Noel Keeling war ein guter Sportler, vor allem ein enorm reaktionsschneller Squash-Spieler, aber ansonsten hielt er nicht viel von körperlicher Betätigung. Wenn er an einem Wochenende auf dem Land von der Gastgeberin nachmittags zum Bäumebeschneiden oder zu gemeinschaftlichen Gartenarbeiten abkommandiert wurde, suchte er sich unweigerlich die leichtesten Aufgaben aus, sammelte kleine Zweige für das Feuer oder zwickte die verblühten Rosen von den Stöcken und Büschen. Er erbot sich freiwillig, den Rasen zu mähen, aber nur, wenn es einen Motormäher gab, auf dem man sitzen konnte, und er sorgte dafür, daß jemand anders, gewöhnlich ein Mädchen, das in ihn vernarrt war, das gemähte Gras auf eine Schubkarre lud und zum Komposthaufen beförderte. Wenn es ganz schlimm kam, zum Beispiel, wenn Zaunpfähle mit einem Preßlufthammer in steinigen Boden getrieben werden mußten oder wenn sie ein großes Pflanzloch für einen neu gekauften Strauch ausheben sollten, pflegte er sich unauffällig ins Haus zu stehlen, eine Kunst, die er in jahrelanger Übung gemeistert hatte wie kaum ein anderer, und wenn die Mitgäste dann von der Arbeit erschöpft hereinkamen, saß er, von den Blättern der Sonntagszeitung umgeben, gemütlich vor dem Fernseher und sah sich die Übertragung eines Cricketspiels oder eines Golfturniers an.

Ganz ähnlich organisierte er sein Vorhaben auch diesmal.

Er würde den Sonnabend damit verbringen, das ganze Gerumpel zu sichten suchen. (Die schwere Arbeit, das Schieben und Heben und besonders das Hinunterwuchten der Sachen - zwei schmale Treppen! -, konnte bis zum nächsten Tag warten, wenn der neue Gärtner kam, dem er nur ein paar Anweisungen zu geben brauchte.) Wenn er bei seiner Suche Erfolg haben und eine, zwei oder sogar mehr Ölskizzen von Lawrence Stern finden sollte, würde er so tun, als sei er nicht weiter überrascht. Sie könnten vielleicht interessant sein, würde er zu seiner Mutter sagen, und sein weiteres Verhalten würde ganz davon abhängen, wie sie reagierte. Vielleicht lohnt es sich, daß man sie einem Fachmann zeigt, ich hob da einen alten Freund, Edwin Mundy, er ist Kunsthändler...

Am nächsten Morgen stand er früh auf und machte sich ein üppiges Frühstück - Spiegeleier mit Speck und Würstchen, vier Scheiben Toast, Butter und Marmelade, eine Kanne Kaffee. Während er es am Küchentisch einnahm, sah er zu, wie der Regen ans Fenster klatschte, und freute sich über das schlechte Wetter, weil seine Mutter ihn nun kaum auffordern konnte, irgendeine blöde Arbeit im Garten zu machen. Als er die zweite Tasse Kaffee trank und endlich ganz wach war, erschien sie in ihrem Morgenrock und schien sich nicht wenig zu wundern, daß er so früh auf war und sich selbst Frühstück gemacht hatte.

»Du wirst doch nicht zuviel Krach machen, Liebling? Ich möchte, daß Antonia möglichst lange schläft. Das arme Kind, sie ist noch völlig fertig von all dem, was sie durchgemacht hat.«

»Ich habe gehört, wie ihr bis zum frühen Morgen miteinander getuschelt habt. Was hattet ihr denn so Wichtiges zu besprechen?«

»Oh, dies und das.« Sie schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. »Noel, du wirfst doch bestimmt nichts weg, ohne mich vorher zu fragen?«

»Ich werde heute nur alles sichten und ordnen und sortieren. Wir haben morgen mehr als genug Zeit, um die Sachen, die du nicht mehr brauchst, zu verbrennen oder zu zerhacken. Aber du mußt vernünftig sein. Alte Strickmuster und Hochzeitsfotos von 1910 kommen ins Feuer.«

»Ich hab jetzt schon Angst davor, was du alles finden wirst.«

»Man kann nie wissen«, antwortete Noel und lächelte wie ein Unschuldsengel. »Vielleicht einen Schatz?«

Er ließ sie bei ihrem Kaffee und ging nach oben. Bevor er mit der Arbeit anfangen konnte, mußte er jedoch ein paar Schwierigkeiten praktischer Natur bewältigen. Der Speicher hatte nur ein winziges Fenster in der Ostgaube, und die einzige Beleuchtung, eine Glühbirne, die an einer Strippe vom mittleren Hahnenbalken baumelte, war so schwach, daß sie das bißchen graues Tageslicht, das durchs Fenster hereindrang, kaum heller machte. Noel ging wieder nach unten und fragte seine Mutter, ob sie eine starke Glühbirne habe. Sie suchte aus einem Karton unter der Treppe eine hervor, und er ging damit wieder auf den Speicher, stieg auf einen altersschwachen Stuhl, schraubte die alte Birne aus der Fassung und die neue hinein. Als er das Licht angeknipst hatte, mußte er jedoch feststellen, daß es immer noch nicht für die eingehende Untersuchung reichte, die er im Sinn hatte. Eine Lampe, er brauchte eine zusätzliche Lampe. Auf einer wackeligen Kommode stand eine, eine schäbige alte Tischlampe mit einem schiefen und eingerissenen Schirm und einer langen Schnur, an der aber kein Stecker war. Das machte einen weiteren Gang nach unten notwendig. Er holte noch eine starke Glühbirne aus dem Karton und fragte seine Mutter, ob sie irgendwo einen Ersatzstecker habe. Sie sagte, sie habe keinen. Noel sagte, er brauche unbedingt einen. Sie sagte, in dem Fall könne er vielleicht einen von einem anderen Elektrogerät nehmen. Er sagte, dann brauche er einen kleinen Schraubenzieher. Sie antwortete, in ihrer Werkzeugschublade müsse einer sein, und er blickte ein wenig gereizt, als sie ihm zeigte, wo diese war.

»Da, Noel. In der Kommode.«

Er zog die Schublade auf und erblickte ein Gewirr von Drähten und ein schreckliches Durcheinander von Sicherungen, Hämmern, Schachteln mit Heftzwecken und plattgedrückten Klebstofftuben. Er wühlte darin herum und entdeckte schließlich einen kleinen Schraubenzieher, mit dem er den Stecker von der Schnur des Bügeleisens abschraubte. Wieder auf dem Speicher, schabte er unter einiger Mühe das alte Isoliermaterial von den Kupferdrahtenden der Lampenschnur und verband sie mit dem Stecker, betete, daß die Schnur lang genug sein möge, ließ sie durch die Luke hinunter und steckte den Stecker in die Steckdose im Flur. Es kam ihm vor, als ginge er zum hundertstenmal wieder nach oben, er knipste die Lampe an und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus, als die Glühbirne aufflammte. Er ließ sich leicht von der geringsten Schwierigkeit entmutigen und war schon kurz davor gewesen zu kapitulieren, aber nun war der Speicher einigermaßen gut beleuchtet, und er konnte endlich anfangen.

Gegen Mittag hatte er ungefähr die Hälfte gesichtet. Er hatte den Inhalt dreier Truhen, eines von Holzwürmern zerfressenen Sekretärs, einer altertümlichen Teekiste und zweier Koffer untersucht. Er hatte Vorhänge und Kissen gefunden, in Zeitungspapier gewickelte Weingläser, dicke Fotoalben mit schrecklichen alten Sepiabildern, ein Puppen-Teeservice und einen Stapel alter und rettungslos vergilbter Kopfkissenbezüge. Er hatte ledergebundene Hauptbücher mit Einträgen in gestochener Handschrift gefunden, mit Schleifen zusammengebundene Stöße von Briefen, halb fertiggestellte Gobelinstickereien, in denen noch rostige Nadeln steckten, und eine Gebrauchsanweisung für die neueste Errungenschaft, eine Maschine, die den Belag von Messerklingen entfernte. Einmal, beim Anblick einer großen Mappe aus Karton, hatte sein Herz höher geschlagen. Mit nervös zitternden Händen hatte er die Schleife gelöst, aber der Inhalt bestand aus dilettantischen Tuschzeichnungen von irgendwelchen Bergen, den Dolomiten, wie er mit Mühe entzifferte, die weiß Gott wer verbrochen hatte. Seine Enttäuschung war grenzenlos, aber er riß sich zusammen und setzte seine Arbeit fort. Er fand Straußenfedern und Seidenschals mit langen verknoteten Fransen, bestickte Tischtücher, die längs den gefalteten Stellen gelbbraun waren, Puzzlespiele und einige angefangene Stickereien. Er fand ein Schachbrett, aber keine Figuren, er fand Spielkarten und Burkes Verzeichnis der adeligen Gutsbesitzerfamilien von 1917. Er fand nichts, was auch nur entfernt Ähnlichkeit mit einem Bild von Lawrence Stern hatte.

Jemand kam die Stiege herauf. Er hockte verschwitzt und staubbedeckt auf einem Schemel und las trübsinnig in einem Haushaltsratgeber, wie man schwarze Wollstrümpfe richtig wäscht, und als er aufblickte, sah er Antonia in der Luke zum Speicher stehen. Sie trug weiße Jeans und Sneaker und einen weißen Pulli, und er mußte unwillkürlich denken, was für ein Jammer es war, daß sie diese weißblonden Wimpern hatte, da ihre Figur absolut umwerfend war. »Hallo«, sagte sie leise und zögernd, als ob es sie Mühe koste, ihn zu stören.

»Hallo, wie geht’s.« Er klappte die alte Schwarte so heftig zu, daß Staub daraus hervorwirbelte und ließ sie auf den Boden fallen, wo sie noch eine Staubwolke veranlaßte. » Wann sind Sie aufgestanden?«

» Gegen elf.«

»Ich habe Sie hoffentlich nicht geweckt?«

»Nein. Ich habe nichts gehört.« Sie bahnte sich vorsichtig einen Weg zwischen den sorgsam sortierten Haufen und Stapeln hindurch und kam zu ihm. »Wie kommen Sie voran?«

»Langsam. Ich versuche, die Spreu vom Weizen zu trennen. Alles auszusortieren, was besonders feuergefährlich ist.«

»Ich hatte keine Ahnung, daß es hier so schlimm aussieht.« Sie blieb stehen und schaute sich um. »Woher kommt das alles?«

» Gute Frage. Vom Dachboden in der Oakley Street. Und vom Dachboden anderer Häuser, anscheinend bis hin zum Hundertjährigen Krieg. Es muß erblich sein, daß es in dieser Familie kein Mensch fertigbringt, sich von irgend etwas zu trennen.« Antonia bückte sich und hob einen scharlachroten Seidenschal auf. » Er ist sehr hübsch.« Sie legte ihn sich um und kämmte die Fransen mit den Fingern durch. »Wie sieht es aus?«

»Exotisch.«

Sie nahm den Schal von den Schultern und faltete ihn zusammen. »Penelope hat mich hochgeschickt, um zu fragen, ob Sie etwas essen möchten.«

Noel blickte auf die Uhr und sah nicht wenig überrascht, daß es schon halb eins war. Draußen war es nicht heller geworden, und er hatte sich so sehr auf seine Aufgabe konzentriert, daß er jegliches Gefühl für Zeit verloren hatte. Er wurde sich bewußt, daß er nicht nur Hunger, sondern auch Durst hatte. Er stemmte sich vom Schemel hoch und stand auf. »Vor allem brauche ich einen Gin-Tonic.«

»Machen Sie heute nachmittag weiter?«

»Mir wird nichts anderes übrigbleiben. Sonst wird es nie erledigt.«

»Wenn Sie wollen, komme ich mit und helfe Ihnen.«

Aber er wollte sie nicht dabei haben. Er wollte nicht, daß ihm irgend jemand zusah. »Das ist sehr nett von Ihnen, aber ich glaube, ich komme besser allein klar. Wenn ich mein Tempo selbst bestimmen kann. Gehen wir.« Er winkte sie vor sich her zur Treppe. »Sehen wir mal nach, was Ma zum Lunch gezaubert hat.« Um halb sieben Uhr abends war die lange Suche beendet, und Noel wußte, daß er eine Niete gezogen hatte. Der Dachboden von Podmore’s Thatch barg keinen Schatz. Er hatte keine einzige Skizze von Lawrence Stern gefunden, und das ganze Unternehmen war Zeitverschwendung gewesen. Während er versuchte, mit dieser bitteren Wahrheit fertig zu werden, stand er mit den Händen in den Taschen da und betrachtete das neue Durcheinander, das er aus dem alten gemacht hatte. Er war müde und schmutzig und schwer enttäuscht, und seine schlechte Laune schlug in Zorn und Groll um. Beides richtete sich größtenteils gegen seine Mutter, die an allem schuld war.

Sie hatte die Skizzen wahrscheinlich irgendwann vernichtet oder für ein Butterbrot verkauft oder sogar verschenkt. Ihre gedankenlose und törichte Großzügigkeit und ihr Hamstertrieb, der sie veranlaßte, jeden alten Mist aufzubewahren, hatten ihn schon immer geärgert, und nun platzte er fast vor Wut. Seine Zeit war kostbar, und er hatte einen ganzen Tag damit vergeudet, den Müll von weiß Gott wie vielen Generationen zu sortieren, nur weil sie sich nie dazu hatte durchringen können, es selbst zu tun. Er war so wütend, daß er einen Augenblick lang erwog, alles hinzuwerfen und das Mittel zu benutzen, das normalerweise für Einstern-Wochenenden reserviert war - sich plötzlich an eine dringende Verabredung zu erinnern, auf Wiedersehen zu sagen und nach London zurückzufahren.

Aber das war nicht möglich, dazu war er zu weit gegangen und hatte zuviel geredet. Er hatte das Unternehmen in Gang gesetzt (Haus nicht ausreichend gesichert, Feuerrisiko, ungenügende Versicherung und all das), und er hatte Olivia gesagt, daß es möglicherweise Skizzen gab. Obgleich er jetzt so gut wie sicher war, daß keine existierten, durfte er sich nicht einfach gehenlassen, denn er konnte sich nur zu gut vorstellen, was für bissige Bemerkungen Olivia dann machen würde, und da er in dieser Hinsicht kein dickes Fell hatte, wollte er sich nicht dem Spott seiner scharfzüngigen Schwester aussetzen.

Es hatte keinen Sinn. Er mußte bleiben. Er versetzte einem zerbrochenen Puppenbett einen wütenden Tritt, knipste die Glühbirne und die alte Lampe aus und ging hinunter.

In der Nacht hörte es auf zu regnen, ein leichter Wind von Südost blies die Wolken fort und zerstreute sie. Als der Sonntagmorgen graute, war der Himmel klar, und die friedliche Stille ringsum wurde nur von einem Chor zwitschernder Vögel unterbrochen. Das Gezwitscher war es, was Antonia weckte. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das offene Fenster des Zimmers, bildeten eine helle Bahn auf dem Teppich und ließen die tiefrosa Rosen auf dem Vorhang intensiv leuchten. Sie stand auf und trat ans Fenster, um den neuen Tag zu begrüßen, stützte die bloßen Unterarme auf das Fensterbrett und sog die feuchte, nach Moos riechende Luft ein. Das Strohdach reichte so tief, daß einige Halme sie auf dem Kopf kitzelten, und sie sah den glitzernden Tau auf dem Gras und die beiden Drosseln, die einander in den Zweigen der Kastanie zu haschen versuchten, und genoß den Anblick eines wunderschönen dunstverhangenen Frühlingsmorgens.

Er war halb acht. Da es gestern den ganzen Tag geregnet hatte, waren sie überhaupt nicht nach draußen gegangen, Antonia, die sich immer noch wie in einem bösen Traum fühlte und von den Geschehnissen der letzten Wochen wie zerschlagen war, hatte den häuslichen Tag sehr begrüßt. Sie hatte allein im Wohnzimmer am Kamin gesessen, während draußen die Tropfen an die Scheiben klatschten, und sie hatte Licht gemacht, weil es so grau und trübe war. Sie hatte sich ein Buch herausgesucht, einen Roman von Elizabeth Jane Howard, den sie noch nicht kannte, und nach dem Mittagessen hatte sie sich auf dem Sofa zusammengerollt und angefangen, ihn zu lesen, und bald alles andere vergessen. Dann und wann war Penelope hereingekommen, um ein Scheit nachzulegen oder ihre Brille zu suchen, und später hatte sie sich zu ihr gesetzt, nicht um zu reden, sondern um Zeitung zu lesen, und dann hatte sie Tee gekocht. Noel hatte den ganzen Tag oben auf dem Speicher gearbeitet und hantiert, und als er dann endlich heruntergekommen war, war er offensichtlich schlechter Laune.

Das verursachte Antonia ein leicht unbehagliches Gefühl. Sie war nun mit Penelope in der Küche, wo sie das Dinner zubereiteten, und ein Blick auf Noels finstere Miene genügte, um dieses ungute Gefühl zu verstärken, und sie befürchtete, daß die friedliche Stimmung, die bis jetzt geherrscht hatte, nicht mehr lange anhalten würde.

Um ehrlich zu sein, flößte ihr alles an Noel ein gewisses Unbehagen ein. Er hatte das lebhafte Temperament und die Schlagfertigkeit seiner Schwester, aber nichts von ihrer Herzlichkeit und Wärme. Antonia kam sich in seiner Gegenwart dumm und linkisch vor, und ihr fiel kaum etwas zu sagen ein, was nicht banal oder langweilig klang. Als er mit staubverschmiertem Gesicht und zusammengepreßten Lippen in die Küche gekommen war, um sich einen doppelten Whisky einzuschenken und seine Mutter zu fragen, warum zum Teufel sie all den Krempel von der Oakley Street nach Gloucestershire mitgenommen habe, machte Antonia sich auf eine Szene gefaßt oder, schlimmer noch, auf einen Abend, an dem sie nur das Allernotwendigste sagen und froh sein würden, wenn sie sich endlich nach oben in ihre Zimmer zurückziehen könnten, aber Penelope benahm sich sehr souverän, ließ sich nicht von der Frage provozieren und schien entschlossen, Herrin der Lage zu bleiben.

»Ich nehme an, ich war einfach zu faul«, antwortete sie ihrem Sohn leichthin. »Es war leichter, alles in den Möbelwagen zu packen, als anzufangen zu sortieren und zu entscheiden, was ich damit machen sollte. Ich hatte auch ohne all die alten Bücher und Briefe genug um die Ohren.«

»Aber wer hat bloß den ganze Kram aufgehoben?«

»Ich habe keine Ahnung.«

Er gab sich angesichts ihrer guten Laune geschlagen, trank seinen Whisky in einem Zug aus und entspannte sich zusehends. Er brachte sogar ein verkniffenes Lächeln zustande. »Du bist die unmöglichste Person, die ich kenne«, erklärte er seiner Mutter. Sie war auch jetzt nicht um eine Antwort verlegen. »Ja, ich weiß, aber wir können nicht alle vollkommen sein. Denk einfach daran, wie gut ich in anderen Dingen bin. Zum Beispiel, wenn ich für dich koche oder dafür sorge, daß immer die richtige Flasche im Schrank steht. Du erinnerst dich vielleicht, daß die Mutter deines Vaters nie etwas anderes im Haus hatte als diesen schrecklichen süßen Sherry.«

Er verzog angewidert das Gesicht. »Was gibt’s zum Essen?«

»Gebackene Mandelforelle mit Salzkartoffeln und zum Nachtisch Himbeeren mit Sahne. Du hast es dir redlich verdient. Und du kannst dir aussuchen, was für einen Wein du dazu trinken willst, und dann kannst du mit deinem Drink nach oben gehen und baden.« Sie lächelte ihren Sohn an, aber ihre dunklen Augen blickten hart. »Ich bin sicher, daß du es nach der langen Arbeit nötig hast.«

So war es doch noch ein ganz angenehmer Abend geworden. Da sie alle müde waren, gingen sie früh zu Bett, und Antonia hatte die Nacht durchgeschlafen. Nun schien ihre innere Energie zurückgekehrt zu sein, und sie fühlte sich zum erstenmal seit vielen Tagen wieder so wie früher, bevor all das Furchtbare geschehen war. Sie hatte auf einmal den Wunsch, draußen unter freiem Himmel zu sein, durchs Gras zu laufen, ihre Lungen mit frischer Luft zu füllen. Der Frühlingsmorgen wartete auf sie, und sie wollte ein Teil von ihm sein.

Sie zog sich an, ging nach unten, nahm einen Apfel aus der Schale auf der Anrichte und ging durch den Wintergarten hinaus. Während sie den Apfel aß, lief sie über den Rasen. Der Tau drang durch die Segeltuchsneaker, und sie hinterließ eine Spur auf dem feuchten Gras. Sie schritt unter der Kastanie hindurch, sah die Lücke in der Ligusterhecke und ging zur Obstwiese. Ein schmaler Pfad führte durch das ungemähte Gras, in dem schon Osterglocken standen, die bald erblühen würden, an einem Aschenhaufen vorbei zu einer kürzlich geschnittenen Weißdornhecke. Sie ging durch die Pforte zu dem schmalen Fluß, der zwischen hohen Uferböschungen dahinströmte. Sie folgte ihm flußab unter den überhängenden Zweigen einiger Weiden hindurch, und als die Weiden aufhörten, sah sie weite Feuchtwiesen, auf denen Kühe grasten, und dahinter begann eine sanfte Hügellandschaft. Auf den höher gelegenen Weiden waren Schafe, und ein Mann mit einem Hund auf den Fersen schritt den Hang zu ihnen hinauf.

