4.4. Taile
 

Hoch oben in den Bergen von Dschokasch auf Ponape lebte einmal ein böser Zauberer, der hieß Taile. Er war schon sehr alt und betagt und wohnte in einem kleinen Häuschen, das dicht neben einer großen Höhle stand.

 

Eines Tages erzählten ihm die Leute, dass in Matolenim das hübscheste Mädchen lebte, das man je gesehen hätte. Alle priesen ihre Schönheit und lobten sie. Die »Schöne von Taman« wurde sie genannt, und sie war die Tochter des Königs Schautelur. Als Taile das hörte, wurde er so von Liebe zu ihr entflammt, dass er sie heiraten wollte.

 

Er machte sich auf und wanderte zu Fuß über die Berge nach Matolenim. Unterwegs traf er eine Anzahl Männer, die bereiteten eine Brotfruchtspeise für Schautelur. Er sah ihnen eine Weile zu, fragte sie dann nach dem Wege und erzählte ihnen sein Vorhaben. Da lachten sie ihn alle aus und sagten, die Königstochter würde sich wohl für einen solch hässlichen Mummelgreis allerschönstens bedanken.

 

Taile antwortete ihnen nichts darauf und zog weiter; im Stillen dachte er aber über die Worte der Leute nach und beschloss, sich wieder jung zu machen, um die Schöne von Taman zu erringen.

 

Zunächst pflückte er eine Menge schöner, roter Blumen und machte sich daraus einen prächtigen Kranz. Den setzte er sich auf den Kopf. Da sah er schon besser aus. Er wanderte weiter und kam an einen einsamen Ort. Dort legte er seine dicken, geschwollenen Beine ab und setzte sich dafür jugendlich frische ein. Er zog weiter und kam an einen anderen Ort. Dort legte er sein weißes Haar ab und vertauschte es mit einer hübschen, schwarzen Kopfzierde.

 

Er ging weiter und kam an einen anderen Ort. Dort entledigte er sich seiner schlaffen Hoden und ersetzte sie durch kleine, zarte, pralle. So wurde er immer jünger aussehend. Und als er schließlich noch seine alten, hässlichen Triefaugen aus dem Kopf nahm und blanke, helle Augen dafür einsetzte, als er sich die Runzeln und Falten aus dem Gesicht strich, da war er wieder zum jungen Mann geworden.

 

So kam er denn nach Pankatra an den Hof des Königs. Er trat in das Haus ein, wo der König mit seiner Tochter gerade beim Essen saß. Sie luden Taile ein, bei ihnen Platz zu nehmen und mitzuessen. Die Schöne von Taman mochte den jungen, hübschen Mann gern leiden und bat ihn, ihr den roten Blumenkranz zu schenken. Den hatte Taile aber vorher verzaubert.

 

Als sie den Kranz aufgesetzt hatte, da packte sie eine heftige Liebe zu Taile. Die Liebe wurde immer größer, und als der Zauberer fragte, ob sie seine Frau werden wolle, sagte sie mit Freuden ja. Da heiratete Taile die Schöne von Taman, und beide wohnten in Pankatra.

 

Nach einiger Zeit wollte Taile jedoch nach Dschokasch zurückkehren, und er sagte seiner Frau, sie möchte ihren Vater, den König, bitten, sie reisen zu lassen. Schautelur entließ sie, und sie gingen fort. Sie gingen zu Fuß.

 

Als sie an den Platz kamen, wo Taile seine Triefaugen abgelegt hatte, nahm er sie wieder auf und setzte sie sich ein. So machte er es auch an den anderen Orten. Überall, wo er vordem seine alten Sachen abgelegt hatte, holte er sie sich wieder, das weiße Haar, die schlaffen Hoden und die dicken Beine. Und mit Schrecken bemerkte die junge Frau, wie ihr jugendlicher Mann plötzlich zum hässlichen Mummelgreis geworden war. Sie wollte fliehen, doch das ging nicht; sie kannte nicht den Weg in der fremden Wildnis und musste wohl oder übel bei Taile aushalten.

