DIE UMBRELLA VERSCHWÖRUNG

S. D. PERRY

Für Mÿk, einstweilen

„Auch vom Feind kommt häufig
uns ein guter Rat.“

ARISTOPHANES

PROLOG

Latham Weekly, 2. Juni 1998

SERIE BIZARRER MORDE IN RACCOON CITY

Raccoon City – Gestern Abend wurde auf einem verlassenen Grundstück unweit ihrer Wohnung im Nordwesten von Raccoon City die verstümmelte Leiche der 42-jährigen Anna Mitaki entdeckt. Sie ist das mutmaßlich vierte Opfer der sogenannten „Killerkannibalen“, das innerhalb eines einzigen Monats im Umkreis des Victory-Lake-Distrikts gefunden wurde. Übereinstimmend mit den Autopsieberichten der vorherigen Opfer, wies auch Mitakis Leichnam Verletzungen auf, die kaum einen Zweifel daran lassen, dass er teilweise aufgefressen wurde. Die Bissspuren stammen offenbar von menschlichen Zähnen.

Kurz nachdem gestern gegen 21 Uhr zwei Jogger Miss Mitaki gefunden hatten, gab Chief Irons eine kurze Erklärung ab, in der er nachdrücklich betonte, dass das Raccoon City Police Department (RCPD) „gewissenhaft daran arbeite, die Verantwortlichen dieser abscheulichen Verbrechen dingfest zu machen“ und er sich bereits mit den führenden Häuptern der Stadt über drastischere Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz der Bürger von Raccoon berate. Unabhängig von den Kannibalenmorden verloren in den vergangenen Wochen drei weitere Menschen ihr Leben bei Angriffen von Tieren im Raccoon Forest. Die Gesamtzahl der rätselhaften Todesfälle hat sich damit auf sieben erhöht …

Raccoon Times, 22. Juni 1998

ENTSETZEN IN RACCOON – WEITERE TODESOPFER!

Raccoon City – Am frühen Sonntagmorgen wurden die Leichen eines jungen Paares im Victory Park entdeckt. Deanne Rusch und Christopher Smith sind damit die Opfer acht und neun der Serie von Gewaltverbrechen, die unsere Stadt seit Mitte Mai dieses Jahres erschüttert.

Die jüngsten Opfer, beide 19 Jahre alt, wurden am späten Sonntagabend von ihren besorgten Eltern als vermisst gemeldet und gegen 2 Uhr früh von Polizeibeamten am Westufer des Victory Lakes aufgefunden. Bisher liegt keine offizielle Stellungnahme des Police Departments vor. Zeugen des Leichenfundes bestätigen jedoch, dass die beiden Jugendlichen ähnliche Wunden aufweisen, wie man sie an den vorherigen Opfern fand. Ob es sich bei den Angreifern um Menschen oder Tiere handelt, wurde bislang nicht bekannt gegeben.

Freunden des umgekommenen Paares zufolge hatten beide jedoch davon gesprochen, die „wilden Hunde“ aufspüren zu wollen, die gerüchteweise in dem dicht bewaldeten Park gesichtet wurden. Offenbar haben sie bewusst gegen die über die Stadt verhängte Ausgangssperre verstoßen, um einen Blick auf die angeblich herumstreunenden Kreaturen zu werfen.

Bürgermeister Harris hat für den heutigen Nachmittag eine Pressekonferenz angesetzt. Es steht zu erwarten, dass er die momentane Krise kommentieren und eine strengere Durchsetzung der Ausgangssperre fordern wird …

Cityside, 21. Juli 1998

„S.T.A.R.S.“ SPECIAL TACTICS AND RESCUE
SQUAD SOLL RACCOON CITY RETTEN

Raccoon City – Nach dem Verschwinden von drei Wanderern vor einigen Tagen im Raccoon Forest (wir berichteten) haben die Stadtväter jetzt eine Sperrung der Landstraße 6 in den Ausläufern der Arklay Mountains verlangt. Polizeichef Brian Irons gab gestern bekannt, dass sich S.T.A.R.S. an der Suche nach den vermissten Wanderern beteiligen und zudem eng mit dem RCPD zusammenarbeiten werde, bis der Serie von Morden und Vermisstenfällen, die Raccoon City in Angst und Schrecken versetzen, ein Ende gesetzt sei.

Chief Irons, der früher selbst zu S.T.A.R.S. gehörte, meinte heute während eines exklusiven Cityside-Telefoninterviews: „Es ist höchste Zeit, die Fähigkeiten dieser engagierten Männer und Frauen für die Sicherheit unserer Stadt einzusetzen. Wir hatten hier in weniger als zwei Monaten neun brutale Morde und mittlerweile mindestens fünf noch vermisste Personen – und all diese Fälle ereigneten sich in unmittelbarer Nähe des Raccoon Forests. Das führt uns zu der Annahme, dass der oder die Täter sich irgendwo im Victory-Lake-Bezirk verstecken. S.T.A.R.S. verfügt über genau die Art von Erfahrung, die wir brauchen, um die Verantwortlichen der Bluttaten dingfest zu machen!“

Auf die Frage, warum S.T.A.R.S. bislang nicht auf diese Fälle angesetzt wurde, erklärte Chief Irons lediglich, dass S.T.A.R.S. die örtliche Polizei von Anfang an unterstützt habe und eine „willkommene Ergänzung“ der im RCPD gebildeten Sonderkommission sei, die bereits rund um die Uhr an der Aufklärung der Morde arbeite.

Die privat finanzierte S.T.A.R.S.-Organisation wurde 1967 in New York von einer Gruppe pensionierter Militärs sowie ehemaliger Mitarbeiter der CIA und des FBI, ursprünglich als Maßnahme gegen kultassoziierten Terrorismus, gegründet. Unter der Leitung des früheren Direktors der NSDA (National Security and Defense Agency), Marco Palmieri, weitete die Gruppe ihr Betätigungsfeld aber rasch aus. Von Geiselverhandlungen über die Entschlüsselung von Nachrichtencodes bis hin zur Niederschlagung von Aufständen umfasst ihr Aufgabengebiet nunmehr selbst Kapitalverbrechen auf Staatsebene. Die Filialen von S.T.A.R.S. arbeiten mit den örtlichen Polizeikräften zusammen und sind als völlig autarke Einheiten angelegt. 1972 finanzierten lokale Unternehmen eine S.T.A.R.S.-Niederlassung in Raccoon City. Sie wird derzeit von Captain Albert Wesker geleitet, der diese Position seit knapp sechs Monaten bekleidet …

EINS

Jill war ohnehin schon reichlich spät dran für das Briefing, als sie es auf dem Weg zur Tür zu allem Überfluss auch noch schaffte, die Schlüssel in ihrem Kaffee zu versenken. Sie landeten mit einem gedämpften Geräusch auf dem Tassenboden, und als Jill innehielt, um das dampfende Gebräu ungläubig anzustarren, entglitt ihr der dicke Aktenstapel, den sie unter dem Arm trug, und segelte zu Boden. Büroklammern und Haftnotizen verteilten sich großzügig über den gelbbraunen Teppich.

„Shit!“

Während Jill sich mit der Tasse in der Hand zur Küche umwandte, warf sie gleichzeitig einen Blick auf ihre Armbanduhr. Wesker hatte das Meeting für Punkt 19.00 Uhr anberaumt. Das hieß, ihr blieben noch ungefähr neun Minuten, um die zehnminütige Fahrtstrecke zurückzulegen, einen Parkplatz zu ergattern und ihren Hintern auf einen Stuhl zu pflanzen. Die erste umfassende Einsatzbesprechung seit S.T.A.R.S. den Fall bekommen hatte – verdammt, die erste richtige Besprechung seit Jill selbst nach Raccoon versetzt worden war –, und sie würde zu spät kommen.

War ja klar. Wahrscheinlich das erste Mal in Jahren, dass es mir nicht scheißegal ist, ob ich pünktlich bin, und ich schaff es gerade mal bis zur Tür …

Halblaut vor sich hinfluchend eilte Jill zur Spüle zurück. Sie stand wie unter Strom und war wütend auf sich selbst, weil sie sich nicht eher auf den Weg gemacht hatte. Der Fall war daran schuld, dieser gottverdammte Fall. Sie hatte sich ihre Kopie der Akten gleich nach dem Frühstück besorgt und den ganzen Tag damit zugebracht, die Berichte durchzuackern, auf der Suche nach irgendetwas, was die Cops womöglich übersehen hatten – und ihre Enttäuschung war mit dem Fortschreiten des Tages gewachsen, weil sie einfach nichts Neues hatte finden können.

Sie leerte die Tasse in den Ausguss, angelte sich den nassen Schlüsselbund und wischte ihn an ihrer Jeans ab, während sie bereits wieder zur Wohnungstür zurückhastete. Unmittelbar davor ging sie in die Knie, um die Akten aufzusammeln. Doch plötzlich hielt sie inne und starrte auf das farbige Hochglanzfoto, das obenauf zum Liegen gekommen war.

Die armen Mädchen …

Jill hob die Photographie langsam auf. Sie war sich völlig bewusst, dass sie eigentlich keine Zeit hatte, und doch war sie nicht imstande, den Blick von den winzigen, blutbesudelten Gesichtern abzuwenden. Sie spürte, wie sich die Knoten der Anspannung, die sich den Tag über in ihr gebildet hatten, noch fester zusammenzogen, und für einen Moment war alles, was sie tun konnte, einfach nur atmen, während sie das Tatortfoto anstarrte.

Becky und Priscilla McGee, neun und sieben Jahre alt. Die Male davor hatte Jill das Bild überblättert, weil sie sich gesagt hatte, dass nichts darauf sein würde, was sie unbedingt sehen musste …

… aber das stimmt nicht, oder? Du kannst dir weiterhin etwas vormachen, oder du kannst es zugeben – alles hat sich geändert. Alles hat sich geändert seit dem Tag, an dem sie starben.

Unmittelbar nachdem sie nach Raccoon gezogen war, hatte Jill unter großem Stress gestanden. Sie hatte sich unsicher gefühlt wegen der Versetzung, war sich nicht einmal sicher gewesen, ob sie bei S.T.A.R.S. bleiben wollte. Sie war gut in ihrem Job, hatte ihn jedoch nur wegen Dick angenommen; nach der Anklageerhebung hatte er sie dazu gedrängt, sich eine andere Arbeit zu suchen. Es hatte eine Weile gedauert, aber ihr Vater war hartnäckig. Ein ums andere Mal hatte er ihr gesagt, dass schon ein Valentine hinter Gittern einer zu viel sei, hatte nicht einmal davor Halt gemacht, ihr zu eröffnen, dass es ein Fehler gewesen sei, sie so zu erziehen, wie er es getan hatte. Aufgrund ihrer Herkunft und Ausbildung hatten sich Jill jedoch nicht viele Alternativen geboten – und S.T.A.R.S. schätzte immerhin ihre Fähigkeiten und scherte sich nicht darum, wie sie dazu gekommen war. Die Bezahlung war anständig, es gab den Thrill, an dem sie zunehmend mehr Gefallen gefunden hatte … Rückblickend betrachtet hatte ihr Jobwechsel dann doch überraschend einfach funktioniert – er hatte Dick glücklich gemacht und ihr erlaubt zu sehen, wie „die anderen“ lebten.