Sie war nun in der Nähe des Dorfes. Die Straße beschrieb einen Bogen um eine alte Kirche mit einem gedrungenen Turm und kleinen Häusern aus goldgelbem Stein. Aus ihren Schornsteinen stieg Rauch von eben angezündeten Feuern kerzengerade in die unbewegte Luft. Die Sonne war im kristallenen Blau des Himmels ein ganzes Stück höher gestiegen, und ihre wärmenden Strahlen weckten den Geruch des Asphaltbelags der Brücke. Es war ein guter Geruch. Sie setzte sich auf die Brücke, ließ ihre naß gewordenen Beine über den Rand hängen und aß den Apfel zu Ende. Sie warf das Gehäuse in das klare Wasser und sah zu, wie es langsam um die eigene Achse gedreht und davongetragen wurde. Gloucestershire, fand sie, hatte eine poetische Schönheit und war besser, als sie es sich vorgestellt hatte. Und Podmore’s Thatch war traumhaft, und das Beste von allem war Penelope. In ihrer Nähe fühlte sie sich unwillkürlich sicher und geborgen und glaubte wieder daran, daß das Leben, das in letzter Zeit so unerträglich grausam gewesen war, doch noch Dinge für sie bereithielt, auf die zu warten sich lohnte. »Du kannst so lange bleiben, wie du möchtest«, hatte sie zu ihr gesagt, und das war sehr verlockend, aber sie wußte, daß sie nicht ewig bleiben konnte. Doch was sollte sie tun? Sie war achtzehn. Sie hatte keine Familie, kein Zuhause, kein Geld und keine beruflichen Fertigkeiten. In den wenigen Tagen, die sie in London gewesen war, hatte sie sich Olivia anvertraut. »Ich weiß nicht mal, was ich tun möchte. Ich meine, ich habe mich noch nie zu einem bestimmten Beruf hingezogen gefühlt. Wenn ja, wäre es bestimmt leichter. Und selbst wenn ich plötzlich beschließe, Sekretärin oder Ärztin oder Steuerberaterin zu werden. Die Ausbildung kostet soviel.«

»Ich könnte dir helfen«, hatte Oliva gesagt.

Antonia erschrak. »Bitte, du darfst nicht einmal an so etwas denken«, sagte sie. »Du bist nicht für mich verantwortlich.«

»Irgendwie doch. Du bist Cosmos Tochter. Und ich habe nicht so sehr daran gedacht, große Schecks auszustellen. Ich dachte, ich könnte dir auf andere Weise helfen. Dich mit Leuten zusammenbringen. Hast du schon mal erwogen, als Fotomodell zu arbeiten?«

Als Fotomodell. Antonia sperrte überrascht den Mund auf.

»Ich? Aber das ist unmöglich. Ich sehe nicht gut genug aus.«

»Man braucht nicht besonders gut auszusehen. Man braucht nur eine gute Figur und ein Gesicht, das Ausstrahlung hat. Und beides hast du.«

»Ich könnte nie ein Fotomodell sein. Ich werde verlegen, sobald jemand einen Fotoapparat in meine Richtung hält.« Olivia lachte. »Daran würdest du dich schnell gewöhnen. Alles, was du brauchst, ist ein guter Fotograf, jemand, der dir Selbstvertrauen gibt. Ich habe es schon öfter erlebt. Häßliche Entlein werden auf einmal Schwäne.«

»Ich nicht.«

»Sei nicht so bescheiden. Du hast ein sehr gutes Gesicht, bis auf diese weißen Wimpern. Aber sie sind wunderbar lang und dicht. Es ist mir ein Rätsel, daß du keine Wimperntusche benutzt.« Antonia litt schrecklich unter ihren Wimpern und wurde jedesmal, wenn die Rede darauf kam, vor Verlegenheit rot. »Ich habe es versucht, Olivia, aber es geht nicht. Entweder bin ich allergisch gegen die Farbstoffe, oder es ist etwas anderes. Meine Lider schwellen an, und dann bekomme ich ganz dicke Backen und sehe aus wie eine Steckrübe, und meine Augen fangen an zu tränen, und das ganze Schwarz läuft mir das Gesicht herunter. Es ist eine Katastrophe, aber ich kann nichts dagegen machen.«

»Warum läßt du sie nicht färben?«

»Färben?«

»Ja. Schwarz färben. In einem Schönheitssalon. Dann wären alle deine Probleme gelöst.«

»Aber wäre ich dagegen nicht auch allergisch?«

»Ich glaube nicht. Ich finde, es ist einen Versuch wert. Aber das ist jetzt nicht der springende Punkt. Wir haben davon geredet, daß du vielleicht als Fotomodell arbeiten könntest. Nur ein oder zwei Jahre. Du würdest eine Menge Geld verdienen und könntest ein bißchen sparen, und wenn du dann herausgefunden hast, was du wirklich tun möchtest, hättest du etwas Kapital. Und wärst unabhängig. Denk darüber nach, während du in Podmore’s Thatch bist. Sag mir Bescheid, was du beschlossen hast, und ich werde Probeaufnahmen arrangieren.«

»Du bist so freundlich zu mir.«

»Kein bißchen. Ich versuche nur, mir eine praktische Lösung einfallen zu lassen.«

Nüchtern betrachtet, war es keine schlechte Idee. Der Gedanke, auf diese Weise zu arbeiten, machte ihr angst, aber wenn sie damit etwas Geld verdienen könnte, wäre es ein wenig Angst, peinliche Momente und dicke Schminkschichten wert. Und außerdem fiel ihr absolut nichts ein, was sie gern tun würde, so krampfhaft sie auch nachdachte. Sie kochte ganz gern, arbeitete gern im Garten, pflanzte und pflückte Obst - in den zwei Jahren mit Cosmo in Ibiza hatte sie kaum etwas anderes getan -, aber mit Obstpflücken konnte man schlecht seinen Lebensunterhalt verdienen. Und sie wollte nicht in einem Büro arbeiten, sie wollte nicht Verkäuferin werden, sie wollte weder in einer Bank noch in einem Krankenhaus arbeiten. Hatte sie eine andere Wahl?

Auf der anderen Seite des Tals begannen die Kirchenglocken zu läuten, und die Klänge gaben der friedlichen Landschaft ringsum eine getragene Melancholie. Antonia dachte an andere Glocken, an die hellklingenden Glocken der Ziegen in Ibiza, die frühmorgens auf den kargen und steinigen Wiesen um Cosmos Haus gebimmelt hatten, und an die anderen Geräusche, das Hähnekrähen und das nächtliche Zirpen der Zikaden, an die Geräusche von Ibiza, die nun, für immer verklungen, der Vergangenheit angehörten. Sie dachte an Cosmo, und sie konnte es zum erstenmal tun, ohne daß ihr Tränen in die Augen stiegen. Kummer war eine lähmende Bürde, aber man konnte sie irgendwann ablegen und hinter sich lassen, weitergehen. Antonia hatte erst einige wenige Schritte getan, doch sie war bereits imstande, sich umzudrehen und zurückzuschauen, ohne zu weinen. Es hatte nichts mit Vergessen zu tun. Nein, man vergaß nicht - man akzeptierte es. Nichts war so schlimm wie vorher, wenn man es einmal akzeptiert hatte. Die Glocken läuteten vielleicht zehn Minuten, und dann verstummten sie plötzlich. Die nun eintretende Stille begann sich langsam mit den leisen Geräuschen des Morgens zu füllen. Das Murmeln des Wassers, das Muhen der Kühe, das Blöken der Schafe. Ein Hund bellte. Ein Auto wurde angelassen. Antonia merkte auf einmal, daß sie nagenden Hunger hatte. Sie stand auf, verließ die Brücke und ging den Weg zurück, den sie gekommen war, nach Podmore’s Thatch zum Frühstück. Vielleicht ein gekochtes Ei und eine Scheibe Vollkornbrot mit Butter und starker Tee. Der bloße Gedanke an diese Köstlichkeiten erfüllte sie mit Befriedigung. Zum erstenmal seit Wochen ganz einfach glücklich, fing sie an zu rennen, zog unter den Weiden den Kopf ein, um nicht von den Zweigen ins Gesicht getroffen zu werden. Sie war glücklich und freudig erregt wie ein kleines Mädchen, dem gleich etwas Wunderbares widerfahren wird.

Als sie die Weißdornhecke und die Pforte zu Penelopes Obstwiese erreichte, war sie erhitzt und außer Atem. Sie lehnte sich einen Moment keuchend an die Pforte und machte sie erst dann auf, um zum Haus zu gehen. Während sie das tat, nahm sie eine Bewegung wahr, und als sie genauer hinsah, erblickte sie einen Mann, der eine Schubkarre den Weg vom Garten zu den knorrigen Apfel- und Birnenbäumen mit Penelopes Wäscheleine entlangschob. Ein junger Mann, großgewachsen, mit langen Beinen. Nicht Noel. Jemand anders.

Sie machte die Pforte zu. Das Klicken erregte seine Aufmerksamkeit, und er blickte auf und sah sie.

»Guten Morgen«, rief er und schob die Karre, deren quietschendes Rad dringend geölt werden mußte, weiter den holprigen Weg entlang. Antonia blieb, wo sie war, und schaute ihm zu. Neben dem kleinen Haufen von Asche und Zweigresten, der vom Feuer übriggeblieben war, blieb er stehen, stellte die Karre ab, richtete sich auf und drückte den Rücken durch. Er erwiderte ihren Blick. Er trug geflickte und ausgewaschene Jeans, die in Gummistiefeln steckten, und einen alten und zu großen Pullover über einem blauen Hemd, dessen Kragen hochgeschlagen war. Seine Augen, die vom selben Blau waren wie das Hemd, lagen tief in einem gebräunten, wettergegerbten Gesicht.

Er sagte: »Ein schöner Tag heute, nicht wahr?«

»Ja.«

»Haben Sie einen Spaziergang gemacht?«

»Nur hinunter zur Brücke.«

»Sie müssen Antonia sein.«

»Ja.«

»Mrs. Keeling hat mir erzählt, daß Sie kommen.«

»Und wer sind Sie?«

»Der Gärtner. Danus Muirfield. Ich bin heute außer der Reihe gekommen, um den Speicher ausräumen zu helfen und die Sachen zu verbrennen, die Mrs. Keeling nicht mehr braucht.« Die Schubkarre enthielt einige Kartons und alte Zeitungen, und schräg darüber lag eine lange Heugabel. Er nahm sie und fing an, die feuchte Asche des letzten Feuers zur Seite zu räumen, um ein Stück trockenen Boden freizulegen.

»Sie werden einen ganzen Berg von Sachen verbrennen müssen«, sagte Antonia. »Ich bin gestern auf dem Dachboden gewesen und habe es gesehen.«

»Das macht nichts, wir haben ja den ganzen Tag Zeit.« Es gefiel ihr, daß er »wir« sagte. Er schien sie einzuschließen, während Noel ihr schüchternes Angebot, ihm zu helfen, ziemlich kühl abgelehnt hatte. Es gab ihr das Gefühl, dazuzugehören und willkommen zu sein.

»Ich habe noch nicht gefrühstückt, aber wenn ich es getan habe, komme ich und helfe Ihnen.«

»Mrs. Keeling ist in der Küche und kocht Eier.« Antonia lächelte. »Ich habe gehofft, daß es ein gekochtes Ei geben wird.«

Aber er erwiderte das Lächeln nicht. »Dann gehen Sie jetzt am besten und frühstücken Sie«, sagte er. Er trieb die Heugabel in die schwarze Erde und drehte sich um, um einige alte Zeitungen aus der Schubkarre zu nehmen. »Mit leerem Magen kann man keine schwere Arbeit tun.«

Nancy Chamberlain fuhr, die in Schweinslederhandschuhen steckenden Hände fest um den Lenkradkranz gelegt, durch die lieblichen Cotswold Hills nach Podmore’s Thatch, zum Sonntagsessen bei ihrer Mutter. Sie war ausgesprochen guter Laune, und zu dieser Hochstimmung trugen verschiedene Faktoren bei. Einer davon war das überraschend schöne Wetter, der strahlend blaue Himmel, der sich nicht allein auf sie, sondern auch auf ihre Familie ausgewirkt hatte, denn die Kinder hatten sich beim Frühstück ausnahmsweise einmal nicht gezankt. George hatte ein paar launige Bemerkungen gemacht, während er seine Sonntagmorgenwürstchen verzehrte, und Mrs. Croftway hatte sich sogar freiwillig erboten, die Hunde am Nachmittag auszuführen.

Da sie heute kein großes Essen auf den Tisch bringen mußte, hatte sie genug Zeit für alles gehabt. Zeit, um sich sorgfältig zurechtzumachen (sie hatte ihr bestes Kostüm an und die Crepe-de-Chine-Bluse mit der Halsschleife); Zeit, um Melanie und Rupert zu den Wainwrights zu bringen; Zeit, um George beim Aufbruch zu seiner Kirchenbesprechung mit einem Winken zu verabschieden; sogar Zeit, um zum Gottesdienst zu gehen. Wenn Nancy zum Gottesdienst ging, kam sie sich immer fromm und gut vor, so wie sie sich wichtig und bedeutend vorkam, wenn sie an Ausschußsitzungen teilnahm. Heute morgen wurde sie also ihrem Selbst-Image gerecht. Sie war eine tüchtige und gut organisierte Anwaltsfrau vom Land, deren Kinder den Tag über bei akzeptablen Freunden eingeladen waren, während sie ihre leidende Mutter besuchte und ihr Mann wichtigen Verpflichtungen nachging und das Haus von treu ergebenen Dienstboten versorgt wurde.

All das erfüllte sie mit einem ungewohnten Selbstvertrauen, in das sich eine gehörige Portion Stolz mischte, und während sie durch das hügelige Land fuhr, legte sie sich gründlich zurecht, was sie im Lauf des Nachmittags tun und sagen würde. Wenn sie mit ihrer Mutter allein war, vielleicht beim Kaffee, würde sie in einem passenden Augenblick die Bilder von Lawrence Stern zur Sprache bringen. Die enorme Summe erwähnen, die Die Wasserträgerinnen gebracht hatten, und darauf hinweisen, wie kurzsichtig es wäre, die Gunst der Stunde nicht zu nutzen, solange die Preise auf diesem hohen Niveau verharrten. Sie stellte sich vor, wie sie es ihrer Mutter ganz ruhig und mit überzeugenden Argumenten vor Augen führte und keinen Zweifel daran ließ, daß sie nur ihr Bestes im Auge hatte. Verkaufen. Natürlich nur die Tafelbilder, die vor Penelopes Schlafzimmer im Flur hingen, wo sie kein Mensch bemerkte, geschweige denn würdigte. Nicht Die Muschelsucher. Es kam wohl nicht in Frage, dieses Bild fortzugeben, das ihre Mutter so liebte und das so untrennbar zu ihrem Leben gehörte, aber sie würde sich dennoch auf George berufen und nicht lange um den heißen Brei herumreden. Eine neue Schätzung durch einen Experten und eine eventuelle Höherversicherung vorschlagen. Penelope würde doch nichts gegen solche vernünftigen und fürsorglichen Ratschläge ihrer Tochter einwenden - obgleich sie, was ihre persönlichen Besitztümer anging, so schrecklich empfindlich war?

Die kurvenreiche Straße hatte den Hügelkamm erreicht, und dort unten im Tal glitzerten die Häuser vom Temple Pudley wie Flintsteine im Sonnenlicht. Sie schaute genauer hin und sah, daß eine schwärzliche Rauchfahne im Garten ihrer Mutter aufstieg. Sie hatte sich so sehr mit dem Plan beschäftigt, die Tafelbilder zu verkaufen und Hunderttausende von nutzbringenden Pfunden zu kassieren, daß sie den eigentlichen Zweck des Wochenendes, der darin bestand, den Speicher von Podmore’s Thatch auszuräumen und das viele nutzlose Gerumpel zu vernichten, vollkommen vergessen hatte.

Wenige Augenblicke später, als die Kirchturmuhr die halbe Stunde schlug, fuhr sie durch das niedrige Tor und hielt vor der offenen Tür. Sie sah Noels Jaguar in der Garage, ein fremdes Fahrrad an der Hauswand und einen einsamen Haufen nicht brennbarer Gegenstände, die offensichtlich auf den Abtransport warteten. Einige Babywaagen, einen Puppenkinderwagen, an dem ein Rad fehlte, ein oder zwei eiserne Bettstellen und einige abgesplitterte Emailnachttöpfe. Sie ging um den Haufen herum und trat ins Haus. »Mutter.«

Die Küche war wie immer voller köstlicher Gerüche, nach Lammbraten, gehackter Minze, einer frischgepreßten Zitrone. Nancy erinnerte sich an ihre Kindheit und die ausgiebigen Mahlzeiten, die es damals in der riesigen Souterrainküche in der Oakley Street gegeben hatte. Das Frühstück schien auf einmal eine Ewigkeit her zu sein, und ihr wurde der Mund wäßrig. »Mutter!«

»Ich bin hier.«

Nancy fand sie im Wintergarten, aber sie tat dort nichts, stand nur gedankenverloren da. Sie sah, daß ihre Mutter nicht für einen festlichen Anlaß angezogen war wie sie selbst, sondern ihre ältesten Sachen anhatte. Einen abgetragenen und verwaschenen Rock aus Jeansstoff, ein Baumwollhemd mit einem durchgescheuerten Kragen und eine gestopfte Strickjacke, deren Ärmel bis über die Ellbogen hochgeschoben waren. Nancy stellte ihre Eidechsenhandtasche hin, streifte die Handschuhe ab und trat auf ihre Mutter zu, um ihr einen Kuß auf die Wange zu geben. »Was machst du hier?« fragte sie.

»Ich überlege, wo wir essen sollen. Ich wollte gerade den Tisch im Eßzimmer decken, und dann dachte ich, es ist ein so schöner Tag, warum sollen wir nicht hier draußen essen. Und es ist angenehm warm, obgleich die Tür zum Garten offensteht. Du mußt unbedingt meine Fresien bewundern! Sind sie nicht herrlich? Wie schön, dich zu sehen, und wie schick du bist. Nun, was meinst du? Sollen wir hier essen? Noel kann in der Küche tranchieren und vorlegen, und wir können unsere Teller selbst herbringen. Ich glaube, es würde Spaß machen. Das erste Picknick des Jahres, und da ohnehin alle schmutzig sind und nachher weiterarbeiten müssen, wäre es auch viel einfacher.«

Nancy warf einen Blick zur Obstwiese und der wabernden Rauchsäule, die sich hinter der Ligusterhecke in den jungfräulichen Himmel erhob.

»Wie kommt ihr voran?«

»Fabelhaft. Alle arbeiten, als ob sie dafür bezahlt würden.«

»Du hoffentlich nicht.«

»Ich? Ich habe nichts getan als das Essen gekocht.«

»Und dieses Mädchen, Antonia?« Nancy sprach den Namen betont kühl aus. Sie hatte Olivia und Penelope immer noch nicht verziehen, daß Antonia hier war, und konnte nicht umhin, insgeheim zu hoffen, daß dieses Arrangement sich als uneingeschränkter Fehlschlag erweisen würde.

Aber ihre Hoffnung wurde zunichte gemacht. »Sie ist in aller Herrgottsfrühe aufgestanden und hat gleich nach dem Frühstück angefangen, den anderen zu helfen. Noel ist oben auf dem Dachboden und gibt Anweisungen, was wohin soll, und Danus und Antonia bringen die Sachen nach unten und schaffen sie zum Feuer.«

»Ich hoffe, sie wird dir nicht lästig, Mutter.«

»Oh, niemals, sie ist ein solcher Schatz.«

»Was hält Noel von ihr?«

»Zuerst hat er gesagt, sie sei nicht sein Typ, weil sie so helle Wimpern habe. Kannst du dir das vorstellen? Wenn er nicht weiter sieht als bis zu den Wimpern, wird er nie eine Frau finden.«

»Zuerst? Hat er seine Meinung geändert?«

»Nur, weil jetzt noch ein junger Mann da ist und Antonia sich anscheinend ein bißchen mit ihm angefreundet hat. Noel mußte schon immer Hahn im Korb sein, aber ich glaube, diesmal hat er nicht aufgepaßt, und ein anderer ist ihm zuvorgekommen.«

»Noch ein junger Mann? Redest du von dem Gärtner?«

»Ja. Von Danus. Ein so lieber Junge.«

Nancy war schockiert. »Du willst sagen, Antonia hat mit dem Gärtner angebändelt?«

Ihre Mutter lachte nur. »O Nancy, du müßtest dein Gesicht sehen! Du darfst nicht solch ein Snob sein, und du solltest mit deinem Urteil warten, bis du den jungen Mann kennengelernt hast.« Aber Nancy war nicht überzeugt. Was ging hier vor? »Hoffentlich verbrennen sie nicht irgend etwas, was du behalten möchtest.«

»Nein. Noel macht seine Sache wirklich sehr gut. Er schickt Antonia alle paar Augenblicke her, um mich zu holen, und dann muß ich nach oben und meine Meinung abgeben. Wir hatten einen kleinen Streit wegen eines wurmstichigen alten Sekretärs. Noel sagte, er solle verbrannt werden, aber Danus antwortete, er sei viel zu gut, um ins Feuer zu wandern, und man könne etwas gegen die Holzwürmer machen. Also sagte ich, wenn er das könne und den Sekretär haben wolle, dürfe er ihn behalten. Noel war nicht sehr erbaut.

