Podmore’s Thatch. Ein Vogel sang, und sein Zwitschern durchdrang die Stille des grauenden Morgens. Das Feuer war ausgegangen, aber die Lampe über den Muschelsuchern brannte noch, wie sie die ganze Nacht gebrannt hatte. Penelope hatte nicht geschlafen, aber nun bewegte sie sich wie jemand, der aus einem langen und ungestörten Traum erwacht ist. Sie streckte unter der dicken Wolldecke die Beine aus, reckte die Arme und rieb sich die Augen. Sie schaute sich um, und in dem gedämpften Lichtschein sah sie ihr Wohnzimmer, die beruhigende Sicherheit ihrer persönlichen Besitztümer, Blumen, Pflanzen, Sekretär, Bilder, das Fenster, das sich auf ihren Garten öffnete. Sie sah die unteren Äste der Kastanie, die Knospen, die sich noch nicht zu Blättern geöffnet hatten. Sie hatte nicht geschlafen, aber das lange Wachen hatte sie nicht erschöpft, im Gegenteil, sie fühlte sich durchdrungen von einer Zufriedenheit, einer inneren Kraft, die vielleicht von der seltenen Lust der uneingeschränkten Erinnerung herrührte.

Nun war sie am Ende angelangt. Das Spiel war vorbei. Die Illusion eines Theaters drängte sich auf. Die Rampenlichter erloschen allmählich, und in dem ersterbenden Licht wandten die Schauspieler sich um und traten von der Bühne ab. Doris und Ernie, so jung, wie sie nie wieder sein würden. Und die alten Penberths, die Trubshots und die Watson-Grants. Und Papa. Alle tot. Längst tot. Zuerst Richard. Sie erinnerte sich an sein Lächeln und wurde sich bewußt, daß die Zeit, die große Heilerin, endlich ihr Werk vollbracht hatte und daß das Antlitz der Liebe nun, nach all den Jahren, nicht mehr quälenden Kummer und Bitterkeit heraufbeschwor. Statt dessen war sie einfach dankbar. Denn wie unsäglich leer wäre die Vergangenheit, wenn sie sich nicht an ihn erinnern könnte. Besser, man hat geliebt und verloren, sagte sie sich, als gar nicht geliebt zu haben. Sie wußte, daß es so war.

Die vergoldete Kutschenuhr auf dem Kaminsims schlug sechs. Die Nacht war vorbei. Es war Morgen. Schon wieder Donnerstag. Was geschah nur mit den Tagen? Während sie versuchte, dieses Rätsel zu entwirren, fiel ihr ein, daß zwei Wochen verflogen waren, seit Roy Brookner da gewesen war und die Tafelbilder und Skizzen mitgenommen hatte. Und sie hatte immer noch nichts von ihm gehört.

Sie hatte auch noch nichts von Noel und Nancy gehört. Nach jenem Streit, der immer noch zwischen ihnen gärte, waren sie einfach fortgefahren und hatten sich nicht wieder gerührt, ihre Mutter fürs erste von der Liste gestrichen. Es machte ihr längst nicht so viel aus, wie ihre Kinder wahrscheinlich glaubten. Irgendwann würden sie bestimmt wieder ankommen, nicht, um sich zu entschuldigen, sondern um so weiterzumachen wie zuvor, als ob nichts Unangenehmes geschehen wäre. Sie hatte bis dahin zuviel zu bedenken und zu tun, und sie wollte keine Energie verschwenden, indem sie über beleidigte Kinder und verletzte Gefühle nachgrübelte. Es gab Dinge, an die zu denken sich mehr lohnte, und viel zu viel Arbeit. Das Haus und der Garten hatten wie üblich den größten Teil ihrer Aufmerksamkeit beansprucht. Jetzt, im April, war kein Tag wie der andere. Grauer Himmel, stumpfgraue Blätter, heftige Regengüsse und dann wieder strahlender Sonnenschein. Die Forsythien blühten goldgelb, und die Obstwiese verwandelte sich in einen Teppich von Narzissen, Veilchen und Primeln.

Donnerstag. Nachher würde Danus kommen. Und vielleicht würde Roy Brookner heute aus London anrufen. Während sie diese Möglichkeit erwog, gewann sie immer mehr die Überzeugung, daß er heute anrufen würde. Es war mehr als ein unbestimmtes Gefühl. Stärker als das. Eine Vorahnung.

Der einsame Vogel hatte inzwischen Gesellschaft bekommen, und nun zwitscherten draußen im Garten wenigstens zehn oder zwölf gefiederte Gesellen. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie stand auf, knipste die Lampe aus und ging nach oben, um sich ein sehr warmes und sehr üppiges Bad einlaufen zu lassen.

Ihre Vorahnung erwies sich als richtig, und das Telefon klingelte mitten beim Lunch.

Der schöne Morgen war von einem grauen, verhangenen und regnerischen Tag abgelöst worden, der nicht dazu verleitete, draußen ein Picknick zu machen oder auch nur im Wintergarten zu essen. So saßen sie - sie, Antonia und Danus - am Küchentisch vor einer gewaltigen Menge Spaghetti bolognese und einer Platte mit Gemüserohkost. Wegen des schlechten Wetters hatte Danus den Vormittag damit verbracht, die Garage auszuräumen. Penelope war zum Sekretär gegangen, um eine Telefonnummer herauszusuchen, und hatte sich, von dem Klappern draußen abgelenkt, einfach hingesetzt und Ordnung geschaffen, seit langem fällige Rechnungen bezahlt, alte Briefe noch einmal gelesen und eine Reihe von Jahresberichten fortgeworfen, die sie aus Desinteresse nicht einmal aus dem Umschlag genommen hatte. Antonia hatte das Essen gemacht. »Du bist nicht nur eine ausgezeichnete Gärtnergehilfin, sondern auch eine erstklassige Köchin«, sagte Danus zu ihr, während er Parmesankäse über seine Spaghetti rieb. Das Telefon klingelte. Antonia sagte: »Soll ich abnehmen?«

»Nein.« Penelope legte die Gabel hin. »Wahrscheinlich ist es sowieso für mich.« Sie benutzte nicht das Telefon in der Küche, sondern ging ins Wohnzimmer und machte die Türen hinter sich zu. »Hallo.«

»Mrs. Keeling?«

»Ja, am Apparat.«

» Hier Roy Brookner.«

»Guten Tag, Mr. Brookner.«

»Entschuldigen Sie, daß ich mich erst heute wieder melde, Mrs. Keeling. Mr. Ardway hat Freunde in Gstaad besucht und ist erst vor ein paar Tagen nach Genf zurückgekommen, wo er im Hotel meinen Brief vorfand. Er ist heute morgen in Heathrow gelandet und sitzt jetzt hier in meinem Büro. Ich habe ihm die Tafelbilder gezeigt und ihm gesagt, daß sie bereit seien, sie privat zu verkaufen, und er ist sehr froh über diese Gelegenheit. Er hat fünfzigtausend für jedes geboten. Das sind hunderttausend für die beiden. Pfund natürlich, nicht Dollar. Wäre das für Sie akzeptabel, oder würden Sie lieber ein paar Tage darüber nachdenken? Er würde gern morgen nach New York zurückfliegen, aber er ist bereit, noch ein wenig zu warten, wenn Sie das Gefühl haben, daß Sie noch etwas Zeit brauchen, um zu einer Vereinbarung zu kommen. Meine persönliche Meinung ist, daß es ein sehr faires Angebot ist, aber wenn. Mrs. Keeling? Sind Sie noch da?«

»Ja.«

»Entschuldigung. Ich dachte, wir wären vielleicht unterbrochen worden.«

»Nein, ich bin noch da.«

»Möchten Sie etwas zu dem bemerken, was ich gesagt habe?«

»Nein.«

»Wäre die Summe, die ich genannt habe, annehmbar für Sie?«

»Ja. Unbedingt.«

»Möchten Sie, daß ich den Verkauf perfekt mache?«

»Ja. Bitte.«

»Ich brauche Ihnen kaum zu sagen, daß Mr. Ardway sehr erfreut ist.«

»Ich bin froh darüber.«

»Ich melde mich wieder. Und die Summe wird natürlich sofort bezahlt, wenn der Vertrag unterschrieben ist.«

»Danke, Mr. Brookner.«

»Es ist vielleicht nicht der geeignete Augenblick, um davon zu sprechen, aber Sie werden natürlich einen erheblichen Betrag an Steuern zahlen müssen. Wissen Sie das?«

»Ja, natürlich.«

»Haben Sie einen Steuerberater oder irgend jemanden, der sich um Ihre geschäftlichen Dinge kümmert?«

»Ja, Mr. Enderby von Enderby, Looseby und Thring. Die Anwaltskanzlei in der Gray’s Inn Road. Mr. Enderby hat sich um alles gekümmert, als ich das Haus in der Oakley Street verkauft und dieses hier gekauft habe.«

»In dem Fall sollten Sie ihn vielleicht anrufen und ihm sagen, worum es geht.«

»Ja. Ja, das werde ich tun.«

Eine Pause. Sie fragte sich, ob er nun auflegen würde. »Mrs. Keeling?«

»Ja, Mr. Brookner?«

»Ist alles in Ordnung?«

»Warum?«

»Ihre Stimme klingt ein wenig. schwach?«

»Das kommt daher, daß es mir schwerfällt, anders zu sprechen.«

»Sind Sie wirklich zufrieden mit dem Angebot?«

»Ja. Sehr.«

»Dann sage ich einstweilen auf Wiedersehen, Mrs. Keeling.«

»Nein, Mr. Brookner, warten Sie. Ich hätte noch etwas.«

»Ja?«

»Es geht um Die Muschelsucher.«

»Ja?« Sie sagte ihm, was er für sie tun solle.

Sie legte den Hörer sehr langsam wieder auf. Sie saß an dem Sekretär, den sie erst vorhin aufgeräumt hatte, und blieb noch einige Augenblicke dort sitzen. Es war sehr ruhig. Aus der Küche konnte sie leises Stimmengemurmel hören. Antonia und Danus schienen sich immerfort etwas zu sagen zu haben.

Sie ging zurück und fand sie noch am Tisch. Sie hatten ihre Spaghetti gegessen, wandten sich dem Obst und dem Käse zu, und Antonia machte Kaffee. Ihr eigener Teller war fort.

»Ich hab deinen Teller in den Backofen gestellt, um ihn warm zu halten«, sagte Antonia und stand auf, um ihn zu holen, aber Penelope hinderte sie mit einer Handbewegung daran. »Nein, laß es, ich möchte nichts mehr essen.«

»Aber eine Tasse Kaffee trinkst du doch?«

»Nein. Auch keinen Kaffee.« Sie setzte sich auf ihren Stuhl und stützte die verschränkten Arme auf die Tischplatte. Sie lächelte, weil sie nicht umhin konnte, zu lächeln, weil sie beide liebte und weil sie im Begriff war, ihnen das zu schenken, was sie als das kostbarste Geschenk der Welt betrachtete. Ein Geschenk, das sie jedem ihrer drei Kinder angeboten hatte und das sie alle, einer nach dem anderen, abgelehnt hatten.

»Ich möchte euch einen Vorschlag machen«, sagte sie. »Möchtet ihr mit mir nach Cornwall fahren und Ostern dort verbringen? Zusammen. Nur wir drei.«

Podmore’s Thatch, den 17. April 1984

Temple Pudley

Gloucestershire

Meine liebe Olivia!

Ich schreibe Dir, um Dir einige Dinge zu berichten, die in letzter Zeit geschehen sind oder bald geschehen werden. An jenem Wochenende, als Noel mit Antonia hierher kam und den Dachboden ausräumte und als Nancy zum Mittagessen kam, hatten wir einen sehr häßlichen Streit, von dem sie dir sicher nichts gesagt haben. Es ging natürlich wieder mal um Geld und darum, daß sie fanden, ich solle die Bilder meines Vaters möglichst schnell verkaufen, solange noch gute Preise bezahlt würden. Sie versicherten, daß sie dabei nur mein Wohl im Auge hätten, aber ich kenne sie beide zu gut. Sie sind es, die das Geld brauchen.

Als sie fort waren, habe ich über alles nachgedacht, und am nächsten Morgen habe ich Mr. Roy Brookner angerufen, einen Experten von Boothby’s. Er kam her, sah sich die Tafelbilder an und nahm sie gleich mit. Er hat einen Privatkäufer gefunden, der sie haben möchte, einen Amerikaner. Der hat mir hunderttausend Pfund für die beiden Bilder geboten, und ich habe angenommen.

Es gibt viele Dinge, für die ich diesen unerwarteten Geldregen ausgeben könnte, aber als erstes werde ich das tun, was ich schon seit langer Zeit tun wollte, und nach Cornwall fahren. Da weder Du noch Nancy oder Noel genug Zeit zu haben glaubt oder keine Lust habt mitzukommen, habe ich Antonia und Danus eingeladen. Danus zögerte zuerst, die Einladung anzunehmen. Sie kam für die beiden buchstäblich aus heiterem Himmel, und er war verlegen und dachte vielleicht, ich hätte irgendwie Mitleid mit ihm und spielte die wohlhabende Gönnerin, die beschlossen hat, ihrem armen Gärtner eine Freude zu machen. Ich glaube, er ist ein sehr stolzer junger Mann. Schließlich konnte ich ihn aber davon überzeugen, daß er uns einen Gefallen täte, da wir einen Mann brauchten, der mit dem Gepäck, den Trägern und den Oberkellnern fertig wird. Zuletzt erklärte er sich bereit, mit seinem Chef zu reden und zu sehen, ob er eine Woche Urlaub bekommen könnte. Antonia und ich werden uns am Steuer abwechseln. Wir werden nicht bei Doris wohnen, da sie in ihrem kleinen Haus keine drei Gäste unterbringen kann, ich habe Zimmer im Sands Hotel bestellt, und wir werden über Ostern dort sein. Ich habe mich für das Sands entschieden, weil ich es als unprätentiös und gemütlich in Erinnerung habe. Als ich klein war, haben dort in den Sommerferien immer Familien aus London gewohnt. Sie kamen jedes Jahr, und sie brachten ihre Kinder, ihren Chauffeur, ihr Kindermädchen und ihren Hund mit, die Direktion veranstaltete jeden Sommer ein Tennisturnier, und am Abend gab es eine große Party, bei der die Erwachsenen in Dinner Jacketts und Ballkleidern Foxtrott tanzten, und die Kinder spielten Sir Roger de Coverley und bekamen Luftballons. Im Krieg wurde es dann in ein Lazarett verwandelt und war voll von armen verwundeten Jungs in roten Wolldecken, und hübsche junge Lazaretthelferinnen mit weißen Hauben brachten ihnen bei, wie man Körbe flicht.

Als ich Danus aber sagte, wo wir wohnen würden, blickte er ein bißchen überrascht drein. Das Sands hat sich anscheinend zu einem Luxushotel gemausert, und ich glaube, er sorgte sich, auf seine sehr nette und zurückhaltende Art, um die Kosten. Mir ist es natürlich ganz gleich, was es kostet. Dies ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich diesen Satz zu Papier gebracht habe. Ich habe ein sehr sonderbares Gefühl dabei, und ich komme mir vor, als wäre ich auf einmal ein anderer Mensch. Ich habe aber nichts dagegen und bin aufgeregt wie ein Kind. Antonia und ich sind gestern nach Cheltenham gefahren und haben eingekauft. Die neue Penelope hat gesiegt, und Du hättest Deine sparsame Mutter nicht wiedererkannt, aber ich glaube, Du wärst einverstanden gewesen. Wir steigerten uns in einen richtigen Kaufrausch hinein. Kleider für Antonia, eine wunderschöne cremefarbene Seidenbluse und Jeans, Baumwollpullis, gelbes Ölzeug und vier Paar Schuhe. Dann verschwand sie in einem Schönheitssalon, um ihren Pony schneiden zu lassen, und ich zog allein weiter und gab eine Menge Geld für herrlich überflüssige Dinge aus. Segeltuchschuhe, Puder, eine Riesenflasche Parfüm. Filme und Gesichtscreme und einen veilchenfarbenen Kaschmirpullover. Dann kaufte ich noch eine Thermosflasche und eine große karierte Wolldecke (für Picknicks) und einen Stoß Taschenbücher, um etwas zu schmökern zu haben (darunter Fiesta - es ist Jahre her, seit ich Hemingway gelesen habe). Außerdem noch ein Buch über heimische Vögel und ein anderes mit vielen schönen Karten. Als die Kauforgie zu Ende war, ging ich zur Bank, und dann leistete ich mir eine Tasse Kaffee und holte Antonia ab. Sie hatte sich nicht nur die Haare schneiden, sondern auch die Wimpern färben lassen. Sie sah ganz anders aus als vorher. Zuerst war sie ein bißchen verlegen, aber inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, und manchmal ertappe ich sie dabei, wie sie vor dem Spiegel steht und sich bewundernd betrachtet. Ich bin lange Zeit nicht mehr so rundum glücklich gewesen. Morgen kommt Mrs. Plackett, um sauberzumachen und das Haus abzuschließen, nachdem wir abgefahren sind. Wir kommen Mittwoch, den 25. zurück.