Dennoch, die Veränderung hatte sie härter mitgenommen, als ihr bewusst gewesen war. Zum ersten Mal seit Dick eingebuchtet worden war, hatte Jill sich wirklich einsam gefühlt, und für das Gesetz zu arbeiten, war ihr immer mehr wie ein Witz vorgekommen – die Tochter von Dick Valentine im Dienste der Wahrheit, Gerechtigkeit und des American Way of Life!

Ihre Beförderung zu den Alphas, ein hübsches kleines Haus in der Vorstadt – es war verrückt, und sie hatte ernsthaft darüber nachgedacht, einfach aus der Stadt zu verschwinden, den ganzen Kram hinzuwerfen und wieder das zu tun, was sie vorher getan hatte …

… bis die beiden kleinen Mädchen von gegenüber vor ihrer Tür aufgetaucht waren und Jill mit großen, tränennassen Augen gefragt hatten, ob sie wirklich eine Polizistin sei. Ihre Eltern waren auf der Arbeit und sie konnten ihren Hund nicht finden …

… Becky in ihrem grünen Schulkleidchen, die kleine Pris in ihrer Latzhose – beide schluchzend und verschüchtert …

Das Hündchen war nur zwei Blocks entfernt durch einen Garten spaziert, kein Problem – und Jill hatte zwei neue Freundinnen gewonnen, einfach so. Die Geschwister hatten sie prompt adoptiert, waren fortan nach der Schule vorbeigekommen, um ihr selbst gepflückte Blumensträuße zu bringen, und hatten an den Wochenenden in Jills Garten gespielt. Pausenlos hatten sie ihr Lieder vorgeträllert, die sie aus Filmen oder Zeichentrickserien kannten.

Es war nicht so, dass die Mädchen Jills Einstellung auf wundersame Weise verändert oder ihr das Alleinsein vollkommen versüßt hätten – aber irgendwie war der Gedanke fortzugehen in den Hintergrund gerückt, wo Jill ihn auch eine Zeit lang hatte ruhen lassen. Zum ersten Mal in ihren dreiundzwanzig Lebensjahren hatte sie angefangen, sich als Teil der Gemeinde zu fühlen, in der sie wohnte und arbeitete. Der Wandel war so heimlich, still und leise vonstatten gegangen, dass sie ihn kaum selbst bemerkt hatte.

Vor sechs Wochen hatten sich Becky und Pris dann bei einem Familienpicknick im Victory Park verlaufen – und waren die ersten beiden Opfer der Psychopathen geworden, die seither die abgeschiedene Stadt terrorisierten.

Das Foto zitterte leicht in Jills Hand, ersparte ihr kein Detail. Becky lag auf dem Rücken und starrte blicklos zum Himmel auf, ein klaffendes, gezacktes Loch im Bauch. Pris lag neben ihr, mit ausgebreiteten Armen, aus denen man ihr brutal Fleischfetzen herausgerissen hatte. Beide Kinder waren regelrecht ausgeweidet worden und nicht erst am Blutverlust gestorben, sondern bereits vorher als Folge des Schocks. Wenn sie geschrien hatten, dann hatte niemand ihr Schreien gehört …

Das reicht! Ja, sie sind tot, aber du kannst in dieser Sache endlich etwas tun!

Jill stopfte die Papiere ungeschickt zurück in die Mappen, atmete tief durch und trat ins Freie. Es war früher Abend. Der Geruch von frisch gemähtem Gras hing schwer in der warmen Luft. Irgendwo die Straße runter bellte fröhlich ein Hund inmitten lärmender Kinder.

Sie eilte auf den verbeulten grauen Kombi zu, der am Gehsteig parkte, und während sie den Wagen startete und vom Bordstein lenkte, zwang sie sich, nicht zum still daliegenden Haus der McGees hinüberzusehen. Jill fuhr mit offenen Fenstern durch die breiten Straßen ihres Vorstadtviertels, knapp über dem Tempolimit, aber sorgsam auf Kinder und Tiere achtend. Es waren nicht viele zu sehen. Seit diese furchtbare Geschichte angefangen hatte, gingen immer mehr Leute dazu über, ihre Sprösslinge und Haustiere nur noch selten aus dem Haus zu lassen, selbst tagsüber.

Der Kombi begann zu vibrieren, als Jill ihn auf der Zufahrt zum Highway 202 beschleunigte. Trockene warme Luft peitschte ihr das Haar aus dem Gesicht. Es war ein angenehmes Gefühl, so, als wache man aus einem bösen Traum auf. Sie fuhr durch den sonnengesprenkelten Abend, und die Schatten der Bäume entlang der Straße wurden länger.

Ob es nun Schicksal war oder einfach nur Zufall, ihr Leben war berührt worden von dem, was in Raccoon City vorging. Sie konnte nicht länger so tun, als sei sie nur eine ausgebrannte Ex-Diebin, die versuchte, nicht in den Knast zu wandern und sich anzupassen, nur um ihrem Vater eine Freude zu machen – oder dass der Fall, mit dem S.T.A.R.S. sich beschäftigte, bloß ein weiterer Job war. Es war von Bedeutung. Es machte ihr etwas aus, dass diese Kinder tot waren und dass ihre Mörder noch immer frei herumliefen und weiter morden konnten.

Der Aktenstoß neben Jill flatterte leicht, der Deckel der oberen Mappe fing sich im Wind – vielleicht waren es auch die neun ruhelosen Geister, die von Becky und Priscilla McGee eingeschlossen …

Jill legte ihre Hand auf den raschelnden Aktenstoß, unterband den Aufruhr – und schwor sich, dass sie um jeden Preis herausfinden würde, wer für diese Verbrechensserie verantwortlich war. Was immer sie zuvor gewesen war oder was sie in Zukunft sein würde, sie hatte sich verändert … und sie würde keine Ruhe finden, bis diejenigen, die an unschuldigen Menschen zu Mördern geworden waren, für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden konnten.

„Hey, Chris!“

Chris wandte sich vom Getränkeautomaten ab und sah, wie Forest Speyer mit langen Schritten über den leeren Korridor auf ihn zukam, ein breites Grinsen auf dem gebräunten, jungenhaften Gesicht. Forest war zwar ein paar Jahre älter als Chris, sah aber immer noch aus wie ein rebellischer Teenager – langes Haar, nietenbeschlagene Jeansweste, auf der linken Schulter die Tätowierung eines Totenschädels, der eine Zigarette rauchte. Außerdem war er ein ausgezeichneter Mechaniker und einer der besten Schützen, die Chris je in Aktion erlebt hatte.

„Hey, Forest. Was gibt’s?“ Chris zog eine Dose Mineralwasser aus dem Auswurfschacht des Automaten und sah auf seine Uhr. Bis zur Sitzung blieben ihm noch ein paar Minuten. Er lächelte müde, als Forest mit glitzernden blauen Augen vor ihm stehen blieb. Er trug den Arm voll mit Ausrüstungsgegenständen – Weste, Einsatzgürtel und Schultertasche.

„Wesker hat Marini grünes Licht für die Suche gegeben. Das Bravo-Team geht rein.“ Selbst wenn er aufgeregt war, dehnte und verlangsamte Forests typisches Alabama-Näseln jedes Wort. Immer noch breit grinsend, ließ er seine Mitbringsel auf einen der Besucherstühle fallen.

Chris runzelte die Stirn. „Wann?“

„Jetzt. Sobald der Heli warmgelaufen ist.“ Während er sprach, streifte Forest die Kevlar-Weste über. „Während ihr Alphas rumsitzt und euch Notizen macht, treten wir ’n paar Kannibalen in den Arsch!“

Wenn wir S.T.A.R.S.-Mitglieder eines sind, dann selbstbewusst. „Na ja, dann … pass vor allem auf deinen Arsch auf, okay? Ich glaub immer noch, dass mehr hinter der Sache steckt als ein paar Irre, die sich im Wald herumtreiben.“

„Wie du meinst.“ Forest strich sich das Haar nach hinten und griff nach seinem Kampfgürtel, offenbar bereits auf den Einsatz konzentriert. Chris überlegte, ob er noch mehr sagen sollte, entschied sich aber dagegen. Trotz seines verwegenen Auftretens war Forest ein echter Profi. Niemand brauchte ihn zur Vorsicht zu ermahnen.

Bist du dir da sicher, Chris? Glaubst du, Billy war vorsichtig genug?

Innerlich seufzend schlug er Forest auf die Schulter und machte sich auf den Weg zur Zentrale. Er ging durch die Tür des kleinen Warteraums im Obergeschoss und den Flur hinunter. Es überraschte ihn, dass Wesker die Teams getrennt in den Einsatz schickte. Es war zwar üblich, dass die weniger erfahrenen S.T.A.R.S.-Angehörigen die Erstsondierung übernahmen, aber das hier war nicht unbedingt ein üblicher Einsatz. Allein die Zahl der Toten, mit der sie es zu tun hatten, verlangte ein aggressiveres Vorgehen. Die Tatsache, dass es Anzeichen für ein System hinter den bisherigen Morden gab, hätte den Fall in den A1-Status erheben müssen, doch Wesker behandelte ihn weiterhin wie einen x-beliebigen Übungseinsatz.

Keiner außer mir sieht es … Aber sie kannten auch Billy nicht …

Chris dachte wieder an den Anruf, den er vorige Woche spätnachts von seinem Freund aus Kindertagen erhalten hatte. Er hatte lange Zeit nichts von Billy gehört, wusste aber, dass er einen Job in der Forschung bei Umbrella angenommen hatte, dem Pharma-Unternehmen, das den größten Beitrag zum wirtschaftlichen Wohlstand von Raccoon City leistete. Billy war nie der Typ gewesen, der Hirngespinsten nachjagte, und die angstvolle Verzweiflung in seiner Stimme hatte Chris wachgerüttelt und mit tiefer Sorge erfüllt. Billy hatte gestammelt, dass sein Leben in Gefahr sei, dass sie alle in Gefahr seien, und Chris dringend gebeten, sich mit ihm in einem Restaurant am Stadtrand zu treffen – doch dort war er nie aufgekreuzt. Seitdem hatte niemand mehr etwas von Billy gehört oder gesehen.

Wieder und wieder hatte Chris diese Sache in den schlaflosen Nächten seit Billys Verschwinden aufgearbeitet und versucht, sich selbst einzureden, es gäbe keine Verbindung zu den Raccoon-Opfern. Doch nun konnte er das Gefühl nicht länger ignorieren, das ihm einflüsterte, dass es einen Zusammenhang gab – und dass Billy womöglich mehr über die Hintergründe der Geschehnisse gewusst hatte. Die Polizei hatte Billys Wohnung überprüft und nichts gefunden, was auf ein Verbrechen hingedeutet hätte … doch sein Instinkt sagte Chris, dass sein Freund tot war, und dass er von jemandem umgebracht worden war, der ihn daran hatte hindern wollen, etwas auszuplaudern.