Er zog ein Gesicht und ging wieder nach oben, ohne ein weiteres Wort zu sagen, aber das ist jetzt nicht wichtig. Wichtig ist, daß wir uns entscheiden, wo wir essen. Ich glaube hier, ja? Du kannst mir beim Tischdecken helfen.«

Sie taten es gemeinsam. Sie zogen den alten Kiefernholztisch aus und legten ein tiefblaues Leinentuch auf. Nancy holte Silber und Gläser aus dem Eßzimmer, und ihre Mutter faltete weiße Leinenservietten zu Schiffchen. Der i-Punkt des Ganzen war ein Topf rosa Geranien in einem geblümten Übertopf, den sie in die Mitte der Tafel stellte. Der Anblick war wunderhübsch, ein stilvoll gedeckter Tisch, der kein bißchen förmlich wirkte, und als Nancy zurückgetreten war und das Ergebnis begutachtete, staunte sie wieder einmal über das Talent ihrer Mutter, ein behagliches Ambiente zu schaffen und selbst den alltäglichsten Dingen einen visuellen Reiz zu geben. Nancy nahm an, es müsse irgendwie damit zusammenhängen, daß ihr Vater ein Künstler gewesen war, und dachte mißvergnügt an ihr eigenes Eßzimmer, das, egal wieviel Mühe sie sich gab, immer steif und unfreundlich wirkte.

»So«, sagte Penelope. »Jetzt können wir nur noch warten, daß die Arbeiter kommen und essen. Setz dich solange hierher in die Sonne, ich schaffe schnell ein wenig Ordnung in der Küche und bringe dir dann etwas zu trinken. Was möchtest du? Ein Glas Wein? Einen Gin-Tonic?«

Nancy sagte, sie hätte gern einen Gin-Tonic, und zog, allein im Wintergarten, ihre Kostümjacke aus und blickte sich aufmerksam um. Als ihre Mutter ihnen zum erstenmal von ihrer Absicht erzählt hatte, einen Wintergarten anbauen zu lassen, hatten sie und George ihr nachdrücklich abgeraten. Es sei ein törichter Luxus, hatten sie erklärt, eine Extravaganz, die sie sich unmöglich leisten könne. Aber sie hatte den Rat ignoriert und den sonnigen und hellen Anbau in Auftrag gegeben. Jetzt, mit den blühenden Blumen, all dem Grün und der gemütlichen Wärme, die darin herrschte, war es ein beneidenswerter kleiner Platz, wie Nancy zugeben mußte, aber sie hatte nie herausfinden können, was er gekostet hatte. Womit sie natürlich wieder bei der ärgerlichen Geldfrage war. Als ihre Mutter ordentlich frisiert, das Gesicht frisch gepudert und nach ihrem besten Parfüm duftend zurückkam, hatte Nancy sich in dem bequemsten Korbsessel niedergelassen und fragte sich, ob dies wohl der richtige Moment sei, um die beiden Bilder zur Sprache zu bringen, und sie probierte sogar schon stumm ein paar taktvoll einleitende Sätze aus, aber Penelope kam alldem zuvor, indem sie das Gespräch in eine ganz andere und völlig unerwartete Richtung lenkte. »Da bin ich wieder. Ein Gin-Tonic. Ich hoffe, er ist stark genug.« Für sich selbst hatte sie ein Glas Wein mitgebracht. Sie zog sich einen anderen Sessel heran, ließ sich hineinsinken, streckte die Beine aus und wandte das Gesicht den wärmenden Strahlen der Sonne zu. »Oh, Ist das nicht herrlich? Übrigens, was macht deine Familie heute?« Nancy berichtete.

»Der arme George. Muß ziemlich anstrengend sein, den ganzen Tag mit einem Dutzend spitznasiger Pfarrer eingesperrt zu sitzen. Und wer sind die Wainwrights? Habe ich sie je gesehen? Es ist sehr gut, daß die Kinder schon selbst etwas unternehmen können. Es ist überhaupt gut, daß wir alle selbst etwas unternehmen können, ohne aufeinander angewiesen zu sein. Übrigens, hättest du Lust, mit mir nach Cornwall zu fahren?« Nancy blickte sie überrascht und ungläubig an. »Nach Cornwall?«

»Ja. Ich möchte Porthkerris noch einmal wiedersehen.

Möglichst bald. Ich habe plötzlich einen unbezwinglichen Drang, noch einmal dorthin zurückzukehren. Und es wäre viel schöner, wenn jemand mitführe.«

»Aber, «

»Ich weiß. Ich bin vierzig Jahre nicht mehr dort gewesen, und es wird sich verändert haben, und ich werde niemanden mehr kennen. Aber ich möchte trotzdem hin. Um alles wiederzusehen. Warum kommst du nicht mit? Wir können bei Doris wohnen.«

»Bei Doris?«

»Ja, bei Doris. O Nancy, du wirst doch nicht Doris vergessen haben. Das ist unmöglich. Sie hat dich praktisch aufgezogen, bis du vier Jahre alt warst und wir Porthkerris verließen.« Selbstverständlich erinnerte Nancy sich an Doris. Sie hatte keine deutliche Vorstellung von ihrem Großvater, aber an Doris und ihren süßen Geruch nach Puder, ihre starken Arme und ihren weichen mütterlichen Busen erinnerte sie sich sehr gut. Doris gehörte zu ihren frühesten Kindheitserinnerungen. Sie hatte, umgeben von pickenden Hühnern und Enten, in einem Kinderrollstuhl auf der kleinen Wiese hinter Cam Cottage gesessen, während Doris Wäschestücke aufhängte, die in der frischen Brise flatterten, die vom Meer herkam. Das Bild hatte sich ihrem Gedächtnis in all seinen Nuancen eingeprägt, farbig und intensiv wie eine Illustration in einem Kinderbuch. Sie sah Doris mit ihrem wehenden Haar und ihren nach oben gestreckten Armen, sah die flatternden Laken und Kopfkissenbezüge, den kobaltblauen Himmel. »Doris lebt immer noch in Porthkerris«, fuhr Penelope fort. »Sie wohnt in einem kleinen Haus in den alten Gassen am Hafen. Wir haben es immer Downalong genannt. Und jetzt, wo die Jungen fort sind, hat sie ein Zimmer übrig. Sie lädt mich in jedem Brief ein, zu kommen und bei ihr zu wohnen. Und sie würde dich so gern wiedersehen. Sie hat geweint, als wir fortfuhren. Und du hast auch geweint, obgleich du dir vermutlich nicht bewußt gewesen bist, worum es ging.«

Nancy biß sich auf die Lippe. Bei einem alten Hausmädchen in einem schäbigen kleinen Haus in einem Kaff in Cornwall abzusteigen, war nicht das, was sie sich unter Urlaub vorstellte. Außerdem...

»Was ist mit den Kindern?« fragte sie. »Es wäre nicht genug Platz für die Kinder da.«

»Welche Kinder?«

»Melanie und Rupert natürlich. Ich könnte nicht ohne sie verreisen.«

»Um Himmels willen, Nancy, ich frage nicht die Kinder. Ich frage dich. Und warum kannst du nicht ohne sie verreisen? Sie sind alt genug, um bei ihrem Vater und Mrs. Croftway zu bleiben. Gönn dir mal etwas. Verreise ohne sie. Es wäre nicht für lange. Nur ein paar Tage, höchstens eine Woche.«

»Wann willst du fahren?«

»Bald. Sobald ich kann.«

»O Mutter, es ist so schwierig. Ich habe so schrecklich viel um die Ohren. das Kirchenfest planen und die Konferenz der Konservativen. Ich muß an dem Tag eine Lunch-Party geben. Und dann Melanies Sommerlager vom Reitclub.«

Als ihr die Vorwände ausgingen, wurde ihre Stimme brüchig, und sie räusperte sich. Penelope sagte nichts. Nancy nahm noch einen Schluck von dem stärkenden Drink und blickte ihre Mutter verstohlen von der Seite an. Sie sah das markante Profil, die geschlossenen Augen. »Mutter?«

»Hm?«

»Vielleicht später. wenn ich nicht soviel um die Ohren habe. Im September vielleicht.«

»Nein.« Sie ließ sich auf nichts ein. »Es muß bald sein.« Sie hob die Hand. »Keine Sorge. Ich weiß, daß du sehr beschäftigt bist. Es war nur eine Idee.« Nun entstand zwischen ihnen ein Schweigen, das Nancy als unbehaglich empfand, voll unausgesprochener Vorwürfe. Aber warum sollte sie sich schuldig vorkommen? Sie konnte unmöglich Hals über Kopf, mit so wenig Zeit, um alles zu organisieren und zu regeln, nach Cornwall fahren.

Nancy vertrug es nicht, schweigend dazusitzen. Sie hielt gern ein stetig dahinplätscherndes Gespräch in Gang. Sie versuchte krampfhaft, sich ein interessantes neues Thema einfallen zu lassen, aber es war vergebens. Wirklich, Mutter konnte einen manchmal schrecklich nerven. Es war nicht ihre Schuld. Es lag einfach daran, daß sie so viel zu tun hatte, so beschäftigt war mit dem Haus, mit ihrem Mann und den Kindern. Es war nicht fair, daß Mutter ihr dieses Schuldgefühl vermittelte.

So fand Noel die beiden. Wenn Nancy einen sehr guten Morgen gehabt hatte, Noel hatte einen ausgesprochen unangenehmen gehabt. Das Gerumpel auf dem Speicher zu sichten und zu sortieren, war eine Sache gewesen, weil er unterschwellig überzeugt gewesen war, etwas sehr Wertvolles zu entdecken. Aber die Tatsache, daß er nichts gefunden hatte, hatte die Plackerei von heute morgen zu einem Alptraum gemacht. Außerdem hatte ihn das Äußere des Gärtners etwas aus der Fassung gebracht. Er hatte einen begriffsstutzigen, muskelbepackten Jungen vom Land erwartet und war dann auf einmal vor einem reservierten und wortkargen jungen Mann gestanden, der ihn mit seinen klaren blauen Augen kühl, fast herausfordernd musterte. Seine Laune hatte sich auch nicht gebessert, als er feststellte, daß Antonia diesen Kerl, diesen Danus, offenbar auf Anhieb sympathisch fand, und das fortwährende Geplapper, das er hörte, während sie die Kartons und die ramponierten Kleinmöbel die schmale Stiege hinuntertrugen, war ihm zunehmend auf die Nerven gegangen. Die Auseinandersetzung wegen des wurmstichigen alten Sekretärs hätte das Faß beinahe zum Überlaufen gebracht, und um Viertel vor eins, als der Speicher mehr oder weniger leergeräumt war und der Rest an der Dachschrägung bei der Luke zum Abtransport bereitstand, hatte er die Nase voll. Und er war verdammt schmutzig. Er mußte dringend duschen, aber noch wichtiger war jetzt ein Drink, so daß er sich nur rasch Gesicht und Hände wusch, nach unten ging und sich einen gewaltigen trockenen Martini mixte. Er ging mit dem Glas durch die Küche in den sonnendurchfluteten Wintergarten, und der Anblick seiner Mutter und seiner Schwester, die es sich in Korbsesseln bequem gemacht hatten und so aussahen, als hätten sie den ganzen Tag keinen Finger krumm gemacht, machte ihn noch gereizter, als er ohnehin war. Beim Geräusch seiner Schritte blickte Nancy auf. Sie lächelte strahlend, als freue sie sich diesmal ausnahmsweise, ihn zu sehen. »Hallo, Noel!«

Er erwiderte das Lächeln nicht, sondern lehnte sich an die Türfassung und betrachtete die beiden. Seine Mutter schien eingenickt zu sein.

»Also, so was! Ihr sitzt hier in der Sonne, während andere sich einen krummen Buckel holen vor lauter Arbeit.«

Penelope zuckte nicht mit der Wimper. Nancys Lächeln gefror und wurde maskenhaft. Noel ließ sich endlich zu einem halbwegs freundlichen Nicken herab. »Hi«, sagte er, zog sich einen Stuhl von dem hübsch gedeckten Tisch heran und setzte sich mit einem erleichterten Stöhnen. Seine Mutter machte die Augen auf. Sie hatte nicht geschlafen.

»Seid ihr fertig?«

»Ja, ich jedenfalls. Total fertig. Ich bin leider nicht zum Möbelpacker geboren.«

»Ich meine nicht dich. Ich meine den Speicher.«

»So gut wie. Wir brauchen nur noch eine fleißige Hausfrau, die hochgeht und den Besen schwingt, und dann hat die liebe Seele Ruh!«

»Noel, du bist ein Schatz. Was hätte ich bloß ohne dich gemacht?« Aber ihr dankbares Lächeln löste keine Reaktion aus. »Ich sterbe vor Hunger«, sagte er. »Wann gibt’s Essen?«

»Wann du möchtest.« Sie stellte ihr Weinglas hin und setzte sich kerzengerade auf, um über die Pflanzen hinweg in den Garten zu spähen. Von dem Feuer waberte immer noch Rauch hoch, aber sie sah die beiden anderen nicht. »Wenn einer von euch hinausgehen würde, um Danus und Antonia Bescheid zu sagen? Ich gehe dann rasch und mache die Soße.«

Es entstand eine Pause. Noel wartete darauf, daß Nancy diese nicht allzu anstrengende Pflicht übernehme, aber sie war damit beschäftigt, einen winzigen Flusen von ihrem Rock zu schnippen, und tat so, als hätte sie nichts gehört. Noel sagte: »Ich hab nicht mehr die Kraft dazu.« Er lehnte sich zurück und kippte seinen Stuhl dabei nach hinten. »Geh du, Nancy, ein bißchen Bewegung wird dir guttun.« Es gelang ihm erwartungsgemäß, sie mit der Anspielung auf ihre rundliche Figur zu kränken. »Wie taktvoll du bist«, sagte sie spitz. »Du siehst nicht aus, als hättest du heute morgen schon viel getan.«

»Nur weil ich mich anständig angezogen habe, ehe ich zum Lunch hergekommen bin?« Sie blickte vielsagend in seine Richtung. »Was man von dir nicht gerade sagen kann.«

»Was zieht George denn sonntags zum Mittagessen an? Einen Cut?«

Nancy richtete sich kampfbereit auf. »Wenn das komisch sein soll.«

Sie fuhren fort, aufeinander herumzuhacken, und Penelope, die sich noch allzu gut an frühere Zeiten erinnerte, hatte keine Lust, es noch länger anzuhören. Sie stand abrupt auf. »Dann hole ich sie eben«. erklärte sie, und da ihre beiden Kinder keine Anstalten trafen, sie aufzuhalten, verließ sie den Anbau und ging über den sonnenbeschienenen Rasen zur Obstwiese, während die beiden sitzen blieben, ohne den Blumenduft ringsum wahrzunehmen, und wortlos aneinander vorbeistarrten. Sie tranken ihre Drinks und verwünschten sich insgeheim gegenseitig.

Penelope war außer sich. Sie hatte sich von den beiden aus der Fassung bringen lassen. Sie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg und wie ihr Herz zu jagen begann. Sie ging sehr langsam, ließ sich Zeit, atmete tief ein und befahl sich, keine Närrin zu sein. Warum verletzte es sie, daß ihre erwachsenen Kinder sich immer noch wie ungezogene Halbwüchsige aufführten. Warum verletzte es sie, daß Noel an niemanden als sich selbst dachte und daß Nancy so dünkelhaft und selbstgerecht und matronenhaft geworden war. Warum verletzte es sie, daß niemand, nicht einmal Olivia, mit nach Cornwall kommen wollte.

Was war schiefgegangen? Was war aus den Kindern geworden, die sie geboren und geliebt und großgezogen, erzogen und umsorgt hatte? Die Antwort lautete vielleicht, daß sie nicht genug von ihnen erwartet hatte. Aber sie hatte im London der Nachkriegszeit auf eine nachdrückliche und grausame Weise gelernt, von niemandem außer sich selbst etwas zu erwarten. Sie hatte keine Eltern mehr gehabt, keine alten Freunde, bei denen sie Rat und Zuspruch suchen konnte, hatte sich nur an Ambrose und seine Mutter wenden können und schon nach wenigen Monaten begriffen, daß von dieser Seite nichts zu erwarten war. Sie war allein - in mehr als einer Hinsicht - und auf sich selbst angewiesen.

Selbstgenügsamkeit. Das war der Schlüssel, das einzige, was einem half, jede Krise zu überstehen, die das Schicksal einem brachte. Sie selbst sein. Unabhängig, autark. Nicht klein beigeben. Weiterhin ihre Entscheidungen selbst treffen und den Kurs ihres restlichen Lebens selbst bestimmen. Ich brauche meine Kinder nicht. Ich kenne ihre Fehler und bin mir ihrer Unzulänglichkeiten bewußt, ich liebe sie alle, aber ich brauche sie nicht. Sie betete darum, daß es nie der Fall sein möge. Sie war nun ruhiger und konnte sogar lächeln. Sie ging durch die Lücke in der Ligusterhecke und sah die abschüssige Obstwiese, auf der die Bäume schwarze Schatten warfen. Das Feuer am anderen Ende brannte immer noch prasselnd und knisternd und spie schwarzbraunen Rauch aus. Danus und Antonia waren da. Danus harkte die rotglühende Asche zusammen, und Antonia saß auf dem Rand der Schubkarre und sah ihm zu. Sie hatten ihre Pullover ausgezogen, waren in Hemdsärmeln und unterhielten sich angeregt über dies und das. Der Klang ihrer unbeschwerten jungen Stimmen drang durch die windstille Luft.

Sie schienen so sehr in ihre Unterhaltung, ihre Zweisamkeit vertieft zu sein, daß Penelope davor zurückschreckte, sie zu stören, und sei es, um sie ins Haus zu holen, wo ein Lammbraten, ein Zitronensouffle und eine Erdbeertorte auf sie warteten. Also blieb sie stehen, wie so oft, und genoß das Vergnügen, die idyllische Szene zu betrachten. Dann hielt Danus in der Arbeit inne, stützte sich auf seine Heugabel und machte eine Bemerkung, und Antonia lachte. Und der Klang ihres Lachens beschwor mit einer gläsernen Klarheit die Erinnerung an ein anderes, vor vielen Jahren erklungenes Lachen herauf und mit ihr die unerwarteten Seligkeiten und Freuden des Körpers, die einem vielleicht nur einmal im Leben vergönnt sind. Es war alles gut. Und in unserem Leben geht nichts Gutes wirklich verloren. Es bleibt ein Teil von uns, wird ein Teil unserer Persönlichkeit.

Andere Stimmen. andere Welten. Die Erinnerung an jene Seligkeit erfüllte sie nicht mit sehnsüchtigem Bedauern, sondern mit einem Gefühl der Erneuerung, einem Gefühl, etwas wiederentdeckt zu haben. Nancy und Noel und der törichte und müßige Streit, den sie vom Zaun gebrochen hatten, waren vergessen. Sie berührten sie nicht mehr. Wichtig war nur noch dieser Moment, dieser Augenblick der Wahrheit.

Sie hätte dort oben am Rand der Obstwiese den ganzen Tag stehen und sich ihren Gedanken hingeben können, doch nach einer Weile bemerkte Danus sie und winkte, und sie legte die Hände wie einen Schalltrichter an den Mund, rief sie und sagte, es sei Zeit zum Essen. Er antwortete mit einer Handbewegung, trieb die Heugabel in die Erde und bückte sich, um die Pullover aufzuheben. Antonia stand von der Karre auf, und er legte ihr ihren Pullover um die Schultern und band die Ärmel unter ihrem Kinn zusammen. Dann kamen sie, beide groß und schlank und braungebrannt und jung und in Penelopes Augen wunderschön, Seite an Seite zwischen den Bäumen die Obstwiese hoch.

Sie war auf einmal von Dankbarkeit erfüllt. Nicht bloß Dankbarkeit für all die harte Arbeit, die sie heute morgen geleistet hatten, sondern auch Dankbarkeit dafür, daß sie da waren. Sie hatten ihr, ohne ein Wort zu sagen, ihre innere Ruhe wiedergegeben und ihre Werte bestätigt, und sie dankte dem Schicksal (oder war es Gott? Sie wünschte, sie hätte sicher sein können.) dafür, daß es die beiden wie eine zweite Chance in ihr Leben gebracht hatte.

Man mußte Noel der Gerechtigkeit halber zugute halten, daß seine Launen nur von kurzer Dauer waren. Als die kleine Gesellschaft sich endlich im Wintergarten versammelte, hatte er seinen zweiten Martini in der Hand - er hatte auch seiner Schwester einen neuen Gin-Tonic gemacht - , und Penelope registrierte erleichtert, daß sie sich nun ganz freundschaftlich miteinander unterhielten. »Ich glaube, jetzt sind wir vollzählig. Nancy, du hast Danus noch nicht kennengelernt, und Antonia auch noch nicht. Meine Tochter, Nancy Chamberlain. Noel, du bist doch für die Bar verantwortlich. wenn du den beiden etwas zu trinken geben würdest. Und vielleicht könntest du dann in die Küche kommen und die Lammkeule tranchieren.«

Noel stellte sein Glas hin und stemmte sich mit einem hörbaren Ächzen aus dem Sessel. »Was hätten Sie gern, Antonia?«

»Ein Bier wäre herrlich.« Sie stand am Tisch, und ihre Beine wirkten schier endlos lang in den verwaschenen Jeans. Wenn Melanie, Nancys Tochter, Jeans trug, sah sie abscheulich aus, weil ihr Gesäß so breit war. Aber Antonia standen die Jeans phantastisch. Nancy fand das Leben wieder einmal sehr ungerecht. Sie fragte sich, ob sie Melanie einen Schlankheitskurs verordnen solle, verwarf den Gedanken aber sofort wieder, weil Melanie automatisch immer das Gegenteil von dem tat, was sie vorschlug.