Noch etwas. Die Muschelsucher sind fort. Ich habe sie zum Gedenken an meinen Vater dem Museum in Porthkerris gestiftet, das Papa mit gegründet hat. Es klingt merkwürdig, aber ich brauche sie auf einmal nicht mehr, und ich möchte gern, daß andere Leute - ganz normale Leute - auch die Freude und Begeisterung empfinden können, die sie mir immer geschenkt haben. Mr. Brookner hat den Transport nach Cornwall arrangiert, und dann kam prompt ein Lieferwagen, und sie wurden abgeholt. Die leere Stelle über dem Kamin fällt sehr auf, aber ich werde irgendwann etwas anderes dafür finden. Inzwischen freue ich mich schon darauf, sie in ihrem neuen Heim hängen zu sehen, wo alle sie bewundern können. Ich habe Noel und Nancy all das nicht geschrieben. Sie werden es früher oder später ohnehin erfahren und wahrscheinlich einen Schlag bekommen und sehr ärgerlich auf mich sein, aber ich kann nichts daran ändern. Ich habe ihnen alles gegeben, was ich konnte, und sie wollen immer noch mehr. Vielleicht werden sie jetzt aufhören, mir in den Ohren zu liegen, und endlich ihr eigenes Leben leben. Aber Du wirst mich verstehen, glaube ich.

Alles Liebe, wie immer, Mama

Nancy war nicht recht mit sich zufrieden. Der Grund war, daß sie sich bei ihrer Mutter seit jenem verhängnisvollen Sonntag nicht mehr gemeldet hatte, seit jener schrecklichen Auseinandersetzung der Bilder wegen, in deren Verlauf Penelope ihr und Noel ihre Vorwürfe und ihre Meinung ins Gesicht geschleudert und Dinge gesagt hatte, die im übrigen unverantwortlich und skandalös waren. Nicht, daß sie Schuldgefühle hatte. Im Gegenteil, sie war zutiefst verletzt gewesen. Mutter hatte ihr Sachen an den Kopf geworfen, die nie wieder rückgängig gemacht werden konnten. Und sie hatte all die Tage vergehen lassen, ohne anzurufen, weil sie erwartete, daß Penelope den ersten Schritt tun würde. Daß sie anrief, vielleicht nicht, um sich zu entschuldigen, aber wenigstens, um zu plaudern, sich nach den Kindern zu erkundigen, vielleicht ein Treffen vorzuschlagen. Um zu signalisieren, daß alles vergessen war und daß die Beziehung sich wieder normalisiert hatte.

Aber es war nicht geschehen. Kein Anruf. Zuerst blieb Nancy eingeschnappt und pflegte ihren Groll. Sie redete sich ein, sie sei in Ungnade gefallen, und konnte es nicht ertragen. Sie hatte schließlich nichts Unrechtes getan. Sie hatte nur aus Sorge um ihr aller Wohl den Mund aufgetan.

Dann fing sie jedoch an, sich Sorgen zu machen. Es sah ihrer Mutter gar nicht ähnlich, lange zu schmollen. War es möglich, daß es ihr nicht gut ging? Sie hatte sich furchtbar aufgeregt, und das konnte für eine ältere Frau, die gerade einen Herzanfall überstanden hatte, einfach nicht gut sein. Hatte es Folgen gehabt? Sie zitterte bei dem Gedanken und versuchte ihre Angst zu verdrängen. Bestimmt nicht. Antonia hätte ihr bestimmt Bescheid gesagt. Sie war sehr jung und wahrscheinlich nicht verantwortungsbewußt, aber so gedankenlos konnte sie einfach nicht sein. Die Sorge nagte an ihr und ließ ihr keine Ruhe. Sie war gestern und vorgestern sogar mehr als einmal zum Telefon gegangen, um Podmore’s Thatch anzurufen, aber sie hätte jedesmal wieder aufgelegt, weil sie nicht wußte, was sie sagen sollte, und weil sie keinen Grund fand, anzurufen. Aber dann hatte sie eine glückliche Eingebung. Bald war Ostern. Sie würde Mutter und Antonia zum Mittagessen ins Alte Pfarrhaus einladen. Das bedeutete keinen Gesichtsverlust, und bei Lammbraten und jungen Kartoffeln würden sie sich wieder versöhnen.

Sie war gerade mit der nicht sehr anstrengenden Aufgabe beschäftigt, im Eßzimmer Staub zu wischen, als sie diesen glänzenden Einfall hatte. Sie legte Federwisch und Staubtuch hin und ging schnurstracks in die Küche, zum Wandtelefon. Sie wählte die Nummer und wartete verbindlich lächelnd, bereit und gewillt, dieses Lächeln in ihre Stimme einfließen zu lassen. Sie hörte, wie es läutete. Es wurde nicht abgenommen. Ihr Lächeln verschwand. Sie wartete sehr lange. Zuletzt hängte sie ein und hatte das Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein.

Sie rief um drei Uhr nachmittags wieder an, und um sechs Uhr noch einmal. Sie rief den Störungsdienst an und bat den Mann, die Leitung zu überprüfen. »Es klingelt ganz normal«, teilte er ihr mit. »Natürlich klingelt es. Ich hab den ganzen Tag zugehört, wie es klingelt. Es muß etwas nicht in Ordnung sein.«

»Sind Sie sicher, daß der Teilnehmer zu Haus ist?«

»Natürlich ist er zu Haus. Es ist meine Mutter. Sie ist immer zu Haus.«

»Wenn Sie einen Moment Geduld hätten. Ich prüfe es noch mal und ruf Sie dann wieder an.«

»Danke.«

Sie wartete. Er rief wieder an. Die Leitung sei in Ordnung. Anscheinend war Mutter einfach nicht da.

Inzwischen war ihre Sorge weitgehend von Ärger abgelöst worden. Sie rief Olivia in London an. »Olivia.«

»Hallo?«

»Ich bin’s, Nancy.«

»Ja, was ist.«

»Olivia, hör zu, ich hab versucht, Mutter zu erreichen, und in Podmore’s Thatch nimmt niemand ab. Hast du eine Ahnung, was passiert sein kann?«

»Natürlich nimmt niemand ab. Sie ist nach Cornwall gefahren.«

»Nach Cornwall?«

»Ja, über Ostern. Mit Antonia und Danus. Sie sind mit dem Auto gefahren.«

»Antonia und Danus?«

»Sei nicht so schockiert.« Olivias Stimme klang sehr amüsiert. »Warum sollte sie nicht? Sie wollte seit Monaten hinfahren, und da keiner von uns Zeit hatte, ist sie einfach mit ihnen gefahren.«

»Aber sie wohnen doch nicht alle bei Doris Penberth? Sie hat doch bestimmt nicht genug Platz.«

»O nein, nicht bei Doris. Sie wohnen im Sands.«

»Im Sands?«

»Also Nancy, hör um Gottes willen auf, alles zu wiederholen, was ich sage.«

»Aber das Sands ist Luxuskategorie. Eines der besten Hotels im ganzen Land. Es ist überall abgebildet und beschrieben. Es kostet ein Vermögen.«

»Hast du es noch nicht gehört? Mutter hat ein Vermögen. Sie hat die Tafelbilder für hunderttausend Pfund an einen amerikanischen Millionär verkauft.«

Nancy fragte sich, ob sie den Verstand verlieren oder in Ohnmacht fallen würde. Wahrscheinlich in Ohnmacht fallen. Sie konnte fühlen, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Ihre Knie zitterten. Sie langte nach einem Stuhl.

»Hunderttausend Pfund? Das ist unmöglich. Sie können doch nicht so viel wert sein. Nichts ist hunderttausend Pfund wert.«

»Nichts ist irgend etwas wert, wenn niemand da ist, der es haben will. Und dann der Seltenheitswert. Ich habe versucht, es dir zu erklären, als wir im L’Escargot gegessen haben. Bilder von Lawrence Stern kommen nur selten auf den Markt, und dieser Amerikaner, wer immer er ist, wollte die beiden Bilder wahrscheinlich mehr haben als irgend etwas auf der Welt. Und es war ihm egal, was er dafür zahlen mußte. Zum Glück für Mama. Ich hab mich wahnsinnig für sie gefreut.«

Aber Nancys Gedanken waren immer noch in Aufruhr. Hunderttausend Pfund. »Wann war das?« fragte sie endlich rauh. »Ich weiß nicht genau. Erst kürzlich.«

»Woher weißt du das denn?«

»Sie hat mir einen langen Brief geschrieben und alles erzählt. Auch über den Streit, den sie mit dir und Noel hatte. Ihr seid unmöglich. Ich habe euch wer weiß wie oft gesagt, daß ihr sie in Ruhe lassen sollt, aber ihr habt nicht auf mich gehört. Ihr habt sie immer weiter geplagt, bis sie es nicht mehr ertragen konnte. Ich nehme an, das ist der Grund, warum sie zuletzt beschlossen hat, die Bilder zu verkaufen. Wahrscheinlich hat sie begriffen, daß sie nur dann Ruhe vor euch haben würde.«

»Das ist unfair.«

»Nancy, hör auf, mir etwas vorzumachen, und hör auf, dir selbst etwas vorzumachen.«

»Sie ist wie Wachs in ihren Händen.«

»In wessen Händen?«

»Danus und Antonia. Du hättest ihr dieses Mädchen nie ins Haus schicken dürfen. Und ich traue auch diesem Danus nicht über den Weg.«

»Noel auch nicht.«

»Beunruhigt dich das nicht?«

»Kein bißchen. Ich habe großes Vertrauen zu Mamas Menschenkenntnis.«

»Und das viele Geld, das sie für sie ausgibt? In eben diesem Moment. Eine Luxussuite im Sands Hotel. Mit ihrem Gärtner!«

»Warum sollte sie ihr Geld nicht ausgeben, wie sie will? Es gehört ihr. Und warum sollte sie es nicht für sich und zwei junge Leute ausgeben, die sie nun mal mag? Ich sagte doch schon, sie hat uns alle gefragt, ob wir sie begleiten wollten, und keiner von uns hatte Zeit oder Lust. Wir hatten unsere Chance, und wir haben abgelehnt. Wir können niemandem Vorwürfe machen außer uns selbst.«

»Als sie mich einlud, hat sie kein Wort vom Sands Hotel gesagt. Nur von Doris Penberths Gästezimmer, mit Frühstück in der Küche.«

»Hast du deshalb nicht angenommen? Hattest du was gegen die einfache Umgebung? Wärst du mitgefahren, wenn sie mit dem Sands Hotel gewunken hätte, wie man einem Esel mit einer Karotte winkt?«

»Du hast kein Recht, so etwas zu sagen.«

»Ich habe jedes Recht. Ich bin deine Schwester, Gott weiß warum. Und es gibt noch etwas, was du wissen solltest. Mama ist nach Porthkerris gefahren, weil sie sich seit einer Ewigkeit danach sehnt, es wiederzusehen, aber sie ist auch hingefahren, um Die Muschelsucher zu sehen. Sie hat sie zur Erinnerung an ihren Vater dem kleinen Museum dort geschenkt, und sie möchte sie in ihrem neuen Heim besuchen.«

»Geschenkt?« Nancy glaubte einen Moment lang, sie hätte sich verhört oder aber ihre Schwester nicht richtig verstanden. »Du meinst, sie hat das Bild weggegeben?«

»Genau.«

»Aber es ist wahrscheinlich Tausende wert. Hunderttausende.«

»Ich bin sicher, daß alle Beteiligten das zu schätzen wissen.« Die Muschelsucher. Fort. Das Gefühl, daß ihr und ihrer Familie ein furchtbares Unrecht angetan worden war, ließ eine kalte Wut in ihr aufsteigen. »Sie hat uns immer erzählt, daß sie nicht ohne das Bild leben könne«, sagte sie bitter. »Daß es ein Teil ihres Leben sei.«

»So war es wohl auch. All die Jahre. Aber ich glaube, sie hat jetzt das Gefühl, daß sie es nicht mehr braucht. Sie möchte es allen zugänglich machen. Sie möchte, daß sich auch andere daran freuen.«

Olivia war offensichtlich auf Mutters Seite.

»Und was ist mit uns? Mit ihrer Familie? Mit ihren Enkelkindern? Und Noel? Weiß er es schon?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich glaube nicht. Ich hab ihn nicht mehr gesehen noch von ihm gehört, seit er Antonia nach Podmore’s Thatch gebracht hat.«

»Ich werde es ihm sagen.« Es klang wie eine Drohung. »Tu das«, sagte Olivia und legte auf.

Nancy knallte den Hörer auf die Gabel. Diese schreckliche Olivia. Diese furchtbare Person. Sie hob wieder ab und wählte mit zitternden Fingern Noels Nummer. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie zuletzt so außer sich gewesen war. »Noel Keeling.«

»Ich bin’s, Nancy.« Sie sprach grimmig, im vollen Bewußtsein ihrer Wichtigkeit. Als ob sie einen Familienrat einberiefe. »Hallo.« Es klang nicht sehr begeistert.

»Ich habe eben mit Olivia gesprochen. Ich hatte versucht, Mutter anzurufen, aber es nahm niemand ab, und deshalb rief ich Olivia an, um zu hören, ob sie weiß, was los ist. Sie weiß es, weil Mutter ihr einen langen Brief geschrieben hat. Olivia hat sie geschrieben, aber sie hat es nicht für nötig gehalten, sich mit dir oder mir in Verbindung zu setzen.«

»Ich weiß nicht, wovon zu redest.«

»Mutter ist nach Cornwall gefahren und hat Danus und Antonia mitgenommen.«

»Meine Güte.«

»Und sie wohnen im Sands Hotel.« Das weckte seine Aufmerksamkeit.

»Im Sands? Ich dachte, sie wollte bei Doris wohnen. Und wieso kann sie sich das Sands leisten? Es gehört zu den teuersten Luxusschuppen im Land.«

»Ich kann dir sagen, wieso. Sie hat die beiden Bilder oben im Flur verkauft. Für hunderttausend Pfund. Ohne mit jemandem von uns darüber zu sprechen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.

Hunderttausend Pfund, hast du gehört? Die sie allem Anschein nach zum Fenster rauswerfen will. Aber das ist noch nicht alles. Sie hat Die Muschelsucher verschenkt! Sie hat sie dem Museum in Porthkerris gestiftet, wenn dich das interessiert. Einfach so, und der Himmel weiß, was sie wert sein mögen. Ich glaube, sie muß den Verstand verloren haben. Ich glaube nicht, daß sie weiß, was sie tut.

Ich habe Olivia gesagt, was ich glaube. Daß diese beiden jungen Leute, Antonia und Danus, einen ganz schlechten Einfluß auf sie haben. Du weißt, so was kommt vor. Man liest in der Zeitung oft über solche Fälle. Es ist kriminell. Es müßte verboten sein. Es muß doch irgendwie möglich sein, es rückgängig zu machen. Noel.

Noel? Bist du noch da?«

»Ja.«

»Was sagst du dazu?«

Noel sagte »Scheiße« und legte auf.

The Sands Hotel, Donnerstag, 19. April

Porthkerris

Cornwall

Liebe Olivia!

So, hier sind wir nun, schon seit einem ganzen Tag. Ich kann dir nicht sagen, wie schön es ist. Das Wetter ist wie im Hochsommer, und überall blühen Blumen. Und die Palmen, und die kleinen Gassen mit Kopfsteinpflaster, und das Meer ist unglaublich blau. Ein schöneres, grüneres Blau als das Mittelmeer, und draußen am Horizont ein ganz tiefes Blau. Es ist wie Ibiza, nur noch schöner, weil alles so üppig und grün ist, und abends, wenn die Sonne untergegangen ist, ist alles feucht und riecht nach Erde und Blättern.

Die Fahrt hierher war herrlich. Ich bin fast den ganzen Weg gefahren, Penelope nur ein kleines Stück und Danus überhaupt nicht, weil er grundsätzlich nicht fährt. Als wir auf der Schnellstraße waren, ging es wie im Nu, und Deine Mutter konnte gar nicht fassen, wie schnell wir vorankamen. Als wir in Devon waren, nahmen wir die alte Landstraße über das Dartmoor und picknickten im Freien auf einem Granitfelsen, von wo aus wir einen herrlichen Blick in alle Richtungen hatten, und ein paar struppige kleine Ponys kamen an und freuten sich über die Brotkrusten, die wir ihnen hinwarfen.