 

Als die beiden an die Stelle kamen, wo der Zauberer sein Boot versteckt hatte, zog er es aus dem Dickicht heraus und legte seine Frau samt allen abgelegten Sachen hinein. Dann nahm er das Boot auf die Schulter und trug es über die Berge bis zu seinem Haus. Er setzte es nieder, öffnete die Tür und schob es ins Haus hinein. Dann verrammelte er die Tür ganz fest und freute sich auf den schönen Braten, den er sich so schlau eingefangen hatte, um ihn mit seinen Freunden zu verzehren.

 

Taile war nämlich ein arger Menschenfresser. Er ging nun auf den Berg und rief von dort aus alle seine Freunde zusammen und lud sie zum Schmaus ein. Sie kamen bald herbei und fragten ihn, was für einen Braten er denn für sie erwischt habe. Er antwortete: »Die Schöne von Taman.« Da freuten sich alle und schmatzten mit den Lippen.

 

Während Taile auf dem Berge war, kam seine Schwester des Wegs, um ihren Bruder zu besuchen. Als sie vor dem Häuschen angekommen war, hörte sie darin rufen. Sie fragte: »Wer ist da im Häuschen und ruft immerfort?« Die Gefangene antwortete: »Ich bin es, die Schöne von Taman, die Tochter des Schautelur!« – »Oh, du dummes Mädchen!«, sagte die Schwester, »warum bist du auch mit dem bösen Zauberer gegangen? Der will dich fressen.« – »Was soll ich tun?«, wehklagte die Schöne, »ich kann nicht hinaus, die Tür ist verschlossen und fest verrammelt.« –

 

»Ich werde dir helfen«, entgegnete die andere, »klopfe du drinnen, ich klopfe draußen. Bald wird ein Loch entstehen, dann kannst du heraus und dich in Sicherheit bringen.« Das tat das Mädchen, und bald war sie frei.

 

Sie lief nun so schnell sie konnte fort und bat inständig alle Bäume und Büsche, ihr zu helfen, den rechten Weg zu zeigen und sie ja nicht dem Taile zu verraten. Die Bäume und Büsche hatten Mitleid mit der Schönen. Sie halfen ihr, zeigten ihr den Weg und versprachen, sie nicht dem Zauberer zu verraten. Nur ein kleiner, winziger Busch weigerte sich. Da pisste sie auf ihn und zog über die Berge weiter.

 

Als Taile nun vom Berge herab an sein Haus kam, öffnete er die Tür, um das Mädchen für den Schmaus herzurichten. Aber der Vogel war ausgeflogen. Er fragte seine Schwester, ob sie wüsste, wo das Mädchen geblieben wäre. Sie verneinte es. Da suchte er überall nach der Entflohenen. Er fragte die Bäume und Büsche, ob sie bei ihnen vorbeigekommen wäre.

 

Die antworteten alle nein, nur der kleine, winzige Busch sagte: Soeben ist die Schöne von Taman hier an mir vorüber gelaufen.« Da lief der Zauberer weiter. Aber er holte das Mädchen nicht ein. Mit ihren jungen Beinen konnte sie schneller rennen als er mit seinen alten. So musste er schließlich seine Absicht aufgeben und kehrte nach Haus um.

 

Unterwegs begegnete er zwei alten Frauen, die trugen frische Kokosnüsse mit sich. Er bat sie, ihm einige zu geben, denn vom Laufen war er matt geworden und wollte sich erfrischen. Sie taten es. Als er sie fragte, ob sie etwa das Mädchen gesehen hätten, antworteten sie: »Zieh dein unteres Augenlid einmal herunter, dann wollen wir es dir sagen.«

 

Taile zog die unteren Augenlider herunter, und die Frauen warfen ihm große Hände voll Staub in die Augen. »So, nun geh hin, wasch dir die Augen aus, dann wirst du die Schöne schon sehen!«, sagten sie und rannten fort. Taile war blind geworden, er konnte nichts mehr sehen. Er verirrte sich in der Wildnis, fand nicht mehr nach Haus und ging elendig zugrunde.