»Und Sie, Danus?«

Der großgewachsene junge Mann schüttelte den Kopf. »Am liebsten etwas ohne Alkohol. Einen Orangensaft oder ein Glas Wasser. «

Noel protestierte, aber Danus bestand darauf, so daß er achselzuckend ins Haus ging. Nancy wandte sich zu Danus. »Trinken Sie nie?«

»Keinen Alkohol.« Er sah sehr gut aus. Er sprach anständig. Gute Familie. Sehr ungewöhnlich. Warum übte er diesen Beruf aus und grub die Beete anderer Leute um? »Haben Sie noch nie getrunken?«

»Nein, nicht richtig, Mrs. Chamberlain«, erwiderte er sehr gelassen.

»Mögen Sie Alkohol nicht?« bohrte Nancy nach, denn sie fand es absolut bemerkenswert, einen jungen Mann kennenzulernen, der nicht einmal nach einer anstrengenden Arbeit ein Glas Bier trinken wollte.

Er schien zu überlegen, sagte dann: »Ja, vielleicht ist das der Grund.« Er blickte sehr ernst, aber Nancy hatte trotzdem das dunkle Gefühl, daß er sich über sie lustig machte. Sie hatten den zarten Lammbraten, die gebackenen Kartoffeln, die Erbsen und den Broccoli gegessen, sich Wein nachschenken lassen und nahmen nun das Zitronensouffle in Angriff. Die Atmosphäre hatte sich wieder entspannt, und das Gespräch drehte sich um die Frage, wie sie den Rest des Tages verbringen sollten. »Ich mache Schluß für heute und fahre zurück nach London«, erklärte Noel, während er zu einem rosa und weißen Krug griff und Sahne auf seine Erdbeertorte schüttete. »Auf diese Weise komme ich wenigstens nicht in den Sonntagabendverkehr. Wenn ich Glück habe.«

»Ja, ich finde auch, das solltest du tun«, pflichtete seine Mutter ihm bei. »Du hast wirklich genug gearbeitet. Du bist sicher erschöpft. «

»Was ist jetzt noch zu tun?« fragte Nancy.

»Oben sind noch ein paar Sachen, die verbrannt werden müssen, und dann muß nur noch gefegt und aufgewischt werden.«

»Das mache ich«, sagte Antonia schnell.

Nancy hatte etwas anderes im Sinn. »Was ist mit dem Gerumpel draußen vor der Haustür? Den Bettstellen und dem alten Kinderwagen. Sie können nicht ewig da liegenbleiben. Podmore’s Thatch sieht ja aus wie ein Zigeunerlager.«

In dem nun entstehenden Schweigen warteten alle darauf, daß jemand anders einen Vorschlag machte. Dann sagte Danus: »Wir könnten es zur Müllkippe in Pudley bringen.«

»Wie?« fragte Noel.

»Wenn es Mrs. Keeling recht ist, könnten wir es hinten in ihren Wagen laden.«

»Natürlich ist es mir recht.« Noel fragte: »Und wann?«

»Heute nachmittag.«

»Ist die Müllkippe denn sonntags geöffnet?«

»Mein Gott, ja«, versicherte Penelope ihm. »Sie ist immer geöffnet. Ein netter alter Mann ist für sie zuständig, und er wohnt in einer Art Schuppen neben dem Eingang. Das Tor ist immer offen.« Nancy war entsetzt. »Du meinst, er wohnt dort? In einem Schuppen an der Müllkippe? Was sagt die Gemeinde dazu? Es muß schrecklich unhygienisch sein.«

Penelope lachte. »Ich glaube nicht, daß er zu den Leuten gehört, die sich um Hygiene kümmern. Er ist beängstigend schmutzig und unrasiert, aber sehr freundlich. Wir hatten mal einen Müllkutscherstreik und mußten all unseren Müll selbst hinbringen, und er war unglaublich hilfsbereit.«

»Aber. «

Sie wurde jedoch von Danus unterbrochen, was sie und die anderen um so mehr überraschte, als er beim Essen kaum ein Wort gesagt hatte.

»Bei dem kleinen Ort in Schottland, in dem meine Großmutter lebt, gibt es eine Müllkippe, auf der ein alter Penner seit ungefähr dreißig Jahren wohnt.« Er fügte hinzu: »In einem Kleiderschrank.«

»Er wohnt in einem Kleiderschrank?« Nancys Stimme klang entsetzter denn je. »Ja, es ist ein ziemlich großer Kleiderschrank. Viktorianisch.«

»Aber das ist doch furchtbar beengt.«

»Ja, das sollte man meinen. Er scheint sich aber sehr wohl zu fühlen. Er ist ein Original und wird von allen respektiert. Läuft das ganze Jahr in Gummistiefeln und einem alten Regenmantel herum. Die Leute geben ihm Tee und Marmeladenbrote, wenn er vorbeikommt. «

»Und was macht er abends?« Danus schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung.«

»Warum interessierst du dich so dafür, was er abends macht?« wollte Noel wissen. »Ich meine, seine ganze Existenz ist doch ohnehin so deprimierend, daß es kaum noch etwas ausmacht, wie er seine Abende verbringt.«

»Na ja, es muß furchtbar langweilig sein. Ich meine, er hat doch offensichtlich kein Fernsehen und kein Telefon.« Nancy verstummte, während sie sich all diese Entbehrungen vorstellte. Noel schüttelte den Kopf und hatte den gereizten Gesichtsausdruck, den Nancy nur allzu gut in Erinnerung hatte. So hatte er ausgesehen, als er ein neunmalkluger kleiner Junge war und versucht hatte, ihr die Regeln irgendeines dummen Kartenspiels beizubringen.

»Bei dir ist wirklich Hopfen und Malz verloren«, erklärte er, und sie fiel in ein beleidigtes Schweigen. Noel wandte sich Danus zu. »Kommen Sie aus Schottland?«

»Ja, meine Eltern leben in Edinburgh.«

»Was macht ihr Vater?«

»Er ist Rechtsanwalt.«

Nancys Neugier erwachte wieder und vertrieb den Ärger von eben. »Wollten Sie nie das gleiche werden?«

»Doch. Als ich noch zur Schule ging, dachte ich, ich würde vielleicht Jura studieren. Aber dann habe ich es mir anders überlegt.« Noel lehnte sich zurück. »Ich stelle mir immer vor, daß Schotten enorm sportlich sind. Niederwild jagen, Moorhühner schießen und angeln. Betreibt Ihr Vater irgendeinen Sport?«

»Er angelt und spielt Golf.«

»Ist er auch ein Ältester der Nationalkirche?« sagte Noel mit einem aufgesetzten schottischen Akzent, den Penelope als Gipfel der Geschmacklosigkeit empfand. »Heißt das bei Ihnen im hohen Norden nicht so?«

Danus ließ sich nicht provozieren. »Ja, er ist ein Ältester, und er ist ein Bogenschütze.«

»Ich kann Ihnen nicht folgen. Klären Sie mich auf.«

»Ein Mitglied der Ehrenwerten Gesellschaft der Bogenschützen. Das ist die Leibwache der Königin, wenn sie nach Holyroodhouse kommt. Er zieht dann eine altertümliche Uniform an und sieht sehr eindrucksvoll aus.«

»Womit beschützt er die Königin? Mit Pfeil und Bogen?«

»Richtig.«

Die beiden Männer sahen sich einen Moment lang an. Dann bemerkte Noel abschließend: »Sehr interessant«, und nahm sich noch ein Stück Erdbeertorte.

Das Festessen wurde mit Kaffee und dicker heißer Schokolade beendet. Noel schob seinen Stuhl zurück, gähnte befriedigt und verkündete, er werde nach oben gehen und seine Sachen packen, ehe er in ein Koma falle. Nancy begann mit fahrigen Bewegungen, Tassen und Teller zu stapeln.

»Was wollen Sie jetzt machen?« fragte Penelope ihren Gärtner. »Wieder zum Feuer gehen?«

»Man braucht sich nicht weiter darum zu kümmern. Warum bringen wir die Sachen, die draußen liegen, nicht gleich zur Müllkippe? Ich lade sie in Ihren Wagen.«

Penelope antwortete erst nach einer kleinen Pause: »Wenn Sie warten können, bis ich das Geschirr abgeräumt und in die Spülmaschine getan habe, fahre ich Sie hin.«

Noel hielt in einem neuerlichen Gähnen inne und sagte, die angewinkelten Arme nach oben haltend: »Komm, Ma, er braucht keinen Chauffeur.«

»O doch«, widersprach Danus. »Ich brauche einen. Ich fahre nämlich nicht.«

Nun entstand eine längere Pause, in der Noel und Nancy ihn ungläubig anstarrten.

»Sie fahren nicht? Sie meinen, Sie können nicht Auto fahren? Aber wie kommen Sie dann zu den Leuten, bei denen Sie arbeiten?«

»Mit dem Fahrrad.«

»Sie sind ein bemerkenswerter Knabe. Haben Sie vielleicht hehre Prinzipien, ich meine, wollen Sie nicht zur Umweltverschmutzung beitragen oder so etwas?«

»Nein.«

»Aber. «

Antonia mischte sich in das Gespräch, indem sie rasch sagte: »Ich kann fahren. Wenn du es erlaubst, Penelope. Ich fahre, und Danus kann mir den Weg zeigen.«

Sie sah Penelope über den Tisch hinweg an, und die beiden Frauen mußten lächeln, als ob sie ein Geheimnis miteinander teilten. Penelope sagte: »Das wäre furchtbar nett von dir. Warum macht ihr das nicht gleich jetzt, während Nancy und ich hier ein bißchen Ordnung schaffen, und wenn ihr zurückkommt, können wir alle in den Garten gehen und sehen, was das Feuer macht.«

»Eigentlich muß ich jetzt nach Hause«, sagte Nancy. »Ich kann unmöglich den ganzen Nachmittag bleiben.«

»Oh, bleib bitte noch ein bißchen, und wenn es nur für ein paar Minuten ist. Wir haben kaum miteinander geredet. Du hast doch heute sicher nichts Wichtiges mehr zu tun.« Sie stand auf und holte ein Tablett vom Beistelltisch. Antonia und Danus erhoben sich ebenfalls, verabschiedeten sich von Noel und gingen zur Küchentür hinaus. Während ihre Mutter begann, die Kaffeetassen auf das Tablett zu stellen, saßen Noel und Nancy schweigend da, doch als sie hörten, wie die Tür ins Schloß fiel, und sicher waren, daß sie nicht mehr gehört werden konnten, fingen sie beide auf einmal an zu reden. »Ein komischer Vogel ist das.«

»So ernst und feierlich. Er lächelt anscheinend nie.«

»Wo hast du ihn aufgegabelt, Ma?«

»Weißt du etwas über seine Vergangenheit? Er kommt offensichtlich aus einem guten Stall. Es ist sehr merkwürdig, daß er als Gärtner arbeitet.«

»Und all dieses Getue, daß er nicht trinkt und nicht Auto fährt. Warum zum Teufel fährt er nicht?«

»Vermutlich hat er jemanden totgefahren, als er betrunken war«, erklärte Nancy gewichtig, »und man hat ihm den Führerschein abgenommen.«

Dies kam Penelopes eigenen besorgten Mutmaßungen so nahe, daß sie plötzlich das Gefühl hatte, sie könne kein weiteres Wort mehr ertragen, und Danus zu Hilfe kam.

»Um Himmels willen, gebt dem armen Mann doch wenigstens eine Chance, zur Pforte hinaus zu kommen, ehe ihr ihn in Stücke reißt.«

»Oh, hör auf, Ma, er ist ein komischer Vogel, und das weißt du genausogut wie wir. Wenn es stimmt, was er sagt, kommt er aus einer angesehenen und vermutlich auch wohlhabenden Familie. Warum arbeitet er also für den Lohn eines Landarbeiters?«

»Ich habe keine Ahnung.«

»Hast du ihn gefragt?«

»Wie käme ich dazu? Sein Privatleben geht mich nichts an.«

»Aber, Mutter. Hatte er irgendwelche Empfehlungen, als er kam?«

»Selbstverständlich. Ich habe ihn über eine große Gärtnerei eingestellt.«

»Wissen sie, ob er in Ordnung ist?«

»In Ordnung? Warum sollte er nicht in Ordnung sein?«

»Mutter, du bist so schrecklich naiv, du vertraust jedem, der dich harmlos und offen ansieht. Er arbeitet schließlich hier im Haus und im Garten, und du bist allein.«

»Ich bin nicht allein. Antonia ist hier.«

»Nach allem, was ich gesehen habe, scheint Antonia ebenso in ihn vernarrt zu sein wie du.«

»Nancy, was gibt dir das Recht, solche Dinge zu sagen?«

»Ich sage sie nur, weil ich mir Sorgen um dich mache.«

»Und was könnte Danus deiner Meinung nach tun? Antonia und Mrs. Plackett vergewaltigen, nehme ich an. Mich ermorden, das Haus ausräumen und die nächste Fähre nach Frankreich nehmen. Er hätte viel davon. Er würde hier nur wertlosen Kram finden.« Sie sagte es im Zorn, ohne groß zu überlegen, und bereute ihre Worte sofort, denn Noel reagierte so schnell wie eine Katze, die eine Maus erblickt hat.

»Wertlosen Kram! Und die Bilder deines Vaters? Kann man dir denn nicht begreiflich machen, daß du hier in Gefahr bist? Du hast keine Alarmanlage, du schließt nie eine Tür ab, und du bist bestimmt nur ungenügend versichert. Nancy hat recht. Wir wissen nichts über diesen seltsamen Menschen, den du als Gärtner beschäftigst, und selbst wenn wir alles wüßten, wäre es in Anbetracht der Umstände verrückt, weiter die Hände in den Schoß zu legen und nichts zu tun. Verkauf die Bilder oder laß sie neu versichern, aber tu endlich was.«

»Ich habe das Gefühl, daß es dir sehr lieb wäre, wenn ich sie verkaufte.«

»Sprich bitte nicht so mit mir. Überleg mal wie ein vernünftiger Mensch. Ich spreche natürlich nicht von den Muschelsuchern, sondern von den Bildern auf Holz, die oben im Flur hängen. Jetzt, wo sie gute Preise erzielen. Stell fest, was die scheußlichen Nymphen wert sind, und verkauf sie auf einer Auktion.« Penelope, die die ganze Zeit gestanden hatte, setzte sich wieder hin. Sie stützte einen Ellbogen auf den Tisch und legte das Kinn in die Hand. Mit der anderen Hand griff sie nach dem Buttermesser und begann mit der stumpfen Seite der Klinge ein Muster in das rauhe Gewebe des tiefblauen Tischtuchs zu ziehen. Nach einer Weile fragte sie: »Was meinst du, Nancy?«

»Ich?«

»Ja, du. Was hast du zu meinen Bildern und meiner Versicherung und meinem Privatleben im allgemeinen zu sagen?« Nancy biß sich auf die Lippe, holte tief Luft und begann dann mit einer sehr klaren, etwas schrillen Stimme, als hielte sie eine Ansprache im Frauenverein, zu reden: »Ich finde. ich finde, Noel hat recht. George meint auch, du solltest deine Versicherung anpassen. Er sagte es, als er von der Versteigerung der Wasserträgerinnen gelesen hat. Aber die Prämie wäre natürlich ziemlich hoch. Und die Versicherungsgesellschaft könnte auf einer Alarmanlage bestehen. Sie muß schließlich an das kaufmännische Risiko denken.«

»Es klingt, als ob du George Wort für Wort zitierst«, sagte ihre Mutter, »oder als ob du mir etwas aus dem Kleingedruckten vorliest. Hast du keine eigene Meinung?«

»O doch«, sagte Nancy, wieder in normalem Ton. »Die habe ich. Ich meine, du solltest die Bilder oben im Flur verkaufen.«

»Und, sagen wir, eine Viertelmillion dafür bekommen?« Sie sagte es leichthin. Das Gespräch lief besser, als Nancy zu hoffen gewagt hatte, und sie fühlte, wie ihr vor Aufregung warm wurde. »Warum nicht?«

»Und was soll ich dann mit dem Geld tun?«

Sie sah Noel an. Er hob vielsagend die Schultern. Dann sagte er: »Das Geld, das man lebend verschenkt, ist doppelt so viel wert wie das, was man vererbt, wenn man tot ist.«

»Mit anderen Worten, ihr wollt es jetzt haben.«

»Das habe ich nicht gesagt, Ma. Ich verallgemeinere. Aber sehen wir die Dinge, wie sie sind. Mit einem solchen Vermögen zu sterben, ist gleichbedeutend damit, der Regierung die Hälfte zu schenken. Ich denke an die Erbschaftssteuern.«

»Du meinst also, ich sollte es lieber euch schenken.«

»Na ja, du hast drei Kinder. Du könntest uns einen gewissen Teil davon geben, ihn auf uns verteilen. Und ein wenig für dich behalten, um dein Leben zu genießen. Das hast du nie tun können. Du mußtest immer nur an uns denken und hast kaum gewußt, wie du über die Runden kommen solltest. Du hast doch früher mit deinen Eltern oft Reisen gemacht. Du könntest wieder reisen. Nach Florenz fahren. Südfrankreich wiedersehen.«

»Und was würdet ihr beide mit all dem Geld tun?«

»Ich nehme an, Nancy würde es für ihre Kinder ausgeben. Und ich... ich würde mich beruflich verändern.«

»Was stellst du dir vor?«

»Nun, etwas Neues. Vielleicht würde ich mich selbständig machen. Warentermingeschäfte oder so etwas.« Er war wieder ganz sein Vater. Immerfort mit seinem Leben unzufrieden, neidisch auf andere, materialistisch und ehrgeizig und fest davon überzeugt, die Welt schulde ihm eine standesgemäße Existenz. Es war, als ob Ambrose mit ihr redete, und das veranlaßte sie schließlich, mehr als alles andere, die Geduld zu verlieren. »Warentermingeschäfte.« Es kostete sie Mühe, den Zorn aus ihrer Stimme fernzuhalten. »Du mußt von Sinnen sein. Du könntest ebensogut all dein Geld auf ein einziges Pferd setzen oder auf eine einzige Nummer beim Roulette. Du bist schamlos und habgierig, und manchmal kann ich nur Verzweiflung und Abscheu empfinden, wenn ich dich höre.« Noel öffnete den Mund, um sich zu verteidigen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen und hob die Stimme. »Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, es schert dich keinen Pfifferling, was mit mir geschieht oder mit meinem Haus oder mit den Bildern meines Vaters. Du denkst nur daran, was mit dir geschieht und wie du schnell und leicht an Geld kommen kannst.« Noels Mund klappte zu, die Farbe wich aus seinen dünnen Wangen, und sein Gesicht verzerrte sich vor unterdrückter Wut. »Ich habe die beiden Tafelbilder bis heute nicht verkauft, und ich werde sie vielleicht nie verkaufen, aber wenn ich es doch tue, werde ich das Geld für mich behalten, weil es mir gehört und weil ich damit machen kann, was ich will, und das größte Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen können, ist, daß sie nicht von ihnen abhängig werden. Nicht auf seine Kinder angewiesen sein. Begreifst du das, oder geht es über deinen Horizont? Und was dich und deinen Mann betrifft, Nancy, so habt ihr ganz allein beschlossen, eure Kinder auf diese lächerlich teuren Schulen zu schicken. Ihr hättet ihnen vielleicht nicht immer sagen sollen, daß sie für etwas Besseres bestimmt sind, und statt dessen etwas mehr Zeit darauf verwenden sollen, ihnen gute Manieren beizubringen. Dann wären sie sicher nicht so unerträglich frech und naseweis geworden.«

Mit einer Spontaneität, die sie selbst überraschte, kam Nancy ihren Sprößlingen zu Hilfe: »Ich wäre dir dankbar, wenn du meine Kinder aus dem Spiel lassen würdest.«

»Es ist höchste Zeit, daß jemand es dir einmal sagt.«

»Welches Recht hast du überhaupt dazu? Du interessierst dich nicht für sie. Deine überspannten Freunde und dein blöder Garten sind dir wichtiger als deine eigenen Enkelkinder. Du kommst nie, um sie zu besuchen. Und du kommst nicht, um uns zu besuchen, egal, wie oft wir dich einladen.«

Noel verlor die Geduld. »Oh, um Himmels willen, Nancy, halt den Mund«, sagte er zornig. »Wir reden nicht von deinen Kindern. Wir versuchen, ein vernünftiges Gespräch zu führen.«

»Sie haben sehr viel damit zu tun. Sie sind die kommende Generation.«

»Gott beschütze uns.«

»...und unsere finanzielle Unterstützung ist viel wichtiger als irgendeiner deiner verrückten Pläne, noch mehr Geld zu verdienen. Mutter hat recht. Du würdest alles verjubeln und verspielen.«

»Und das aus deinem Mund! Es ist wirklich ein Witz. Du hast doch in deinem ganzen Leben noch nie eine eigene Meinung gehabt und von nichts je etwas verstanden.«

Nancy sprang auf. »Jetzt reicht’s mir aber. Ich habe es nicht nötig, mich beleidigen zu lassen. Ich fahre nach Hause.«

»Ja«, sagte ihre Mutter. »Ich finde, es ist Zeit, daß ihr geht, alle beide. Und ich glaube, es ist gut, daß Olivia nicht da ist. Wenn sie euch gehört hätte, hättet ihr nichts zu lachen gehabt. Ich bin sicher, daß ihr diese abscheuliche Diskussion nicht angefangen hättet, wenn sie hier gewesen wäre. Und jetzt.« Sie stand ebenfalls auf und nahm das Tablett. »Ihr seid beide vielbeschäftigte Leute, wie ihr mir in einem fort versichert. Es wäre sinnlos, den Rest des Nachmittags für einen nutzlosen Streit zu vergeuden. Ich werde jedenfalls in die Küche gehen und das Geschirr spülen.« Während sie sich zur Küche wandte, schoß Noel seinen letzten Giftpfeil ab: »Ich bin sicher, Nancy wird dir gern helfen. Es scheint eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen zu sein, schmutziges Geschirr zu waschen - oder, besser gesagt, schmutzige Wäsche.«

»Ich sagte bereits, ich habe genug. Ich fahre nach Haus. Und was das Geschirr betrifft, das kann Mutter ja ruhig stehenlassen. Antonia wird sich darum kümmern, wenn sie wieder zurück ist. Sie ist doch wohl das neue Mädchen für alles?«

Penelope blieb wie angewurzelt in der Tür stehen. Sie drehte sich um und sah Nancy an, und in ihren dunklen Augen war ein solcher Ausdruck des Abscheus, daß Nancy befürchtete, diesmal wirklich zu weit gegangen zu sein.