Das Hotel ist himmlisch. Ich habe noch nie in einem Hotel gewohnt, und Penelope, glaube ich, auch nicht, so daß es eine ganz neue Erfahrung ist. Sie erzählte uns in einem fort, wie angenehm und gemütlich es sein würde, aber als wir endlich die Zufahrt hochführen, zwischen hohen Hortensienbüschen, sahen wir sofort, daß uns ein Leben im Luxus erwartete. Vor dem Eingang parkten ein Rolls-Royce und drei Mercedes, und ein livrierter Träger kümmerte sich um unser Gepäck. Danus nennt es unser Fluchtgepäck, weil die Koffer alle abgewetzt und schäbig sind.

Penelope tat sofort so, als wäre all das ganz selbstverständlich. Mit »all das« meine ich enorm dicke Teppiche, Swimmingpools, Jacuzzis, Fernseher am Bett, große Schalen mit frischem Obst und überall Blumen. Das Bettzeug und die Handtücher werden jeden Tag gewechselt. Unsere Zimmer liegen nebeneinander und haben einen kleinen Balkon, von dem aus man den Garten und das Meer sieht. Ab und zu treten wir hinaus und plaudern miteinander. Wie in Intimitäten von Noel Coward. Im Speisesaal kommt man sich vor wie im teuersten Luxusrestaurant von London. Ich werde sicher bald so tun, als hätte ich mein Leben lang nichts anderes als Austern, Hummer, frische Erdbeeren, dicke Cornwall-Sahne und Filetsteaks gegessen. Es ist sehr gut, daß wir Danus bei uns haben, weil er uns immer fachmännisch berät, was wir zu welchem Gericht trinken sollen. Er scheint sehr viel von Wein zu verstehen, aber er selbst trinkt nie. Warum, weiß ich nicht, ebensowenig weiß ich, warum er nicht Auto fährt.

Es gibt jede Menge zu tun. Heute morgen sind wir in den Ort hinuntergefahren, und die erste Station war Cam Cottage, wo Deine Mutter früher gelebt hat. Leider war es sehr traurig, weil es wie so viele andere Häuser hier in ein Hotel verwandelt worden ist, die alte Mauer ist abgerissen worden, und sie haben den größten Teil des Gartens planiert und einen Parkplatz daraus gemacht. Aber wir gingen zu dem Teil, der vom Garten übriggeblieben ist, und eine Dame vom Hotel brachte uns Kaffee. Penelope erzählte uns, wie es früher war und wie ihre Mutter all die schönen alten Rosen gepflanzt und die Glyzinie gesetzt hat, und dann erzählte sie, wie sie bei einem Luftangriff in London ums Leben gekommen ist. Ich hatte es nicht gewußt. Als ich es hörte, hätte ich fast geweint, aber ich tat es nicht, ich nahm sie einfach in die Arme, weil ihre Augen von Tränen glänzten und weil mir einfach nichts anderes einfiel. Danach fuhren wir in die Altstadt und gingen in das Museum, um uns Die Muschelsucher anzusehen. Das Museum ist nicht groß, aber es ist ein sehr schönes altes Haus mit weißgetünchten Wänden und einem riesigen Oberlicht nach Norden. Sie haben Die Muschelsucher an den besten Platz gehängt, und sie schwimmen förmlich in dem strahlend hellen und kalten Licht von Porthkerris, wo sie gemalt worden sind. An der Kasse saß eine ältere Dame. Ich glaube, sie konnte sich nicht an Penelope erinnern, aber sie wußte sehr wohl, wer sie war, und behandelte sie wie eine Königin. Es scheint überhaupt nicht mehr viele Leute zu geben, die Deine Mutter damals gekannt hat und an die sie sich erinnert. Doris ist natürlich die große Ausnahme. Sie will sie morgen nachmittag besuchen. Sie freut sich schon darauf und ist ganz aufgeregt. Und Sonnabend wollen wir in Richtung Land’s End fahren und an den Klippen von Penjizal ein Picknick machen. Das Hotel verkauft fertige Picknicks in hübschen bunten Schachteln, komplett mit Messer und Gabel, aber Penelope will nichts davon wissen, und so werden wir unterwegs irgendwo halten und frisches Brot, Butter, Pate, Tomaten und Obst und eine Flasche Wein kaufen. Wenn es so warm bleibt, werden Danus und ich bestimmt auch baden. Montag wollen Danus und ich dann zur Südküste nach Manaccan fahren, wo ein gewisser Everard Ashley eine Gärtnerei hat. Danus war mit ihm auf der Gartenbauschule, und er möchte sich die Gärtnerei ansehen und sich vielleicht ein paar Anregungen holen. Irgendwann will er einmal das gleiche machen, aber es ist schwierig, man braucht eine Menge Anfangskapital dafür, und er hat noch nichts. Wie dem auch sei, es ist immer gut, von anderen Leuten zu lernen, und außerdem wird es Spaß machen, dorthin zu fahren und einen anderen Teil dieser herrlichen Gegend zu sehen.

All dem wirst Du entnehmen, daß ich restlos glücklich bin. Ich hätte nicht geglaubt, daß ich so kurz nach Cosmos Tod wieder glücklich sein könnte. Hoffentlich ist es nicht unrecht. Aber ich glaube es nicht, denn ich habe das Gefühl, er hätte es gewollt. Vielen Dank für alles. Daß Du soviel Geduld hattest und daß Du Deine Mutter gefragt hast, ob ich nach Podmore’s Thatch kommen dürfte. Wenn Du das nicht für mich getan hättest, wäre ich nicht hier und lebte nicht wie im Paradies, zusammen mit den beiden Menschen, die ich auf der Welt am meisten mag. Außer Dir natürlich.

Viele liebe Grüße, Deine Antonia

Ihre Kinder, Nancy, Olivia und Noel, hatten - Penelope mußte es wider Willen zugeben - nur allzu recht gehabt. Porthkerris war in jeder Beziehung anders geworden. Cam Cottage war nicht das einzige Haus mit einem zubetonierten Garten, einem Hotelschild über dem Tor und gestreiften Sonnenschirmen auf der neu errichteten Terrasse. Das alte White Caps Hotel hatte ein paar scheußliche Anbauten bekommen und war in Ferienwohnungen aufgeteilt worden, und die Straße am Hafen, wo früher die Maler gewohnt und gearbeitet hatten, war nun ein Rummelplatz mit Spielhallen, Discos, Hamburger-Restaurants und Andenkenläden. Im Hafen selbst waren die meisten Fischerboote verschwunden. Es gab nur noch ein oder zwei, und an den anderen Anlegeplätzen waren Ausflugsboote vertäut, mit denen man für lächerlich hohe Preise aufs Meer fahren konnte, um die Seehunde zu sehen und zwischendurch ein paar Stunden Makrelen zu fischen.

Doch so anders war es erstaunlicherweise auch wieder nicht. Jetzt, im Frühling, war der Ort noch relativ leer, der erste große Touristenschub würde erst zu Pfingsten kommen. Man konnte in einer der malerischen Gassen stehenbleiben und sich ungestört umschauen, und auf dem Markt waren fast nur Einheimische zu sehen. Und nichts würde je die wunderbare blaue, seidig schimmernde Fläche der Bucht ändern oder die sanfte Rundung des Oberlands oder das Labyrinth der Straßen und Gänge mit den schiefergedeckten Häusern, die sich den Hang bis zum Wasser hinunterzogen. Die Möwen erfüllten immer noch die Luft mit ihren Schreien, es roch immer noch nach dem salzigen Wind und nach Liguster und Steinbrech, und unten in Downalong konnte man sich noch ebenso leicht verlaufen wie früher.

Penelope ging zu Fuß zum Ort, um Doris zu besuchen. Es war angenehm, einmal allein zu sein. Danus und Antonia waren die liebste und unterhaltsamste Gesellschaft, die sie sich vorstellen konnte, aber trotzdem begrüßte sie es, eine Weile für sich zu sein. Sie schritt in der warmen Nachmittagsluft durch den Garten des Hotels zur Straße oberhalb des Strandes, betrachtete die viktorianischen Häuser, die sie säumten, und ging in den Ort hinunter. Sie wollte irgendwo Blumen kaufen. Das Blumengeschäft, das sie in Erinnerung hatte, war jetzt eine Boutique, vollgestopft mit Kleidungsstücken, die ausgabewütige Touristen gern kaufen. Stretch-Tops in rosaroter Leuchtfarbe, überlange T-Shirts, die mit den Gesichtern von Pop-Stars bedruckt waren, und knallenge Jeans, deren bloßer Anblick weh tat. Endlich fand sie in der Gabelung zweier Gassen, dort, wo früher ein alter Schuhmacher mit einer Lederschürze gesessen hatte, der ihre Schuhe besohlte und für seine Arbeit zwei oder drei Pence berechnete, einen Blumenladen. Sie ging hinein und kaufte einen großen Strauß für Doris. Keine Anemonen oder Narzissen, sondern exotischere Blumen. Nelken und Iris und Tulpen und Freesien, einen ganzen Armvoll, in raschelndes hellblaues Seidenpapier gewickelt. Ein Stück weiter erblickte sie ein Spirituosengeschäft und kaufte für Ernie eine Flasche Whisky, The Famous Grouse. Mit ihren Einkäufen beladen, setzte sie ihren Weg zu den Gassen am Hafen fort, die so schmal waren, daß es keine Gehsteige gab. Steile Granitstufen führten direkt von der Fahrbahn zu den in freundlichen Farben lackierten Türen der kleinen weißen Häuser.

Das Haus der Penberths war mitten in diesem Labyrinth versteckt. Hier hatte Ernie mit seinen Eltern gewohnt, und diese Gassen waren Doris und sie in den Kriegswintern oft hinuntergegangen, um die alte Mrs. Penberth zu besuchen, Safrangebäck zu essen und starken Tee aus einer rosa Kanne zu trinken.

Während sie nun an all das zurückdachte, fand sie es sonderbar, daß sie so lange gebraucht hatte, um zu sehen, daß Ernie Doris in seiner schüchternen und schweigsamen Art den Hof gemacht hatte. Vielleicht war es doch nicht so sonderbar. Er war ein Mann, der wenig Worte machte, und seine Anwesenheit in Cam Cottage, wo er für drei arbeitete, ohne groß etwas zu sagen, wurde bald etwas Natürliches, das sie alle als selbstverständlich betrachteten. Oh, Ernie macht das schon, wurde eine stehende Redensart, die sie unweigerlich gebrauchten, wenn etwas wirklich Furchtbares zu tun war, wenn zum Beispiel ein Huhn geschlachtet werden mußte oder wenn die Dachrinnen verstopft waren. Er erledigte es immer. Niemand sah ihn jemals als Ehekandidaten, er gehörte einfach zur Familie, und er war anspruchslos, nörgelte nie, hatte immer gute Laune. Der Groschen fiel erst im Herbst 1944. Als Penelope eines Morgens die Küche betrat, tranken Doris und Ernie zusammen Tee. Sie saßen am Tisch, und zwischen ihnen stand ein blauweißer Krug mit prachtvollen Dahlien.

Sie betrachtete die Szene. »Ernie, ich hab gar nicht gewußt, daß du da bist.«

Er war verlegen. »Ich hab nur schnell reingeschaut.« Er schob seine Tasse fort und stand auf.

Sie sah auf die Blumen. Da Dahlien soviel Arbeit machten, pflanzten sie in Cam Cottage keine mehr. »Woher sind die denn?« Ernie schob seine Mütze nach hinten und kratzte sich den Kopf. »Mein Dad zieht sie auf seiner Parzelle. Ich hab ein paar mitgebracht. für euch.«

»Ich habe noch nie so schöne gesehen. Sie sind riesig.«

»Ja.« Ernie zog seine Mütze wieder vor und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich werde noch etwas Feuerholz hacken.« Er ging zur Tür. Doris sagte: »Vielen Dank für die Blumen.«

Er drehte sich um und nickte. »Der Tee war sehr gut«, sagte er. Er ging. Augenblicke später ertönte vom Hof hinter dem Haus das Geräusch von Holzhacken.

Penelope setzte sich an den Tisch. Sie betrachtete die Blumen. Dann sah sie zu Doris hinüber, die ihrem Blick auswich. Sie sagte: »Ich hab so ein komisches Gefühl, daß ich gestört habe.«

»Wieso?«

»Ich weiß nicht. Sag mir’s.«

»Da gibt’s nichts zu sagen.«

»Er hat die Blumen doch nicht uns mitgebracht, nicht wahr? Er hat sie dir mitgebracht.«

Doris warf den Kopf zurück. »Ist doch egal, wem er sie mitgebracht hat.«

Da dämmerte es Penelope, und sie konnte nicht fassen, daß sie es nicht schon vorher gemerkt hatte. »Doris, ich glaube, da spinnt sich was an.«

Doris wehrte sofort ab. »Mit Ernie Penberth? Du mußt dir schon was Besseres einfallen lassen.«

Aber Penelope ließ nicht locker. »Hat er je etwas zu dir gesagt?«

»Er redet doch nie viel.«

»Aber du magst ihn?«

»Ich habe nichts gegen ihn.«

Sie tat zu gleichgültig, um glaubwürdig zu wirken. Es lag etwas in der Luft. »Er macht dir den Hof!«

»Was?« Doris sprang auf und sammelte unter lautem Geklapper die Tassen und Untertassen zusammen. »Er würde nie in seinem Leben jemand den Hof machen.« Sie stellte das Geschirr auf das Abtropfbrett und drehte die Hähne auf. »Außerdem« - sie hob die Stimme, um das Rauschen zu übertönen - »sieht er ein bißchen mickrig aus.«

»Du würdest nie einen netteren...«

»Und ich habe nicht die Absicht, den Rest meiner Tage mit jemandem zu verbringen, der nicht mal so groß ist wie ich.«

»Daß er nicht wie Gary Cooper aussieht, ist kein Grund, die Nase hoch zu tragen. Und ich finde, daß er sehr gut aussieht. Ich mag seine schwarzen Haare und seine dunkelbraunen Augen.«

Doris drehte die Hähne zu, wandte sich um und lehnte sich mit verschränkten Armen ans Spülbecken. »Aber er ist stumm wie ein Fisch, nicht?«

»Wenn du immer in einem fort redest, hat er ja kaum die Möglichkeit, ein Wort zu sagen. Außerdem sprechen Taten mehr als Worte.« Sie dachte nach, erinnerte sich. »Und er tut dauernd irgend etwas für dich. Er spannt die Wäscheleine neu und bringt dir leckere Sachen, die sein Vater unter dem Ladentisch für seine Lieblingskunden reserviert hat.«

»Na und?« Doris runzelte mißtrauisch die Stirn. »Willst du mich etwa mit Ernie Penberth verkuppeln? Willst du mich vielleicht loswerden oder so?«

»Ich denke einfach an dein zukünftiges Glück«, sagte Penelope salbungsvoll.

»Red keinen Quatsch. Hör zu, an dem Tag, als wir hörten, daß Sophie tot war, habe ich mir geschworen, so lange hier zu bleiben, bis der verdammte Krieg vorbei ist. Und als Richard gefallen ist. Na ja, da war ich noch fester entschlossen als vorher. Ich weiß nicht, was du machen wirst, ich meine, ob du zu Ambrose zurückgehen wirst oder nicht, aber du mußt einen Entschluß fassen, und ich werde hierbleiben, um dir irgendwie dabei zu helfen, egal, was du beschließt. Und wenn du zu ihm zurückgehst, wer soll sich dann um deinen Vater kümmern? Ich werd’s dir sagen. Ich werde mich um ihn kümmern. Also bitte kein Wort mehr über Ernie Penberth, ja?«

Sie hielt Wort. Sie wollte Ernie nicht heiraten, weil sie Papa nicht allein lassen wollte. Erst als der alte Mann gestorben war, fühlte sie sich endlich berechtigt, an sich, ihre beiden Söhne und ihre eigene Zukunft zu denken. Sie traf ihre Entscheidung. Binnen zwei Monate war sie Mrs. Ernie Penberth geworden und verließ Carn Cottage für immer. Ernies Vater war kürzlich gestorben, und die alte Mrs. Penberth zog zu ihrer Schwester, so daß Doris und Ernie das Haus für sich hatten. Ernie übernahm das Gemüsegeschäft, und er nahm Doris’ Söhne wie seine eigenen an, aber er und Doris hatten nie eigene Kinder bekommen. Und nun. Penelope blieb stehen und sah in die Runde, um sich zu orientieren. Der Nordstrand war ganz in der Nähe. Sie spürte den Wind und konnte den salzigen Hauch riechen. Sie bog um die letzte Ecke und ging langsam die steil abfallende Gasse hinunter, an deren Ende das kleine weiße Haus stand, das durch einen schmalen, kopfsteingepflasterten Vorplatz von der Straße getrennt war. Wäsche flatterte an einer Leine, und ringsum standen Töpfe und andere Behälter mit blühenden Narzissen, Krokussen, blauen Hyazinthen und Kriechpflanzen. Sie ging über den kleinen Hof, duckte sich, um nicht an die Leine zu stoßen, und hob die Hand, um an die blau lackierte Haustür zu klopfen. Ehe sie es jedoch tun konnte, wurde die Tür geöffnet, und Doris stand vor ihr.