Und mit dieser Meinung scheine ich allein dazustehen. Irons ist es scheißegal, und das Team glaubt, ich sei einfach nur durch den Wind, weil ich einen alten Freund verloren habe …

Er schob den Gedanken beiseite, als er um die Ecke bog. Seine Stiefelabsätze schickten gedämpfte Echos durch den gewölbten Korridor des ersten Stockwerks. Er musste sich konzentrieren, sein Denken darauf fixieren, was er tun konnte, um herauszufinden, warum Billy verschwunden war – aber er war erschöpft, wurde nur angetrieben von einem Minimum an Schlaf und der beinahe unablässigen Nervosität, die ihn seit Billys Anruf quälte. Vielleicht verlor er ja tatsächlich den Blick fürs Wesentliche, vielleicht hatten die jüngsten Ereignisse seine Objektivität getrübt …

Als Chris sich dem S.T.A.R.S.-Büro näherte, zwang er sich, abzuschalten, um einen klaren Kopf für die Besprechung zu bekommen. Er empfand es als Vergeudung, dass die summenden Leuchtstoffröhren unter der Decke brannten. Noch flutete lohendes Abendlicht den schmalen Flur.

Das Polizeigebäude von Raccoon war ein klassisches und dennoch unkonventionelles Bauwerk – Fliesenmosaiken und schwere Hölzer prägten das Bild ebenso wie viel zu viele Fenster, die so angeordnet waren, dass die Sonne immer von irgendeiner Seite her Zugang erhielt. In Chris’ Kindheit hatte dieses Gebäude noch das Rathaus von Raccoon beherbergt. Mit dem Bevölkerungsanstieg vor zehn Jahren war es jedoch renoviert und zur Bücherei umgebaut worden, und vor vier Jahren hatte man es schließlich in ein Polizeirevier umgewandelt. Es hatte den Anschein, als wären noch immer ständig Bauarbeiten im Gange …

Die Tür zum S.T.A.R.S.-Büro stand offen, und das Raunen rauer Männerstimmen drang bis auf den Flur. Chris hörte Chief Irons heraus und zögerte einen Moment. „Nennen Sie mich einfach Brian“-Irons war ein egozentrischer und eigennütziger Politiker, der sich als Cop maskierte. Es war kein Geheimnis, dass er seine schwitzigen Finger in mehr als nur ein paar örtlichen Finanzangelegenheiten drin hatte. 1994 war er sogar in den Grundstücksbetrug im Cider-Bezirk verwickelt gewesen, und obwohl vor Gericht nichts hatte bewiesen werden können, hegte doch niemand, der ihn persönlich kannte, auch nur den geringsten Zweifel an seiner Mitschuld.

Chris lauschte Irons’ öliger Stimme und schüttelte den Kopf. Schwer vorstellbar, dass dieser Mann einmal das S.T.A.R.S.-Team von Raccoon geleitet hatte, und sei es auch nur als Schreibtischhengst. Und noch schwerer zu glauben, dass er wahrscheinlich eines Tages als Bürgermeister enden würde.

Dass er dich wie die Pest hasst, hat mit deinen Vorbehalten natürlich nichts zu tun, oder, Redfield?

Na ja. Chris küsste anderen nicht gern den Arsch, und Irons duldete keine andere Art von Beziehung. Zumindest war Irons nicht völlig inkompetent, irgendeine Militärausbildung hatte er irgendwann mal absolviert. Chris setzte eine unbewegte Miene auf und betrat das kleine, voll gestopfte Büro, das S.T.A.R.S. als Aktenschrank und Operationsbasis diente.

Barry und Joseph standen am Rekrutenschreibtisch, wo sie einen Karton voller Papiere durchsahen und sich leise unterhielten. Ein paar Schritte entfernt trank Brad Vickers, der Alpha-Pilot, Kaffee und blickte, mit einem mürrischen Ausdruck auf den sonst so sanften Zügen, starr auf den Monitor des Hauptcomputers. Auf der anderen Seite des Raumes lehnte sich Captain Wesker in seinem Stuhl zurück, die Hände hinter dem Kopf gefaltet, nichtssagend lächelnd über etwas, was ihm Chief Irons erzählte. Irons massige Gestalt stand an Weskers Schreibtisch gestützt. Während er sprach, strich er sich mit seinen Wurstfingern über den sorgsam gepflegten Schnurrbart.

„Also meinte ich: ,Sie drucken, was ich Ihnen sage, Bertolucci, und danken mir dafür, oder Sie kriegen nie mehr einen Kommentar aus diesem Büro!‘ Und er erwiderte –“

„Chris!“ Wesker unterbrach den Chief und beugte sich vor. „Gut, dass Sie da sind. Sieht aus, als müssten wir nicht länger unsere Zeit vergeuden.“

Irons blickte finster in seine Richtung, doch Chris wahrte sein Pokerface. Wesker hatte auch nicht viel für Irons übrig und versuchte ihm gegenüber gar nicht erst, mehr als höflich zu sein. Und dem Blitzen in seinen Augen nach zu urteilen, war es Wesker auch egal, wer dies durchschaute.

Chris betrat das Büro und blieb an dem Schreibtisch stehen, den er sich mit Ken Sullivan vom Bravo-Team teilte. Da die Teams normalerweise verschiedene Schichten schoben, brauchten sie nicht viel Platz. Chris stellte die ungeöffnete Mineralwasserdose auf den ramponierten Schreibtisch und sah Wesker an.

„Sie schicken Bravo rein?“

Der Captain erwiderte den Blick ausdruckslos, die Arme vor der Brust verschränkt. „Vorschrift, Chris.“

Chris nahm stirnrunzelnd Platz. „Ja, aber nach dem, was wir vorige Woche besprochen hatten, dachte ich –“

Irons fiel ihm ins Wort: „Ich habe den Befehl gegeben, Redfield. Ich weiß, dass Sie glauben, hier spiele sich irgendeine Spionagegeschichte ab, aber ich sehe keinerlei Grund, um von den Richtlinien abzuweichen.“

Scheinheiliger Wichser …

Chris zwang sich zu einem Lächeln, von dem er wusste, dass es Irons ärgern würde. „Natürlich, Sir. Mir gegenüber müssen Sie sich nicht rechtfertigen.“

Einen Moment lang blickte Irons ihn aus zuckenden Schweinsäuglein an, dann beschloss er offenbar, es dabei bewenden zu lassen. Er wandte sich wieder Wesker zu. „Ich erwarte einen Bericht, sobald Bravo zurück ist. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen, Captain …“

Wesker nickte. „Chief.“

Irons stolzierte an Chris vorbei aus dem Raum. Er war kaum fort, als Barry auch schon loslegte. „Meint ihr, der Chief hat heute schon einen Haufen in die Schüssel gesetzt? Vielleicht sollten wir Weihnachten alle zusammenlegen, um ihm ein wirksames Abführmittel zu kaufen.“

Joseph und Brad lachten, aber Chris konnte sich nicht dazu durchringen, mit einzustimmen. Irons war eine Witzfigur, aber seine fehlerhafte Handhabung dieser Ermittlungen war alles andere als spaßig. S.T.A.R.S. hätte von Anfang an miteinbezogen werden müssen, statt dem RCPD als Sicherheitsreserve zu dienen.

Er sah wieder zu Wesker. Es war schwer, etwas aus der stets gefassten Miene dieses Mannes herauszulesen. Wesker hatte die Raccoon-S.T.A.R.S. erst vor einigen Monaten übernommen, war vom New Yorker Hauptsitz hierher versetzt worden, und Chris hatte noch immer keinen wirklichen Einblick in seinen Charakter gewonnen. Der neue Captain schien seinem Ruf voll und ganz zu entsprechen: souverän, routiniert, gelassen – aber er strahlte auch eine gewisse Distanz aus, als sei er dem Geschehen oft weit entrückt …

Wesker seufzte und erhob sich. „Tut mir leid, Chris. Ich weiß, Sie wollten, dass die Sache anders läuft, aber Irons legte nicht sonderlich viel Wert auf Ihre … Bedenken.“

Chris nickte. Wesker konnte Empfehlungen aussprechen, aber Irons war der Einzige, der den Status einer laufenden Mission erhöhen konnte. „Nicht Ihre Schuld.“

Barry kam auf sie zu und rieb sich dabei mit einer seiner riesigen Fäuste den kurzen rötlichen Bart. Barry Burton war nur einsachtzig groß, aber gebaut wie ein Truck. Seine einzige Leidenschaft neben seiner Familie und seiner Waffensammlung war Gewichtheben, was sich schwerlich verbergen ließ.

„Nur keine Aufregung, Chris! Marini alarmiert uns, sobald Ärger in der Luft liegt. Irons will dir nur die Laune vermiesen.“

Chris nickte erneut, aber die Sache gefiel ihm nicht. Zum Teufel, Enrico Marini und Forest Speyer waren die einzigen erfahrenen Soldaten im Bravo-Team. Ken Sullivan war ein guter Späher und ein brillanter Chemiker, aber trotz seiner S.T.A.R.S.-Ausbildung traf er nicht mal die Längsseite einer Scheune. Richard Aiken war ein Kommunikations-Experte der Spitzenklasse, aber auch ihm mangelte es an Kampferfahrung. Vervollständigt wurde das Bravo-Team durch Rebecca Chambers, die erst seit drei Wochen zu S.T.A.R.S. gehörte und angeblich eine Art medizinisches Genie war. Chris war ihr ein paar Mal begegnet. Sie schien ziemlich helle zu sein, aber trotzdem war sie, was ihre Erfahrung anging, noch ein halbes Kind.

Das reicht nicht. Selbst mit uns allen zusammen reicht es womöglich nicht.

Er öffnete sein Mineralwasser, trank aber nicht davon. Stattdessen fragte er sich, womit S.T.A.R.S. es hier zu tun hatte, und Billys flehende, verzweifelt hervorgestoßenen Worte hallten neuerlich in ihm wider.

„Die werden mich umbringen, Chris! Die werden jeden umbringen, der Bescheid weiß! Triff mich bei Emmys, jetzt gleich, ich werde dir alles erzählen …“

Erschöpft starrte Chris ins Nichts, allein mit der schlimmen Ahnung, dass die brutalen Morde nur die Spitze des sprichwörtlichen Eisbergs waren.

Barry blieb kurz an Chris’ Schreibtisch stehen und suchte nach etwas, von dem er selbst nicht hätte sagen können, was genau es eigentlich war. Aber Chris schien ohnehin nicht in der Stimmung für eine Plauderei, weshalb Barry schließlich in Gedanken die Achseln zuckte und sich wieder zu Joseph gesellte, der nach wie vor Akten wälzte. Chris war ein feiner Kerl, aber manchmal nahm er die Dinge einfach zu schwer; er würde darüber hinwegkommen, sobald sie erst an der Reihe waren aktiv mitzumischen.

Mann, diese Hitze! Scheinbar endlose Schweißrinnsale liefen Barry die Wirbelsäule abwärts und klebten ihm das T-Shirt an den breiten Rücken. Die Klimaanlage war, wie üblich, im Eimer, und selbst bei weit offen stehender Tür war es in dem winzigen S.T.A.R.S.-Büro unerträglich stickig.

„Glück gehabt?“

Joseph sah von dem Papierstapel hoch zu Barry, ein klägliches Lächeln auf dem hageren Gesicht. „Machst du Witze? Ist gerade so, als hätte irgendjemand das verdammte Ding mit Absicht versteckt.“

Barry seufzte und griff sich eine Handvoll Akten. „Vielleicht hat Jill es gefunden. Sie war noch hier, als ich gestern Abend ging, und ackerte zum ungefähr hundertsten Mal die Zeugenberichte durch …“

„Wonach sucht ihr beiden eigentlich?“, fragte Brad.