Aber ihre Mutter warf ihr das Tablett nicht an den Kopf. Sie sagte nur sehr leise: »Nein, Nancy, sie ist nicht das neue Mädchen für alles. Sie ist meine Freundin. Mein Gast.« Sie ging aus dem Zimmer. Kurz darauf hörten sie das Rauschen des Wassers und das Klappern von Porzellan und Silberbestecken. Das Schweigen, das sich herabsenkte, wurde nur durch eine große Schmeißfliege gestört, die dem Trugschluß erlegen war, es sei urplötzlich Sommer geworden, und den Augenblick für günstig hielt, ihr Versteck zu verlassen und durch den Wintergarten zu summen. Nancy langte nach ihrer Kostümjacke und zog sie an. Während sie sie zuknöpfte, hob sie den Kopf und sah ihren Bruder an. Ihre Blicke begegneten sich. Er stand langsam auf. »Hm«, meinte er gelassen. »Du hast alles total verdorben.«

»Das kann man wohl eher von dir sagen«, zischte sie. Er drehte ihr den Rücken und eilte nach oben, um seine Sachen zu holen. Entschlossen, ihre Würde zu wahren, ihre verletzten Gefühle zu verbergen und keinen Gesichtsverlust einzugestehen, blieb sie in ihrem Sessel sitzen und wartete darauf, daß er zurückkam. Sie füllte die Zeit damit, daß sie ihr Aussehen prüfte, sich kämmte, ihr gerötetes und fleckiges Gesicht frisch puderte und ihre Lippen nachzog. Sie war völlig außer Fassung und sehnte sich danach, hier fortzukommen, aber sie hatte nicht den Mut, alleine zu gehen. Ihre Mutter hatte sie immer herrisch und ungerecht behandelt, und sie war fest entschlossen, dieses Haus zu verlassen, ohne sich auf irgendeine Weise zu entschuldigen. Wofür sollte sie sich auch entschuldigen? Es war Mutter gewesen, die sich unmöglich benommen hatte. Mutter hatte all diese unverzeihlichen Dinge gesagt. Als sie Noel die Treppe herunterkommen hörte, klappte sie ihre Puderdose zu, steckte sie in die Handtasche und ging zur Küche. Die Spülmaschine rauschte, und Penelope stand mit dem Rücken zu ihr am Spülbecken und scheuerte Töpfe. »So, wir gehen jetzt«, sagte Noel.

Ihre Mutter stellte die Kasserolle hin, die sie gerade in der Hand gehabt hatte, schüttelte ihre Hände trocken und drehte sich zu ihnen um. Ihre Schürze und ihre geröteten Hände taten ihrer natürlichen Würde keinen Abbruch, und Nancy erinnerte sich, daß ihre seltenen Zornesausbrüche nie länger als wenige Augenblicke gedauert hatten. Sie war nie nachtragend gewesen, nicht einmal beleidigt. Jetzt lächelte sie sogar, aber es war ein sonderbares Lächeln. Als hätte sie Mitleid mit ihnen.

Sie sagte: »Es war sehr nett von euch, daß ihr gekommen seid«, und es klang so, als ob sie es wirklich meinte. »Und vielen Dank für all die Arbeit, Noel. Du hast mir sehr geholfen.«

»Keine Ursache.«

Sie griff nach einem Handtuch und trocknete sich die Hände ab. Sie verließen die Küche und gingen alle drei zur Vordertür hinaus, wo die beiden Wagen auf dem geschwungenen Kiesweg warteten. Noel verstaute seine Reisetasche auf dem Rücksitz des Jaguars, setzte sich ans Steuer und sauste mit einem kurzen Winken durch das Tor, um in Richtung London zu verschwinden. Er hatte keiner von ihnen auf Wiedersehen gesagt, doch weder Mutter noch Tochter machten eine Bemerkung darüber.

Statt dessen ging Nancy wortlos zu ihrem Wagen, stieg ein, schnallte sich an und streifte ihre Schweinslederhandschuhe über. Penelope stand da und beobachtete die Vorbereitungen zur Abfahrt. Nancy spürte, daß der Blick ihrer Mutter auf ihr ruhte, spürte, wie ihr das Rot vom Hals in die Wangen stieg. Penelope sagte: »Paß auf dich auf, Nancy. Fahr vorsichtig.«

»Das tue ich immer.«

»Aber besonders jetzt. wo du aufgeregt bist.« Nancy, die den Blick auf das Steuer gerichtet hielt, merkte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. »Natürlich bin ich aufgeregt. Nichts nimmt mich so sehr mit wie Streit in der Familie.«

»Ein Familienstreit ist wie ein Autounfall. Jede Familie denkt: ›Uns könnte das nicht passieren‹, aber es passiert trotzdem in allen Familien irgendwann mal. Man kann es nur vermeiden, wenn man sehr umsichtig ist und das Wohl der anderen im Auge hat.«

»Aber wir haben dein Wohl im Auge. Wir wollen nur dein Bestes.«

»Nein, Nancy, das stimmt nicht. Ihr wollt, daß ich tue, was ihr möchtet - daß ich die Bilder meines Vaters verkaufe und euch das Geld gebe, ehe ich sterbe. Aber ich werde die Bilder verkaufen, wann ich es für richtig halte. Und ich werde noch nicht sterben. Ich gedenke noch viele Jahre zu leben.« Sie trat zurück. »Und nun fahr.« Nancy wischte sich die dummen Tränen aus den Augen, ließ den Motor an, legte den ersten Gang ein und löste die Handbremse. »Und vergiß nicht, George von mir zu grüßen.«

Sie war fort. Noch lange, nachdem die wohltuende Wärme des schönen Frühlingsnachmittags das Motorengeräusch verschluckt hatte, stand Penelope vor der offenen Haustür auf dem Kiesweg. Als sie nach unten blickte, sah sie ein Kreuzkraut, das sich zwischen den kleinen Steinen einen Weg nach oben bahnte. Sie bückte sich und riß es aus, warf es fort und drehte sich um, um ins Haus zu gehen.

Sie war allein. Gesegneter Friede. Die Töpfe konnten warten. Sie ging durch die Küche ins Wohnzimmer. Da es gegen Abend abkühlen würde, riß sie ein Zündholz an und machte Feuer. Sie kniete vor dem Kamin, bis die Flammen an den Scheiten über dem Papier zu lecken begannen, richtete sich dann auf, trat zu ihrem Sekretär und suchte die Boothby’s-Anzeige hervor, die sie aus der Zeitung geschnitten hatte, als Noel sie vor einer Woche darauf aufmerksam gemacht hatte. Rufen Sie Mr. Roy Brookner an. Sie legte sie auf die Schreibunterlage, stellte ihren Briefbeschwerer darauf und ging dann in die Küche zurück. Sie nahm ihr kleines, scharfes Gemüsemesser aus der Besteckschublade und ging nach oben in ihr Schlafzimmer, wo nun das goldene Licht der Nachmittagssonne durch das Westfenster fiel, die silbernen Leuchter aufblitzen ließ und vom Spiegel und den gerahmten Fotografien reflektiert wurde. Sie legte das Messer auf die Frisierkommode und öffnete die Türen des gewaltigen viktorianischen Kleiderschranks, der fast bis an die niedrige Decke reichte. Der Schrank war voll. Sie nahm alle ihre Sachen heraus und legte sie, einen Armvoll nach dem anderen, auf das Bett. Sie mußte sie so verteilen, daß die einzelnen Haufen nicht zu groß wurden und nicht umkippten, und zum Schluß war nichts mehr von der gehäkelten Tagesdecke zu sehen, und auf dem Bett stapelten sich alle erdenklichen Kleidungsstücke. Es sah aus wie eine Altkleiderspende, die bei einem Wohltätigkeitsbasar versteigert werden sollte, oder wie die Damengarderobe einer riesigen verrückten Party.

Der Schrank war nun leer, und die Rückwand lag frei. Sie war vor vielen Jahren mit einer dunklen Prägetapete beklebt worden, doch unter dem Muster konnte man Unregelmäßigkeiten ausmachen: die Bretter und Leisten des soliden alten Möbelstücks. Penelope nahm das Messer und langte in den Schrank, fuhr mit den Fingern über die Tapete und die Unebenheiten darunter, tastete nach der Stelle, die sie suchte. Als sie sie gefunden hatte, steckte sie das Messer hinein und zog es nach oben, durchschnitt das Papier, als öffnete sie einen Umschlag. Sie schätzte sorgfältig ab, wie lang die Schnitte waren. Sechzig Zentimeter senkrecht, einen Meter waagerecht, dann wieder sechzig Zentimeter senkrecht. Das an drei Seiten aufgetrennte Tapetenstück wellte sich und klappte dann herunter, um den Gegenstand freizugeben, der die letzten fünfundzwanzig Jahre dahinter versteckt gewesen war: eine uralte, abgegriffene Zeichenmappe, mit einem Bindfaden zusammengebunden und mit Pflasterstreifen an die Mahagonibretter geklebt.

An jenem Abend, in London, rief Olivia ihren Bruder an. »Wie ist es gegangen?«

»Ganz gut. Wir haben alles geschafft.«

»Hast du etwas Aufregendes gefunden?«

»Nein. Absolute Fehlanzeige.«

»Oh. Herzliches Beileid.« Ihre Stimme klang belustigt, und er verwünschte sie stumm. »All die harte Arbeit für nichts. Mach dir nichts draus. Vielleicht hast du das nächste Mal mehr Glück. Wie geht’s Antonia?«

»Okay. Sie scheint eine Schwäche für den Gärtner zu haben.« Er hatte gehofft, sie zu schockieren. »Oh, das ist gut«, sagte Olivia. »Wie ist er?«

»Abartig.«

»Abartig? Meinst du schwul?«

»Nein. Ich meine eigenartig. Ein komischer Vogel. Nichts paßt zusammen. Er kommt aus einer guten Familie, hat ein Internat besucht und gräbt bei anderen Leuten den Garten um. Ist doch komisch, nicht? Und noch etwas - er fährt nicht Auto und rührt keinen Tropfen Alkohol an. Und er hat kein einziges Mal gelächelt. Nancy ist überzeugt, daß er etwas verbirgt, und ich bin ausnahmsweise einer Meinung mit ihr.«

»Mag Mama ihn?«

»O ja. Sehr. Sie behandelt ihn wie einen verlorenen Sohn.« »In dem Fall würde ich mir keine Sorgen machen. Mama ist nicht dumm. Wie geht es ihr?«

»Gut, wie üblich.«

»Nicht zu erschöpft?«

»Soweit ich sehen konnte, nicht.«

»Du hast doch nichts von den Skizzen gesagt? Sie erwähnt? Sie danach gefragt?«

»Kein Wort. Wenn sie jemals existierten, hat sie sie wahrscheinlich vergessen. Du weißt ja, wie gut sie weghören kann.« Er hielt inne und sagte dann beiläufig: »Nancy war zum Essen da. Sie fing an zu erzählen, daß George gesagt hat, das Haus müsse neu versichert werden. Es gab einen kleinen Streit.«

»O Noel.«

»Du weißt ja, wie sie ist. Ein Trampeltier. Wie ein Elefant im Porzellanladen.«

»Hat Mama sich aufgeregt?«

»Ein wenig. Ich habe die Wogen geglättet. Aber sie ist heute noch dickköpfiger als früher.«

»Hm, es ist natürlich ihre Sache. Jedenfalls vielen Dank, daß du Antonia mitgenommen hast.«

»War mir ein Vergnügen.«

Wieder Montag morgen. Als Penelope nach unten ging, war Danus schon gekommen und arbeitete im Gemüsegarten. Der nächste Besucher war der Postbote in seinem kleinen roten Kastenwagen, und dann kam Mrs. Plackett gravitätisch angeradelt, mit ihrer Kittelschürze in der Einkaufstasche und der Neuigkeit, daß die Eisenwarenhandlung in Pudley eine Aktionswoche habe und alle Preise heruntergesetzt seien, und warum Mrs. Keeling nicht hinfahre, um eine neue Kohlenschaufel zu kaufen. Sie diskutierten dieses wichtige Thema, als Antonia erschien und mit Mrs. Plackett bekanntgemacht wurde. Sie tauschten Artigkeiten aus und berichteten einander dann, was sie das Wochenende über gemacht hatten. Dann holte Mrs. Plackett den Staubsauger, Staubwedel und Staubtücher und stieg damit die Treppe hinauf. Montags machte sie immer die Schlafzimmer gründlich. Antonia fing an, Speck für ihr Frühstück zu braten, und Penelope ging ins Wohnzimmer, machte hinter sich die Tür zu und setzte sich an den Sekretär. Es war zehn Uhr. Sie wählte die Nummer. »Boothby’s Kunstauktionen. Kann ich Ihnen helfen?«

»Könnte ich bitte Mr. Roy Brookner sprechen?«

»Einen Moment bitte.« Penelope wartete. Sie war ein wenig nervös. »Roy Brookner.« Eine tiefe Stimme, kultiviert, sehr angenehm. »Guten Morgen, Mr. Brookner. Mein Name ist Keeling, Penelope Keeling, ich rufe aus Gloucestershire an. Sie hatten letzte Woche in der Sunday Times eine Annonce über viktorianische Malerei. Mit Ihrem Namen und der Telefonnummer.«

»Ja?«

»Ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht irgendwann in nächster Zeit hier in der Gegend wären?«

»Haben Sie etwas, das Sie mir zeigen möchten?«

»Ja. Einige Bilder von Lawrence Stern.«

Ein ganz, ganz kurzes Zögern. »Lawrence Stern?« wiederholte er. »Ja.«

»Sind Sie sicher, daß sie von Lawrence Stern sind?« Sie lächelte. »Ja, ganz sicher. Lawrence Stern war mein Vater.« Wieder eine kaum merkliche Pause. Sie meinte zu sehen, wie er nach seinem Notizblock langte und seinen Füller aufschraubte. »Würden Sie mir bitte Ihre Adresse geben?« Sie tat es. »Und Ihre Telefonnummer?« Sie tat es ebenfalls. »Ich schaue nur rasch in meinen Terminkalender. Wäre diese Woche zu früh?«

»Je eher, desto besser.«

»Sagen wir, Mittwoch? Oder Donnerstag?«

Penelope überlegte, plante blitzschnell. »Donnerstag wäre mir lieber. «

»Um welche Zeit würde es Ihnen passen?«

»Am frühen Nachmittag? Gegen zwei?«

»Sehr gut. Ich muß mir in Oxford etwas ansehen. Ich kann es auf den Vormittag legen und anschließend zu Ihnen kommen.«

»Fahren Sie Richtung Pudley, das ist am leichtesten. Temple Pudley ist dann ausgeschildert.«

»Ich werde den Weg schon finden«, versicherte er ihr. »Donnerstag gegen zwei. Vielen Dank für den Anruf, Mrs. Keeling. Auf Wiedersehen.«

Während sie auf ihn wartete, machte sie sich im Wintergarten zu schaffen, goß ein Alpenveilchen und schnitt welke

Geranienblüten und braune Blätter ab. Es war windig geworden, und die heftigen Böen aus dem Osten trieben große Wolken vor sich her, so daß die Sonne alle paar Augenblicke verdeckt wurde. Die früh eingetretene Wärme hatte jedoch ihre Wirkung getan, denn auf der Obstwiese wiegten sich gelbe Narzissen im Wind, die ersten blassen Primelblüten hatten sich geöffnet, und die klebrigen Knospen der Kastanie platzten auf und gaben das zarte Grün der jungen Blätter frei. Sie hatte sich der Bedeutung des Besuchs entsprechend angezogen und versuchte sich - um die Zeit zu vertreiben -vorzustellen, wie Mr. Brookner wohl aussehen würde. Da sie nicht mehr als seinen Namen wußte und nur seine Stimme kannte, hatte sie wenig Anhaltspunkte und kam alle paar Augenblicke zu einem anderen Ergebnis. Er konnte sehr jung sein, ein neunmalkluger Studententyp mit Stirnglatze und rosa Fliege. Er war sicher ein älterer Herr, ein Gelehrter mit beeindruckendem Wissen. Nein. Er würde ein aalglatter Geschäftsmann mit dem Verstand einer Rechenmaschine sein und in einem fort Kunsthändlerkauderwelsch reden. Kurz nach zwei Uhr hörte sie, wie eine Wagentür zugeschlagen wurde, und danach klingelte es. Sie stellte die Gießkanne hin und ging durch die Küche, um ihn hereinzulassen. Als sie die Tür öffnete, sah sie nur seinen Rücken, denn er hatte sich umgedreht und stand auf dem Kiesweg, wohl um die malerische Umgebung zu betrachten oder den ländlichen Frieden auf sich wirken zu lassen. Er drehte sich sofort zu ihr um. Ein sehr großer und distinguierter Herr mit dunklem, aus der hohen Stirn nach hinten gekämmten Haar und dunkelbraunen Augen hinter einer dicken Hornbrille, die sie höflich musterten. Er trug einen dezent gemusterten und hervorragend geschnittenen Tweedanzug und eine unauffällig gestreifte Krawatte. Mit einer Melone und einem Feldstecher bewaffnet, hätte er dem feinsten Rennplatz zur Ehre gereicht.

»Mrs. Keeling?«

»Ja. Guten Tag, Mr. Brookner.« Sie gaben sich die Hand. »Ich habe gerade die Aussicht bewundert. Ein wunderschöner Flecken Erde und ein reizendes Haus.«

»Ich fürchte, ich muß Sie durch die Küche hereinbitten. Ich habe keine Diele.« Sie führte ihn ins Haus, und sein Blick richtete sich sofort auf den Durchgang zum Wintergarten, der, gerade von Sonnenlicht erfüllt, wie eine lockende grüne Oase war. »Ich würde gern auf eine Diele verzichten, wenn ich eine solche Küche hätte. und noch dazu einen Wintergarten.«

»Den Wintergarten habe ich anbauen lassen, aber alles andere ist mehr oder weniger so, wie ich es vorgefunden habe.«

»Wohnen Sie schon lange hier?«

»Nein. Erst sechs Jahre.«

»Sie leben allein?«

»Ja, meist. Im Augenblick habe ich Besuch von einer jungen Freundin, aber sie ist den Nachmittag über fort. Sie fährt meinen Gärtner nach Oxford. Sie haben den Motormäher auf den Rücksitz geladen und wollen ihn schleifen lassen.« Mr. Brookner blickte ein wenig überrascht drein. »Sie müssen ganz nach Oxford, um den Rasenmäher schleifen zu lassen?«

»Nein, aber ich wollte sie nicht hier haben, während Sie da sind«, erklärte sie ihm unverblümt. »Außerdem kaufen sie Saatkartoffeln und einige Dinge für den Garten, so daß die Fahrt nicht umsonst sein wird. Nun. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?«

»Nein, vielen Dank.«

»Gut.«

Er stand da und sah aus, als könne er es nicht erwarten. »Hm. In dem Fall sollten wir vielleicht keine Zeit mehr verlieren. Gehen wir nach oben und sehen wir uns zuerst die Tafelbilder an?«

»Wie Sie wünschen«, sagte Mr. Brookner.

Sie führte ihn die Treppe hinauf in den winzigen Flur im ersten Stock. »Da sind sie, rechts und links von der Tür zu meinem Schlafzimmer.