Doris. Proper und modisch angezogen, adrett und strahlend wie eh und je, nicht dicker und nicht dünner. Ihr kurzes, lockiges Haar war silbrig weiß, und sie hatte natürlich Falten im Gesicht bekommen, aber das Lächeln hatte sich kein bißchen verändert und die Stimme auch nicht.

»Ich hab auf dich gewartet. Ich hab dich vom Küchenfenster aus beobachtet.« Sie hätte erst heute aus Hackney kommen können. »Du hast schrecklich lange gebraucht. Ich habe seit vierzig Jahren darauf gewartet.« Doris. Frisch geschminkte Lippen und Ohrringe und eine tiefrote Strickjacke über einer weißen Rüschenbluse. »Um Gottes willen, bleib nicht da auf der Schwelle stehen, komm rein.«

Penelope ging hinein und fand sich in der winzigen Küche. Sie legte die Blumen auf den Tisch und stellte die Tüte mit der Whiskyflasche daneben, und Doris machte die Tür zu. Sie drehte sich um. Sie sahen sich an, lächelten verlegen, wußten nicht, was sie sagen sollten. Und dann wurde aus dem Lächeln ein Lachen, und sie fielen sich in die Arme und hielten sich umschlungen wie zwei Schulmädchen, die nach langen Ferien wieder vereint sind.

Immer noch lachend, immer noch wortlos lösten sie sich voneinander. Doris redete als erste. »Penelope, ich kann es nicht fassen«, sagte sie. »Ich dachte, ich würde dich vielleicht nicht wiedererkennen. Aber du bist noch genauso groß und schön wie früher. Ich hatte solche Angst, daß du dich verändert hättest, aber du bist kein bißchen.«

»Natürlich bin ich. Ich habe graue Haare und bin eine alte Frau.«

»Wenn du eine alte Frau bist, stehe ich mit einem Fuß im Grab. Ich gehe nämlich auf die Siebzig zu. Das sagt Ernie wenigstens immer, wenn ich zu übermütig werde.«

»Wo ist er?«

»Er dachte, wir würden vielleicht zuerst lieber ein bißchen allein sein. Sagte, so was könne er nicht aushalten. Er ist zu seinem Schrebergarten gegangen. Er ist sein ein und alles, seit er den Laden aufgegeben hat. Ich hab zu ihm gesagt, wenn man dir deine Karotten und weißen Rüben wegnimmt, kriegst du Entzugserscheinungen.« Sie stimmte ihr lautes, ansteckendes Lachen an. Penelope sagte: »Ich habe dir ein paar Blumen mitgebracht.«

»Sie sind wunderschön. Aber das war doch nicht nötig gewesen. Hör zu, ich stell sie schnell in eine Vase, und du gehst ins Wohnzimmer und machst es dir bequem. Ich hab schon Wasser aufgesetzt, ich dachte, du würdest eine Tasse Tee gebrauchen können.« Das Wohnzimmer grenzte unmittelbar an die Küche, und sie ging durch die offene Tür hinein. Es war wie ein Schritt in die Vergangenheit, noch genauso gemütlich und vollgestellt, wie sie es von ihren Besuchen bei der alten Mrs. Penberth her in Erinnerung hatte, und die Schätze der alten Dame waren immer noch da. Sie sah das Lüsterporzellan in der Vitrine, die Staffordshire-Hunde am Kamin, das schwere Sofa und die Sessel mit den spitzenumrandeten Lehnenschonern. Einiges hatte sich jedoch geändert. Der große Fernsehapparat war ebenso neu wie die buntgemusterten Chintzvorhänge, und über dem Kamin, dort, wo früher eine stark vorgrößerte Sepia-Aufnahme von Mrs. Penberths Bruder, einem im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten, den Ehrenplatz eingenommen hatte, hing nun Charles Rainiers Porträt von Sophie, das sie Doris nach der Beerdigung ihres Vaters geschenkt hatte. »Das kannst du mir doch nicht geben«, hatte Doris gesagt. »Warum nicht?«

»Das Bild von deiner Mutter?«

»Ich möchte, daß du es bekommst.«

»Aber warum ich?«

»Weil du Sophie genauso geliebt hast wie irgend jemand von uns.

Und du hast Papa auch geliebt und dich für mich um ihn gekümmert. Keine Tochter hätte mehr tun können.«

»Ich kann es nicht annehmen. Es ist zuviel.«

»Es ist nicht genug! Aber es ist alles, was ich dir geben kann.« Sie stand jetzt in der Mitte des Zimmers, betrachtete das Porträt und dachte, daß es selbst nach vierzig Jahren nichts von seinem Charme, seinem Zauber und seiner unbeschwerten Ausstrahlung verloren hatte. Sophie mit fünfundzwanzig Jahren, die etwas schräg stehenden Augen, das offene Lächeln und der Bubikopf, mit einem lässig um die sonnengebräunten Schultern geknoteten knallroten Seidentuch mit Fransen.

»Freust du dich, daß du es wiedersiehst?« fragte Doris. Penelope drehte sich um, als sie mit einer Vase mit dem hübsch arrangierten Blumenstrauß hereinkam und sie sorgsam in die Mitte eines kleinen Tisches stellte. »Ja. Ich hatte ganz vergessen, wie schön es ist.«

»Ich wette, du wünschst, du hättest es nicht fortgegeben.«

»Nein. Ich freue mich einfach, es wiederzusehen.«

»Hebt das ganze Zimmer, nicht? Es ist schon oft bewundert worden. Man hat mir sogar einmal einen Haufen Geld dafür geboten, aber ich wollte es nicht verkaufen. Ich hätte es für nichts auf der Welt hergegeben. Aber setzen wir uns doch, und dann mußt du erzählen, ehe der gute Ernie zurückkommt, ich habe tausend Fragen. Ich wünschte, du könntest bei uns wohnen, ich hab dich so oft eingeladen. Wohnst du wirklich im Sands, bei all den Millionären? Hast du im Lotto gewonnen oder was?«

Penelope berichtete von ihren neuen Umständen. Sie erzählte von der allmählichen, wunderbaren Neueinschätzung der Bilder ihres Vaters, von Roy Brookner und dem Angebot für die beiden Tafelbilder.

Doris konnte nur staunen. »Hunderttausend für die beiden kleinen Bilder! Ich hätte es nie geglaubt. O Penelope, ich freu mich so für dich!«

»Und ich habe Die Muschelsucher dem Museum von Porthkerris geschenkt.«

»Ich weiß. Ich habe es in unserer Zeitung gelesen, und dann bin ich mit Ernie hingegangen, und wir haben sie uns angesehen. Es war irgendwie komisch, das Bild dort zu sehen. Hat alle möglichen Erinnerungen zurückgebracht. Aber wirst du es nicht vermissen?«

»Ein bißchen, nehme ich an. Aber das Leben geht weiter. Wir werden alle älter. Es wird langsam Zeit, unser Haus in Ordnung zu bringen.«

»Das kannst du zweimal sagen. Und wo du sagst, das Leben geht weiter - was sagst du zu Porthkerris? Ich wette, du hast es kaum wiedererkannt. Wir wissen nie, was sie als nächstes tun werden, und in den ersten beiden Jahren nach dem Krieg konnten die Bauunternehmer leider machen, was sie wollten, und haben alles verschandelt. Sie haben das Atelier deines Vaters abgerissen und dafür Ferienwohnungen hingestellt, mit Blick auf den Nordstrand. Und dann hatten wir ein paar Jahre die Hippies da, ich kann dir sagen, es war nicht sehr appetitlich. Sie haben am Strand geschlafen und überall hingemacht, wo sie wollten. Ekelhaft.« Penelope lachte.

»Und das alte White Caps ist auch in Ferienwohnungen umgewandelt. Und was Cam Cottage betrifft. Hast du nicht geweint, als du es gesehen hast? Der schöne Garten deiner Mutter. Ich hätte dir schreiben sollen, um dich zu warnen, wie es jetzt hier aussieht.«

»Ich bin froh, daß du es nicht getan hast. Wie dem auch sei, es spielt keine Rolle. Ich weiß nicht, warum, aber irgendwie spielt es keine Rolle mehr.«

»Das sollte man meinen, wo du oben im Sands im Luxus wohnst! Weißt du noch, daß es im Krieg Lazarett war? Wir hätten es nicht freiwillig betreten, höchstens mit zwei gebrochenen Beinen.«

»Doris, ich muß dir was sagen. Ich wohne nicht nur deshalb im Sands, weil ich mir auf einmal reich vorkomme. Der Hauptgrund ist, daß ich mit zwei jungen Freunden hier bin, und ich wußte, daß du nicht genug Platz für uns drei haben würdest.«

»Ach so. Wer sind die beiden?«

»Das Mädchen heißt Antonia. Ihr Vater ist kürzlich gestorben, und sie wohnt vorübergehend bei mir. Und ein junger Mann, er heißt Danus. Er hilft mir in Gloucestershire im Garten. Du wirst sie nachher kennenlernen. Sie finden, es ist zuviel für eine alte Dame, den ganzen Hügel zu Fuß hinaufzugehen, und haben gesagt, sie würden nachher mit dem Wagen kommen und mich abholen.«

»Sehr schön. Aber ich wünschte, du hättest Nancy mitgebracht. Ich würde sie so gern wiedersehen. Und warum bist du nicht schon früher einmal gekommen? Es ist einfach unmöglich, daß wir vierzig Jahre in ein paar Stunden nachholen.«

Sie machten jedoch einen guten Anfang, stellten atemlos Fragen, beantworteten sie und ließen sich über Kinder und Enkel berichten.

»Clark hat ein Mädchen aus Bristol geheiratet, und sie haben zwei Kinder. Da, sie sind auf dem Foto auf dem Kamin, das ist Sandra und das ist Kevin. Sie ist ein sehr kluges kleines Mädchen. Und das sind die Kinder von Ronald. Er lebt in Plymouth. Sein Schwiegervater hat eine Möbelfabrik, und er hat ihn ins Geschäft aufgenommen. Sie kommen in den Sommerferien immer her, aber sie müssen weiter oben in einer Frühstückspension wohnen, weil hier nicht genug Platz für sie alle ist. Und jetzt erzähl von Nancy. Was für ein kleiner Schatz sie war.«

Damit war Penelope an der Reihe, aber sie hatte natürlich vergessen, Fotos mitzubringen. Sie erzählte Doris von Melanie und Rupert und brachte es mit einiger Mühe fertig, ein positives Bild zu zeichnen.

»Sie wohnen doch bei dir in der Nähe? Siehst du sie oft?«

»Es ist gut dreißig Kilometer entfernt.«

»Das ist ziemlich weit, nicht? Aber du wohnst gern auf dem Land? Lieber als in London? Ich war eigentlich nicht weiter überrascht, als du damals geschrieben hast, daß Ambrose euch von einem Tag auf den anderen verlassen hat. Unmöglich. Aber es sah ihm ähnlich. Er war natürlich ganz attraktiv, aber ich habe nie gefunden, daß ihr zusammengepaßt habt. Trotzdem, einfach seinen Koffer zu packen! Ein egoistischer Kerl. Männer denken immer nur an sich. Das sage ich immer zu Ernie, wenn er seine schmutzigen Socken im Badezimmer auf der Erde liegen läßt.«

Und als sie ihre Männer und ihre Familien abgehakt hatten, fingen sie an, sich an die alten Zeiten zu erinnern, an die langen Kriegsjahre, in denen sie nicht nur all die Sorgen und Ängste, die Langeweile und die Entbehrungen miteinander geteilt hatten, sondern auch die sonderbaren und verrückten Vorkommnisse, über die man im Rückblick nur noch lachen konnte.

Wie Colonel Trubshot mit seinem Blechhelm und seiner Luftschutzbinde um den Arm durch den Ort schlich, der Verdunkelung wegen den Weg verfehlte und über die Hafenmauer ins Meer fiel. Wie Miss Preedy vor einem Publikum uninteressierter Damen ein Rotkreuz-Seminar hielt und sich im Verbandszeug verhedderte. Wie General Watson-Grant auf dem Schulhof die Bürgerwehr drillte und der alte Willie Chirgwin sich das Bajonett in den großen Zeh spießte und mit dem Krankenwagen ins Krankenhaus gebracht werden mußte.

»Und das Kino«, erinnerte Doris ihre alte Freundin, während sie sich die Lach tränen abwischte. »Weißt du noch, wie wir immer ins Kino gegangen sind? Zweimal die Woche, und wir haben nie einen Film verpaßt. Erinnerst du dich noch an Charles Boyer in Das goldene Tor? Im ganzen Saal ist kein Auge trocken geblieben. Ich habe drei Taschentücher verbraucht, und als ich herauskam, habe ich immer noch Tränen gelacht.«

»Es war herrlich, nicht wahr? Und es gab ja kaum etwas, was wir sonst tun konnten. Außer Radio hören, Worker’s Playtime und Mr. Churchill, der uns alle paar Wochen zum Durchhalten aufgerufen hat.«

»Am besten war Carmen Miranda. Ich habe keinen einzigen Film mit ihr verpaßt.« Doris sprang auf, stemmte eine Hand in die Hüften und spreizte die Finger ab. »Ay-ay-ay-ay-aye, ich liebe dich so särr. Ay-ay-ay-ay-aye, ich finde dich umwärrfend.« Die Tür fiel ins Schloß, und Ernie kam ins Zimmer. Doris fand die Unterbrechung noch komischer als ihre eigene Nummer, ließ sich rücklings aufs Sofa fallen und schüttelte sich vor Lachen. Ernie blickte verlegen von einer zur anderen. »Was ist denn mit euch beiden los?« fragte er, und da Penelope sah, daß seine Frau nicht in der Lage war, die Frage zu beantworten, riß sie sich zusammen, stand auf und ging zu ihm, um ihn zu begrüßen. »O Ernie.« Sie mußte immer noch kichern und wischte sich die Augen trocken. »Entschuldigung. Wir führen uns auf wie zwei Backfische. Wir haben uns an früher erinnert und mußten furchtbar lachen. Entschuldige bitte.« Ernie wirkte noch kleiner als früher, er war sichtlich gealtert. Seine schwarzen Haare waren schneeweiß geworden. Er trug eine alte Strickjacke und hatte Pantoffeln angezogen. Seine Hand fühlte sich genauso rauh und schwielig an wie damals, sie freute sich, ihn wiederzusehen, und hätte ihn gern umarmt, tat es aber nicht, weil sie wußte, daß er dann noch verlegener werden würde. »Wie geht es dir? Wie schön, dich wiederzusehen.«

»Ich freu mich auch.« Sie gaben sich feierlich die Hand. Sein Blick wanderte wieder zu seiner Frau, die sich nun aufsetzte, sich die Nase putzte und mehr oder weniger die Fassung zurückgewonnen hatte. »Ich hab den Krach schon draußen gehört und dachte, jemand will die Katze umbringen. Ihr habt sicher schon Tee getrunken, ja?«

»Nein, noch nicht. Wir hatten noch keine Zeit dazu. Wir hatten uns soviel zu erzählen.«

»Der Kessel ist fast leer gekocht. Ich hab ihn wieder vollgemacht, als ich hereingekommen bin.«

»O Gott, das tut mir leid. Ich hab ihn total vergessen.« Doris stand auf. »Ich gehe jetzt und mache Tee. Ernie, Penelope hat dir eine Flasche Whisky mitgebracht.«

»Oh, sehr schön. Vielen Dank.« Er schob den Ärmel der Strickjacke hoch und sah auf seine große billige Armbanduhr. »Halb sechs.« Er blickte mit einem seltenen Funkeln in den Augen auf. »Warum lassen wir nicht den Tee aus und gehen gleich zum Whisky über?«

»Ernie Penberth! Du alte Schnapsdrossel! Kommt nicht in Frage.«

»Ich finde, es ist ein sehr guter Vorschlag«, sagte Penelope mit fester Stimme. »Wir haben uns schließlich vierzig Jahre nicht gesehen. Wenn das kein Grund zum Feiern ist, was dann?« So wurde aus der Teegesellschaft eine fröhliche kleine Party. Der Whisky löste Ernie die Zunge, und wenn Danus und Antonia nicht gekommen wären, hätten die drei bis in den Abend hinein zechen können. Penelope hatte jedes Zeitgefühl verloren, und das Läuten an der Tür überraschte sie genauso wie Doris und Ernie.