 

Die Schöne von Taman war jetzt frei. Sie kam glücklich nach Pankatra und erzählte dort allen ihre Erlebnisse. (SÜDSEEMÄRCHEN)

 

4.4.1. Überlegungen zum Märchen
 

In dieser Geschichte macht sich ein alter Zauberer auf, die Prinzessin zu freien, kein junger Prinz. Das muss in das richtige Leben übersetzt nicht heißen, dass ein achtzigjähriger Mann noch einmal eine Frau sucht. Alt und jung im Märchen sollte man auch symbolisch verstehen. Der alte Zauberer, bzw. die Taile-Haltung kann auch in relativ jungen Menschen wohnen, ebenso gibt es den Impuls des jugendlichen Helden auch in Menschen, die alt an Jahren sind.

 

Der Anfang dieser Geschichte erinnert mich an eine Kontaktanzeige, die ich vor vielen Jahren gelesen habe. Sie lautete schlicht und ergreifend: »Frauenhasser möchte es mal wieder versuchen!«

 

Zunächst einmal stimmt der Anfang der Geschichte durchaus zuversichtlich. Der alte Zauberer wird von Liebe entflammt und macht sich auf den Weg ins Reich der Schönen von Taman. Diese könnte eine Doppelgängerin von Dewi Ngalima aus der letzten Geschichte sein. Auch sie ist mutterlos, auch sie eine Vater-Tochter, auch bei ihr ist zumindest anfangs wenig Autonomie oder eigener Wille zu spüren, auch sie erscheint zunächst passiv, in der Rolle des Opfers.

 

Als Taile seine Reise antritt, scheint er reinen Herzens zu sein, alles andere als unsympathisch und böse. Die Wandlung beginnt, als ihm »die Leute« begegnen und ihn auslachen: »So wie du aussiehst, hast du keine Chance bei der Schönen.« Wer kennt das nicht aus seinem eigenen Leben? Das Gefühl: Wenn ich einfach nur so bin, wie ich bin, genüge ich nicht; ich bin zu alt, ich bin zu hässlich, ich bin – wie auch immer – unzulänglich! Was liegt da näher, als eine Wellnesskur zu machen oder sich einem Anti-Aging-Verfahren zu unterziehen?

 

Taile lässt sich einreden, dass er nur mit einer Maske, einer Persona eine Chance am Königshof hat, und er liegt richtig. An einem Königshof ohne Königin, ohne Seelenweisheit, ist das so, schrecklich normal. Die mutterlose Prinzessin lässt sich von Äußerlichkeiten blenden.

 

Ich habe viele Männer erlebt, die in der Auseinandersetzung mit dieser Szene sehr traurig geworden sind, die das Gefühl kennen, nur als Supermann, als toller Hecht, als geschniegelter Gentleman, aber nicht als hässlicher, alter Zauberer geliebt zu werden. Da haben wir die Parallele zum letzten Märchen: Die Sehnsucht der Frau ist sicherlich, auch als alte hässliche Hexe geliebt zu werden, nicht nur als Lichtprinzessin.

 

Diese »Persona-Haltung« lässt sich auf Dauer nicht durchhalten, zumindest nicht in einer längeren Beziehung. In einer kurzen Begegnung lässt sich der Schatten besser ausklammern, und sollte es doch irgendwann schwierig werden, können wir weiterfliegen zum nächsten Partner. Aber in einer Beziehung, die diesen Namen auch verdient, werden irgendwann die Masken fallen müssen, will der Schatten mit leben.

 

Nach seiner wundersamen körperlichen Verwandlung spielt Taile seinen nächsten Trumpf aus, er setzt der Schönen den roten Blumenkranz auf. Rot ist die Farbe des Blutes, der Leidenschaft. Männer, die Frauen diesen Kranz aufzusetzen vermögen, beherrschen den Liebeszauber, können Leidenschaft wecken, wie ihr weibliches Pendant Circe, die die Gefährten des Odysseus in Schweine verwandeln, sie also am Sex packen kann. Die Schöne verfällt der Sexualmagie des Zauberers.