Barry und Joseph schauten zu ihm hinüber. Brad saß nach wie vor an der Computerkonsole. Er trug ein Headset und würde das Bravo-Team während des Aufklärungsflugs über die Waldgebiete überwachen. Im Augenblick jedoch wirkte er zu Tode gelangweilt.

Joseph antwortete ihm: „Ach, Barry behauptet, dass hier drin irgendwo der Grundriss des alten Spencer-Anwesens zu finden ist, in irgendeiner Architektur-Zeitschrift, die rauskam, als das Haus gebaut wurde –“ Er hielt inne, dann grinste er Barry an. „Ich glaube allerdings fest, dass unser alter Barry verkalkt ist. Nicht umsonst heißt es ja, das Gedächtnis gehe dabei als Erstes flöten.“

Barry schenkte ihm einen nicht ernst gemeinten finsteren Blick. „Der alte Barry könnte dir locker so kräftig in den Arsch treten, dass du erst nächste Woche wieder runterkommst, Kleiner.“

Joseph musterte ihn mit gespieltem Spott. „Mag sein, aber könntest du dich hinterher noch dran erinnern?“

Barry gluckste kopfschüttelnd. Er war erst achtunddreißig, aber schon seit fünfzehn Jahren bei den Raccoon-S.T.A.R.S., womit er das dienstälteste Mitglied war. Er musste unzählige Witzeleien über das Alter einstecken, meistens von Joseph.

Brad lupfte eine Augenbraue. „Das Spencer-Anwesen? Warum sollte das in einer Zeitschrift sein?“

„Kinder, ihr müsst in Kulturgeschichte besser aufpassen“, sagte Barry. „Die Villa wurde vom unvergleichlichen George Trevor entworfen, kurz bevor er verschwand. Das war dieser Superarchitekt, auf dessen Mist all diese verrückten Wolkenkratzer in D.C. gehen. Trevers Verschwinden könnte tatsächlich der Grund gewesen sein, warum Spencer die Villa dichtgemacht hat. Es geht das Gerücht, dass Trevor während der Bauarbeiten durchdrehte, und als die Bude fertig war, sich darin verlaufen hat. Er irrte durch die Gänge, bis er verhungert war.“

Brad ließ einen abfälligen Laut hören, sah aber mit einem Mal unbehaglich drein. „So ein Scheiß. Davon hab ich noch nie was gehört.“

Joseph zwinkerte Barry zu. „Nein, das stimmt wirklich. Und jetzt streift sein gequälter Geist nachts durch das Haus, bleich und ausgemergelt, und es heißt, dass man ihn manchmal hören kann, wie er ruft: ,Brad Vickers … Bringt mir Brad Vickers …‘“

Brad errötete leicht. „Ja, ha ha ha. Du bist ein echter Komiker, Frost.“

Barry schüttelte lächelnd den Kopf, fragte sich aber wieder einmal, wie Brad es je ins Alpha-Team hatte schafften können. Er war zweifelsohne der beste Hacker, der für S.T.A.R.S. arbeitete, und ein recht anständiger Pilot, aber unter Druck machte er keine besonders gute Figur. Hinter seinem Rücken nannte Joseph ihn „Hasenfuß-Vickers“, und wenn die S.T.A.R.S.-Mitglieder auch im Allgemeinen füreinander eintraten, stimmten mit dieser Einschätzung doch alle überein.

„Ist das der Grund, weshalb Spencer das Haus aufgegeben hat?“ Brad richtete die Frage mit immer noch geröteten Wangen an Barry.

Dieser hob die Schultern. „Das bezweifle ich. Es sollte eine Art Gästehaus für die leitenden Angestellten von Umbrella sein. Tatsächlich verschwand Trevor genau um die Zeit der Fertigstellung herum – aber Spencer hatte eh was an der Birne. Er beschloss, die Zentrale von Umbrella nach Europa zu verlegen – wohin genau, hab ich vergessen –, und hat die Villa einfach mit Brettern vernagelt. Wahrscheinlich ein paar Millionen Dollar voll in den Arsch geschmiert.“

Joseph grinste höhnisch. „Ja, klar. Als ob Umbrella das gejuckt hätte.“

Das stimmte wohl. Spencer mochte vielleicht verrückt gewesen sein, aber er hatte genug Geld und Geschäftssinn, um die richtigen Leute anzuheuern. Umbrella war eines der größten medizinischen Forschungs- und Pharma-Unternehmen der Welt. Selbst vor dreißig Jahren hatte Umbrella der Verlust einiger Millionen Dollar wahrscheinlich nicht wirklich wehgetan.

„Wie auch immer“, fuhr Joseph fort, „die Umbrella-Leute sagten Irons, dass sie jemanden rausgeschickt hätten, der das Haus überprüfte, und dass es keine Anzeichen für einen Einbruch gegeben habe.“

„Warum sucht ihr dann nach den Bauplänen?“, fragte Brad.

Es war Chris, der antwortete – und Barry damit erschreckte. Chris war zu ihnen herübergekommen. In sein jugendliches Gesicht hatte sich ein Ausdruck plötzlicher Leidenschaft geprägt, die fast an Besessenheit grenzte. „Weil es der einzige Ort im Wald ist, der von der Polizei nicht überprüft wurde, und er liegt praktisch mitten zwischen den Tatorten. Und weil man nicht immer darauf vertrauen kann, was die Leute sagen.“

Brad legte die Stirn in Falten. „Aber wenn Umbrella jemanden hingeschickt hat …“

Was immer Chris darauf erwidern wollte, wurde von Weskers ruhiger Stimme unterdrückt, die aus dem vorderen Teil des Raumes kam.

„In Ordnung, Leute. Nachdem es also scheint, als ob Miss Valentine nicht vorhat, sich uns anzuschließen, warum fangen wir dann nicht einfach an?“

Barry ging zu seinem Schreibtisch. Zum ersten Mal, seit diese ganze Sache begonnen hatte, machte er sich Sorgen um Chris. Er hatte den Jüngeren vor ein paar Jahren infolge einer Zufallsbegegnung in einem örtlichen Waffenladen für S.T.A.R.S. rekrutiert. Chris hatte sich als wertvolles Mitglied für das Team erwiesen, er war intelligent, aufmerksam, ein ausgezeichneter Schütze und fähiger Pilot.

Aber jetzt …

Liebevoll betrachtete Barry das Bild von Kathy und den Mädchen, das auf seinem Schreibtisch stand. Chris’ Besessenheit an den Morden in Raccoon war verständlich, erst recht seit sein Freund verschwunden war. Niemand in der Stadt wollte, dass noch jemand sein Leben verlor. Barry hatte Familie und war so entschlossen wie jeder andere im Team, den Killern das Handwerk zu legen. Aber Chris schoss mit seinem unerbittlichen Misstrauen ein wenig über das Ziel hinaus. Was hatte er damit gemeint, dass „man nicht immer darauf vertrauen könne, was die Leute sagten“? Entweder, dass Umbrella log oder Chief Irons …

Lächerlich. Die Chemiefabrik von Umbrella nebst der Verwaltungsgebäude am Stadtrand stellten drei Viertel der Arbeitsplätze von Raccoon City – zu lügen würde den firmeneigenen Interessen zuwiderlaufen. Außerdem war die Integrität Umbrellas mindestens so solide wie die eines jeden anderen Großkonzerns – vielleicht ein wenig Industriespionage, aber der Austausch medizinischer Geheimnisse war etwas völlig anderes als Mord. Und Chief Irons, mochte er auch ein fetter, schmieriger Angeber sein, war nicht der Typ, der sich die Hände schmutziger machte, als sie es beim Einstreichen illegaler Wahlkampfgelder wurden; Herrgott noch mal, der Kerl wollte Bürgermeister werden!

Barrys Blick verweilte noch einen Moment lang auf dem Foto seiner Familie, bevor er seinen Stuhl in die Richtung von Weskers Schreibtisch drehte und ihm schlagartig bewusst wurde, wie sehr er es wollte, dass Chris sich irrte. Was in Raccoon City auch vorging, diese entsetzliche Brutalität konnte einfach nicht geplant sein. Und das hieß …

Barry wusste nicht, was das hieß. Er seufzte und wartete darauf, dass die Besprechung anfing.

ZWEI

Jill fiel ein Stein vom Herzen, als sie den Klang von Weskers Stimme hörte, während sie auf die offene Tür des S.T.A.R.S.-Büros zutrabte. Bei ihrer Ankunft hatte sie einen der Hubschrauber starten sehen und war überzeugt gewesen, dass das Team ohne sie abgeflogen war. S.T.A.R.S. war in mancherlei Hinsicht ein ziemlich legerer Haufen, hatte allerdings keinen Platz für Leute, die nicht mithalten konnten – und Jill wollte bei diesem Fall unbedingt von Anfang an dabei sein.

„Das RCPD hat bereits eine periphere Suche in den Sektoren eins, vier, sieben und neun vorgenommen. Wir befassen uns mit den zentralen Zonen. Bravo wird hier runtergehen …“

Wenigstens kam sie nicht zu spät; Wesker zog Besprechungen immer auf die gleiche Weise durch – aktueller Stand der Dinge, Theorie, dann Fragen und Antworten. Jill holte tief Luft und trat ein. Wesker deutete auf eine Karte, die im vorderen Teil des Büros angeheftet war, gepunktet mit farbigen Markierungen, die anzeigten, wo man die Leichen gefunden hatte. Er stockte kaum in seiner Rede, als Jill rasch zu ihrem Schreibtisch ging. Plötzlich kam sie sich vor, als sei sie wieder in der Grundausbildung und zu spät zum Unterricht erschienen. Chris Redfield schenkte ihr die Andeutung eines Lächelns, während sie sich setzte, und sie nickte zurück, ehe sie ihre Aufmerksamkeit auf Wesker lenkte. Sie kannte niemanden vom Raccoon-Team näher, aber Chris hatte sich seit ihrer Versetzung hierher alle Mühe gegeben, damit sie sich willkommen fühlte.

„… nach einem Aufklärungsflug über die anderen Zentralbereiche. Sobald sie sich melden, werden wir wissen, worauf wir unsere Kräfte konzentrieren müssen.“

„Aber was ist mit der Spencer-Villa?“, fragte Chris. „Sie liegt praktisch inmitten der Tatorte. Wenn wir dort anfangen, können wir eine umfassendere Suche durchführen –“

„– und seien Sie versichert, wenn die Informationen von Bravo auf dieses Gebiet hinweisen, werden wir dort suchen. Im Moment sehe ich allerdings keinerlei Grund, es als Priorität einzustufen.“

Chris sah den Captain ungläubig an. „Aber wir haben lediglich das Wort von Umbrella selbst, dass das Anwesen sicher …“

Wesker lehnte sich gegen seinen Schreibtisch, die strengen Züge ausdruckslos und unterbrach ihn: „Chris, wir alle wollen dieser Sache auf den Grund gehen. Aber wir müssen als Team arbeiten, und die beste Vorgehensweise hier ist eine sorgfältige Suche nach diesen drei vermissten Wanderern, bevor wir anfangen, voreilige Schlüsse zu ziehen. Bravo wird sich umsehen, und wir werden uns an die Regeln halten.“

Chris runzelte die Stirn, aber er sagte nichts mehr. Jill widerstand dem Drang, ob Weskers kurzer Ansprache die Augen zu verdrehen. Natürlich war diese Vorgehensweise prinzipiell die Richtige. Wesker redete damit aber auch Chief Irons nach dem Mund. Und Irons hatte wiederholt klargemacht, dass er die Ermittlungen leitete und das eigentliche Sagen hatte. Das alles hätte Jill nur halb so viel gestört, wenn Wesker sich nicht bei jeder sich sonst bietenden Gelegenheit gern als unabhängiger Denker dargestellt hätte, der keine politischen Winkelzüge mitmachte. Sie hatte sich S.T.A.R.S. angeschlossen, weil sie die Scheißbürokratie, die einen großen Teil der Exekutive beherrschte, nicht ausstehen konnte, und dass Wesker sich dem Chief offensichtlich beugte, ärgerte sie.