Es waren die letzten Bilder, die mein Vater gemalt hat. Ich weiß nicht, ob Sie es wissen, aber er hatte schwere Arthritis in den Händen. In der Zeit, als diese beiden Bilder entstanden, konnte er kaum noch den Pinsel halten, und deshalb sind sie unvollendet. Wie Sie sicher bemerken werden.« Sie trat zur Seite, damit Mr. Brookner vortreten konnte, um die Bilder näher in Augenschein zu nehmen, wieder zurücktreten (nur einen halben Meter, weil er sonst rücklings die Treppe hinuntergefallen wäre) und erneut vortreten. Er sagte nichts. Vielleicht gefielen sie ihm nicht. Um ihre plötzliche Nervosität zu kaschieren, fing sie wieder an zu reden. »Sie haben eine ganz lustige Geschichte. Wir hatten ein kleines Haus in Cornwall, in Porthkerris, ein kleines Haus auf einem Hügel, und wir hatten nicht genug Geld, um es instand zu halten, so daß es immer mehr herunterkam, verstehen Sie? Die Diele war mit einer alten Tapete von William Morris tapeziert, aber sie wurde brüchig und bekam Risse, und meine Mutter hatte kein Geld für eine neue, und deshalb schlug sie Papa vor, er solle einfach zwei hohe dekorative Tafelbilder malen, um die schlimmsten Stellen zu überdecken. Und sie wollte etwas in seinem alten Stil, etwas Allegorisches und Märchenhaftes, das nicht zum Verkauf bestimmt wäre und ganz allein ihr gehören sollte. Er tat es, und dies ist das Ergebnis. Aber er konnte sie nicht beenden. Sophie. meine Mutter störte es nicht. Sie sagte, sie gefielen ihr deshalb um so mehr.«

Er hatte immer noch nichts zu den beiden Bildern gesagt. Sie fragte sich, ob er nur überlegte, wie er ihr taktvoll beibringen könne, daß sie nichts wert seien, als er sich unvermittelt umdrehte und lächelte.

»Sie sagen, sie seien unvollendet, Mrs. Keeling, aber sie sind trotzdem auf eine wunderbare Art vollendet. Vollendete Meisterwerke. Natürlich nicht so herrlich ausgearbeitet wie die großen Werke, die er um die Jahrhundertwende gemalt hat, aber auf ihre Weise vollkommen. Und was für ein unvergleichlicher Kolorist er war. Sehen Sie sich das Blau des Himmels an.«

Sie war voll Dankbarkeit. »Ich freue mich so, daß sie Ihnen gefallen. Meine Kinder haben sie immer entweder ignoriert oder abfällige Bemerkungen über sie gemacht, aber mir haben sie immer große Freude bereitet.«

»Das kann ich verstehen.« Er riß sich von der Betrachtung los. »Haben Sie sonst noch etwas, das ich mir ansehen soll, oder ist das alles?«

»Nein. Ich habe unten noch etwas.«

»Können wir es uns jetzt ansehen?«

»Natürlich.«

Sie gingen wieder hinunter, und sie führte ihn ins Wohnzimmer. Sein Blick richtete sich sofort auf Die Muschelsucher. Penelope hatte die kleine, über dem Bild montierte Lampe angeknipst, ehe er gekommen war, und die Lichtbahn fiel über den Wolkenhimmel, das aufgewühlte Meer, den steinigen Strand. Penelope kam das Bild in diesem Moment, heute, schöner vor als je zuvor, frisch und strahlend und kühl wie einer der Tage, an denen es gemalt worden war. Nach einer langen Weile sagte Mr. Brookner: »Ich habe nichts von der Existenz dieses Bildes gewußt.«

»Es ist nie ausgestellt worden.«

»Wann ist es entstanden?«

»Neunzehnhundertsiebenundzwanzig. Es ist sein letztes großes Bild. Der Nordstrand in Porthkerris, von seinem Atelierfenster aus gemalt. Eines der Kinder bin ich. Es heißt Die Muschelsucher. Er hat es mir zur Hochzeit geschenkt. Das war vor vierundvierzig Jahren.«

»Welch ein Geschenk. Und welch ein kostbarer Besitz. Sie müssen doch sicher nicht daran denken, es zu verkaufen?«

»Nein. Dieses Bild verkaufe ich nicht. Aber ich wollte, daß Sie es sich ansehen.«

»Ich bin froh, daß ich es gesehen habe.«

Sein Blick wanderte zu dem Bild zurück. Nach einer Weile wurde ihr klar, daß er sich nur irgendwie beschäftigen wollte, bis sie beschloß, ihren nächsten Schritt zu tun.

»Ich fürchte, das ist alles, Mr. Brookner. Das heißt, ich habe noch einige Skizzen.«

Er wandte sich mit unbewegter Miene von den Muschelsuchern ab. »Einige Skizzen?«

»Ja, von meinem Vater.«

Er wartete, daß sie ihm Näheres mitteilte, und als sie es nicht tat, fragte er: »Darf ich sie sehen?«

»Ich weiß nicht, ob sie etwas wert sind und ob sie überhaupt interessant für Sie sind.«

»Das kann ich erst sagen, wenn ich sie gesehen habe.«

»Natürlich.« Sie griff hinter das Sofa und holte die alte, mit Bindfaden umschnürte Zeichenmappe hervor. »Sie sind hier drin.« Mr. Brookner nahm die Mappe und setzte sich in einen breiten viktorianischen Sessel. Er legte sie zu seinen Füßen auf den Teppich und löste den Knoten mit langen, behutsamen Fingern.

Roy Brookner war ein Mann mit jahrelanger Berufserfahrung, und er war im Laufe der Zeit immun gegen Regungen wie Überraschung und Enttäuschung geworden. Er hatte sogar gelernt, mit dem schlimmsten aller Alpträume fertigzuwerden, der sprichwörtlichen kleinen alten Dame, die, wahrscheinlich zum erstenmal in ihrem Leben, in finanziellen Nöten war und beschloß, ihren kostbarsten Besitz schätzen und dann versteigern zu lassen. Sie rief bei Boothby’s an und teilte ihre Absicht mit, und Roy Brookner vereinbarte pflichtschuldigst einen Termin und machte die - meist lange - Fahrt zu ihr. Und danach hatte er die grausame Pflicht, ihr zu sagen, daß das Bild kein Landseer war, die chinesische Vase nicht aus der Ming-Dynastie stammte und das Elfenbeinsiegel der Katharina von Medici erst Ende des 19. Jahrhunderts geschnitzt worden war. Daß ihr kostbarer Besitz wertlos war.

Mrs. Keeling war keine kleine alte Dame, und sie war die Tochter von Lawrence Stern, aber er klappte die alte Zeichenmappe dennoch ohne große Hoffnung auf. Er wußte wirklich nicht, was er erwarten sollte. Was er sah, ließ sein Herz einen Schlag aussetzen, und er traute seinen Augen nicht.

Skizzen, hatte Penelope Keeling gesagt, aber sie hatte nicht gesagt, was für Skizzen. Sie waren in Öl auf Leinwand gemalt, und die Leinwände wiesen noch die rostfarben umrandeten kleinen Löcher der Reißnägel auf, mit denen sie an den Arbeitsrahmen befestigt waren. Er nahm eine nach der anderen ungläubig staunend heraus, ließ sich Zeit beim Betrachten, legte sie zur Seite. Die Farben waren frisch wie am ersten Tag, die Sujets unverkennbar. In wachsender Erregung stellte er im Kopf einen Katalog zusammen. Der Geist des Frühlings. Der nahende Verliebte. Die Wasserträgerinnen. Der Meeresgott. Terrasse über dem Meer...

Es war fast zuviel. Wie jemand, der bei einem Feinschmeckermahl mit allzu vielen Gängen sitzt, fühlte er sich gesättigt, meinte nicht mehr die Kraft zu haben, um fortzufahren. Er hielt inne und ließ die Hände zwischen den Knien nach unten hängen. Penelope Keeling stand neben dem Kamin, dessen Feuerstelle leer war, und wartete aufsein Urteil. Er blickte zu ihr hoch. Einen langen Moment sprach keiner von ihnen. Aber sein Gesichtsausdruck sagte ihr alles, was sie wissen wollte. Sie lächelte, und das Lächeln ließ ihre dunklen Augen aufleuchten, und einen kurzen Augenblick lang sah er die schöne junge Frau, die sie einmal gewesen sein mußte. Und ihm kam der Gedanke, daß er sich, wenn er zur selben Zeit jung gewesen wäre wie sie, wahrscheinlich in sie verliebt hätte. Er sagte: »Woher kommen sie?«

»Ich habe sie seit fünfundzwanzig Jahren. Sie waren die ganze Zeit hinten in meinem Kleiderschrank versteckt.« Er runzelte die Stirn. »Aber woher haben Sie sie?«

»Sie waren im Atelier meines Vaters, im Garten unseres Hauses in der Oakley Street.«

»Weiß irgend jemand etwas von ihrer Existenz?«

»Ich glaube nicht. Aber ich habe den Verdacht, Noel - das ist mein Sohn - vermutet aus irgendeinem Grund, daß es sie gibt. Ich habe keine Ahnung, warum er es vermutet. Und ich bin nicht einmal ganz sicher, daß er es tut.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Er hat oben auf dem Speicher herumgesucht und alles sortiert und ausgeräumt. Und danach hatte er sehr schlechte Laune, ganz so, als ob er irgend etwas gesucht und nicht gefunden hätte. Ich bin sicher, daß er etwas suchte, und ich glaube, es waren die Skizzen.«

»Es klingt fast so, als ob er sich über ihren Wert klargewesen ist.« Er langte nach unten und nahm die nächste Skizze. »Amorettas Garten. Wie viele sind es insgesamt?«

»Vierzehn.«

»Sind sie versichert?«

»Nein.«

»Ist das der Grund, weshalb Sie sie versteckt haben?«

»Nein. Ich habe sie versteckt, weil ich nicht wollte, daß Ambrose sie fand.«

»Ambrose?«

»Mein Mann.« Sie seufzte. Ihr Lächeln erstarb, und der strahlende Schimmer der Jugend, der ihr Gesicht und ihre ganze Gestalt sekundenlang wie verzaubert hatte, war erloschen. Sie war wieder sie selbst, eine attraktive grauhaarige Frau in den Sechzigern, müde vom vielen Stehen. Sie entfernte sich vom Kamin und setzte sich in die Sofaecke, legte den Arm auf die Rückenlehne. »Sehen Sie, wir haben nie Geld gehabt. Das war das eigentliche Problem, der Grund für alle Schwierigkeiten.«

»Haben Sie mit Ihrem Mann in der Oakley Street gewohnt?«

»Ja. Nach dem Krieg. Ich war während des ganzen Kriegs in Cornwall, weil ich ein Baby zu versorgen hatte. Und dann kam meine Mutter bei einem Bombenangriff ums Leben, und ich blieb, weil ich nun auch für Papa sorgen mußte. Er hat mir das Haus in der Oakley Street überschrieben. und.« Sie lachte plötzlich verzagt und schüttelte den Kopf. »Zu kompliziert. Es ergibt keinen Sinn. Sie können es unmöglich verstehen.«

»Sie könnten am Anfang anfangen und alles der Reihe nach bis zum Ende erzählen.«

»Das würde den ganzen Tag dauern.«

»Ich habe den ganzen Tag Zeit.«

»Oh, Mr. Brookner, ich würde Sie zu Tode langweilen.«

»Sie sind die Tochter von Lawrence Stern«, sagte er. »Sie könnten mir das Telefonbuch von vorn bis hinten vorlesen, und ich würde alles faszinierend finden.«

»Sie sind wirklich sehr nett. In dem Fall.«

»1945 war mein Vater achtzig Jahre alt. Ich war fünfundzwanzig, und ich war mit einem Oberleutnant zur See verheiratet und hatte eine vierjährige Tochter. Ich war eine Zeitlang beim Frauen-Marinehilfskorps gewesen - dort hatte ich Ambrose kennengelernt - , doch als ich merkte, daß ich schwanger war, sorgte ich dafür, daß ich entlassen wurde, und ging nach Porthkerris zurück. Ich blieb, wie gesagt, bis zum Ende des Krieges dort. Ich sah Ambrose in all den Jahren kaum. Er war die meiste Zeit auf See, im Atlantik und dann im Mittelmeer und zuletzt im Fernen Osten. Ich fürchte, es machte mir nicht viel aus. Wir hatten eine typische Kriegsaffäre gehabt, eine Beziehung, die sich in Friedenszeiten nie zu etwas entwickelt hätte.

Außerdem war Papa da. Er war immer ein unglaublich jugendlicher und lebenslustiger Mann gewesen, aber als Sophie gestorben war, wurde er urplötzlich von einem Tag auf den anderen alt, und es kam einfach nicht in Frage, daß ich ihn allein ließ. Aber dann war der Krieg zu Ende, und alles änderte sich. Die Männer kamen nach Haus, und Papa sagte, es sei höchste Zeit, daß ich zu meinem Mann ginge. Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich es nicht wollte, und da sagte er, daß er mir das Haus in der Oakley Street überschrieben habe, und so würde ich immer ein Dach über dem Kopf haben, Sicherheit für meine Kinder und finanzielle Unabhängigkeit. Danach hatte ich keinen Vorwand mehr, um zu bleiben. Nancy und ich verließen Porthkerris für immer. Papa brachte uns zum Bahnhof und verabschiedete sich von uns, und ich habe ihn nicht wiedergesehen.

Das Haus in der Oakley Street war riesengroß. So groß, daß Papa und Sophie und ich immer im Souterrain wohnten und im Erdgeschoß schliefen und die anderen beiden Stockwerke vermieteten. Auf diese Weise kamen die laufenden Kosten herein, und wir konnten das Haus halten. Ich machte es genauso. Ein Ehepaar, Willi und Lalla Friedmann, hatte den ganzen Krieg über in der Oakley Street gewohnt, und sie blieben. Sie hatten eine kleine Tochter, mit der Nancy spielen konnte, und sie waren meine Dauermieter. Die anderen Bewohner wechselten ziemlich oft. Es war eine buntgemischte Schar, meist Maler und Schriftsteller und junge Leute, die zum Fernsehen wollten. Leute nach meinem Geschmack. Nicht nach Ambroses Geschmack. Dann kam Ambrose zurück. Er kam nicht nur zurück, er verließ die Navy und nahm eine Stelle in dem alten Unternehmen der Familie seines Vaters an, Keeling & Philips, dem Verlag in St. James. Ich war ziemlich überrascht, als er es mir sagte, aber ich denke, es war alles in allem das Richtige. Später fand ich heraus, daß er sich schlecht geführt hatte, als er im Fernen Osten war - er hatte seinem Kapitän gegenüber wenig ehrerbietige Bemerkungen gemacht und anderes mehr und bekam negative Vermerke in seine Dienstakte. Wenn er bei der Navy geblieben wäre, wäre er vermutlich nicht sehr weit gekommen.

Wir lebten also zum erstenmal in unserer Ehe richtig zusammen. Wir besaßen nicht viel, aber wir besaßen mehr als die meisten anderen jungen Ehepaare. Wir waren jung, wir waren gesund, Ambrose hatte eine Arbeit, und wir hatten ein Haus, in dem wir wohnten. Abgesehen davon hatten wir aber nichts, nichts Gemeinsames, worauf wir eine Beziehung aufbauen konnten. Ambrose war sehr konventionell und ein gesellschaftlicher Snob. Er dachte immerzu nur daran, wie er sich mit den richtigen Leuten anfreunden könne. Und ich war exzentrisch und unbedacht und auch sehr unzuverlässig, wie mir heute klar ist. Aber die Dinge, die Ambrose wichtig fand, waren für mich läppisch und belanglos, und ich konnte seine Begeisterung nicht teilen. Und dann immer dieses schreckliche Geld. Ambrose gab mir nie etwas. Vermutlich dachte er, ich hätte meine eigenen festen Einnahmen, was ja auch in gewisser Hinsicht stimmte, aber ich hatte nie genug Bargeld in der Tasche. Außerdem war Geld in meiner Familie etwas, das man hatte - wenn man Glück hatte - , worüber man aber nicht sprach. Im Krieg hatte ich den Zuschuß von der Navy, und Papa hatte dann und wann etwas auf mein Konto überwiesen, damit ich die Rechnungen für den Haushalt bezahlen konnte, aber es gab ohnehin keine Luxusartikel, für die man Geld ausgeben konnte, und da sowieso alle bettelarm waren, schien es keine große Rolle zu spielen.

Aber als Frau von Ambrose, in London, sah auf einmal alles ganz anders aus. Inzwischen war meine zweite Tochter, Olivia, geboren, so daß wir zu viert waren. Und das Haus war in sehr schlechtem Zustand. Es hatte Gott sei Dank keine Bombenschäden, aber die Mauern bekamen Risse, und der Putz bröckelte von den Wänden, und wir mußten eine Menge machen lassen, damit es nicht völlig herunterkam. Wir mußten neue elektrische Leitungen legen und das Dach reparieren. Dann streikten die Wasserleitungen, und außerdem mußte es natürlich von außen und innen neu gestrichen werden. Als ich mit Ambrose darüber redete, sagte er, es sei mein Haus, und ich müsse deshalb für die Reparaturkosten aufkommen, und deshalb verkaufte ich zuletzt vier wertvolle Bilder von Charles Rainier, die Papa gehört hatten, und ließ von dem Geld das Notwendigste richten, und nun war wenigstens das Dach dicht, und ich stand keine Todesängste mehr aus, daß die Kinder einen tödlichen Stromschlag bekommen würden, wenn sie den Finger in die uralten Steckdosen steckten.

Und dann kam der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Die Mutter von Ambrose, Dolly Keeling - sie hatte den Krieg über in Devon vor den Bomben Schutz gesucht - , kam nach London zurück. Sie mietete ein kleines Haus in der Lincoln Street, und vom ersten Moment an fing sie an, Schwierigkeiten zu machen. Sie hatte mich noch nie gemocht. Ich nehme es ihr aber nicht wirklich übel. Sie hat mir nie verziehen, daß ich schwanger wurde, daß ich Ambrose ›hereinlegte‹, daß er, wie sie annahm, mich heiraten mußte. Er war ihr einziges Kind, und sie liebte ihn abgöttisch und war ungeheuer besitzergreifend. Sie nahm ihn also wieder in Besitz. Mit Ambrose verheiratet zu sein, war auf einmal so, wie den Hund eines anderen in Pflege zu haben. Er tat alles, was seine Mutter wollte. Auf dem Rückweg vom Büro ging er auf einen Drink zu ihr. das Tee-und-Mitgefühl-Syndrom, nehme ich an. Sonnabend morgens ging er mit ihr einkaufen, und sonntags fuhr er sie zur Kirche. Es hätte selbst den Frömmsten zum Atheisten gemacht. Der Ärmste. Es ist sehr schwer, mit geteilten Loyalitäten zu leben. Und er brauchte die Bewunderung und Aufmerksamkeit, die Dolly ihm geben konnte, ich dagegen nicht. Außerdem war das Haus in der Oakley Street alles andere als ein friedlicher und stiller Hafen im Trubel der Welt. Ich war gern mit meinen Freunden zusammen, und Lalla Friedmann und ich hatten uns immer sehr nahe gestanden. Und ich mochte Kinder. Viele Kinder. Nicht nur Nancy, sondern auch alle ihre kleinen Schulfreundinnen. Bei schönem Wetter war der Garten immer voll mit Kindern, sie hingen mit dem Kopf nach unten von Tauen, die zwischen zwei Bäume gespannt waren, oder sie saßen in Lebensmittelkartons und spielten weiß Gott was. Diese kleinen Freundinnen hatten natürlich alle Mütter, und die Mütter kamen und sahen nach ihnen, und wir saßen in der Küche und tranken Kaffee und unterhielten uns. Es war immer etwas los, entweder kochte ich Marmelade, oder jemand schnitt ein Kleid zu oder machte Teekuchen, und der Fußboden war immer von allem möglichen Spielzeug bedeckt.

Ambrose konnte es nicht ertragen. Er sagte, es gehe ihm auf die Nerven, nach der Arbeit nach Hause zu kommen und ein Tohuwabohu vorzufinden. Er fand es plötzlich zu eng, er fand das Souterrain zu klein, zumal uns das ganze Haus gehörte. Er fing an, davon zu reden, daß wir die Untermieter loswerden sollten, um die freiwerdenden Zimmer selbst zu benutzen. Er wollte ein Eßzimmer für Dinnerpartys haben, einen Salon für Cocktailpartys und ein Schlafzimmer mit anschließendem Ankleidezimmer und Bad für uns selbst. Ich verlor die Beherrschung und fragte ihn, wovon wir denn leben sollten ohne die Miete, die laufend hereinkam. Er war drei Wochen lang böse und verbrachte mehr Zeit denn je bei seiner Mutter.