 

Der Anfang dieser Beziehung erscheint also auch geprägt von intensiver Erotik. Dagegen gibt es nichts einzuwenden. Wer von uns genießt nicht erfüllte Sexualität, Lust und Leidenschaft? Allerdings: Die Verzauberung ist einseitig. Taile gewinnt Macht über die Schöne, sie verfällt ihm. Er »drückt die Knöpfe«, hält die Fäden in der Hand, sie ist gefangen in seinem Spinnennetz. Macht ist hier eine Einbahnstraße: Er zaubert, sie wird verzaubert.

 

Außerdem scheint Taile ein sehr widersprüchliches Wesen zu sein: Auf der einen Seite beherrscht er als Mann der Macht den Zauber des roten Blumenkranzes, scheint überhaupt über ein reiches Repertoire von Zauberkunststücken zu verfügen; auf der anderen Seite erscheint er als zutiefst unsicher.

 

Wäre nämlich Taile wirklich ein selbstbewusster, souveräner Mann, bräuchte er nicht so viel Maskerade, Kunststücke und Tricks. So wäre es eine wirkliche Heldentat von ihm gewesen, nicht auf die Leute, die öffentliche Meinung zu hören, sondern mit der Unschuld des Herzens der Schönen zu begegnen. Dazu gehört allerdings ungeheurer Mut. Selbst in einer alten Beziehung ist es für viele Menschen schwer, sich »nackt«, ohne Maske zu zeigen. Taile geht dieses Risiko nicht ein, der mächtige Zauberer scheint die Konsequenzen zu fürchten.

 

Die Angst, verlassen oder abgewiesen zu werden, berührt in uns den Ohnmachtspeicher der frühen Kindheit. In der Urbeziehung zur Mutter konnten wir nicht alleine. Die Liebe der Mutter zu verlieren, war gleichbedeutend mit einem Todesurteil, und diese existenzielle Angst vor Verlassen- und Abgewiesenwerden tragen wir meist unbewusst auch in spätere Liebesbeziehungen hinein.

 

Wenn wir als Kind die Erfahrung gemacht haben, unwillkommen, abgelehnt oder unerwünscht zu sein, wird es natürlich auch später im Leben subjektiv ein großes Risiko sein, ohne Maske am Königshof zu erscheinen. Ungeliebte Kinder sind deshalb oft Stammgäste in Wellnessfarmen.

 

Wie es anders gehen kann, zeigt die schon erwähnte Geschichte von Dermot und seinen Gefährten („Dermot mit dem Liebesfleck“). Alle vier übernachten im selben Raum mit einer wunderschönen jungen Frau, und alle vier begehren sie. Der erste geht zu ihrem Bett und sagt nur: »Ich will, dass du mein wirst!« und wird abgewiesen. Der zweite sagt überhaupt nichts, tritt vermutlich mit sehnsuchtsvollen Augen an ihr Bett, auch er wird abgewiesen. Der dritte geht zu ihrem Bett und stimmt eine Lobeshymne auf ihre Schönheit an, auch er hat keine Chance.

 

Dann erhebt sich Dermot und geht mit dem Gedanken zu ihrem Bett: »Wenn sie einen von uns gemeint hat, kann nur ich es sein. Vielleicht meint sie mich?« Und er bekommt von ihr den Kuss, dieses erotische Mal, dass ihn anschließt an die Energie der Liebe und des Herzens.

 

Diese Bereitschaft, sich bedingungslos dem Abenteuer Liebe auszusetzen, hat Taile nicht. Er ist ein Mann der Macht, nicht des Vertrauens. Nun ist prinzipiell die Welt der Zauberer und Hexen eine Welt der Macht. Tailes Macht ist allerdings allein schwarze Magie. Er setzt seine Zauberkunst ein, um selbst zu profitieren, eigennützig und manipulativ.

 

Diese Macht schafft Abhängigkeit und ist keine Basis für eine Liebesbeziehung. Diese Macht lässt keine Gleichwertigkeit und Freiheit zu. Diese Macht ist gepaart mit dem Misstrauen, das sagt: »Wenn ich meinen Griff lockere, wenn ich den anderen loslasse, verliere ich ihn für immer. Wenn ich mich selbst fallen lasse, Kontrolle verliere, dann tut sich ein schwarzes Loch auf, niemand fängt mich auf.«

 

Wenn ich dieses Urmisstrauen in mir trage, werde ich entweder – wie Taile am Anfang – gleich alleine bleiben, denn dann kann mich niemand verlassen oder fallen lassen, oder ich werde versuchen, den anderen zu vereinnahmen, zu kontrollieren. Dann werde ich – symbolisch gesehen – zum »Menschenfresser«. Der entwicklungsgeschichtliche Hintergrund ist in der Regel eine tiefe Verletzung des inneren Kindes.

