den Ohren und verarscht uns nach Strich und Faden.“
„Mensch, Daja. Komm mal wieder runter von deinem Trip. Es nützt nichts, wenn du dich derart aufregst. Momentan sitzt er am längeren Hebel und wir müssen ihm vorerst abnehmen was er uns zu suggerieren versucht. Das Gegenteil zu beweisen wird verdammt schwer sein, ist aber nicht unmöglich. Lass uns erst einmal zur Dienststelle zurück fahren, dann sehen wir weiter. Für heute reicht es ohnehin, wir müssen auch noch die ganzen Berichte schreiben.“
„Ich weiß, ich weiß. Und dennoch fühle ich mich verladen. Aber du hast recht. Es bringt nichts sich aufzuregen, wir benötigen Beweise. Auf geht’s zum Kommissariat. Ich brauch jetzt erst einmal einen starken Kaffee und eine Zigarette.“