Oh, und vergiss nicht, dass du beste Chancen hattest, im Knast zu landen, wenn du den Beruf nicht gewechselt hättest …

„Jill. Wie ich sehe, haben Sie doch noch Zeit gefunden, vorbeizuschauen. Erleuchten Sie uns doch mit Ihren brillanten Einsichten. Was haben Sie für uns?“

Jill erwiderte Weskers scharfen Blick und versuchte, so cool und ruhig zu wirken, wie er es war. „Nicht viel, fürchte ich. Das einzig erkennbare Schema sind die Tatorte …“

Sie sah auf die Notizen hinunter, die sie auf dem Aktenstapel vor sich liegen hatte, und durchforstete sie mit einem flüchtigen Blick nach Hinweisen. „Also, die Gewebeproben unter den Fingernägeln von Becky McGee und Chris Smith stimmen exakt überein, das haben wir gestern erfahren … Und Tonya Lipton, das dritte Opfer, war definitiv zum Wandern in den Vorbergen unterwegs, das wäre Sektor … sieben B …“

Sie sah wieder zu Wesker auf und legte ihre Sicht der Dinge dar. „Meine Theorie besteht zurzeit darin, dass sich möglicherweise ein ritueller Kult in den Bergen verborgen hält, vier bis elf Mitglieder zählend, mit Bluthunden, die darauf abgerichtet sind, Menschen, die in ihr Revier eindringen, anzugreifen.“

„Wie kommen Sie auf diese Zahl? Extrapolation?“ Wesker verschränkte abwartend die Arme.

Wenigstens hatte keiner gelacht. Jill wagte sich weiter vor, erwärmte sich für die eigene Idee. „Der Kannibalismus und die Verstümmelungen legen rituelles Verhalten nahe, ebenso wie das Vorhandensein verfaulten Fleisches, das an einigen der Opfer gefunden wurde – als trügen die Mörder bei ihren Überfällen Teile vorhergehender unbekannter Opfer bei sich. Wir haben Speichel- und Gewebeproben von vier verschiedenen Tätern. Augenzeugenberichte lassen allerdings auf bis zu zehn oder elf Personen schließen. Und diejenigen, die von Tieren getötet wurden, hat man alle in derselben Gegend gefunden, beziehungsweise sie wurden alle in derselben Gegend angefallen – daraus lässt sich folgern, dass sie eine Art Grenze überschritten haben. Die Speichelspuren scheinen von Hunden zu stammen, aber da gibt es noch ein paar Unstimmigkeiten …“ Jill verstummte.

Weskers Gesicht verriet nichts, doch er nickte gemessen. „Nicht übel, gar nicht übel. Widerlegende Argumente?“

Jill seufzte. Sie hasste es, ihre eigene Theorie entkräften zu müssen, aber das war Teil des Jobs – und, wenn sie ganz ehrlich war, der Teil, der klarem, rationalem Denken am förderlichsten war. S.T.A.R.S. schulte seine Mitarbeiter darauf, sich nicht auf einen einzigen Pfad zur Wahrheit zu fixieren.

Abermals überflog Jill ihre Notizen. „Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein Kult dieser Größe viel herumziehen würde, und die Morde begannen vor zu kurzer Zeit, um lokale Wurzeln zu haben. Das RCPD wäre schon früher auf Spuren gestoßen, auf irgendeine Eskalation solcher Verhaltensmuster. Außerdem weist der Grad postmortaler Gewalteinwirkung auf planlos vorgehende Täter hin, und sie treten für gewöhnlich einzeln auf.“

Von hinten meldete sich Joseph Frost, der Alpha-Fahrzeugspezialist, zu Wort. „Aber das mit den Tierangriffen macht Sinn – dass sie ihr Revier verteidigen und so.“

Wesker nahm einen Stift und ging zu der Tafel neben seinem Schreibtisch. „Dem stimme ich zu.“

Er schrieb Territorialität an die Tafel, dann wandte er sich wieder Jill zu. „Noch etwas?“

Sie schüttelte den Kopf, freute sich aber, dass sie etwas beigetragen hatte. Sie wusste, dass der Kult-Aspekt weit hergeholt war, aber etwas anderes war ihr nicht eingefallen. Die Polizei jedenfalls hatte ganz sicher nichts Besseres zuwege gebracht.

Wesker richtete seine Aufmerksamkeit auf Brad Vickers, der die Meinung vertrat, es handele sich um eine neue Form von Terrorismus, und dass wohl bald Forderungen gestellt würden. Wesker setzte Terrorismus auf die Tafel, schien aber nicht begeistert von dem Vorschlag, wie auch sonst niemand. Brad widmete sich schnell wieder seinem Headset und checkte den Status des Bravo-Teams.

Sowohl Joseph als auch Barry verzichteten aufs Theoretisieren, und Chris’ Ansichten über die Morde waren bereits bekannt, wenn auch nur vage; er glaubte, dass hier eine organisierte Geschichte am Laufen war, die irgendwie von außen gesteuert wurde. Wesker fragte ihn, ob er irgendetwas Neues hinzuzufügen habe (Neues betonend, wie Jill bemerkte), doch Chris schüttelte den Kopf. Er wirkte niedergeschlagen.

Wesker schraubte die Kappe auf den schwarzen Stift und setzte sich auf die Kante seines Schreibtischs. Nachdenklich betrachtete er die noch leere Fläche der Tafel. „Es ist ein Anfang“, sagte er. „Ich weiß, Sie haben alle die Polizei- und Autopsieberichte gelesen und die Aussagen der Augenzeugen gehört –“

„Vickers hier, over.“ Im hinteren Teil des Raumes sprach Brad leise in sein Bügelmikrofon. Der Captain hielt kurz inne, dann fuhr er mit gesenkter Stimme fort.

„Zum momentanen Zeitpunkt wissen wir nicht, womit wir es zu tun haben, und mir ist klar, dass wir alle unsere … Bedenken haben in Bezug darauf, wie das RCPD mit der Problematik umgegangen ist. Aber jetzt, da wir an dem Fall dran sind –“

„Was?“

Beim peitschenden Klang von Brads Stimme drehte sich Jill ebenso wie alle anderen nach hinten um. Brad war aufgestanden, wirkte beunruhigt, hielt eine Hand gegen den Kopfhörer gepresst.

„Bravo-Team, melden. Wiederhole, Bravo-Team, meldet euch!“

Wesker erhob sich. „Vickers, schalten Sie den Lautsprecher ein!“

Brad hieb auf den entsprechenden Schalter an seiner Konsole, und das helle Knistern der Statik erfüllte den Raum. Jill versuchte, eine menschliche Stimme herauszuhören, doch einige angespannte Sekunden lang war nichts weiter zu hören.

Dann jedoch: „… habt ihr verstanden? Fehlfunktion, wir müssen …“

Der Rest ging in anhaltendem statischem Rauschen unter. Zuvor hatte es nach Enrico Marini, dem Leiter des Bravo-Teams, geklungen. Jill kaute auf ihrer Unterlippe und wechselte einen besorgten Blick mit Chris. Enrico schien … außer sich. Einen Moment lang lauschten sie noch, aber außer den Geräuschen des Äthers war nichts mehr zu hören.

„Position?“, schnappte Wesker.

Brads Gesicht war fahl. „Sie sind in … Moment … in Sektor zweiundzwanzig, am hinteren Ende von C … Aber ich hab das Signal verloren. Der Transmitter ist offline.“

Jill fühlte sich wie betäubt, und in den Mienen der anderen erkannte sie die Reflexion exakt des gleichen Gefühls. Der Transmitter des Hubschraubers war so konstruiert, dass er immer funktionierte, unter allen Umständen; lahm legen konnte ihn nur etwas ganz Schwerwiegendes – wenn fast das komplette System ausfiel oder sogar Totalschaden erlitt.

Etwas wie ein Absturz …

Chris spürte, wie sich ihm der Magen verknotete, als er die Koordinaten erkannte.

Das Spencer-Anwesen!

Marini hatte etwas von einer Fehlfunktion gemeldet. Das musste Zufall sein – aber Chris hatte nicht das Gefühl, dass es einer war. Die Bravos befanden sich in Schwierigkeiten – und ausgerechnet über der alten Umbrella-Villa.

All das ging ihm in einem Sekundenbruchteil durch den Kopf, und dann war er auch schon auf den Beinen, bereit zum Einsatz. Was auch passierte, die S.T.A.R.S.-Angehörigen kümmerten sich um die ihren.

Wesker handelte bereits. Noch während er nach seinen Schlüsseln griff und zum Waffensafe ging, wandte er sich ans Team.

„Joseph, übernehmen Sie den Funk und versuchen Sie, Kontakt zu Bravo herzustellen. Vickers, Sie lassen den Kopter warmlaufen und holen Starterlaubnis ein. Ich will, dass in fünf Minuten alles klar zum Abflug ist.“

Der Captain schloss den Tresorraum auf, während Brad das Headset an Joseph reichte und aus dem Büro stürmte. Die gepanzerte Tresortür schwang auf und gab den Blick frei auf ein wahres Arsenal von Gewehren und Handfeuerwaffen, die über Munitionskisten in Regalen angeordnet waren. Wesker wandte sich an den Rest des Teams. Seine Miene war so ausdruckslos wie immer, seine Stimme indes klirrte vor Autorität.

„Barry, Chris – Sie beide schaffen die Waffen in den Hubschrauber, geladen und gesichert. Jill, Sie holen die Westen und Taschen und treffen uns auf dem Dach.“ Er löste einen Schlüssel von seinem Bund und warf ihn ihr zu.

„Ich verständige Irons, damit er uns Verstärkung und EMTs runter an die Barrikade schickt“, sagte Wesker, dann stieß er scharf den Atem aus. „Wir haben längstens fünf Minuten, Leute. Los geht’s.“

Jill machte sich auf den Weg zum Umkleideraum. Barry schnappte sich einen der leeren Seesäcke vom Boden der Waffenkammer und nickte Chris zu. Der griff sich einen zweiten Sack und fing an, ihn mit Patronenschachteln, Magazinen und Munitionsstreifen zu füllen, während Barry sich sorgfältig um die Waffen kümmerte und jede einzelne überprüfte. Hinter ihnen versuchte Joseph wieder das Bravo-Team zu rufen, vergebens.