 

Die Anfangsbeziehung am Königshof in Pankatra scheint noch ohne Probleme zu sein, das »Arrangement« scheint zu stimmen. Die Schöne hat keine Ahnung, mit wem sie da eigentlich zusammen ist. Der König ohne Königin kapiert sowieso nichts oder ist nicht interessiert.

 

Aber die Lüge lässt sich nicht aufrechterhalten. Auf dem Heimweg ins Reich von Taile, das heißt, je mehr sie sich ihm annähert, merkt die Schöne, mit wem sie es wirklich zu tun hat. Dass sie das nicht früher gespürt hat, hat mit ihrer Mutterlosigkeit zu tun. Der weibliche Instinkt, der sich nicht von der Persona täuschen lässt, fehlt ganz einfach.

 

Im Reich dieses Vater-Königs ist Persona, ist Maske anscheinend die Regel. Frauen, die in einer entsprechenden Familie aufwachsen, die derart auf Äußerlichkeiten und nicht auf die innere Welt bezogen ist, werden häufig das Opfer eines Taile. Dann werden sie zur Ware, werden wie ein Ding in das Boot des Zauberers gelegt und abtransportiert, landen im Beziehungsgefängnis.

 

Jetzt allerdings gelangt die Geschichte an den Umkehrpunkt. Die rettende Energie tritt in Gestalt der Schwester des Zauberers auf den Plan. Allein die Tatsache, dass sie die Schwester eines Zauberers ist, lässt vermuten, dass sie selbst etwas von Zauberei, sprich vom Hexenwissen, versteht. Frauen, die sich in der Macht eines Taile-Mannes wiederfinden, brauchen die Kraft der Hexenschwester, um sich weiter zu entwickeln, um sich zu befreien. Diese kann von außen kommen, etwa in der Gestalt einer starken, autonomen, kriegerischen Freundin, die sich ihrer Eigenmacht und Zauberkraft bewusst ist.

 

Auf der anderen Seite ist solch eine hilfreiche Schwester natürlich auch ein Spiegel für die innere schlafende Hexenenergie, für die bisher ungenützten Möglichkeiten in Richtung Autonomie, Eigenmacht und Stärke. Es gibt immer noch so viele Taile-Männer, die Schwesternfreundschaften boykottieren, ihre Frau ganz für sich allein haben, sie »fressen« wollen. Oft bedarf es wie in dieser Geschichte einer extremen Notsituation, wo es (zumindest symbolisch) um Leben oder Tod geht, damit eine Frau das Klopfsignal der inneren/äußeren Hexe hört und darauf antwortet.

 

Durch die Begegnung mit der Hexenschwester ist die Schöne frei geworden, sie ist zur ganzen Frau geworden. Wie sehr sie sich verändert hat, spürt man bei der Darstellung ihrer Flucht. Sie spricht mit den Bäumen und Büschen, hat also eine Erd- und Naturnähe gefunden, die am Anfang nicht zu erahnen war. In gewisser Hinsicht hat sie den Bezug zur Mutter wiederhergestellt, in dem Fall zur Großen Mutter, zu Mutter Erde.

 

Die wieder gewonnene Natürlichkeit und ursprüngliche Wildheit zeigt sich auch in der Szene, als sie auf den kleinen Busch pisst. Welch ein Gegensatz zu der vornehmen Lady, als die sie am Anfang der Geschichte gezeichnet wird! Übrigens ist es sehr häufig im Märchen, dass der fehlende Kontakt zur leiblichen Mutter, das Defizit im Mutterreich dadurch geheilt wird, dass man zur Großen Mutter geht, zu Mutter Erde, zu Mutter Natur, die immer für einen da ist, einen immer nährt. Auf der Basis dieses neu gewonnenen Vertrauens kann später das Abenteuer Beziehung wieder gewagt werden.