Es wurde eine Sisyphusarbeit, über die Runden zu kommen. Wir stritten fast jeden Tag um Geld. Ich wußte nicht mal, wieviel er verdiente, und hatte deshalb nie ein gewichtiges Argument. Aber irgend etwas mußte er ja verdienen - was machte er also damit? Hielt er seine Freunde im Pub frei? Kaufte er Benzin für den kleinen Wagen, den seine Mutter ihm geschenkt hatte? Oder gab er alles für Kleidung aus? Er legte immer übertrieben viel Wert auf Kleidung. Ich wurde neugierig, ich mußte es herausbekommen. Ich fing an herumzuschnüffeln. Ich fand seine Kontoauszüge und sah, daß sein Konto um mehr als tausend Pfund überzogen war. Ich war so naiv und unerfahren, daß ich zuletzt dachte, er müsse eine Geliebte haben und gebe sein ganzes Geld dafür aus, ihr eine Wohnung in Mayfair zu bezahlen und ihr Nerzmäntel zu kaufen. Schließlich sagte er es mir selbst. Ihm blieb nichts anderes übrig. Er schuldete einem Buchmacher fünfhundert Pfund und mußte die Summe binnen einer Woche zurückzahlen. Ich weiß noch, daß ich gerade Erbsensuppe kochte und dauernd umrührte, damit die Erbsen nicht am Topfboden kleben blieben. Ich fragte ihn, wie lange er sein Geld schon für Pferdewetten ausgegeben hätte, und er sagte, seit drei oder vier Jahren. Und ich fragte noch andere Dinge, und da kam alles heraus. Ich glaube, er war das, was man heute einen zwanghaften Spieler nennen würde. Er ging in private Spielclubs. Er hatte ein- oder zweimal an der Börse spekuliert und viel Geld verloren. Und ich hatte die ganze Zeit nicht den leisesten Verdacht gehabt. Aber jetzt beichtete er alles, er schämte sich sogar ein wenig und war verzweifelt. Er mußte das Geld unbedingt beschaffen. Ich sagte ihm, ich hätte es nicht. Ich sagte, er solle zu seiner Mutter gehen, aber er antwortete, das hätte er früher schon einmal getan, und sie hätte ihm geholfen, aber nun hätte er nicht den Mut, sie noch einmal zu bitten. Und dann sagte er, ich könnte doch die Bilder verkaufen, die drei Bilder von Lawrence Stern, die alles waren, was ich von den Werken meines Vaters besaß. Und als er das sagte, bekam ich fast genausoviel Angst wie er, weil ich wußte, daß er durchaus imstande war, einfach zu warten, bis er allein im Haus war, um dann die Bilder von der Wand zu nehmen und zu einem Auktionshaus zu bringen. Die Muschelsucher waren nicht nur mein wertvollster Besitz, sie gaben mir auch immer wieder Trost und inneren Frieden. Ich konnte nicht ohne sie leben, und das wußte er, und so sagte ich ihm, daß ich die fünfhundert Pfund auftreiben würde, und ich tat es, indem ich meinen Verlobungsring und den Verlobungsring meiner Mutter verkaufte. Danach beruhigte er sich und wurde wieder der alte, so eingebildet und selbstzufrieden wie früher. Er hörte eine Zeitlang auf zu spielen. Er hatte einen bösen Schock bekommen, der nachwirkte. Aber es dauerte nicht lange, und er fing wieder an, und wir mußten wieder von der Hand in den Mund leben.

1955 wurde Noel dann geboren, und gleichzeitig mußten wir die erste Schulrechnung bezahlen. Ich hatte immer noch das kleine Haus in Cornwall, Cam Cottage. Ich hatte es geerbt, als Papa gestorben war, und ich klammerte mich jahrelang daran und vermietete es an jeden, der es haben wollte, und sagte mir, eines Tages würde ich mit meinen Kindern dorthin fahren und den Sommer dort verbringen. Aber ich tat es nie. Und dann bekam ich ein sehr gutes Angebot für das Haus, zu gut, um es abzulehnen, und ich verkaufte es. Als ich das tat, wußte ich, daß ich Porthkerris für immer verloren hatte, daß ich die letzte Verbindung durchtrennt hatte. Als ich später das Haus in der Oakley Street verkaufte, hatte ich vor, nach Cornwall zurückzugehen und ein kleines Haus aus Granitstein mit einer Palme im Garten zu kaufen. Aber meine Kinder wollten nichts davon wissen und redeten es mir aus, und dann fand mein Schwiegersohn dieses Haus hier, und so werde ich meine letzten Jahre nun in Gloucestershire verbringen und nicht an einem Ort, wo ich das Meer sehen kann. Und hören kann.« »Ich habe Ihnen das alles erzählt und bin immer noch nicht zur Sache gekommen, nicht wahr? Ich habe Ihnen immer noch nicht gesagt, wie ich die Skizzen gefunden habe.«

»Sie sagten, sie seien im Atelier Ihres Vaters gewesen?«

»Ja, hinter all den Sachen versteckt, die sich in einem langen Künstlerleben ansammeln.«

»Wann war das? Wann haben Sie sie gefunden?«

»Noel war ungefähr vier Jahre alt. Wir brauchten Platz für die Familie, die immer größer wurde, und hatten ein paar Zimmer dazugenommen. Aber in den übrigen Räumen lebten immer noch Untermieter. Dann stand eines Tages ein junger Mann an der Tür. Er war ein angehender Maler, sehr groß und dünn, er sah ärmlich aus, aber er war sehr wohlerzogen und höflich. Irgend jemand hatte ihm gesagt, ich könne ihm vielleicht helfen. Er hatte ein Stipendium an der Slade-Akademie bekommen, konnte aber keine Wohnung finden. Bei uns war nicht einmal mehr eine Besenkammer frei, aber seine Art und sein Aussehen gefielen mir, und ich bat ihn herein, gab ihm etwas zu essen und ein Glas Bier, und wir unterhielten uns. Als er fertig war und gehen wollte, war ich so sehr von ihm eingenommen, daß ich mich einfach nicht damit abfinden wollte, ihm nicht helfen zu können. Und da fiel mir das Atelier ein. Ein Holzschuppen im Garten, aber massiv gebaut und regendicht. Er könnte dort schlafen und arbeiten, und ich könnte ihm Frühstück machen, und er könnte das Badezimmer und die Waschküche benutzen. Ich schlug es ihm vor, und er war außer sich vor Freude. Ich holte auf der Stelle den Schlüssel, und wir gingen hinaus und sahen uns das Atelier an. Es war schmutzig und staubig und voll von alten Liegen und Kommoden und den Staffeleien, Paletten und Leinwänden meines Vaters, aber es war solide gebaut und trocken und hatte ein Oberlicht nach Norden, was es für den jungen Mann noch verlockender machte. Wir einigten uns auf die Miete und das Einzugsdatum. Er ging, und ich machte mich sofort an die Arbeit. Es dauerte Tage, und ich mußte einen alten Trödler kommen lassen, den ich gut kannte, der lud das Gerumpel auf seinen Karren und brachte es fort. Es waren viele Fuhren, aber dann war es endlich soweit, und wir schafften die letzten Sachen hinaus. Da fand ich die Mappe hinter einer alten Truhe an der rückwärtigen Wand. Ich brauchte nur einen Blick hineinzuwerfen, um zu wissen, daß es Ölskizzen zu den Gemälden meines Vaters waren, aber ich hatte keine Ahnung, was sie wert sein mochten. Lawrence Stern war damals nicht allzu gefragt, und wenn ein Bild von ihm auf den Markt kam, brachte es vielleicht fünf- oder sechshundert Pfund. Aber der Fund der Skizzen war so, als hätte ich ein Geschenk aus der Vergangenheit bekommen. Ich hatte so wenige Werke von ihm. Und ich dachte, wenn Ambrose es erführe, würde er sofort verlangen, daß ich sie verkaufte. Also brachte ich sie ins Haus, in mein Schlafzimmer. Ich klebte die Mappe an die Rückwand meines Kleiderschranks, und dann fand ich eine alte Rolle Tapete, und ich kaufte Tapetenleim und tapezierte die Schrankwand damit. Und dort waren sie seitdem versteckt. Bis letzten Sonntag. Da wußte ich auf einmal, daß es Zeit war, sie wieder ans Tageslicht zu holen und Ihnen zu zeigen.«

»Jetzt wissen Sie es also.« Sie sah auf die Uhr. »Es hat wirklich Stunden gedauert, es Ihnen zu erzählen. Entschuldigen Sie. Möchten Sie vielleicht eine Tasse Tee? Haben Sie noch Zeit für eine Tasse Tee?«

»Ja. Aber ich würde gern noch mehr hören.« Sie zog in einer stummen Frage die Augenbrauen hoch. »Halten Sie mich bitte nicht für neugierig oder indiskret, aber was ist aus Ihrer Ehe geworden? Was ist aus Ihrem Mann geworden?«

»Meinem Mann? Er hat mich verlassen.«

»Sie verlassen?«

»Ja.« Er sah zu seinem Staunen, daß ein amüsierter Ausdruck in ihr Gesicht trat. »Wegen einer Sekretärin.«

»Kurz nachdem ich die Skizzen gefunden und versteckt hatte, ging Ambroses alte Sekretärin, Miss Wilson, die seit undenklichen Zeiten bei Keeling & Philips gewesen war, in Pension, und ein neues Mädchen trat die Stelle an. Sie war sehr jung, und ich nehme an, daß sie ganz hübsch gewesen sein muß. Sie hieß Delphine Hardacre. Miss Wilson war immer nur Miss Wilson genannt worden, aber Delphine wurde nie anders als Delphine angeredet. Eines Tages sagte Ambrose, er müsse geschäftlich nach Glasgow. Dort war die Verlagsdruckerei, und er blieb eine Woche fort. Danach fand ich heraus, daß er gar nicht in Glasgow gewesen war, sondern mit Delphine in Huddersfield, um ihren Eltern vorgestellt zu werden. Der Vater war sehr reich, ich glaube, er hatte sein Geld mit Stahlkonstruktionen verdient, und wenn er Ambrose ein bißchen zu alt für seine Tochter fand, wurde das offensichtlich durch die Tatsache ausgeglichen, daß sie jemanden gefunden hatte, der ihr imponierte, und daß sie unsterblich in ihn verliebt war. Kurz danach kam Ambrose eines Abends vom Büro nach Hause und sagte mir, daß er gehen würde. Wir waren im Schlafzimmer. Ich hatte mir gerade die Haare gewaschen, saß an der Frisierkommode und bürstete sie trocken, und Ambrose saß hinter mir auf dem Bett, und wir sahen uns bei dem Gespräch nur im Spiegel an. Er sagte, er sei in sie verliebt. Sie gebe ihm all das, was ich ihm nie gegeben hätte. Er wolle sich scheiden lassen. Danach würde er sie heiraten, und derweil würde er bei Keeling & Philips kündigen und Delphine auch, und sie würden nach Yorkshire gehen und sich dort niederlassen, weil ihr Vater ihm einen Posten in seinem Unternehmen angeboten habe.

Ich muß Ambrose zugute halten, daß er alles sehr zielbewußt anpackte und erledigte, sobald er seinen Entschluß gefaßt hatte. Es war alles so perfekt vorbereitet, geplant und organisiert, daß ich vor vollendeten Tatsachen stand und nichts mehr zu sagen brauchte. Ich wollte übrigens auch gar nichts sagen. Ich wußte, daß es mir nichts ausmachen würde. Ich würde allein besser zurechtkommen und zufriedener sein. Ich würde die Kinder behalten, und ich würde das Haus haben. Ich sagte zu allem ja und amen, und er stand vom Bett auf und ging nach unten, und ich bürstete weiter meine Haare und war kein bißchen aufgebracht oder außer Fassung. Einige Tage später kam seine Mutter mich besuchen, nicht, um mich zu bedauern oder um mir Vorwürfe zu machen, das muß ich ihr zugestehen. Sie wollte mich einfach darauf hinweisen, daß ich die Kinder nicht von Ambrose oder ihr fernhalten dürfe, nur weil er mich verlassen habe. Ich sagte, die Kinder seien nicht mein Eigentum, das ich abschirmen und vor jemandem fernhalten wolle, sondern Menschen, die schon jetzt über gewisse Dinge in ihrem Leben selbst entscheiden könnten, zum Beispiel darüber, wen sie sehen wollten, und ich würde sie niemals daran hindern. Dolly war ungeheuer erleichtert. Sie hatte nie viel für Olivia oder Noel übriggehabt, aber sie betete Nancy an, und Nancy liebte sie. Die beiden waren aus demselben Holz geschnitzt und hatten alles gemeinsam, was man gemeinsam haben kann. Als Nancy heiratete, war es Dolly, die ihr eine großartige Hochzeit in London ausrichtete, und Ambrose kam eigens aus Huddersfield her, um sie dem Bräutigam zu übergeben. Das war das einzige Mal, daß wir uns nach der Scheidung wiedersahen. Er war verändert und wirkte sehr gesetzt und gut situiert. Er hatte stark zugenommen, sein Haar war grau geworden und sein Gesicht sehr rot. Ich weiß noch, daß er an jenem Tag eine goldene Uhrkette trug und in jeder Hinsicht wie jemand aussah, der sein Leben lang im Norden gewesen war und nichts anderes getan hatte, als Geld zu verdienen.

Nach der Hochzeit fuhr er nach Huddersfield zurück, und ich sah ihn nie wieder. Er starb ungefähr fünf Jahre später. Er war immer noch relativ jung, und es war ein großer Schock. Vor allem für Dolly Keeling. Die Ärmste, sie überlebte ihn um Jahre, aber sie kam nie darüber hinweg, daß sie ihren Sohn verloren hatte. Mir tat es auch leid, glaube ich. Ich glaube, bei Delphine hatte er endlich das Leben gefunden, das er immer haben wollte. Ich schrieb ihr, aber sie hat meinen Brief nie beantwortet. Vielleicht hielt sie es für anmaßend, daß ich geschrieben hatte. Oder sie wußte einfach nicht, was sie mir antworten sollte.«

»Jetzt mache ich uns aber wirklich einen Tee.« Sie stand auf und hob gleichzeitig die Hand, um die Schildpattnadel, die ihren Knoten hielt, festzustecken. »Ich kann Sie doch zwei Minuten allein lassen? Ist es warm genug? Oder soll ich Feuer machen?« Er versicherte ihr, sie könne, es sei warm genug, sie brauche kein Feuer zu machen, und so ließ sie ihn mit den Skizzen allein, ging in die Küche, ließ den Kessel vollaufen und stellte ihn auf. Sie war von einer großen Gelassenheit und Ruhe erfüllt, genau wie an jenem Sommerabend, als sie sich die Haare gebürstet und zugehört hatte, wie Ambrose ihr eröffnete, er würde sie für immer verlassen. Ein solches Gefühl, sagte sie sich, mußten Katholiken nach der Beichte haben - innerlich gereinigt und endlich von einer Last befreit. Und sie war Roy Brookner dankbar, daß er ihr zugehört hatte, und sie war auch Boothby’s dankbar, daß sie ihr jemanden geschickt hatten, der nicht nur ein Experte war, sondern auch menschlich und verständnisvoll.

Beim Tee mit Honigkuchen kamen sie wieder auf das Geschäftliche. Die Tafelbilder sollten versteigert werden. Die Ölskizzen sollten katalogisiert und nach London gebracht werden, wo man sie schätzen würde. Und Die Muschelsucher? Sie würden bis auf weiteres dort bleiben, wo sie waren, über dem Kamin im Wohnzimmer von Podmore’s Thatch.

»Der einzige Haken bei den Tafelbildern ist die Zeit«, erklärte Roy Brookner ihr. »Wie Sie wissen, haben wir gerade eine große Auktion viktorianischer Malerei gehabt, und die nächste wird erst in frühestens sechs Monaten sein, aber nicht in London. Vielleicht wird unsere New Yorker Niederlassung diese Bilder übernehmen, aber ich muß erst feststellen, für wann sie die nächste Auktion geplant hat, die für solche Werke in Frage kommt.«

»Sechs Monate. Ich möchte nicht sechs Monate warten. Ich möchte sie jetzt verkaufen.« Er lächelte über ihre Ungeduld. »Würden Sie einen privaten Käufer in Erwägung ziehen?

Ohne den Wettstreit, der bei einer Auktion oft entbrennt, würden Sie vielleicht keinen so hohen Preis bekommen, aber vielleicht sind Sie bereit, das Risiko einzugehen.«

»Könnten Sie mir einen privaten Käufer vermitteln?«

»Es gibt da einen amerikanischen Sammler, aus Philadelphia. Er ist speziell nach London gekommen, um für Die Wasserträgerinnen zu bieten, aber der Vertreter des Museums in Denver hat ihn überboten. Er war sehr enttäuscht. Er hat keinen Lawrence Stern, und Bilder von Ihrem Vater kommen so selten auf den Markt.«

»Ist er noch in London?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich könnte es aber feststellen. Er hat im Connaught gewohnt.«

»Sie glauben, er würde die Tafelbilder vielleicht haben wollen?«

»Ich bin ganz sicher. Aber der Verkauf hängt natürlich davon ab, wieviel er bieten wird.«

»Könnten Sie sich mit ihm in Verbindung setzen?«

»Selbstverständlich.«

»Und die Skizzen?«

»Es liegt bei Ihnen. Es würde sich bestimmt lohnen, einige Monate zu warten und sie erst dann zu verkaufen. Dann hätten wir Zeit, um ein bißchen Werbung zu machen und Interesse zu wecken.«

»Ja, ich verstehe. Vielleicht wäre es in dem Fall besser zu warten.«

Sie einigten sich in diesem Sinne. Roy Brookner fing sofort an, die Ölskizzen zu katalogisieren. Es dauerte seine Zeit, und als er fertig war und ihr eine unterschriebene Empfangsbestätigung überreicht hatte, legte er sie in die Mappe zurück und verschnürte diese wieder mit demselben alten Bindfaden. Danach führte sie ihn noch einmal die Treppe hinauf, er nahm die Tafelbilder vorsichtig von der Wand, und dort, wo sie gehangen hatten, waren nur noch ein paar Spinnwebreste und zwei lange Streifen unverblichener Tapete. Draußen wurde alles in seine große Limousine geladen, die Mappe mit den Skizzen in den Kofferraum und die Tafelbilder, sorgsam in zwei weiche Wolldecken gehüllt, auf den Rücksitz. Als er sich vergewissert hatte, daß alles gut verstaut war, trat er zurück und schlug die hintere Wagentür zu. Er wandte sich zu Penelope um.

»Ich habe mich sehr gefreut, Mrs. Keeling. Und vielen Dank.«

Sie gaben sich die Hand. »Es war mir ein solches Vergnügen, Mr. Brookner. Hoffendich habe ich Sie nicht gelangweilt.«

»Ich habe mich noch nie in meinem Leben so wenig gelangweilt. Ich rufe Sie an, sobald ich etwas in Erfahrung gebracht habe.«

»Danke. Auf Wiedersehen. Und gute Fahrt.«

»Auf Wiedersehen, Mrs. Keeling.«

Er rief am nächsten Tag an. »Mrs. Keeling? Hier Roy Brookner.«

»Ja, Mr. Brookner.«

»Der Interessent aus Amerika, von dem ich Ihnen erzählt habe, Mr. Lowell Ardway, ist nicht mehr da. Ich habe im Connaught angerufen, und man sagte mir, er sei nach Genf weitergereist. Und er wolle von dort unmittelbar in die Vereinigten Staaten zurückfliegen. Aber ich habe seine Genfer Adresse, und ich werde ihm noch heute schreiben und von den beiden Tafelbildern berichten. Ich bin sicher, daß er wieder nach London kommen wird, wenn er weiß, daß sie verkäuflich sind, aber wir werden vielleicht noch ein oder zwei Wochen warten müssen.«

»Ich kann ein oder zwei Wochen warten. Ich könnte es nur nicht ertragen, ein halbes Jahr oder noch länger zu warten.«

»Ich kann Ihnen versichern, daß das nicht notwendig sein wird. Und nun zu den Skizzen. Ich habe sie Mr. Boothby gezeigt, und er war fasziniert. Seit Jahren sind keine so meisterhaften Ölskizzen auf den Markt gekommen.«

»Haben Sie.« Es kam ihr beinahe unanständig vor zu fragen. »Haben Sie eine Vorstellung, was sie wert sein könnten?«

»Ich schätze mindestens fünftausend Pfund das Stück.« Fünftausend Pfund. Das Stück. Sie legte auf, stand in ihrer Küche und versuchte, die Größe der Summe zu fassen. Fünftausend mal vierzehn war. sie konnte es nicht im Kopf ausrechnen. Sie kramte einen Bleistift hervor und multiplizierte es auf ihrem Einkaufszettel. Sie bekam siebzigtausend Pfund heraus. Sie langte nach einem Stuhl und setzte sich, weil ihr auf einmal schwach in den Knien wurde. Als sie darüber nachdachte, staunte sie nicht so sehr über das viele Geld, das sie bekommen würde, wie über ihre Reaktion auf all den Reichtum. Ihre Entscheidung, einen Termin mit Mr. Brookner zu vereinbaren, ihm die Skizzen zu zeigen und die Tafelbilder zu verkaufen, würde ihr Leben ändern. So einfach war es, aber sie würde dennoch einige Zeit brauchen, um sich daran zu gewöhnen. Die beiden unbedeutenden, unvollendeten Bilder von Lawrence Stern, die sie immer geliebt, aber für mehr oder weniger wertlos gehalten hatte, waren nun bei Boothby’s und warten auf das Angebot eines amerikanischen Millionärs. Und die so lange Zeit im Kleiderschrank versteckten Skizzen, an die sie jahrelang nicht mehr gedacht hatte, waren auf einmal siebzigtausend Pfund wert. Ein Vermögen. Es war wie ein Hauptgewinn in der Fernsehlotterie. Während sie über ihren neuen Status nachdachte, fiel ihr die junge Frau ein, die das große Los gezogen und das Ereignis vor der Kamera gefeiert hatte, indem sie sich Champagner über den Kopf schüttete und »Geld, Geld, Geld!« kreischte.