»Wer kann das sein?« fragte Doris, ungehalten über die Störung. Penelope sah zur Uhr. »Um Gottes willen, es ist schon sechs. Ich hatte keine Ahnung, daß es schon so spät ist. Das sind bestimmt Danus und Antonia, sie wollen mich abholen.«

»Die Zeit vergeht im Nu, wenn man in angenehmer Gesellschaft ist«, sagte Doris und stemmte sich aus ihrem Sessel, um zu öffnen. Sie hörten, wie sie sagte: »Kommen Sie herein, sie wartet schon auf Sie. Ein bißchen beschwipst wie wir alle, aber Sie werden sie schon heil nach Haus bringen.« Penelope trank hastig ihr Glas aus und stellte es wieder hin, damit sie nicht dachten, sie seien zu früh gekommen. Dann kamen sie alle in das kleine Zimmer und wurden miteinander bekannt gemacht. Ernie ging in die Küche und kam mit zwei weiteren Gläsern zurück.

Danus kratzte sich am Schädel und blickte sich belustigt um. »Ich dachte, hier wäre ein Fünfuhrtee.«

»Ach, Tee.« Doris’ Stimme war voll Verachtung für ein so langweiliges Getränk. »Wir haben den Tee ganz vergessen. Wir haben so viel geredet und gelacht, daß wir nicht mehr daran gedacht haben, Tee zu trinken.«

Antonia sagte: »Das ist ein sehr hübsches Zimmer. Und es ist genau die Art von Haus, die ich am liebsten mag. Und all die Blumen in dem kleinen Hof!«

»Ich nenne ihn meinen Garten. Ein richtiger Garten wäre natürlich viel schöner, aber man kann nicht alles haben, wie ich immer sage.«

Antonias Blick fiel auf das Porträt von Sophie. »Wer ist das Mädchen auf dem Bild?«

»Das? Oh, das ist Penelopes Mutter. Sehen Sie nicht die Ähnlichkeit?«

»Sie ist wunderschön!«

» O ja, das war sie. So was wie sie gab es nur einmal. Sie war Französin. nicht wahr, Penelope? Sie hatte einen tollen, verführerischen Akzent, genau wie Maurice Chevalier. Und Sie hätten sie hören sollen, wenn sie wütend war! Dann hat sie geschimpft wie eine Marktfrau, wirklich.«

»Sie sieht so jung aus.«

»Sie war auch sehr jung. Viel jünger als Penelopes Dad. Sie waren wie Schwestern, nicht wahr, Penelope?«

Ernie räusperte sich geräuschvoll, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Sie möchten sicher einen Drink, ja?« sagte er zu Danus.

Danus lächelte breit und schüttelte den Kopf. »Sehr freundlich von Ihnen, und halten Sie mich bitte nicht für unhöflich, aber ich trinke nicht.«

Ernie war so verwirrt wie selten. »Sind Sie vielleicht krank?«

»Nein, im Gegenteil. Aber Alkohol bekommt mir einfach nicht.« Ernie war offensichtlich zutiefst erschüttert. Er wandte sich ohne viel Hoffnung an Antonia. »Ich nehme an, Sie möchten auch nichts?«

Sie lächelte. »Nein, vielen Dank. Halten Sie mich auch bitte nicht für unhöflich, aber ich muß zurückfahren und durch all die steilen Kurven manövrieren. Ich trinke besser nichts.« Ernie schüttelte traurig den Kopf und schraubte den Verschluß wieder auf die Flasche. Die Party war zu Ende. Es war Zeit zu gehen. Penelope stand auf, strich ihren Rock glatt, vergewisserte sich, daß ihre Haarnadeln noch fest steckten.

»Ihr wollt doch nicht schon gehen?« Doris hätte gern weitergefeiert.

»Wir müssen, Doris, obgleich ich gern noch bleiben würde. Aber ich bin lange genug dagewesen.«

»Wo haben Sie den Wagen geparkt?« fragte Ernie, zu Danus gewandt.

»Oben auf dem Hügel«, erwiderte Danus. »Hier in der Nähe war überall Halteverbot.«

»Idiotisch, nicht wahr? Lauter Regeln und Vorschriften. Ich gehe besser mit rauf und dirigiere beim Wenden. Es ist ziemlich eng, und Sie wollen sicher keine Auseinandersetzung mit einer Granitmauer. «

Danus nahm das Angebot dankend an. Ernie setzte seine Mütze auf und zog seine Arbeitsstiefel wieder an. Danus und Antonia verabschiedeten sich von Doris, und sie sagte: »War nett, Sie kennengelernt zu haben«, und dann gingen die drei zum Volvo hoch. Doris und Penelope waren wieder allein. Aber das Lachen war nun aus irgendeinem Grund fort. Ein Schweigen senkte sich auf sie, als wäre ihnen, da sie zuviel geredet hatten, urplötzlich der Gesprächsstoff ausgegangen. Penelope spürte, daß Doris sie anblickte, wandte den Kopf und erwiderte den steten, ruhigen Blick. Doris sagte: »Wo hast du ihn gefunden?«

»Danus?« Sie versuchte, ganz leichthin zu antworten. »Ich hab’s dir doch schon erzählt. Er arbeitet für mich. Als Gärtner.«

»Scheint was Besseres zu sein, jedenfalls für einen Gärtner.«

»Ja.«

»Er sieht aus wie Richard.«

»Ja.« Der Name war heraus. Laut ausgesprochen. Sie sagte: »Ist dir bewußt, daß er der einzige ist, von dem wir nicht gesprochen haben? Wir haben uns an alle erinnert, aber nicht an ihn.«

»Schien nicht viel Sinn zu haben. Ich hab ihn eben nur deshalb erwähnt, weil dieser junge Mann ihm so ähnlich sieht.«

»Ich weiß. Es ist mir auch aufgefallen, schon als ich ihn zum erstenmal gesehen habe. Es. Ich brauchte einige Zeit, um mich daran zu gewöhnen.«

»Ist er irgendwie mit Richard verwandt?«

»Nein, ich glaube nicht. Er ist aus Schottland. Die Ähnlichkeit ist sicher nur einer von diesen merkwürdigen Zufällen.«

»Magst du ihn deshalb so sehr?«

»O Doris. Das klingt so, als wäre ich eine unbefriedigte alte Frau, die sich einen Gigolo genommen hat.«

»Aber er könnte dich um den kleinen Finger wickeln, stimmt’s?«

»Ich mag ihn sehr. Ich mag ihn wegen seines Aussehens und wegen seiner ganzen Art. Er ist ein guter Mensch. Ich bin gern mit ihm zusammen. Er bringt mich zum Lachen.«

»Ihn hierher mitbringen. nach Porthkerris.« Doris sah ihre Freundin besorgt an. »Du versuchst doch nicht, die Vergangenheit zurückzuholen, oder?«

»Nein. Ich habe meine Kinder gefragt, ob sie mitkommen wollten. Ich habe sie alle nacheinander gefragt, aber sie konnten oder wollten nicht. Nicht mal Nancy. Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber jetzt habe ich es getan. An ihrer Stelle sind Danus und Antonia mitgekommen.«

Doris bemerkte nichts dazu. Sie schwiegen eine Weile, und jede von ihnen hing ihren eigenen Gedanken nach. Dann sagte Doris. »Ich weiß nicht. Daß Richard auf diese Weise sterben mußte. Es war grausam. Ich fand es immer schwer, Gott zu verzeihen, daß er diesen Mann ums Leben kommen ließ. Wenn es je einen Menschen gab, der leben sollte. Ich werde nie vergessen, wie es damals war, ich meine, an dem Tag, als wir es erfahren haben. Es gehört zu den schlimmsten Dingen, die im Krieg passiert sind. Und ich mußte immer denken, daß er einen Teil von dir mitgenommen hat, als er starb, und keinen Teil von sich dagelassen hat.«

»Er hat einen Teil von sich dagelassen.«

»Aber nichts, was du berühren oder fühlen oder in den Armen halten konntest. Es wäre besser gewesen, wenn du ein Kind von ihm bekommen hättest. Dann hättest du einen guten Vorwand gehabt, nicht wieder zu Ambrose zurückzukehren. Du und Nancy und das Baby wärt sehr gut allein zurechtgekommen.«

»Ich habe oft das gleiche gedacht. Ich habe damals nichts getan, um kein Kind von Richard zu bekommen. Ich bin einfach nicht schwanger geworden. Und Olivia war mein großer Trost. Sie war das erste Kind, das ich nach dem Krieg bekam, und sie war das Kind von Ambrose, aber sie war aus irgendeinem Grund immer etwas Besonderes. Nicht etwas anderes, einfach etwas Besonderes.« Sie fuhr tastend fort, wählte die Worte mit großer Sorgfalt, als sie Doris etwas gestand, das sie kaum sich selbst, geschweige denn irgendeinem anderen lebenden Menschen gestanden hatte. »Es war, als sei irgendein Teil von Richards Körper in mir geblieben. Konserviert, wie köstliches Essen in einer Kühltruhe. Und als Olivia geboren wurde, wurde ein Atom, ein Partikel, eine Zelle von Richard durch mich ein Teil von ihr.«

»Aber sie war nicht sein Kind.« Penelope schüttelte den Kopf und lächelte. »Nein.«

»Aber du hattest das Gefühl, sie wäre es irgendwie.«

»Ja.«

»Ich verstehe es.«

»Ich habe gewußt, daß du es verstehen würdest. Deshalb habe ich es dir gesagt. Und du wirst auch verstehen, wenn ich dir sage, wie froh ich war, als ich sah, daß sie Papas Atelier abgerissen haben und dort Ferienwohnungen gebaut haben. Daß es für immer fort ist. Ich weiß jetzt, daß ich stark genug bin, um mit fast allem fertig zu werden, aber ich glaube nicht, daß ich je stark genug gewesen wäre, um dorthin zurückzugehen.«

»Nein. Das kann ich auch verstehen.«

»Und noch etwas. Als ich wieder nach London gegangen war, habe ich mich mit seiner Mutter in Verbindung gesetzt.«

»Ich habe mich gefragt, ob du es tun würdest.«

»Ich brauchte lange, bis ich den Mut dazu fand, aber endlich hatte ich ihn gefunden und rief sie an. Wir haben zusammen zu Mittag gegessen. Es war eine Qual für uns beide. Sie war sehr zuvorkommend und freundlich, aber wir hatten außer Richard nichts, worüber wir reden konnten, und schließlich wurde mir bewußt, daß es einfach zuviel war für sie. Ich habe sie danach nie wiedergesehen. Wenn ich mit Richard verheiratet gewesen wäre, hätte ich versucht, sie zu trösten und ihr darüber hinwegzuhelfen, aber so hatte ich ihren tragischen Verlust irgendwie nur noch schlimmer gemacht, glaube ich.«

Doris sagte nichts. Von draußen, durch die offene Tür, hörten sie, wie der Volvo langsam die steile und schmale Straße heruntergefahren kam. Penelope bückte sich und nahm ihre Handtasche. »Sie kommen. Es ist Zeit, daß ich gehe.«

Sie gingen zusammen durch die Küche und traten auf den sonnigen kleinen Vorplatz hinaus. Sie nahmen einander in die Arme und küßten sich zärtlich auf die Wange. Doris hatte Tränen in den Augen. »Liebe Doris, auf Wiedersehen. Und vielen Dank für alles.« Doris wischte die dummen Tränen schnell fort. »Komm bald wieder«, sagte sie. »Warte nicht noch mal vierzig Jahre, sonst beschauen wir alle die Kartoffen von unten.«

»Nächstes Jahr. Nächstes Jahr komme ich allein und wohne bei dir und Ernie.«

»Ich freu mich jetzt schon darauf.« Der Wagen kam und hielt vor dem Haus. Ernie stieg aus, hielt die Beifahrertür wie ein Lakai auf und wartete, daß Penelope einstieg.

»Auf Wiedersehen, Doris.« Sie wandte sich zum Gehen, aber Doris war noch nicht fertig. »Penelope.«

Sie drehte sich um. »Ja?«

»Wenn er Richard ist, wer soll dann Antonia sein?« Doris war nicht dumm. Penelope lächelte. »Vielleicht ich?«

»Als ich zum erstenmal hierher kam, war ich sieben. Es war eine große Sache, weil Papa ein Auto gekauft hatte. Wir hatten noch nie eines gehabt, und dies war unsere erste Reise damit. Es war nur die erste von vielen anderen, aber ich werde sie nie vergessen, weil ich einfach nicht fassen konnte, daß Papa wirklich imstande war, den Motor in Gang zu bringen und dann zu fahren.« Die drei saßen auf den Klippen von Penjizal, hoch über dem blauen Atlantik, in einer kleinen grasigen Senke, die durch einen flechtenbewachsenen Granitfelsen vor dem Wind geschützt wurde. Die Graspolster ringsum waren mit wilden Primeln und den blaßblauen, flaumigen Blüten von Feldskabiosen bedeckt. Der Himmel war wolkenlos, die Luft erfüllt vom dumpfen Klatschen der Brandung und den Schreien pfeilschnell dahinziehender Seevögel. Ein Aprilmittag, warm wie ein Tag im Sommer - sie hatten die karierte Decke ausgebreitet und sich darauf gesetzt, und sie mußten sogar ein schattiges Plätzchen für den Picknickkorb suchen. »Was für ein Auto war es?« Danus lag nun neben der Decke im Gras und stützte sich auf einen Ellbogen auf. Er hatte seinen Pullover ausgezogen und die Hemdärmel hochgekrempelt. Seine muskulösen Unterarme waren sonnengebräunt, sein ihr zugewandtes Gesicht strahlte Zuneigung und Interesse aus. »Ein Viereinhalbliter-Bentley«, antwortete sie. »Er war schon ziemlich alt, aber er konnte sich kein neues Auto leisten, und er wurde sein ganzer Stolz.«

»Großartig. Wurde die Kühlerhaube mit Lederriemen zugehalten, wie ein Kabinenkoffer?«

»Genau. Und richtige Trittbretter, und ein Verdeck, mit dem wir nie fertig wurden, so daß wir es nicht einmal dann zumachten, wenn es in Strömen regnete.«

»Solch ein Auto wäre heute ein Vermögen wert. Was ist daraus geworden?«

»Ich habe es Mr. Grabney geschenkt, als Papa gestorben war. Ich wußte einfach nicht, was ich sonst damit machen sollte. Und er war immer sehr freundlich zu uns gewesen, hat es den ganzen Krieg über in seiner Garage stehen gehabt und uns nie einen Penny dafür berechnet. Und einmal. als es wirklich wichtig war. hat er mir auf dem schwarzen Markt Benzin besorgt. Ich konnte ihm nie genug dafür danken.«

»Warum haben Sie es nicht behalten?«

»Ich konnte es mir nicht leisten, in London ein Auto zu halten, und ich brauchte es nicht wirklich. Ich ging überall zu Fuß und benutzte den Kinderwagen nicht nur für die Babys, sondern auch für meine Einkäufe. Ambrose war außer sich, als er hörte, daß ich den Bentley verschenkt hatte. Es war das erste, wonach er fragte, als ich nach Papas Beerdigung zurückkam. Als ich ihm sagte, was ich damit gemacht hatte, war er eine Woche böse.«

Danus zeigte Verständnis. »Ich kann es ihm nicht verdenken.«

»Nein. Der Ärmste. Er war bestimmt furchtbar enttäuscht.« Penelope setzte sich auf und blickte über den Rand der Klippen aufs Meer hinunter. Es war Ebbe, aber das Wasser hatte noch nicht den tiefsten Stand erreicht. Wenn es soweit war, würde das große, von Felsen umschlossene Wasserbecken, von dem sie Danus und Antonia erzählt hatte, wie ein gewaltiges blaues Juwel in der Sonne glänzen und zum Schwimmen und Tauchen einladen. »In einer halben Stunde müßte es soweit sein«, schätzte sie. »Dann könnt ihr baden.«