 

In diesem Märchen geschieht das nicht. Die Schöne heiratet am Schluss nicht noch einmal, was man auch verstehen kann nach dieser Erfahrung mit Taile. Aber zumindest kehrt sie mit einem neuen Erfahrungsschatz an den Königshof zurück, ist mit Sicherheit eine andere als am Anfang der Geschichte. Was sie mit diesem neu gewonnenen Erfahrungsschatz anfangen wird, wer weiß es?

 

Auch diese Geschichte müsste weitergeschrieben werden, aber zumindest hat die Schöne von Taman es im Gegensatz zu Dewi Ngalima geschafft, sich mit ihrer Hexenseite anzufreunden, eine ganze Frau zu werden. Und als diese wird sie sich mit einer anderen Haltung der Herausforderung einer neuen Begegnung stellen können. Und – sie erzählt überall ihre Geschichte! Vielleicht kann sie dadurch nun selbst eine gute Schwester für andere Frauen werden, die sich in den Klauen eines Taile-Mannes befinden, eine verwundete Heilerin? Wer weiß, vielleicht wird sogar ihr Vater zuhören und nachdenklich werden.

 

Und Taile? Er wird von zwei alten Frauen, die man wohl als Rachegöttinnen verstehen kann, geblendet und geht elendig zugrunde. Was bedeutet das? Zunächst einmal hat die Blendung auch positive Aspekte. Man denke an die blinden Seher, die es in vielen Geschichten gibt, etwa an Teiresias in der griechischen Mythologie. Wenn sich die äußeren Augen schließen, wird die Möglichkeit des inneren Sehens geboren, der Kontakt zum Unbewussten.

 

Und genau das ist es ja, was sowohl Taile als auch König Schautelur, den männlichen Hauptdarstellern in dieser Geschichte, fehlt. Andererseits ist mit dem Verlust des Augenlichts natürlich eine Ohnmachtserfahrung verbunden, das Erlebnis der Aussichtslosigkeit. Aber eine einseitig machtorientierte Haltung wie die Tailes fordert eine solche Schicksalserfahrung geradezu heraus (siehe auch die folgende Geschichte „Vom Fürsten, der zum Dämon wurde“).

 

Manches erinnert an das Grimmsche Märchen „Vom Königssohn, der sich vor nichts fürchtet“. Dieser Königssohn geht durch die Welt mit der Haltung: »Ich kann alles, wozu ich Lust habe!« Auch er wird geblendet, als er aber später durch das Wasser des Lebens sein Augenlicht wiederbekommt, der verwünschten Prinzessin begegnet und diese ihn fragt: »Willst du mich erlösen?«, da antwortet er interessanterweise: »Mit Gottes Hilfe will ich es versuchen!«

 

Also ist diese Dunkelphase für den Königssohn geradezu heilsam gewesen, er hat eine neue Sichtweise bekommen. Er handelt nicht mehr aus dem Ego heraus: Ich kann. Ich will. Er handelt jetzt in Einklang mit seinem Selbst, der transpersonalen, göttlichen Kraft. »Mit Gottes Hilfe will ich es versuchen!« könnte man auch übersetzen mit: »Dein Wille geschehe!« Um diese Lektion zu lernen, brauchen wir, gerade wenn wir wie Taile auf dem Machttrip sind, allerdings oft solch eine schmerzhafte Wandlungserfahrung.

 

Dass Taile am Ende der Geschichte stirbt, könnte man auch übersetzen damit, dass die »Taile-Haltung« am Ende ist, zugrunde gehen muss. So sehr er am Anfang der Geschichte – als er noch verliebt war und sich auf die Suche nach der Prinzessin gemacht hat – durchaus auch positive Züge trug, so einseitig destruktiv wird er später dargestellt. Diese Einseitigkeit hat kein Mitgefühl verdient. Sie will, sie muss sterben und damit geht es ihm genauso wie seinem Seelenbruder (bzw. seelenlosen Bruder) im deutschen Märchen von Blaubart.