Chris wunderte sich immer noch über die Nähe der letzten übermittelten Position des Bravo-Teams zum Spencer-Anwesen. Gab es da eine Verbindung? Und wenn ja, welche?

Billy arbeitete für Umbrella, das Haus gehört der Firma –

„Chief? Wesker, hier. Wir haben gerade den Kontakt zu Bravo verloren; wir gehen rein.“

Chris fühlte einen plötzlichen Adrenalinstoß und arbeitete schneller. Ihm war bewusst, dass jede Sekunde zählte und für seine Freunde und Teamkameraden den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten konnte. Ein schwerer Absturz war unwahrscheinlich, die Bravos mussten tief geflogen sein, und Forest war ein guter Pilot … aber was war passiert, nachdem sie runtergegangen waren?

Am Telefon gab Wesker rasch die Informationen an Irons weiter, dann legte er auf und kehrte zu ihnen zurück.

„Ich kümmere mich darum, dass unsere Maschine vollständig ausgerüstet ist. Joseph, versuchen Sie es noch eine Minute, dann übergeben Sie die Sache an die Jungs vom Revier. Sie können Barry und Chris helfen, die Ausrüstung raufzutragen. Wir sehen uns dann oben.“

Wesker nickte ihnen zu und eilte hinaus. Mit lauten Schritten lief er den Korridor hinunter.

„Er ist gut“, sagte Barry leise, und Chris musste ihm beipflichten. Es war beruhigend zu sehen, dass ihr neuer Captain nicht so leicht aus dem Konzept zu bringen war. Chris war sich noch nicht sicher, was er von ihm als Mensch hielt, doch sein Respekt vor Weskers Fähigkeiten wuchs minütlich …

„Kommen, Bravo, hört ihr mich? Wiederhole …“

Joseph machte geduldig weiter. Seine Stimme war hart vor Anspannung, und seine Rufe verloren sich in dem unsichtbaren Nebel aus Statikrauschen, der den Raum erfüllte.

Wesker schritt den verlassenen Flur hinab und durch den schäbigeren der beiden Warteräume im ersten Stockwerk. Knapp nickte er zwei Uniformierten zu, die sich vor dem Getränkeautomaten unterhielten.

Die Tür zum Landeplatz war offen und verkeilt, eine schwache, schwüle Brise fuhr durch die stickige Luft im Gebäudeinneren. Es war noch hell, aber das würde sich bald ändern. Wesker hoffte, dass das die Angelegenheit nicht verkomplizierte, wenngleich er die Wahrscheinlichkeit für hoch hielt, dass genau dieser Fall eintreten würde …

Er wandte sich nach links und lief den gewundenen Gang hinunter, der zum Heliport führte. Gedankenversunken hakte er im Geiste eine Checkliste ab.

Einleitendes Prozedere, Waffen, Gerät, Bericht …

Er wusste bereits, dass alles in Ordnung war, ging es aber trotzdem noch einmal durch; Nachlässigkeit zahlte sich nicht aus, und sich auf bloße Annahmen zu verlassen, war der erste Schritt dorthin. Wesker charakterisierte sich gern als Verfechter von Präzision, als jemanden, der sämtliche Möglichkeiten in Betracht zog und die Entscheidung über die beste Vorgehensweise erst fällte, nachdem er alle Faktoren gewissenhaft gegeneinander abgewogen hatte. Um- und Übersicht zeichneten einen kompetenten Führer aus.

Aber um diese Sache abzuschließen –

Er verwarf den Gedanken, ehe er sich weiterentwickeln konnte. Er wusste, was getan werden musste, und es war noch genug Zeit. Jetzt musste er sich nur darauf konzentrieren, die Bravos zurückzuholen, heil und gesund.

Wesker öffnete die Tür am Ende des Gangs und trat in den leuchtenden Abend hinaus. Das anschwellende Brummen der Hubschrauberturbine und der Geruch von Maschinenöl beanspruchten seine Sinne. Hier war es kühler als drinnen. Der kleine Dach-Heliport wurde zum Teil von einem alten Wasserturm überschattet und war bis auf den metallgrauen Alpha-Hubschrauber verlassen. Zum ersten Mal stellte sich Wesker die Frage, was für Bravo schief gelaufen sein mochte; er hatte Joseph und die Rekrutin gestern die beiden Vögel durchchecken lassen, und sie waren in Ordnung gewesen, alle Systeme hatten tadellos gearbeitet.

Er verscheuchte auch diesen Gedanken, als er auf den Hubschrauber zuging. Sein Schatten streckte sich lang über den Beton. Das Warum zählte nicht, nicht mehr. Was zählte war, was als Nächstes kommen würde. Erwarte das Unerwartete, lautete das S.T.A.R.S.-Motto – was im Grunde hieß, auf alles gefasst sein zu müssen.

Albert Weskers persönliches Motto war: Erwarte nichts. Nicht ganz so eingängig vielleicht, aber weitaus praktischer. Es garantierte buchstäblich, dass ihn nichts je überraschen konnte.

Er trat an die offene Tür der Pilotenkanzel. Vickers streckte einen zittrigen Daumen hoch; der Mann wirkte eindeutig zu grün für einen solchen Einsatz, und Wesker erwog kurz, ihn tatsächlich hier zu lassen. Chris hatte eine Fluglizenz, und Vickers stand in dem Ruf, dass er unter Stress zusammenbrach. Das Letzte, was Wesker gebrauchen konnte, war, dass einer seiner Leute schlappmachte, sobald es Ärger gab. Dann dachte er an die vermissten Bravos und entschied sich dagegen. Dies war eine Rettungsmission. Das Schlimmste, was Vickers anrichten konnte, war, sich selbst voll zu kotzen, sollte der Bravo-Hubschrauber abgestürzt sein, und damit konnte Wesker leben.

Er öffnete die Seitentür und stieg in die Kabine, wo er eine rasche Bestandsaufnahme der Ausrüstung machte, die entlang der Wände aufgereiht war. Leuchtkugeln, Rationspacks … Er öffnete den Deckel des schweren, verbeulten Bodenfachs hinter den Bänken, begutachtete die medizinische Grundausrüstung und nickte zufrieden. Sie waren so gut vorbereitet, wie sie es nur sein konnten …

Plötzlich grinste Wesker. Er fragte sich, was Brian Irons wohl gerade tat.

Scheißt sich hundertprozentig in die Hose. Wesker lachte leise, während er wieder auf den sonnenheißen Asphalt hinaustrat und auf einmal ein klares Bild von Irons vor seinem geistigen Auge stehen hatte – die dicken Wangen rot vor Wut, während ihm die Kacke am Bein herunterrann. Irons sonnte sich gern in der Überzeugung, er könne alles und jeden um sich herum kontrollieren, verlor aber sofort die Beherrschung, wenn er dies mal nicht schaffte. Und das machte ihn zum Idioten.

Zu ihrer aller Pech war er ein Idiot mit ein wenig Macht. Wesker hatte ihn sorgfältig durchleuchtet, bevor er den Posten in Raccoon City angenommen hatte, und wusste ein paar Dinge über den Chief, die kein besonders gutes Licht auf ihn warfen. Er hegte nicht die Absicht, dieses Wissen zu benutzen, aber wenn Irons noch einmal Mist baute, würde Wesker diese Informationen bedenkenlos durchsickern lassen …

… oder ihm zumindest sagen, dass ich Zugriff darauf habe. Das würde ihn mir ganz sicher vom Leib halten.

Barry Burton trat auf die Betonfläche heraus. Er trug die Munitionstasche, und seine riesigen Oberarmmuskeln spannten sich, als er den schweren Segeltuchsack anders packte und damit auf den Kopter zulief. Chris und Joseph folgten ihm, Chris mit den Handwaffen, und Joseph schleppte eine Tasche voller RPGs. Den kompakten Granatwerfer trug er am Riemen über einer seiner Schultern.

Wesker bewunderte Burtons rohe Kraft, während der Alpha in die Maschine kletterte und die Tasche so lässig absetzte, als wöge sie keineswegs über fünfzig Kilo. Barry hatte genug Köpfchen, doch bei den S.T.A.R.S.-Mitgliedern waren Muskeln definitiv von Vorteil. Auch alle anderen in Weskers Trupp waren gut in Form, aber verglichen mit Barry blieben sie dennoch nur halbe Hemden.

Während die drei die Ausrüstung verstauten, richtete Wesker sein Augenmerk wieder auf die Tür und hielt nach Jill Ausschau. Er sah auf die Uhr, und sein Blick verdüsterte sich. Ihr letzter Kontakt mit Bravo war knapp fünf Minuten her, sie hatten eine hervorragende Zeit hingelegt … Wo zum Teufel also steckte Valentine? Er hatte sich nicht sonderlich mit ihr befasst, seit sie nach Raccoon gekommen war, aber ihre Personalakte glich einer einzigen Lobeshymne. Sie hatte von jedem, mit dem sie gearbeitet hatte, beste Empfehlungen bekommen. Ihr letzter Captain pries sie als hochintelligent und außergewöhnlich ruhig in Krisensituationen. Das musste sie bei ihrer Vorgeschichte auch sein. Ihr Vater war Dick Valentine, vor ein paar Jahrzehnten ein Meister-Dieb und berühmt-berüchtigt in seiner Branche. Er hatte sie angelernt, damit sie später in seine Fußstapfen treten konnte, und man sagte ihr nach, dass sie diese Vorgabe recht gut erfüllt hatte, bis ihr Daddy schließlich eingesperrt worden war …

Wunderkind oder nicht, eine anständige Uhr wird sie sich ja wohl leisten können. Im Stillen drängte er Jill, ihren Hintern etwas schneller zu bewegen. Dann bedeutete er Vickers mit einer Geste, den Rotor zu starten.

Es war Zeit, herauszufinden, wie schlimm die Dinge da draußen tatsächlich standen.

DREI

Jill wandte sich der Tür des dämmrigen, stillen S.T.A.R.S.-Umkleideraums zu, in den Armen zwei prall gefüllte Seesäcke. Sie setzte sie ab, streifte rasch ihr Haar zurück und klemmte es unter ein abgetragenes schwarzes Barett. Eigentlich war es ihr zu warm, aber es handelte sich nun einmal um ihre Glücksmütze. Ehe sie die Säcke wieder aufhob, sah sie auf die Uhr und stellte erfreut fest, dass sie nur drei Minuten zum Packen gebraucht hatte.

Sie war die Spinde aller Alphas durchgegangen und hatte sich Einsatzgürtel, fingerlose Handschuhe, Kevlar-Westen und Schultertaschen geschnappt. Dabei war ihr aufgefallen, dass die Spinde die Persönlichkeiten ihrer Benutzer widerspiegelten: Barrys Schrank war über und über mit Schnappschüssen seiner Familie tapeziert sowie mit einem Poster aus einem Waffenmagazin, das eine seltene .45er Luger zeigte, glänzend auf rotem Samt. Chris hatte Bilder von seinen Air-Force-Kumpels aufgehängt, und die Fächer zeigten ein jungenhaftes Durcheinander – zerknüllte T-Shirts, einzelne Papiere, sogar ein Leucht-Jo-Jo mit abgerissener Schnur. In Brad Vickers Spind befand sich ein Stapel Selbsthilfebücher und in dem von Joseph ein Three-Stooges-Kalender. Nur Weskers Spind entbehrte jeglicher persönlicher Attribute. Irgendwie überraschte Jill das nicht. Der Captain erschien ihr ohnehin zu steif, als dass sie einen Hang zur Sentimentalität bei ihm vermutet hätte.