Sie lehnte sich wieder an den Rand und schlug die Beine übereinander. Sie trug ihren alten Jeansrock, ein Baumwollhemd, ihre neuen Joggingschuhe und einen schon recht lädierten breitkrempigen Strohhut, den sie zu Haus immer beim Gärtnern aufhatte. Die Sonne strahlte so intensiv, daß sie froh war, ihn mitgenommen zu haben. Antonia, die mit geschlossenen Augen neben ihr lag und anscheinend eingeschlafen war, rührte sich auf einmal, drehte sich auf den Bauch und legte die Wange auf ihre gekreuzten Arme. »Erzähl noch ein bißchen, Penelope. Seid ihr oft hierhergekommen?«

»Nein, nur manchmal. Es war eine lange Fahrt und ein sehr langer Fußmarsch von dem Farmhaus, wo wir das Auto stehen ließen. Außerdem gab es damals noch keinen Weg über die Klippen, und wir mußten uns zwischen wilden Brombeeren, Stechginster und Adlerfarn hindurchkämpfen, bis wir endlich diese Stelle erreichten. Und außerdem mußten wir es natürlich so abpassen, daß dann gerade Ebbe sein würde, damit Sophie und ich baden konnten.«

»Ist dein Vater nicht ins Wasser gegangen?«

»Nein. Er sagte immer, er sei zu alt dazu. Er saß hier oben mit seinem großen Hut auf seinem Klappschemel vor der Staffelei und malte oder zeichnete. Natürlich erst, nachdem er eine Flasche Wein aufgemacht, sich ein Glas eingeschenkt und dann eine Zigarre angezündet hatte und rundum zufrieden war.«

»Und im Winter? Seid ihr im Winter auch nach Porthkerris gekommen?«

»Nein, nie. Im Winter waren wir in London. Oder in Paris oder Florenz. Porthkerris und Cam Cottage waren nur für den Sommer.«

»Perfekt.«

»Nicht weniger perfekt als das wunderschöne Haus deines Vaters in Ibiza.«

»Vielleicht. Alles ist relativ, nicht?« Antonia drehte sich auf die Seite und stützte das Kinn in die Hand. »Und du, Danus? Wo seid ihr im Sommer hingefahren?«

»Ich hatte schon gehofft, daß niemand danach fragen würde.«

»Ach, sag schon. Zier dich nicht.«

»Ins nördliche Berwickshire. Meine Eltern haben dort jeden Sommer ein Haus gemietet, und sie spielten Golf, während mein Bruder und meine Schwester und ich mit unserem Kindermädchen am eisigen Strand hockten und im heulenden Wind Burgen bauten.« Penelope zog die Augenbrauen hoch. »Ihr Bruder? Ich wußte nicht, daß Sie einen Bruder haben. Ich dachte, Sie hätten nur eine Schwester. «

»Nein, ich hatte auch einen Bruder. Er hieß Ian und war der älteste von uns. Er ist mir vierzehn Jahren an Hirnhautentzündung gestorben.«

»Oh, wie furchtbar, was für eine Tragödie.«

»Ja. Ja, es war eine Tragödie. Meine Mutter und mein Vater sind nie richtig darüber hinweggekommen. Er war der ideale Sohn. Er war intelligent, er sah gut aus, und er war ein guter Sportler - der Sohn, den alle Eltern gern hätten. Für mich war er immer so was wie ein Gott, weil er alles wußte und alles konnte. Als er alt genug war, spielte er auch Golf, und meine Schwester spielte es zuletzt auch, aber bei mir waren Hopfen und Malz verloren, ich interessierte mich nicht mal dafür. Ich fuhr lieber allein mit dem Fahrrad durch die Gegend und schaute nach Vögeln. Ich fand das viel unterhaltsamer als all die verrückten Feinheiten, auf die es beim Golf ankommt.«

»Berwickshire scheint nicht sehr verlockend zu sein«, bemerkte Antonia. »Bist du nie woandershin gefahren?«

Danus lachte. »Doch, natürlich. Ich hatte auf der Schule einen guten Freund, der Roddy McCrae hieß, und seine Eltern hatten oben in Sutherland, bei Tongue, ein Croft. Sie hatten eine Angellizenz für die Naver, und Roddys Vater brachte mir das Angeln bei. Als ich alt genug war und nicht mehr mit den anderen nach Berwickshire fahren mußte, war ich in den Ferien meist bei ihnen.«

»Was ist denn ein Croft?« fragte Antonia.

»Eine Kate. Ein Bauernhaus aus Stein mit zwei Räumen. Sehr primitiv. Kein fließendes Wasser, kein WC, kein Strom, kein Telefon. Es war weit weg von allem, am Ende der Welt. Es war toll.« Sie schwiegen. Es war, fiel Penelope ein, erst das zweite oder dritte Mal, daß Danus in ihrer Gegenwart von sich erzählt hatte. Sie empfand Mitleid mit ihm. Einen Bruder, den er liebte und bewunderte, in einem so zarten Alter verloren zu haben, mußte ein traumatisches Erlebnis gewesen sein. Und das Gefühl, daß er diesen Bruder nie erreichen, geschweige denn ersetzen könnte, hatte es vielleicht noch schlimmer gemacht. Sie wartete, weil sie dachte, er hätte womöglich den Wunsch, mehr zu erzählen, nachdem er einmal aus seiner Reserve herausgetreten war, aber er tat es nicht. Statt dessen setzte er sich auf, reckte sich und sprang hoch. »Das Wasser ist abgeflossen«, sagte er zu Antonia. »Der Swimming-pool in den Felsen wartet auf uns. Fühlst du dich stark genug, um hineinzuspringen?«

Sie waren über den Rand der Klippen geklettert, um auf dem gefährlich steilen Pfad zwischen den Felsen nach unten zu gehen. Der große Tümpel in dem natürlichen Becken war wie kobaltblaues Glas und blitzte in der Sonne. Penelope wartete darauf, daß sie zurückkamen, und dachte an ihren Vater. Sie sah ihn vor sich, wie er mit seinem breitkrempigen Hut und seinem Glas Wein neben sich konzentriert an seiner Staffelei saß und das Alleinsein genoß. Eine der großen Enttäuschungen ihres Lebens war, daß sie sein Talent nicht geerbt hatte. Sie war keine Malerin, sie konnte nicht mal zeichnen, aber sein Einfluß war sehr stark gewesen, und sie war ihm so lange ausgesetzt gewesen, daß sie ganz automatisch in der Lage war, die Dinge ringsum mit seinen alles erfassenden Künstleraugen zu sehen. Alles war noch genauso wie früher, mit Ausnahme des Wanderwegs längs der Küste, der sich wie ein braunes Band zwischen dem frischen Grün der Farne hindurchwand. Sie blickte aufs Meer und überlegte, wie sie es, wenn sie Papa wäre, wohl am liebsten malen würde. Es war blau, aber das Blau setzte sich aus tausend verschiedenen Tönen zusammen. Über den sandigen Stellen schimmerte das seichte und durchscheinende Wasser jadegrün und hatte lange Schatten von Aquamarin. Über Felsen und Tang nahm es ein tiefes Indigo an, und weit draußen, wo ein kleines Fischerboot über die Dünung glitt, war es von einem satten Preußischblau. Es ging nur ein ganz leichter Wind, aber das Meer lebte und atmete, schwoll aus den Tiefen heran und bildete lange Wellen. Wenn sie sich zu gekrümmten Kämmen hochwölbten, schien das Sonnenlicht durch sie hindurch und verwandelte sie in lebende Skulpturen aus grünem Glas, und zuletzt war alles in Licht getaucht, in jene einzigartige gleißende Helle, die die Maler nach Cornwall gelockt und die französischen Impressionisten zu ihren herrlichsten Bildern inspiriert hatte.

Eine vollkommene Komposition. Alles, was noch fehlte, waren menschliche Gestalten, um ihr Proportionen und Leben zu schenken. Sie erschienen. Weit unten, in dieser Entfernung winzig klein wirkend, gingen Danus und Antonia langsam zwischen den Felsen zu dem natürlichen Becken. Sie beobachtete sie. Danus trug die Badelaken. Als sie endlich den flachen Felsbuckel erreichten, der ein Stück über dem Wasser hing, legte er sie hin und schritt zum Rand des Steins. Er ging in die Hocke, schnellte hoch und hechtete ins Wasser, das kaum aufspritzte, als er eintauchte. Antonia hechtete hinterher. Sie tauchten auf und schwammen und zogen dabei sonnenglänzende Tropfendolden über die Oberfläche. Sie hörte ihre erhobenen Stimmen, ihr Lachen. Es war gut, und etwas Gutes ist nie verloren. Richards Stimme. Er sieht aus wie Richard. Sie hatte nie mit Richard geschwommen, weil sie eine Kriegsbeziehung gehabt hatten, eine Liebe im Winter, doch als sie nun Danus und Antonia beobachtete, spürte sie wieder die Betäubung beim ersten Eintauchen in kaltes Wasser, und sie spürte sie mit einer physischen Intensität, die über bloßes Erinnern hinausging. Sie erinnerte sich an das kurz danach einsetzende Hochgefühl, das grenzenlose Behagen, so deutlich, als ob ihr Körper noch jung wäre und noch nicht gezeichnet von den unerbittlichen Spuren der Jahre. Und es gab andere Frauen, eine andere Seligkeit. Der überwältigend süße Kontakt von Händen, Armen, Lippen, Körpern. Der Friede nach der gestillten Leidenschaft. Die Lust, zu erwachen und einen schläfrigen Kuß zu tauschen und ohne jeden Grund zu lachen. Ganz früher, als sie noch sehr klein gewesen war, hatte Papa sie mit den faszinierenden Möglichkeiten eines Zirkels mit einer spitzen Bleistiftmine bekannt gemacht. Sie hatte gelernt, Muster zu zeichnen, geometrische Blüten. Blütenblätter und Kurven, aber nichts hatte ihr so viel Vergnügen bereitet, wie auf einem schneeweißen Blatt Papier einfach einen Kreis zu ziehen. Es war so schön, so perfekt. Das Bleistiftende bewegte sich und hinterließ eine Linie und erreichte mit wundersamer Endgültigkeit genau den Punkt wieder, wo es begonnen hatte.

Ein Kreis war seit altersher das Symbol der Unendlichkeit, der Ewigkeit. Wenn ihr eigenes Leben jene sorgsam gezogene Bleistiftlinie war, dann wußte sie, daß die beiden Enden jetzt nur noch ein kleines Stück voneinander entfernt waren. Ich habe den Kreis durchmessen, sagte sie sich und fragte sich, was mit all den Jahren geschehen war. Es war eine Frage, die ihr von Zeit zu Zeit ein bißchen angst machte und das nagende Gefühl hinterließ, etwas verschwendet zu haben. Aber nun schien sie auf einmal belanglos geworden zu sein, und deshalb war die Antwort, wie immer sie lauten mochte, nicht mehr wichtig.

»Olivia.«

»Mama! Was für eine schöne Überraschung.«

»Mir ist eingefallen, daß ich dir nicht mal frohe Ostern gewünscht habe. Entschuldige, aber vielleicht ist es noch nicht zu spät. Außerdem war ich nicht sicher, ob ich dich erreichen würde. Ich dachte, du wärst vielleicht noch fort.«

»Nein. Ich bin vorhin zurückgekommen. Ich war auf der Insel Wight.«

»Wo hast du gewohnt?«

»Bei den Blakisons. Erinnerst du dich an Charlotte? Sie war bei Venus für Essen und Rezepte zuständig und ist dann gegangen, weil sie geheiratet hat und Kinder haben wollte.«

»Wares schön?«

»Himmlisch. Wie immer. Eine große Party. Und sie hat alles mit links organisiert und tausend Sachen gekocht und gemacht, ohne daß man ihr etwas anmerkte.«

»War der nette Amerikaner mit?«

»Der nette Amerikaner? Oh, du meinst Hank. Nein, er ist wieder in den Staaten.«

»Ich fand ihn ausnehmend sympathisch.«

»Ja, das war er. Das ist er. Er wird dich sicher anrufen, wenn er wieder nach London kommt. Aber jetzt erzähl von dir, Mama. Wie ist es dort?«

»Wir haben viel Spaß und leben in einem unbeschreiblichen Luxus.«

»Wird auch mal Zeit, nach all den Jahren. Antonia hat mir einen langen Brief geschrieben. Sie scheint sehr glücklich zu sein.«

»Sie und Danus sind heute den ganzen Tag unterwegs. Sie sind mit dem Wagen zur Südküste gefahren, um einen jungen Mann zu besuchen, der eine Gärtnerei hat. Das heißt, wahrscheinlich sind sie jetzt schon zurück.«

»Wie macht Danus sich?«

»Er ist ein großer Erfolg.«

»Magst du ihn immer noch so sehr?«

»Ja. Wenn nicht noch mehr. Aber ich habe nie jemanden gekannt, der so verschlossen ist. Vielleicht hängt es damit zusammen, daß er aus Schottland kommt.«

»Hat er dir erzählt, warum er nicht trinkt und nicht Auto fährt?«

»Nein.«

»Wahrscheinlich hat er einen Entzug gemacht und will unbedingt trocken bleiben.«

»Wenn ja, ist es seine Sache.«

»Erzähl, was ihr alles gemacht habt. Hast du Doris besucht?«

»Natürlich. Sie ist ganz die alte. Genauso quirlig wie früher. Und Sonnabend waren wir fast den ganzen Tag an den Klippen von Penjizal, und gestern morgen sind wir ganz brav zur Kirche gegangen.«

»Ein schöner Gottesdienst?«

»Sehr schön. Die alte Kirche war voller Blumen, und die Bänke waren voll von Leuten mit sonderbaren Kopfbedeckungen, und die Musik und der Gesang waren wunderbar. Leider predigte irgendein Bischof aus der Nähe, aber die Musik hat über die langweilige Predigt hinweggetröstet. Und am Ende eine Prozession mit allem Pomp, und wir standen alle auf und sangen ›Für all die Heiligen, die ruhen nun in dir‹. Als wir wieder im Hotel waren, sprachen Antonia und ich darüber, und wir kamen zu dem Schluß, daß es einer von unseren Lieblingschorälen ist.«

Olivia lachte. »O Mama! Das aus deinem Mund! Ich habe nicht mal gewußt, daß du einen Lieblingschoral hast.«

»Ganz so atheistisch bin ich denn doch nicht, Liebling. Ich bin nur von Natur aus ein bißchen skeptisch. Außerdem. Ostern ist immer besonders beunruhigend, wegen der Auferstehung und des Lebens nach dem Tode. Ich kann mich nie so ganz dazu durchringen, es zu glauben. Und obgleich ich Sophie und Papa unendlich gern wiedersehen würde, gibt es Dutzende von anderen Leuten, auf deren Anblick ich sehr gut verzichten kann. Und stell dir den Andrang vor! Wie bei einer riesigen und langweiligen Cocktailparty, wo man die ganze Zeit damit beschäftigt ist, die amüsanten Leute zu suchen, die man wirklich sehen möchte.«

»Und was ist mit den Muschelsuchern? Hast du sie gesehen?«

»O ja. Sie machen sich einmalig. Als ob sie nirgends anders hingehörten und von Anfang an dort gehangen hätten.«

»Du bereust nicht, daß du sie dem Museum geschenkt hast?«

»Keine Sekunde.«

»Was machst du gerade?«

»Ich habe eben gebadet und liege auf dem Bett und lese Fiesta, und ich telefoniere mit dir. Danach werde ich Noel und Nancy anrufen, und dann ziehe ich mich um zum Dinner. Es ist immer schrecklich fein und formell, und am Ende des Speisesaals klimpert jemand am Flügel. Wie im Savoy.«

»Das klingt sehr elegant. Was ziehst du an?«

»Den Kaftan. Er ist schon etwas fadenscheinig, aber wenn man die Augen halb zumacht, sieht man die Löcher nicht mehr.«

»Du wirst phantastisch aussehen. Wann kommt ihr nach Haus?«

»Mittwoch... Wir werden Mittwoch abend wieder in Podmore’s Thatch sein.«

»Ich ruf dich dort an.«

»Tu das, Liebling. Gott segne dich.«

»Auf Wiedersehen, Mama.«

Sie wählte Noels Nummer und wartete, lauschte dem Klingeln, aber niemand nahm ab. Er war wahrscheinlich noch irgendwo auf dem Land bei vornehmen oder zumindest wohlhabenden Leuten. Sie nahm wieder ab und rief Nancy an. »Altes Pfarrhaus.«

»George?«

»Ja.«

»Hier Penelope. Frohe Ostern!«

»Danke«, sagte George, erwiderte den Wunsch aber nicht. »Ist Nancy da?«

»Ja, sie ist irgendwo im Haus. Möchtest du sie sprechen?«

(»Warum sollte ich sonst anrufen, du Narr?«) »Ja, bitte, wenn es keine Umstände macht.«

»Einen Moment bitte, ich hole sie.«

Sie wartete. Es war ausgesprochen angenehm, entspannt, gemütlich und von dicken Kissen gestützt dazuliegen, aber Nancy brauchte so lange, um an den Apparat zu kommen, daß sie ungeduldig wurde. Was machte sie bloß? Um die Zeit zu überbrücken, griff sie wieder zu ihrem Buch und las einen oder zwei Absätze, bis sie endlich das »Hallo?« hörte.