Eine erstaunliche Szene, wie aus einem Irrenhaus. Und nun war sie, Penelope, mehr oder weniger in der gleichen Situation, und - und das war die große Überraschung - sie wurde sich bewußt, daß sie weder abgestoßen noch überwältigt war. Statt dessen empfand sie die Dankbarkeit eines Menschen, dem ein unerwartetes und großzügiges Geschenk gemacht worden ist. Das größte Geschenk, das Eltern ihren Kindern machen können, ist, daß sie nicht von ihnen abhängig werden. Das hatte sie zu Noel und Nancy gesagt, und sie wußte, daß es stimmte und daß die Freiheit, die mit finanzieller Sicherheit einherging, unschätzbar war. Außerdem konnte man sich Wünsche erfüllen, die bisher unerfüllbar gewesen waren. Aber was für Wünsche? Sie hatte keinerlei Erfahrung darin, sich überflüssige Dinge zu kaufen, da sie seit ihrer Heirat immer hatte sparen und knausern und auf den Penny schauen müssen. Sie hatte anderen Leuten ihren Luxus nie mißgönnt, sie darum beneidet und war einfach dankbar dafür gewesen, daß sie ihre Kinder großziehen und auf gute Schulen schicken und trotzdem den Kopf über Wasser halten konnte. Erst nachdem sie das Haus in der Oakley Street verkauft hatte, hatte sie über nennenswerte Mittel verfügt und sie sogleich in Podmore’s Thatch und in sicheren Papieren angelegt, die ihr ein bescheidenes Einkommen garantierten, für die Dinge, die ihr am wichtigsten waren. Für Essen, Wein, für all das, was sie brauchte, um ihre Freunde zu bewirten. Dann für die Geschenke - bei denen sie außerordentlich großzügig war - und natürlich für ihren Garten.

Jetzt konnte sie, wenn sie wollte, das ganze Haus vom Keller bis zum Dach renovieren und neu herrichten lassen. Alles, was sie trug, war abgenutzt und schäbig, aber sie mochte nun mal alte und erprobte Dinge. Der an mehreren Stellen eingedellte Volvo war acht Jahre alt, und sie hatte ihn gebraucht gekauft. Vielleicht sollte sie sich einen Rolls-Royce zulegen, aber der Volvo war - noch - völlig in Ordnung, und es wäre so etwas wie ein Sakrileg, den Kofferraum eines Rolls mit Torfsäcken und erdigen Töpfen mit Pflanzen für den Garten zu beladen.

Also Kleider. Sie hatte jedoch, nicht zuletzt wegen des Krieges und der langen entbehrungsreichen Jahre danach, nie viel auf Kleider gegeben. Viele ihrer Lieblingssachen stammten vom Kirchenbasar in Temple Pudley, und das Deckscape einer Navy-Witwe hatte sie schon vierzig Winter lang warm gehalten. Sie könnte sich nun ohne weiteres einen Nerzmantel leisten, aber sie hatte schon immer etwas dagegen gehabt, etwas zu tragen, das aus vielen lieben, kleinen Pelztieren gefertigt war, die nur deshalb ihr Leben hatten lassen müssen, und sie wäre sich wie eine Närrin vorgekommen, wenn sie die Dorfstraße sonntags morgens in Nerz gehüllt hinunterspazieren würde, um die Zeitungen zu holen. Die Leute würden denken, sie sei nicht mehr ganz richtig im Kopf.

Sie konnte reisen. Aber mit vierundsechzig mußte sie, obgleich sie sich vollkommen gesund fühlte, die Dinge so sehen, wie sie waren, und begreifen, daß es zu spät war, um allein durch die Welt zu fahren. Die Zeit der gemächlichen Autoreisen, des Blue Train, des Orientexpreß und der gemütlichen alten Passagierdampfer war vorbei, und den Gedanken an gesichtslose ausländische Flughäfen und enge Sitzreihen in Überschallflugzeugen hatte sie noch nie verlockend gefunden.

Nein. Nichts von alldem. Im Augenblick würde sie gar nichts tun, nichts sagen, es niemandem erzählen. Mr. Brookner war gekommen und wieder fortgefahren, und kein Mensch wußte etwas von seinem Besuch. Es war besser, so weiterzuleben, als ob gar nichts passiert wäre - bis er wieder von sich hören ließ. Sie sagte sich, daß sie ihn fürs erste vergessen würde, aber sie stellte fest, daß es unmöglich war. Sie wartete jeden Tag darauf, daß er anrief. Jedesmal, wenn das Telefon klingelte, rannte sie zum Apparat wie ein aufgeregter Backfisch, der einen Anruf von einem Verehrer erwartete. Doch anders als der Backfisch geriet sie nicht in Angst und Sorge, als die Tage dahingingen und nichts geschah. Es gab immer ein Morgen. Sie hatte keine Eile. Früher oder später würde er sich melden.

Inzwischen ging das Leben weiter, und der Frühling machte sich zunehmend bemerkbar. Auf der Obstwiese waren nun alle Narzissen aufgeblüht, und ihre gelben Blütentrompeten tanzten in der Brise. Die Bäume prangten im zarten Grün der jungen Blätter, und auf den windgeschützten Beeten am Haus öffneten Goldlack und Schlüsselblumen ihre samtenen Blüten und erfüllten die Luft mit ihrem nostalgischen Duft. Danus Muirfield hatte, nachdem er den Gemüsegarten säuberlich bepflanzt hatte, den Rasen zum erstenmal gemäht und war nun damit beschäftigt, die Rabatten zu hacken und zu harken und Torfmull unter die Erde zu mischen. Mrs. Plackett kam regelmäßig, begann ihre alljährliche Frühjahrsputz-Orgie und wusch sämtliche Schlafzimmervorhänge. Antonia hängte sie auf, und sie flatterten wie Banner an der Leine. Ihre Energie war grenzenlos, und sie übernahm dankbar jede Arbeit, die für Penelope zu anstrengend war, fuhr nach Pudley, um den großen Wocheneinkauf zu machen, oder räumte die kleine Speisekammer aus und scheuerte alle Regalböden. Wenn sie nicht im Haus beschäftigt war, fand man sie gewöhnlich im Garten, wo sie ein Spalier für Erbsen baute oder die Kübel auf der Terrasse von den verblühten Narzissen befreite und mit Geranien, Fuchsien und Kapuzinerkresse bepflanzte. Wenn Danus da war, war sie nie weit von ihm entfernt, und während sie gemeinsam arbeiteten, klangen ihre Stimmen durch den Garten. Wenn Penelope sie durch eines der oberen Fenster sah, blieb sie oft stehen, beobachtete sie und empfand eine tiefe Befriedigung. Antonia war nicht mehr das verzagte und erschöpfte Mädchen, das Noel damals von London hergebracht hatte. Sie hatte den traurigen Ausdruck verloren, den sie in Ibiza bekommen hatte, sie hatte wieder Farbe, und die dunklen Schatten unter ihren Augen waren fort. Ihr Haar hatte einen schimmernden Glanz, ihre Haut war rosig, und sie hatte eine Aura um sich, die schwer zu beschreiben, für Penelopes geübtes Auge jedoch ganz unverkennbar war. Sie war ganz sicher, daß Antonia sich verliebt hatte.

»Ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als an einem herrlichen Morgen in einem Garten zu sein und etwas zu tun, das auf irgendeine Weise Früchte tragen wird. Es ist eine Kombination vieler schöner Dinge. In Ibiza war die Sonne fast immer zu heiß, man kam ins Schwitzen und mußte die Arbeit unterbrechen und in den Pool springen.«

»Wir haben hier keinen Pool«, bemerkte Danus. »Aber ich nehme an, wir könnten zur Not in den Windrush springen.«

»Es wäre eiskalt. Ich habe neulich einen Fuß hineingehalten, und es war keine Sekunde zu ertragen. Danus, wirst du immer als Gärtner arbeiten?«

»Wie kommst du auf einmal darauf?«

»Ich weiß nicht. Ich hab nur nachgedacht. Du scheinst so vieles gemacht zu haben. Die Schule und Amerika und dann das Gartenbauexamen. Es kommt mir manchmal wie eine Verschwendung vor, wenn du nie etwas anderes tun wirst, als bei anderen Leuten Kohl zu pflanzen und Unkraut zu jäten.«

»Aber ich werde das nicht immer tun, nicht wahr?«

»Nicht? Was wirst du dann tun?«

»So lange sparen, bis ich genug Geld habe, um mir ein Stück Land zu kaufen, und dort Gemüse anbauen und Pflanzen und Blumenzwiebeln und Rosen und Gartenzwerge verkaufen. Alles, was die Leute haben wollen.«

»Ein Gartencenter?«

»Ich würde mich auf irgend etwas spezialisieren. auf Rosen oder Fuchsien zum Beispiel, um mich ein wenig von den anderen zu unterscheiden.«

»Würde das sehr viel kosten? Ich meine, bis alles läuft?«

»Ja. Land ist teuer, und ich brauche ein ganzes Stück, damit es sich einigermaßen rentiert.«

»Könnte dein Vater dir nicht helfen? Ich meine, könnte er dir nicht das Anfangskapital vorstrecken?«

»Doch, er könnte. Und er würde es tun, wenn ich ihn darum bäte. Aber ich möchte es lieber selbst verdienen. Ich bin jetzt vierundzwanzig. Wenn ich dreißig bin, werde ich vielleicht genug zusammen haben, um mich selbständig zu machen.«

»Sechs Jahre kommt mir vor wie eine Ewigkeit. Ich würde es lieber sofort machen.«

»Ich habe gelernt, geduldig zu sein.«

»Und wo? Ich meine, wo würdest du das Gartencenter eröffnen?«

»Wo auch immer. Wo die Erfolgsaussichten einigermaßen gut sind. Aber die Gegend hier wäre mir am liebsten. Gloucestershire oder vielleicht Somerset.«

»Ich glaube, Gloucestershire ist am besten. Es ist so wunderschön hier. Und denk nur an die Leute. All die reichen Pendler aus London, die die schönen alten Häuser kaufen und einen blühenden Garten haben wollen. Du würdest ein Vermögen verdienen. An deiner Stelle würde ich hier bleiben. Und mir ein kleines Haus und ein paar Morgen Land suchen. Ja, das würde ich tun.«

»Aber du wirst kein Gartencenter aufmachen. Du willst doch Fotomodell werden.«

»Nur, wenn mir nichts anderes einfällt.«

»Du bist komisch. Die meisten Mädchen würden für eine solche Chance ihren rechten Arm hergeben.«

»Wäre die Chance dann nicht dahin?«

»Außerdem würdest du dein Leben nicht gern damit zubringen, Kohlrabibeete zu hacken.«

»Ich würde keinen Kohlrabi anbauen. Ich würde nur leckere Sachen anbauen, zum Beispiel Maiskolben und Spargel und Zuckererbsen. Mach kein so skeptisches Gesicht. Ich bin sehr tüchtig. In Ibiza haben wir kein einziges Mal Gemüse kaufen müssen. Wir haben alles selbst angebaut, und Obst auch. Wir hatten Apfelsinenbäume und sogar Zitronenbäume. Daddy sagte immer, es gebe nichts Köstlicheres als einen Gin-Tonic mit einer Scheibe frischgepflückter Zitrone. Sie schmecken ganz anders als die scheußlichen Dinger aus dem Supermarkt.«

»Ich nehme an, in einem Gewächshaus könnte man Zitronenbäume ziehen.«

»Das Schöne an Zitronenbäumen ist, daß sie fast das ganze Jahr über blühen, also auch noch dann, wenn die Früchte schon reifen. Sie sehen deshalb immer sehr hübsch aus. Danus. hast du nie Rechtsanwalt werden wollen wie dein Vater?«

»Doch, früher mal. Ich dachte, es wäre ganz gut, wenn ich in die Fußstapfen des alten Herrn trete. Aber dann bin ich nach Amerika gegangen, und danach sah alles irgendwie anders aus. Und ich beschloß, meinen Lebensunterhalt mit meinen Händen zu verdienen und nicht mit meinem Kopf.«

»Aber du benutzt doch auch deinen Kopf. Zum Gärtnern gehört eine Menge Überlegen und Planen. Und viel Wissen. Und wenn du dein Gartencenter hast, mußt du die Bücher führen und rechtzeitig alles bestellen, was du brauchst, und die Steuern machen. Ich finde, dann verdienst du dein Geld doch auch mit dem Kopf. War dein Vater enttäuscht, als du es dir anders überlegt hattest?«

»Ja, zuerst. Aber wir haben darüber geredet, und er hat meinen Standpunkt verstanden.«

»Wäre es nicht schrecklich, einen Vater zu haben, mit dem man nicht reden könnte? Meiner war wunderbar. Ich konnte ihm alles sagen. Ich wünschte, du hättest ihn gekannt. Und ich kann dir nicht mal unser Haus zeigen, Ca’n D’alt, weil jetzt andere Leute darin wohnen. Danus, hattest du einen bestimmten Grund dafür, deine Berufswünsche zu ändern? War es etwas, das in Amerika passiert ist?«

»Vielleicht.«

»Hängt es damit zusammen, daß du nicht Auto fährst und keinen Alkohol anrührst?«

»Warum fragst du das?«

»Ich denke nur manchmal darüber nach. Es interessiert mich einfach.«

»Stört es dich vielleicht? Möchtest du lieber, daß ich so bin wie Noel Keeling, das halbe Wochenende mit einem alten Jaguar durch die Gegend fahre und jedesmal, wenn die Dinge anfangen schwierig zu werden, zur Flasche greife?«

»O nein, ich möchte auf keinen Fall, daß du so bist wie Noel. Wenn du so wärst, wäre ich nicht hier, um dir zu helfen, sondern läge in einem Liegestuhl und blätterte in irgendeiner blöden Illustrierten.«

»Warum vergißt du es dann nicht einfach? Hör mal, du pflanzt einen Setzling und hämmerst keinen Nagel ein. Mach es behutsam und zart, als ob du ein Baby zu Bett bringst. Zart in die Erde stecken, nicht mehr. Er braucht Platz zum Wachsen. Er braucht Raum zum Atmen.«

Sie radelte. Sie rollte zwischen Fuchsienhecken, die mit blaßroten und purpurnen Blüten beladen waren, den Hang hinunter. Die Straße wand sich wie ein weißes und staubiges Band vor ihr nach unten, und in der Ferne war das azurblaue Meer. Sie hatte ein Samstagmorgengefühl. Sie hatte Strandschuhe an. Sie kam zu einem Haus, aber es war nicht Cam Cottage, weil es ein flaches Dach hatte. Papa, der seinen breitkrempigen Hut aufhatte, saß hinter seiner Staffelei auf einem Klappschemel. Er hatte keine Arthritis, er trug mit energischen Strichen Farbe auf die Leinwand auf, und als sie neben ihn trat, um das entstehende Bild zu betrachten, blickte er nicht auf und sagte: »Eines Tages werden sie kommen, um die Wärme der Sonne und die Farbe des Windes zu malen.« Sie schaute über den Rand des Daches hinweg und sah einen Garten wie in Ibiza, mit einem Swimming-pool. Sophie schwamm im Pool, immer hin und her. Sie war nackt, ihr Haar war naß und glatt wie das Fell eines Seehunds. Vom Dach aus hatte man einen weiten Blick, aber nicht auf die Bucht, sondern auf den Nordstrand, es war Ebbe, und sie war unten allein am Strand, blickte sich suchend um und hatte einen knallroten Eimer in der Hand, der bis zum Rand mit großen Muschelschalen gefüllt war. Kammuscheln und Miesmuscheln und kleine rosaglänzende Muscheln. Aber sie suchte keine Muscheln, sie suchte etwas anderes, einen Menschen - er mußte irgendwo in der Nähe sein. Der Himmel färbte sich dunkel. Sie stapfte durch den tiefen Sand und stemmte sich gegen den Wind. Der Eimer wurde sehr schwer, so daß sie ihn abstellte und zurückließ. Der Wind brachte einen aus Abermillionen winzigen Tröpfchen bestehenden Dunst von der See mit, der wie ein Rauchschleier über dem Strand hing, und sie sah, wie er aus dem Rauch auf sie zukam. Er war in Uniform, aber barhäuptig. Er sagte: »Ich habe dich gesucht«, und er nahm ihre Hand, und sie kamen zusammen zu einem Haus. Sie gingen durch die Tür hinein, aber es war gar kein Haus, es war das kleine Museum in den Gassen von Porthkerris. Und dort war Papa wieder, er saß auf einem ramponierten alten Sofa in der Mitte des ansonsten leeren Raums. Er wandte den Kopf. »Ich wäre gern noch einmal jung«, sagte er zu ihnen. »Um zusehen zu können, wie alles passiert.«

Sie war von einem Gefühl des Glücks erfüllt. Sie schlug die Augen auf, und das Gefühl des Glücks blieb, der Traum war wirklicher als die Wirklichkeit. Sie konnte das Lächeln auf ihrem Gesicht spüren, als hätte es jemand dort eingepflanzt. Der Traum verblaßte, aber das Gefühl der heiteren Zufriedenheit blieb. Ihre Augen registrierten befriedigt die schattenhaften Einzelheiten ihres Schlafzimmers. Das Blitzen des Messingfußteils, die Umrisse des wuchtigen Kleiderschranks, die offenen Fenster mit den Vorhängen, die sich in der duftenden Nachtluft ganz leicht bauschten.

»Ich wäre gern noch einmal jung. Um zusehen zu können, wie alles passiert.«

Auf einmal war sie hellwach und wußte, daß sie nicht wieder einschlafen würde. Sie schob die Decke zurück und stand auf, tastete mit den Füßen nach den Hausschuhen und griff nach ihrem Morgenrock. Sie öffnete im Dunkeln die Tür und ging hinunter in die Küche. Sie knipste die Lampe an. Es war warm, und alles war aufgeräumt. Sie füllte einen Tiegel mit Milch und setzte ihn auf. Dann nahm sie einen Becher aus der Anrichte, tat einen Löffel Honig hinein, füllte ihn bis zum Rand mit heißer Milch und rührte um. Sie nahm den Becher und ging durch das Eßzimmer ins Wohnzimmer. Sie knipste die Lampe über den Muschelsuchern an, und in dem warmen Schein schürte sie die Glut und legte einige Scheite auf. Als sie entflammten, ging sie mit dem Becher zum Sofa, schob die Kissen zurück, setzte sich in die Ecke und zog die Beine hoch. Über ihr leuchtete das Bild wie ein bleiverglastes, von der Sonne beschienenes Fenster. Es war ihr ureigenes Mantra, so unwiderstehlich wie der magische Zeigefinger eines Hypnotiseurs. Sie betrachtete es mit gespannter Aufmerksamkeit, unverwandten Blicks, und wartete darauf, daß der Zauber wirkte, das Wunder geschah. Sie trank das Blau des Meeres und des Himmels in sich hinein, und nach einer Weile spürte sie den salzigen Wind, roch Seetang und feuchten Sand, hörte den Schrei der Möwen und das Brausen des Windes. In der Geborgenheit von Podmore’s Thatch konnte sie sich den Erinnerungen an die vielfältigen und zahlreichen Stunden in ihrem Leben hingeben, in denen sie dies getan hatte - sich zu den Muschelsuchern geflüchtet und ohne Zeugen Zwiesprache mit ihnen gehalten hatte. Sie hatte in jenen trostlosen Jahren nach dem Krieg in London immer wieder verzagt vor ihnen gesessen, wenn sie nicht mehr aus noch ein wußte, wenn der Kampf um das tägliche Brot und das fehlende Geld und der Mangel an Zärtlichkeit und Zuwendung und die hoffnungslose Gleichgültigkeit ihres Mannes und eine furchtbare Einsamkeit, die nicht einmal ihre eigenen Kinder vertreiben konnten, sie schier verzweifeln ließen. So hatte sie an dem Abend gesessen, als Ambrose seine Sachen gepackt und seine Familie verlassen hatte, um nach Yorkshire zu fahren, wo Wohlstand und Delphine Hardacres warmer junger Körper auf ihn warteten, und so hatte sie gesessen, als Olivia, das Kind, das ihr am liebsten war, das Haus in der Oakley Street für immer verließ, um ihre erste eigene Wohnung zu beziehen und ihre Karriere, die sich so vielversprechend angelassen hatte, fortzusetzen.

Du darfst nicht zurückgehen, sagten sie ihr alle. Nichts wird mehr so sein wie früher. Aber sie wußte, daß sie sich irrten, weil die Dinge, nach denen sie sich am meisten sehnte, elementar und, solange die Welt sich nicht selbst in die Luft jagte, unveränderlich waren.

Die Muschelsucher. Die Beständigkeit des Bildes erfüllte sie mit Dankbarkeit, so wie ein alter und unwandelbar zuverlässiger Freund. Und wie man dazu neigt, Freunde im Lauf der Zeit zunehmend als seinen persönlichen Besitz zu betrachten, hatte sie sich an das Werk geklammert, mit ihm gelebt und jeden Gedanken an eine Trennung von sich gewiesen. Aber nun sah es auf einmal anders aus. Es gab nicht mehr allein eine Vergangenheit, nein, es gab auch eine Zukunft. Pläne mußten gemacht werden, neue Freuden winkten, eine neue Perspektive hatte sich vor ihr aufgetan. Außerdem war sie vierundsechzig. Sie durfte nicht mehr die Jahre verschwenden, indem sie sehnsüchtig zurückblickte. Sie sagte laut: »Vielleicht brauche ich euch nicht mehr.« Das Bild antwortete nicht. »Vielleicht ist es Zeit, euch gehen zu lassen.«

Sie trank die Honigmilch aus, stellte den leeren Becher hin, langte nach der Decke, die zusammengefaltet auf der Rücklehne des Sofas lag, streckte sich auf den weichen Kissen aus und deckte sich zu, um nicht zu frieren, wenn das Feuer ausging. Die Muschelsucher würden ihr Gesellschaft leisten, ihren Schlaf bewachen, auf sie hinunterlächeln. Sie dachte an den Traum, dachte an Papas Worte: Eines Tages werden sie kommen, um die Alarme der Sonne und die Farbe des Windes zu malen. Sie schloß die Augen. Ich wäre gern noch einmal jung.