Ihr eigener Spind enthielt eine Anzahl zerlesener Taschenbücher über wahre Verbrechen, eine Zahnbürste, Zahnseide, Pfefferminzbonbons und drei Mützen. An der Tür hingen ein kleiner Spiegel und ein altes, abgegriffenes Foto, das sie und ihren Vater zeigte. Es war aufgenommen worden, als sie ein Kind gewesen war und sie eines Sommers an den Strand gefahren waren. Während sie rasch die Alpha-Ausrüstung zusammengestellt hatte, beschloss Jill, ihren Spind umzudekorieren, sobald sie Zeit dafür fand; wer jetzt hineinsah, musste sie ja für eine Zahnpflege-Fetischistin halten.

Jill fummelte am Türgriff, wobei sie sich etwas zusammenkauerte, weil sie die unhandlichen Taschen auf dem angehobenen Knie balancieren musste. Sie hatte den Knauf gerade erwischt, als hinter ihr jemand laut hustete.

Vor Schreck ließ Jill die Taschen fallen, wirbelte herum und suchte nach demjenigen, der gehustet hatte, während ihr Hirn reflexartig die Situation auflöste. Die Tür war verschlossen gewesen. Der kleine Raum beherbergte drei Reihen von Spinden und war still und dunkel gewesen, als sie hereingekommen war. Im hinteren Teil des Raumes gab es eine zweite Tür, aber durch die war niemand gekommen, seit sie die Umkleide betreten hatte.

Das heißt, es war schon jemand hier, als ich reinkam, in den Schatten hinter der letzten Spindreihe. Ein Cop, der ein Nickerchen gemacht hat?

Unwahrscheinlich. Im Revier gab es ein Zimmer, in dem ein paar Betten standen, die sehr viel bequemer gewesen wären als eine schmale Holzbank über kaltem Beton.

Dann ist es vielleicht jemand, der sich eine kleine „Auszeit“ mit einer unzweideutigen Illustrierten genehmigt, raunte es in ihrem Kopf. Was soll’s? Die Zeit läuft, also sieh zu, dass du Land gewinnst!

Richtig. Jill nahm die Taschen auf und wandte sich zum Gehen.

„Miss Valentine, nicht wahr?“ Ein Schatten löste sich aus dem rückwärtigen Teil des Raumes, ein hoch gewachsener Mann mit tiefer, wohltönender Stimme. Anfang vierzig, von hagerer Gestalt, dunkles Haar und tief liegende Augen. Sogar einen Trenchcoat trug er, und einen teuren noch dazu.

Jill machte sich bereit, schnell zu handeln, falls dies nötig wurde. Sie kannte den Mann nicht.

„Das stimmt“, erwiderte sie misstrauisch.

Der Mann trat auf sie zu, ein Lächeln flackerte über sein Gesicht. „Ich habe etwas für Sie“, sagte er sanft.

Jill kniff die Augen zusammen und nahm automatisch Abwehrhaltung ein, verlagerte ihr Gewicht auf die Fußballen. „Stehen bleiben, Arschloch – ich weiß nicht, wer zum Teufel Sie sind oder was Sie wollen, aber Sie befinden sich in einem Polizeirevier …“

Sie verstummte, als er breit grinsend den Kopf schüttelte. In seinen Augen blitzte Heiterkeit. „Sie missverstehen meine Absicht, Miss Valentine. Verzeihen Sie bitte mein Benehmen. Mein Name ist Trent, und ich bin … ein Freund von S.T.A.R.S.“

Jill studierte seine Körperhaltung und entspannte sich ein wenig, achtete jedoch auf seine Augen, um sofort zu reagieren, falls sie darin das geringste warnende Anzeichen entdeckte. Sie fühlte sich nicht unbedingt von ihm bedroht …

… aber woher kennt er meinen Namen?

„Was wollen Sie?“

Trent grinste noch breiter. „Ah, Sie kommen ohne Umschweife auf den Punkt. Natürlich, Ihr Zeitplan ist ziemlich eng gesteckt …“

Er fasste langsam in eine Tasche seines Mantels und zog etwas heraus, das wie ein Handy aussah. „Es geht allerdings nicht darum, was ich will. Es geht um etwas, von dem ich glaube, dass Sie es haben sollten.“

Jill musterte kurz den Gegenstand in seiner Hand und runzelte die Stirn. „Das da?“

„Ja. Ich habe ein paar Unterlagen zusammengestellt, die Sie interessant finden dürften, verlockend sogar.“ Im Sprechen reichte er ihr das Gerät.

Vorsichtig griff sie nach dem teuren Mikro-Computer. Wer dieser Trent auch sein mochte, hinter ihm steckte offenkundig jede Menge Geld.

Jill war plötzlich mehr als nur ein bisschen neugierig geworden. Sie schob den Computer in ihre Hüfttasche. „Für wen arbeiten Sie?“

Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht wichtig, nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Ich verrate Ihnen allerdings, dass es eine Menge wichtiger Leute gibt, die zur Zeit ihre Augen auf Raccoon City gerichtet haben.“

„Ach? Und sind diese Leute auch ,Freunde‘ von S.T.A.R.S., Mister Trent?“

Trent lachte – ein weiches, tiefes Glucksen. „So viele Fragen und so wenig Zeit. Studieren Sie die Informationen. Und wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich diese Unterhaltung gegenüber niemandem erwähnen. Das könnte recht schwerwiegende Folgen haben.“

Er ging auf die rückwärtige Tür des Raumes zu und drehte sich noch einmal um, als er nach dem Knauf fasste. Plötzlich verloren Trents verwitterte Züge jede Spur von Humor. Sein Blick war ernst, fast fanatisch.

„Noch eines, Miss Valentine, und es ist von entscheidender Bedeutung, lassen Sie sich da nur nicht täuschen: Nicht jedem kann man trauen, und nicht jeder ist, was er zu sein scheint – selbst die Menschen, die Sie zu kennen glauben. Wenn Sie am Leben bleiben wollen, tun Sie gut daran, das nie zu vergessen.“

Trent öffnete die Tür und war verschwunden, von einem Moment zum anderen.

Jill starrte ihm nach, ihre Gedanken jagten in eine Million Richtungen gleichzeitig. Sie kam sich vor wie in einem dieser melodramatischen alten Spionagefilme, in dem jemand gerade dem mysteriösen Fremden begegnet war. Es war lachhaft, und doch –

– und doch hat er dir gerade mit völlig ernstem Gesicht ein Gerät übergeben, das ein paar tausend Dollar wert ist, und dir zur Vorsicht geraten – denkst du, so einer nimmt dich auf den Arm?

Sie wusste nicht, was sie denken sollte, und sie hatte auch keine Zeit mehr zum Nachdenken. Das übrige Alpha-Team war sicher längst versammelt, wartete ungeduldig und fragte sich, wo zur Hölle sie blieb.

Jill schulterte die schweren Taschen und eilte zur Tür hinaus.

Sie hatten die Waffen verladen und gesichert, und Wesker wurde allmählich ungeduldig. Obwohl seine Augen hinter einer dunklen Pilotenbrille verborgen waren, konnte Chris es doch an der Haltung des Captains erkennen und daran, wie er immer wieder ruckartig das Gesicht zum Gebäude hindrehte. Der Hubschrauber war startbereit, die Rotorblätter schaufelten warme, feuchte Luft in die enge Kabine. Wegen der offenen Tür unterband der Lärm der Maschine jeden Versuch einer Unterhaltung. Es gab nichts zu tun, außer zu warten.

Komm schon, Jill, halt uns hier nicht auf …

Noch während Chris dies dachte, tauchte Jill aus dem Gebäude auf und trabte mit der Alpha-Ausrüstung und einem entschuldigenden Gesichtsausdruck auf sie zu. Wesker sprang hinaus, um ihr zu helfen, und nahm ihr eine der voll gestopften Taschen ab, während sie an Bord kletterte.

Wesker folgte ihr und schloss die Doppelluke hinter ihnen. Augenblicklich wurde das Brüllen des Turbinenantriebs gedämpft.

„Probleme, Jill?“ Wesker klang nicht wütend, aber sein Ton hatte eine Schärfe, die klarmachte, dass er nicht allzu glücklich über ihre Verspätung war.

Jill schüttelte den Kopf. „Eine der Spindtüren klemmte. Hat ewig gedauert, bis sich der Schlüssel drehen ließ.“

Der Captain sah sie einen Moment lang an, als überlege er, ob er ihr die Hölle heiß machen sollte oder nicht, dann zuckte er die Achseln. „Ich sag dem Wartungsdienst Bescheid, wenn wir zurück sind. Verteilen Sie jetzt die Ausrüstung.“

Er nahm einen Kopfhörer, setzte ihn auf und rutschte nach vorn zu Brad. Indes begann Jill die Westen auszugeben. Der Hubschrauber stieg langsam in die Lüfte, das RCPD-Gebäude fiel zurück. Brad brachte die Maschine auf Kurs Nordwest.

Nachdem er seine Weste übergestreift hatte, kauerte Chris neben Jill nieder und half ihr, die Handschuhe und Gürtel zu sortieren. Währenddessen rasten sie über die Stadt in Richtung der Arklay Mountains. Unter dem Hubschrauber wichen die geschäftigen Straßen der Innenstadt bald den Randbezirken – breite Straßen und ruhige Häuser inmitten von Rechtecken aus bräunlichem Gras und Gartenzäunen. Über die weitläufige, aber abgelegene Stadt hatte sich Abenddunst gebreitet, der den idyllischen Anblick an den Rändern zerfasern ließ und ihm eine irreale, traumhafte Qualität verlieh. Minuten verstrichen in Schweigen, während die Alphas sich bereitmachten und angurteten. Jedes Teammitglied war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

Mit etwas Glück hatte der Hubschrauber des Bravo-Teams nur einen geringfügigen mechanischen Schaden erlitten. Forest würde ihn auf einem der kargen Felder, die den Wald sprenkelten, gelandet haben, war inzwischen wohl bis über beide Ellbogen mit Öl verschmiert und verfluchte die Maschine, während das Team darauf wartete, dass Alpha aufkreuzte. Solange der Vogel nicht betriebsbereit war, würde Marini nicht mit der geplanten Suche beginnen. Die Alternative war …

Chris verzog das Gesicht. Er wollte keinerlei Alternativen in Betracht ziehen. Er hatte einmal die Folgen eines schweren Hubschrauberunglücks gesehen, damals bei der Air Force. Ein Pilotenfehler hatte zum Absturz eines Hueys geführt, der elf Männer und Frauen zu einem Trainingseinsatz hatte bringen sollen. Als die Retter eingetroffen waren, hatten sie nur noch verkohlte, rauchende Gerippe inmitten der glühenden Trümmer gefunden. Der süßliche, stickige Geruch benzinverbrannten Fleisches hatte schwer in der geschwärzten Luft gehangen. Selbst der Boden hatte gebrannt, und dieses Bild hatte Chris in den Monaten danach in seinen Träumen heimgesucht: die Erde in Flammen, chemisches Feuer, das den Boden unter seinen Füßen aufzehrte …

Der Hubschrauber sackte eine Winzigkeit ab, als Brad die Rotorneigung änderte. Der schwache Ruck riss Chris aus den unangenehmen Erinnerungen. Unter ihnen huschte die gezackte Randzone des Raccoon Forests vorbei, die orangefarbenen Markierungen der Polizeiabsperrung hoben sich vom dichten, gedämpften Grün der Bäume ab. Die Dämmerung hielt Einzug, und der Wald füllte sich mit Schatten.