Sie legte das Buch hin. »Nancy. Wo bist du denn gewesen? Am Ende des Gartens?«

»Nein.«

»Habt ihr ein schönes Osterfest verbracht?«

»Ja, danke.«

»Was habt ihr gemacht?«

»Oh, nichts Besonderes.«

»Hattet ihr Besuch?«

»Nein.«

Ihre Stimme war eisig. Das war Nancy von ihrer unangenehmsten Seite, wenn sie zutiefst beleidigt war. Was mochte nun wieder passiert sein? »Nancy, was ist los?«

»Warum sollte etwas los sein?«

»Ich habe keine Ahnung, aber du hast offensichtlich etwas.« Schweigen. »Nancy, ich finde, du solltest es mir besser sagen.«

»Ich bin nur. ein bißchen verletzt. Das ist alles.«

»Warum?«

»Warum? Du fragst, als ob du nicht genau wüßtest, warum.«

»Wenn ich es wüßte, würde ich nicht fragen.«

»Wärst du an meiner Stelle vielleicht nicht verletzt? Ich höre wochenlang nichts von dir. Nichts. Und wenn ich dann in Podmore’s Thatch anrufe, um dich und Antonia Ostern zum Essen einzuladen, stelle ich fest, daß du verreist bist. Daß du mit ihr und diesem Gärtner nach Cornwall gefahren bist, ohne George oder mir ein Wort davon zu sagen.«

Das war es also. »Ich habe offen gesagt nicht gedacht, daß es dich interessieren würde, Nancy.«

»Es geht nicht darum, ob es mich interessiert hätte oder nicht. Es geht ums Prinzip. Du fährst einfach fort, ohne irgend jemandem Bescheid zu sagen, und es hätte alles mögliche passieren können, und wir hätten nicht gewußt, wo wir dich erreichen können.«

»Olivia hat es gewußt.«

»Oh, Olivia. Ja, natürlich, sie hat es gewußt, und es hat ihr große Befriedigung verschafft, daß sie in der Lage war, mich ins Bild zu setzen. Ich finde es sonderbar, daß du ihr sagst, was du vorhast, und mir kein Wort davon erzählst.« Sie war nun richtig in Fahrt gekommen. »Ich scheine neuerdings alles, was passiert, aus zweiter Hand zu hören, von Olivia. Alles, was du tust. Alles, was du beschließt. Daß du einen Gärtner nimmst. Daß du Antonia nach Podmore’s Thatch holst, wo ich wochenlang nach einer Haushälterin gesucht und einen Haufen Geld für Annoncen ausgegeben habe. Daß du die beiden kleinen Bilder verkauft hast und daß du Die Muschelsucher weggegeben hast - verschenkt! Ohne George und mich zu fragen, was wir davon halten. Es ist nicht zu fassen. Ich bin schließlich dein ältestes Kind. Wenn du mir schon nichts anderes schuldest, könntest du wenigstens Rücksicht auf meine Gefühle nehmen. Und dann mir nichts, dir nichts nach Cornwall zu fahren, zusammen mit Antonia und diesem Gärtner. Zwei Fremden. Aber als ich vorgeschlagen habe, daß Melanie und Rupert mitkommen könnten, wolltest du nichts davon wissen. Deine eigenen Enkel! Aber zwei Fremde nimmst du mit. Zwei Leute, von denen keiner von uns etwas weiß. Sie nutzen dich aus, Mutter. Ich hoffe, das siehst du. Sie denken zweifellos, sie könnten dich mühelos herumkriegen, obgleich ich nicht gedacht hätte, daß du so blind sein könntest. Es ist alles so kränkend. so rücksichtslos.«

»Nancy .«

»Wenn du zu dem armen Daddy auch so warst, ist es kein Wunder, daß er dich verlassen hat. Jeder käme sich zurückgewiesen und unerwünscht vor. Großmutter Keeling hat immer gesagt, du seist die gefühlloseste Frau, die sie je gekannt habe. Wir, George und ich, haben versucht, uns um dich zu kümmern, aber du machst es uns nicht leicht. Ohne ein Wort einfach wegfahren. und das ganze Geld ausgeben. Und Die Muschelsucher verschenken. wo du genau gewußt hast, wieviel wir alle brauchen. Es ist so kränkend.«

Angestauter Groll brach sich Bahn. Nancy, die immer zusammenhangloser redete, hatte endlich genug Dampf abgelassen, und Penelope konnte zum erstenmal etwas sagen.

»Bist du fertig?« fragte sie höflich. Nancy gab keine Antwort. »Darf ich jetzt vielleicht auch etwas sagen?«

»Wenn du möchtest.«

»Ich habe angerufen, um euch allen frohe Ostern zu wünschen, und nicht, um mich mit dir zu streiten. Aber wenn du Streit willst, kannst du ihn haben. Als ich die beiden Bilder verkaufte, habe ich nur das getan, wozu du und Noel mich seit Monaten gedrängt habt. Ich habe hunderttausend Pfund für sie bekommen, wie Olivia dir sicher erzählt hat, und ich habe zum erstenmal in meinem Leben beschlossen, ein bißchen Geld für mich auszugeben. Du weißt, daß ich schon lange vorgehabt habe, nach Porthkerris zu fahren, um alles noch einmal wiederzusehen, denn ich habe dich gefragt, ob du nicht mitkommen wolltest. Ich habe Noel auch gefragt und Olivia ebenfalls. Ihr habt alle irgendwelche Ausreden gehabt. Keiner von euch wollte mitkommen.«

»Mutter, ich habe dir meine Gründe genannt.«

»Ausreden«, wiederholte Penelope. »Ich wollte aber nicht allein fahren. Ich brauchte jemanden, der mich unterhalten und an meiner Freude teilhaben konnte. Und deshalb sind Antonia und Danus mitgekommen. Ich bin noch nicht so senil, daß ich mir meine Freunde nicht mehr selbst aussuchen könnte. Und was Die Muschelsucher angeht, so haben sie mir gehört. Vergiß das bitte nie. Papa hat sie mir zur Hochzeit geschenkt, und jetzt, wo das Bild im Museum von Porthkerris hängt, habe ich das Gefühl, daß ich es ihm zurückgegeben habe. Ihm und vielen Leuten, die jetzt hingehen und es betrachten und vielleicht ein bißchen von der Freude und dem Trost empfinden können, den sie mir immer gegeben haben.«

»Du weißt anscheinend nicht, was das Bild wert ist?«

»Ich weiß es viel besser, als du es jemals gewußt hast. Du hast praktisch dein ganzes Leben mit den Muschelsuchern zugebracht und sie kaum beachtet.«

»Das habe ich nicht gemeint.«

»Nein, ich weiß, daß du es anders gemeint hast.«

»Es ist. « Nancy suchte nach Worten. »Es ist, als hättest du etwas gesucht, um uns weh zu tun. Als hättest du etwas gegen uns.«

»O Nancy.«

»Und warum ist es immer Olivia, der du alles erzählst, warum wendest du dich nie an mich?«

»Vielleicht liegt es daran, daß es dir immer so schwerzufallen scheint, irgend etwas von dem zu verstehen, was ich tue.«

»Wie kann ich dich verstehen, wenn du dich so exzentrisch benimmst und mich nie ins Vertrauen ziehst. und mich wie eine dumme Gans behandelst? Du hattest immer nur Augen für Olivia. Du hast Olivia immer geliebt. Schon als wir klein waren, hast du nur Augen für Olivia gehabt, die gescheite und lustige Olivia. Du hast nie versucht, mich zu verstehen. Wenn Großmutter Keeling nicht gewesen wäre.«

Sie hatte den Punkt erreicht, an dem sie vor Selbstmitleid zerfloß und bereit war, sich an jedes vermeintliche Unrecht zu erinnern, das ihr in all den Jahren zugefügt worden war. Das Gespräch hatte Penelope mitgenommen, und sie wurde sich plötzlich bewußt, daß sie nicht mehr verkraften konnte. Sie hatte bereits zuviel gehört, und dieses infantile Gejammer einer dreiundvierzigjährigen Frau war mehr, als sie ertragen konnte.

Sie sagte: »Nancy, ich denke, wir sollten das Gespräch beenden.«

».Ich weiß nicht, was ich ohne Großmutter Keeling gemacht hätte. Das Leben war nur deshalb erträglich, weil es sie gab.«

»Auf Wiedersehen, Nancy.«

»Weil du nie Zeit für mich gehabt hast. Und du hast mir nie etwas gegeben, und.« Penelope legte auf, ohne das Ende des Satzes abzuwarten. Die zornige, schrille Stimme ihrer Tochter verstummte endlich. Wie immer nach diesen leidigen Auseinandersetzungen fing ihr Herz an zu jagen. Sie suchte nach ihren Pillen, nahm zwei, schluckte sie mit Wasser hinunter und legte sich mit geschlossenen Augen auf die Daunenkissen zurück. Sie dachte daran, einfach nachzugeben. Sie fühlte sich wie ausgelaugt und war einen Moment lang mehr als bereit, sich von der Erschöpfung, sogar von Tränen übermannen zu lassen. Aber sie würde sich nicht von Nancy aus der Fassung bringen lassen. Sie würde nicht weinen. Als ihr Herz sich nach einer Weile beruhigt hatte, schlug sie die Decke zur Seite und stand auf. Sie hatte einen leichten und luftigen Morgenmantel an, und ihr langes Haar hing lose herunter. Sie ging zum Frisiertisch, setzte sich und betrachtete ohne große Befriedigung ihr Bild im Spiegel. Dann griff sie nach der Haarbürste und fing an, sich mit langen, langsamen und beruhigenden Bewegungen die Haare zu bürsten.

Du hattest immer nur Augen für Olivia. Du hast Olivia immer geliebt.

Das stimmte. Von dem Augenblick an, als sie zur Welt gekommen war und sie das winzige Wesen mit dem dunklen Haarflaum und der zu großen Nase zum erstenmal erblickt hatte, hatte sie dieses Gefühl der Verbundenheit empfunden, das sich nicht mit Worten beschreiben ließ. Olivia war wegen Richard etwas Besonderes. Das war alles. Sie hatte sie nie mehr geliebt als Nancy und Noel. Sie hatte alle ihre Kinder geliebt. Sie hatte jedes von ihnen uneingeschränkt geliebt, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Wie sie festgestellt hatte, hatte Liebe die erstaunliche Eigenschaft, sich zu vervielfachen, sich zu verdoppeln und zu verdreifachen, so daß jedesmal, wenn ein neues Kind kam, mehr als genug für sie alle da war. Und Nancy, ihr erstes Kind, hatte mehr als ihren normalen Anteil an Liebe und Zuwendung gehabt. Sie dachte an die kleine Nancy, die so robust und gewinnend war, wie sie auf ihren kurzen dicken Beinen im Garten von Cam Cottage herumwatschelte. Die Hühner jagte oder die kleine Schubkarre schob, die Ernie für sie gebastelt hatte. Die von Doris gehätschelt und verwöhnt wurde und immerfort von liebevollen Armen und lächelnden Gesichtern umgeben war. Was war aus dem kleinen Mädchen geworden? War es wirklich möglich, daß Nancy keine Erinnerung an jene frühen Tage hatte?

Leider schien es so zu sein. Du hast mir nie etwas gegeben.

Das stimmte nicht. Sie wußte, daß es nicht stimmte. Sie hatte Nancy das gegeben, was sie allen ihren Kindern gegeben hatte. Ein Zuhause, Sicherheit, Geborgenheit, Trost, Verständnis, einen Platz, wo sie mit ihren Freundinnen hingehen konnte, eine massive Haustür, die sie vor den Gefahren der Außenwelt schützte. Sie dachte an das große Souterrain in der Oakley Street, an den Geruch von Knoblauch und Kräutern, die Wärme des großen Herdes und das Feuer im Kamin. Sie erinnerte sich, wie sie an langen Winternachmittagen aufgeregt schnatternd und mit einem Bärenhunger von der Schule kamen, ihre Ranzen hinwarfen und ihre Mäntel auszogen und sich an den Tisch setzten, um gewaltige Mengen von Würstchen, Spaghetti, Fischfrikadellen, Toast mit Butter und Zwetschgenkuchen zu vertilgen und literweise Kakao zu trinken. Sie dachte, wie schön es in der Weihnachtszeit dort unten gewesen war, an den herrlichen Duft der Tanne und die vielen Weihnachtskarten, die an roten Bändern aufgehängt waren wie Wäsche an der Leine. Sie dachte an die Sommer, wenn die Glastüren zum Garten den ganzen Tag offengestanden hatten, an den Schatten unter den Bäumen, den Geruch der Tabakpflanzen und den Duft des Goldlacks. Sie dachte an die Kinder, die im Garten gespielt und vor lauter Lebensfreude fröhlich gekreischt hatten. Nancy war eines von ihnen gewesen.

All das hatte sie Nancy gegeben, aber sie hatte ihr nicht das geben können, was sie sich wünschte (Nancy sagte nie »wünschte«, sie sagte »brauchte«), weil sie nie genug Geld für die Kleidungsstücke und die anderen teuren Dinge gehabt hatte, die Nancy unbedingt wollte. Partykleider, Puppenkinderwagen, ein Pony, Internate, einen Debütantinnenball und eine Saison in London. Eine große und protzige Hochzeit war der Gipfel ihres Ehrgeizes gewesen, aber dieser Herzenswunsch war nur durch die Intervention Dolly Keelings erfüllt worden, die das geschmacklose und peinliche Fest organisiert (und bezahlt) hatte.

Endlich legte sie die Bürste hin. Sie war immer noch zornig auf Nancy, aber die einfache Tätigkeit hatte sie beruhigt. Sie fühlte sich schlagartig besser, stärker, sicherer und wieder in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Sie flocht das Haar, drehte es hoch, griff nach den Schildpattnadeln und steckte den Knoten energisch.

Als Antonia eine halbe Stunde später kam, um sie zu holen, lag sie mit ihrer Handtasche neben sich und dem Buch in der Hand wieder auf dem Bett.

Ein leises Klopfen und Antonias Stimme: »Penelope?«

»Herein.« Die Tür ging auf, und Antonia steckte den Kopf ins Zimmer. »Ich wollte nur sehen, ob.« Sie trat ins Zimmer und schloß die Tür hinter sich. »Du bist im Bett!« Sie machte ein besorgtes Gesicht. »Fehlt dir etwas? Bist du krank?«

Penelope klappte das Buch zu. »Nein, nicht krank. Nur ein bißchen müde. Und mir ist nicht danach, zum Dinner hinunterzugehen. Entschuldige. Habt ihr auf mich gewartet?«

»Nur ein paar Minuten.« Antonia setzte sich auf den Bettrand. »Wir sind in die Bar gegangen, aber als du nicht kamst, hat Danus gesagt, ich sollte nachsehen, ob etwas passiert sei.« Sie sah, daß Antonia sich festlich angezogen hatte. Sie trug einen engen schwarzen Rock und die weite, cremefarbene Seidenbluse, die sie zusammen in Cheltenham gekauft hatten. Ihr schimmerndes rotblondes Haar hing bis auf die Schultern, und ihr Gesicht war klar und hell wie ein süßer Augustapfel, ohne künstliche Zutaten. Abgesehen davon, daß die langen, seidigen Wimpern nun schwarz waren.

»Möchtest du nichts essen? Soll ich den Zimmerservice anrufen und dir etwas bestellen?«

»Vielleicht. Später. Aber das kann ich selbst tun.«

»Du hast dir bestimmt zuviel zugemutet«, sagte Antonia vorwurfsvoll. »Du bist zuviel ohne Danus und mich herumgelaufen, und jetzt haben wir die Bescherung.«

»Nein, ich war sehr vorsichtig. Ich bin nur ein bißchen sauer.«

»Warum?«

»Ich habe Nancy angerufen, um ihr frohe Ostern zu wünschen, und habe eine Flut von Beschimpfungen über mich ergehen lassen müssen.«

»Wie garstig von ihr. Was um Himmels willen hatte sie dir denn vorzuwerfen?«

»Oh, alles mögliche. Sie scheint mich für senil zu halten. Ich hätte sie als Kind vernachlässigt, und ich sei in meinen alten Tagen leichtsinnig und verschwenderisch geworden. Ich sei geheimnistuerisch und unbedacht in der Wahl meiner Freunde. Ich glaube, es nagt schon lange an ihr, und unsere Reise hierher war nur der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Schleusen haben sich geöffnet, und ich war das nichtsahnende Opfer.« Sie lächelte. »Na ja. Ehe man an etwas erstickt, soll man es sich von der Seele reden, wie Papa immer sagte.«

Antonia blieb empört. »Wie konnte sie dich bloß so aufregen?«

»Ich habe nicht zugelassen, daß sie mich aufregt. Ich bin statt dessen einfach wütend geworden. Das ist viel gesünder. Außerdem habe ich beschlossen, die Sache von der komischen Seite zu sehen, und mir vorgestellt, wie sie in Tränen aufgelöst zu George gelaufen ist, nachdem ich einfach aufgehängt hatte, und ihm aufgezählt hat, was ihre böse Mutter ihr angetan hat. Und wie George sich hinter seiner Times versteckt und kein Wort gesagt hat. Er ist noch nie sehr gesprächig gewesen. Ich habe übrigens nie begreifen können, warum Nancy ausgerechnet ihn geheiratet hat. Kein Wunder, daß ihre Kinder so wenig liebenswert sind. Rupert mit seinem flegelhaften Benehmen und Melanie mit ihrem lauernden Blick und dieser schrecklichen Angewohnheit, in einem fort an ihren Zöpfen herumzukauen.«

»Du redest nicht sehr freundlich von ihnen.«

»Das stimmt. Ich rede gehässig. Aber ich bin froh, daß es so gekommen ist, weil es mir geholfen hat, einen Entschluß zu fassen. Ich werde dir jetzt etwas schenken.« Ihre große Lederhandtasche stand auf dem Nachttisch. Sie langte danach und tastete darin herum. Ihre Finger fanden das Gesuchte. Sie holte das alte Schmucketui heraus. »Da«, sagte sie und reichte es Antonia. »Es ist für dich.«

»Für mich?«

»Ja. Ich möchte, daß du sie bekommst. Nimm es. Mach es auf.« Antonia nahm das Etui widerstrebend entgegen. Sie drückte den winzigen Schnäpper und klappte es auf. Penelope beobachtete sie und sah, wie sie überrascht den Mund öffnete und große Augen bekam. »Aber. Das kann ich nicht annehmen!«

»Doch, du kannst. Ich schenke sie dir. Ich möchte, daß du sie trägst. Tante Ethels Ohrringe. Sie hat sie mir hinterlassen, und ich habe sie mitgehabt, als ich damals bei euch in Ibiza war. Ich habe sie bei der Party getragen, die Cosmo und Olivia gegeben haben. Erinnerst du dich?«

»Natürlich erinnere ich mich. Aber du kannst sie mir nicht einfach schenken. Sie sind bestimmt viel zu wertvoll.«

»Nicht mehr als unsere Freundschaft. Nicht mehr als all die Freude, die du mir geschenkt hast.«

»Aber sie sind sicher Tausende wert.«

»Ungefähr viertausend, glaube ich. Ich konnte es mir nie leisten, sie zu versichern, und mußte sie deshalb von der Bank aufbewahren lassen. Ich habe sie an dem Tag abgeholt, als wir in Cheltenham waren. Und ich nehme an, du kannst dir die Versicherung auch nicht leisten, so daß sie wahrscheinlich wieder in einen Safe wandern werden. Die armen Dinger, sie haben nicht viel vom Leben, nicht wahr? Aber du kannst sie jetzt tragen, heute abend. Wie ich sehe, hast du schon mal Ohrringe getragen, denn deine Ohrläppchen sind durchbohrt. Steck sie an, damit wir sehen können, wie sie an dir aussehen.«

Antonia zögerte immer noch. »Penelope. Wenn sie soviel wert sind, solltest du sie dann nicht für Olivia oder Nancy aufheben? Oder für deine Enkelin? Vielleicht wäre es besser, wenn Melanie sie bekommt.«

»Olivia möchte sicher auch, daß du sie bekommst. Das weiß ich. Sie werden sie an Ibiza und an Cosmo erinnern, und sie wird genau wie ich der Meinung sein, daß du diejenige bist, der sie gehören sollen. Was Nancy betrifft, so ist sie so schrecklich habgierig und materialistisch geworden, daß sie überhaupt nichts verdient. Und ich fürchte, Melanie würde ihre Schönheit nie richtig zu schätzen wissen. Steck sie bitte an.«

Antonia blickte immer noch zweifelnd drein, als sie die Ohrringe behutsam von dem verblichenen Samtkissen nahm und die dünnen goldenen Häkchen durch die Löcher in ihren Ohrläppchen schob. Sie strich ihr Haar nach hinten. »Wie sehen sie an mir aus?«

»Wunderbar. Genau das richtige für diesen Rock und die Bluse. Geh zum Spiegel und urteile selbst.«

Antonia stand auf und ging zum Frisiertisch. Penelope betrachtete ihr Bild im Spiegel und fand, daß sie noch nie ein so hinreißend schönes Mädchen gesehen hatte.

»Sie sind wie für dich gemacht. Man muß sehr groß sein, um so erlesenen antiken Schmuck tragen zu können. Und wenn du mal knapp bei Kasse bist, kannst du sie notfalls verkaufen oder versetzen. Eine kleine Reserve für Notzeiten.«

Antonia war so überwältigt, daß sie zunächst kein Wort hervorbringen konnte. Nach einer Weile wandte sie sich vom Spiegel ab und kehrte zum Bett zurück. Sie schüttelte den Kopf und sagte: »Ich bin ganz verwirrt. Ich weiß einfach nicht, warum du so freundlich und großzügig zu mir sein solltest.«

»Ich glaube, eines Tages, wenn du so alt bist wie ich, wirst du die Antwort wissen.«

»Ich will dir etwas sagen. Ich werde sie heute abend tragen, aber ich nehme sie noch nicht endgültig an, und wenn du es dir morgen früh anders überlegt hast, gebe ich sie dir zurück.«

»Ich werde es mir nicht anders überlegen. Jetzt, wo ich sie an dir gesehen habe, bin ich sicherer denn je, daß du diejenige bist, die sie bekommen soll. Und nun reden wir über etwas anderes. Setz dich wieder und erzähl, was ihr heute gemacht habt. Danus hat bestimmt nichts dagegen. Er kann ruhig noch zehn Minuten warten. Ich möchte alles wissen. Die südliche Küste hat dir doch bestimmt gefallen, nicht wahr? Die Wälder und das Wasser, es ist dort ganz anders als hier. Ich bin im Krieg einmal eine Woche dort gewesen. In einem wunderbaren Haus mit einem Garten, der bis zu einem kleinen Fluß hinunterging. Überall blühten wilde Narzissen, und am Ende des Bootsstegs saßen Dreizehenmöwen. Ich frage mich manchmal, was mit dem Haus geschehen ist und wer jetzt wohl dort wohnt.« Aber all das gehörte nicht zur Sache. »Nun erzähl. Wo seid ihr gewesen? Und wie war der Besuch? Hat es Spaß gemacht?«

»Ja, es war sehr schön. Eine herrliche Fahrt. Und es war sehr interessant. Wir haben das ganze Gartencenter besichtigt. Es war sehr groß, mit Treibhäusern und langen Ziehbeeten und einem Laden mit Blumen und Pflanzen und allen möglichen Gartengeräten. Sie bauen Tomaten an und Frühkartoffeln und viele leckere Gemüsesorten, zum Beispiel diese kleinen Zuckererbsen, die man mit der Schote ißt.«

»Wem gehört es?«

»Einem Ehepaar namens Ashley. Der Sohn heißt Everard. Er war zusammen mit Danus auf der Gartenbaufachschule. Das war der Grund, warum wir hingefahren sind.«

Sie verstummte, als ob es nichts weiter zu berichten gäbe. Penelope wartete, aber sie erzählte nicht weiter. Diese Schweigsamkeit war unerwartet. Penelope sah sie an, aber sie hatte den Blick gesenkt und spielte mit dem leeren Schmucketui, klappte den Deckel auf und zu. Penelope glaubte ein gewisses Unbehagen zu spüren. Irgend etwas war nicht in Ordnung. Sie half freundlich nach. »Und wo habt ihr gegessen?«

»Bei den Ashleys, ein kleiner Lunch in der Küche.« Penelope hatte sich ein trauliches Essen in einem schönen alten Landgasthof vorgestellt. Vielleicht projizierte sie zuviel von sich in die Beziehung der beiden hinein? »Ist Everard verheiratet?«

»Nein. Er lebt bei seinen Eltern. Die Farm gehört seinem Vater, und sie haben das Gartencenter zusammen aufgebaut und führen es gemeinsam.«

»Und Danus würde gern etwas Ähnliches machen?«

»Er hat es gesagt.«

»Hast du mit ihm darüber gesprochen?«

»Ja. Bis zu einem gewissen Punkt.«

»Antonia. Was ist los?«

»Ich weiß nicht.«

»Habt ihr euch gestritten?«

»Nein.«

»Aber es ist etwas passiert.«

»Nein, nichts. Das ist es eben. Ich komme immer nur bis zu einem gewissen Punkt, und dann stoße ich an eine Barriere. Ich glaube, daß ich ihn ganz gut kenne. Ich glaube, daß ich ihm sehr nahe bin, und dann verschanzt er sich wie hinter einer Mauer. Es ist, als ob er einem die Tür vor der Nase zuschlägt.«

»Du magst ihn, nicht wahr?«

»O ja.« Eine Träne quoll unter den gesenkten Wimpern hervor und lief die Wange hinunter. »Du bist in ihn verliebt.« Ein langes Schweigen. Dann nickte Antonia. »Aber du glaubst, er ist nicht in dich verliebt?« Die Tränen kamen nun rascher. Antonia hob die Hand und wischte sie fort. »Ich weiß es nicht. Es ist unmöglich. Wir sind in den letzten Wochen soviel zusammengewesen. Er muß es inzwischen gemerkt haben. Irgendwann erreicht man so etwas wie einen Punkt ohne Wiederkehr, und ich glaube, wir haben ihn hinter uns.« Penelope sagte: »Es ist meine Schuld. Da.« Sie griff zum Nachttisch und reichte Antonia ein paar Kleenex. Antonia schneuzte sich ausgiebig. Als sie fertig war, sagte sie: »Warum sollte es deine Schuld sein?«

»Weil ich nur an mich selbst gedacht habe. Ich wollte Gesellschaft haben, ich egoistische alte Person. Deshalb habe ich dich und Danus eingeladen, nach Porthkerris mitzukommen. Vielleicht wollte ich auch ein wenig Schicksal spielen. Euch zusammenbringen. So was geht immer schief. Ich habe mich für überaus klug gehalten. Aber es war vielleicht der größte Fehler, den ich machen konnte.« Antonia blickte verzweifelt drein. »Was hat er bloß, Penelope?«

»Er ist sehr verschlossen.«

»Er ist mehr als verschlossen.«

»Vielleicht ist es Stolz.«

»Zu stolz, um zu lieben?«

»Nicht unbedingt. Aber ich glaube, es liegt daran, daß er kein Geld hat. Er weiß, was er will, aber er hat nicht das Geld, um es anzupacken. Heutzutage braucht man eine Menge Kapital, wenn man sich selbständig machen will. Vielleicht fürchtet er deshalb, es sei aussichtslos. Vielleicht glaubt er, er sei einfach nicht in der Lage, eine Beziehung anzufangen.«

»Eine Beziehung würde nicht zwangsläufig eine Ehe bedeuten.«

»Ich glaube, bei jemandem wie Danus doch.«

»Ich könnte einfach nur mit ihm Zusammensein. Wir würden uns etwas einfallen lassen. Wir würden gut zusammenarbeiten. In jeder Hinsicht.«

»Hast du es ihm gesagt?«

»Ich kann nicht. Ich habe es versucht, aber ich kann nicht.«

»Ich finde, dann mußt du es noch einmal versuchen. Um euer beider willen. Sag ihm, was du für ihn empfindest. Leg die Karten auf den Tisch. Ihr seid zumindest gute Freunde. Du kannst doch ganz aufrichtig zu ihm sein?«

»Du meinst, ich soll ihm sagen, daß ich ihn liebe und den Rest meines Lebens mit ihm verbringen möchte und daß es mir gleich ist, ob er Geld hat oder nicht, und daß es mir auch gleich ist, ob er mich heiraten will oder nicht?«

»Ich gebe zu, so ausgedrückt klingt es ein bißchen abschreckend. Aber. ja. Ich nehme an, das ist es, was ich meine.«

»Und wenn er antwortet, ich solle ihn in Ruhe lassen?«

»Du wirst sehr verletzt und traurig sein, aber du wirst wenigstens wissen, woran du bist. Aber ich glaube aus irgendeinem Grunde nicht, daß er so reagieren wird. Ich glaube, er wird ehrlich zu dir sein, und du wirst feststellen, daß seine ganze bisherige Haltung nichts mit dir und eurer Beziehung zu tun hat.«

»Wie kann das sein?«

»Ich weiß es nicht. Ich wünschte, ich wüßte es. Ich würde gern wissen, warum er nicht trinkt und nicht Auto fährt. Es geht mich zwar nichts an, aber ich wüßte es gern. Er verbirgt irgend etwas, das steht fest. Aber soweit ich ihn kenne, kann es nichts sein, wessen er sich schämen müßte.«

»Ich glaube, selbst dann würde es mir nichts ausmachen.« Antonia hatte aufgehört zu weinen. Sie putzte sich wieder die Nase und sagte: »Entschuldige. Ich wollte nicht losheulen.«

»Es ist manchmal besser, als seine Tränen mit Gewalt zu unterdrücken.«

»Er ist einfach der erste Mann, zu dem ich mich je hingezogen gefühlt habe und. und dem ich je nahe gewesen bin. Ich glaube, wenn es andere gegeben hätte, würde ich leichter damit fertig. Aber ich kann nichts dagegen machen, wie ich fühle, und ich glaube, ich könnte es nicht ertragen, ihn zu verlieren. Schon als ich ihn in Podmore’s Thatch zum erstenmal sah, wußte ich, daß er etwas Besonderes war, daß er eine wichtige Rolle in meinem Leben spielen würde. Und solange wir dort waren, stimmte alles. Es war vollkommen unbefangen und natürlich, und wir konnten zusammen reden und zusammen arbeiten und Pflanzen setzen, und es gab überhaupt keine Spannung zwischen uns. Aber hier ist es auf einmal anders. Es ist eine unwirkliche Situation, über die ich offenbar keine Kontrolle habe.«

»O Liebling, es ist alles meine Schuld. Es tut mir so leid. Ich dachte, es würde romantisch für euch sein und euch noch näher zusammenbringen. Bitte, du darfst nicht wieder weinen. Du hättest Ringe unter den Augen, und es würde den ganzen Abend verderben.«

»Ich wünschte, ich wäre nicht ich«, sprudelte Antonia heraus. »Ich wünschte, ich wäre Olivia. Olivia würde nie in eine solche verquere Lage kommen.«

»Du bist nicht Olivia. Du bist du. Du bist sehr schön, und du bist noch jung. Du hast noch alles vor dir. Wünsch dir nie, jemand anders zu sein, nicht einmal Olivia.«

»Sie ist so stark. Und so klug.«

»Du wirst es auch werden. Und jetzt wasch dir das Gesicht und kämm dich, und dann geh nach unten und sag Danus, daß ich heute abend allein sein möchte, um mich zu erholen, und dann trinkt ihr einen Cocktail und geht zum Dinner, und beim Essen wirst du ihm all das sagen, was du mir gesagt hast. Du bist kein Kind mehr. Ihr seid beide keine Kinder mehr. Diese Situation kann nicht so weitergehen, und ich werde nicht zulassen, daß ihr euch unglücklich macht. Danus ist ein sehr lieber Mensch. Was auch geschieht, was er auch sagen mag, er wird dir nie absichtlich weh tun.«

»Nein. Das weiß ich.« Sie küßten sich auf die Wange. Antonia stand auf und ging ins Bad, um sich das Gesicht zu waschen. Sie kam wieder ins Zimmer, trat zum Frisiertisch und kämmte sich mit Penelopes Kamm.

»Die Ohrringe werden dir Glück bringen«, sagte Penelope. »Und dir Selbstvertrauen geben. Nun beeil dich und geh. Danus fragt sich bestimmt schon, was aus uns beiden geworden ist. Und vergiß nicht, sag ihm alles, und hab keine Angst. Du darfst nie Angst davor haben, offen und ehrlich zu sein.«

»Ich werde es versuchen.«

»Gute Nacht, Liebling.«

»Gute Nacht.«