„Voraussichtliche Ankunftszeit in drei Minuten“, rief Brad nach hinten. Chris schaute sich in der Kabine um und registrierte die stummen, verbissenen Mienen seiner Teamkameraden. Joseph hatte sich ein buntes Tuch um den Kopf gebunden und schnürte gewissenhaft seine Stiefel neu. Barry polierte seinen geliebten Colt Python andächtig mit einem weichen Tuch und starrte dabei zum Kabinenfenster hinaus. Chris drehte den Kopf, um Jill anzusehen, und stellte überrascht fest, dass sie ihrerseits ihn gedankenvoll musterte. Sie saß auf derselben Bank wie er und lächelte kurz, fast nervös, als er ihren Blick erwiderte. Abrupt hakte sie ihren Gurt auf und rutschte neben ihn. Schwach fing er den Duft ihrer Haut auf, ein sauberer, seifiger Geruch.

„Chris … was du über externe Faktoren in diesem Fall gesagt hast …“

Ihre Stimme war so gesenkt, dass er sich zu ihr hinlehnen musste, um sie durch das Dröhnen der Maschine hindurch verstehen zu können. Rasch sah sie zu den anderen, wie um sicherzugehen, dass niemand zuhörte, dann schaute sie ihm in die Augen, den eigenen Blick krampfhaft beherrscht.

„Ich denke, du könntest auf der richtigen Spur sein“, flüsterte sie, „und ich fange an zu glauben, dass es vielleicht keine so gute Idee ist, darüber zu reden.“

Chris’ Kehle wurde schlagartig trocken. „Ist etwas passiert?“

Jill schüttelte den Kopf. Ihre fein geschnittenen Züge verrieten nichts. „Nein. Ich hab mir nur gedacht, dass du vielleicht aufpassen solltest, was du sagst. Womöglich steht nicht jeder, der zuhört, in dieser Sache auf der richtigen Seite …“

Chris legte die Stirn in Falten. Er war nicht sicher, was sie ihm mitzuteilen versuchte. „Die einzigen Leute, mit denen ich geredet habe, sind an diesem Fall dran –“

Ihr Blick blieb fest, und plötzlich wurde ihm klar, was sie da anzudeuten versuchte.

Großer Gott, und ich dachte, ich sei paranoid!

„Jill, ich kenne diese Leute, und selbst wenn dem nicht so wäre: S.T.A.R.S. besitzt von jedem Mitglied psychologische Profile, Backgroundüberprüfungen, persönliche Referenzen – was du da andeutest, kann unmöglich sein.“

Sie seufzte. „Okay, vergiss, was ich gesagt habe. Es ist nur … pass auf dich auf, das ist alles.“

„In Ordnung. Leute – auf geht’s! Wir nähern uns Sektor zweiundzwanzig, sie könnten hier überall sein.“

Bei Weskers Worten warf Jill Chris einen letzten sorgenvollen Blick zu, dann rutschte sie zu einem der Fenster. Chris folgte ihr, Joseph und Barry hielten auf der anderen Kabinenseite die Augen offen.

Chris richtete den Blick durch die Verglasung, durchforstete mechanisch die fortschreitende Dämmerung und dachte über das nach, was Jill gesagt hatte. Er nahm an, dass er dankbar hätte sein sollen, dass er nicht der Einzige war, der irgendeine Form von Vertuschung vermutete – aber warum hatte sie vorher nichts gesagt? Und ihn vor S.T.A.R.S.-Angehörigen zu warnen …

Sie weiß etwas.

Sie musste etwas wissen, das war die einzige Erklärung, die Sinn ergab. Er beschloss, noch einmal mit ihr zu reden, nachdem sie Bravo aufgelesen hatten, und sie zu überzeugen, dass es das Beste wäre, wenn sie damit zu Wesker gingen. Wenn sie beide Druck machten, würde der Captain zuhören müssen.

Der Hubschrauber ging tiefer und zwang Chris, seine volle Aufmerksamkeit auf die Suche zu richten. Er starrte hinaus auf das scheinbar endlose Meer aus Bäumen. Das Spencer-Anwesen musste ganz in der Nähe sein, wenn er es im schwindenden Licht auch nicht sehen konnte. Gedanken, die sich mit Billy und Umbrella und Jills seltsamer Warnung befassten, schwirrten ihm durch den müden Kopf und versuchten, seine Konzentration zu brechen, doch er weigerte sich, dem nachzugeben. Er machte sich immer noch Sorgen um die Bravos – doch während die Bäume vorüberzogen, wuchs seine Überzeugung, dass sie nicht in ernstlichen Schwierigkeiten steckten. Wahrscheinlich war es nichts weiter als ein Kurzschluss, und Forest hatte die Systeme nur abgeschaltet, um Reparaturen vorzunehmen –

Dann sah er es, weniger als eine Meile entfernt, und noch während Jill hinzeigte und er ihre Stimme hörte, verwandelte sich seine eben noch gedämpfte Sorge in kalte Angst.

„Chris, schau –“

Eine ölige Wolke aus schwarzem Rauch stieg brodelnd in den letzten Resten des Tageslichts empor und besudelte den Himmel wie ein Versprechen auf den Tod.

O nein …!

Barry presste die Zähne zusammen und starrte auf den Rauchschwall, der aus den Bäumen emporstieg. Ihm wurde übel.

„Captain, genau auf zwei Uhr!“, rief Chris, und dann drehte der Hubschrauber und hielt auf den dunklen Qualm zu, der nur einen Absturz markieren konnte.

Wesker, der immer noch seine Sonnebrille trug, kam nach hinten. Er trat ans Fenster und sagte mit leiser, beherrschter Stimme: „Wir sollten nicht gleich mit dem Schlimmsten rechnen. Es besteht die Möglichkeit, dass das Feuer ausgebrochen ist, nachdem sie notgelandet sind – oder dass sie absichtlich ein Signalfeuer angezündet haben …“

Barry wünschte sich, sie hätten ihm glauben können, aber selbst Wesker musste es besser wissen. Es war unwahrscheinlich, dass ein Feuer ausbrach, nachdem die Maschine abgeschaltet war – und wenn die Bravos Zeichen hätten geben wollen, dann hätten sie Leuchtmunition eingesetzt.

Außerdem verursacht Holz keinen Rauch wie diesen …

„Was es auch sein mag, wir wissen es nicht, bis wir dort sind. Wenn ich jetzt um Ihre volle Aufmerksamkeit bitten dürfte …“

Barry wandte sich vom Fenster ab und sah die anderen dasselbe tun. Chris, Jill und Joseph zeigten den gleichen Gesichtsausdruck wie er vermutlich selbst: Schock! S.T.A.R.S.-Mitglieder wurden manchmal in der Ausübung ihres Dienstes verletzt, das gehörte zum Job – aber Unfälle wie dieser …

Weskers einziges erkennbares Anzeichen von Sorge war sein Mund, eine dünne, verkniffene Linie, die sich auf seiner gebräunten Haut hervorhob. „Hören Sie zu. Dort unten befinden sich Leute von uns in möglicherweise feindlicher Umgebung. Ich möchte, dass Sie sich alle bewaffnen und nach Plan vorgehen – vorschriftsmäßiges Ausschwärmen, sobald wir aufsetzen. Barry, Sie übernehmen die Spitze.“

Barry riss sich zusammen und nickte. Wesker hatte recht, jetzt war keine Zeit für Gefühlsduseleien.

„Brad wird uns so nahe bei der Stelle absetzen, wie er herankommt. Sieht aus wie eine kleine Lichtung etwa fünfzig Meter südlich der letzten Koordinaten von Bravo. Er wird bei der Maschine bleiben und sie laufen lassen für den Fall, dass es Schwierigkeiten gibt. Fragen?“

Niemand meldete sich zu Wort, und Wesker nickte knapp. „Gut. Barry, geben Sie die Waffen aus. Den Rest der Ausrüstung können wir an Bord lassen und später holen.“

Der Captain ging nach vorne, um mit Brad zu sprechen, während sich Jill, Chris und Joseph Barry zuwandten. Als Waffenspezialist war er für die Verwahrung und Ausgabe der Feuerwaffen aller S.T.A.R.S.-Teammitglieder zuständig und hielt sie in bestem Zustand.

Barry entriegelte den Schrank neben der Ausstiegsluke. Darin befanden sich in einem Metallregal sechs Beretta-9mm-Pistolen, die gestern erst gereinigt und durchgecheckt worden waren. Das Magazin fasste fünfzehn Patronen, Teilmantel-Hohlspitzgeschosse. Eine gute Waffe, doch Barry bevorzugte trotzdem seinen Python. Kaliber .357 hatte eine weit höhere Durchschlagskraft …

Rasch verteilte er die Waffen. Mit jeder gab er drei Magazine aus.

„Ich hoffe, dass wir die nicht brauchen werden“, meinte Joseph, während er seine Pistole durchlud. Barry nickte zustimmend. Nur weil er seine Beiträge an die National Rifle Association zahlte, hieß das nicht, dass er irgend so ein schießwütiger Blödmann war, der ein Faible fürs Killen hatte. Waffen gefielen ihm eben einfach.

Wesker schloss sich ihnen wieder an, und so standen sie zu fünft an der Ausstiegsluke und warteten darauf, dass Brad sie absetzte. Als sie sich der Rauchwolke näherten, drückten die wirbelnden Rotorblätter des Hubschraubers den Qualm zu Boden und auseinander, verwandelten ihn in schwarzen Nebel, der mit den tiefen Baumschatten verschmolz. Rauch und Dämmerung machten jede Chance zunichte, das abgestürzte Vehikel von der Luft aus zu erblicken.

Brad schwang den Vogel herum und setzte ihn auf eine Stelle, die mit hohem, im künstlichen Wind wie wild tanzendem Gras bedeckt war. Noch während sich die Kufen schwankend dem Boden näherten, hatte Barry die Faust um den Öffnungshebel der Luke geschlossen.

Eine warme Hand fiel ihm auf die Schulter. Barry drehte den Kopf und sah Chris, der ihn aufmerksam anschaute.

„Wir sind direkt hinter dir“, sagte Chris, und Barry nickte. Er machte sich keine Sorgen, nicht mit den Alphas als Rückendeckung. Alles, was ihm zusetzte, war die ungewisse Situation des Bravo-Teams. Rico Marini war ein guter Freund von ihm. Marinis Frau hatte unzählige Male auf die Mädchen aufgepasst und war mit Kathy befreundet. Der Gedanke, dass er tot sein könnte, wegen eines dummen technischen Versagens …

Halt durch, Kumpel, wir kommen.

Eine Hand auf dem Kolben seines Colts, zog Barry am Griff und schwang sich, zu allem bereit, hinaus in das schwüle, flirrende Zwielicht des Raccoon Forest.

VIER

Sie verteilten sich und rückten nach Norden vor, Wesker und Chris links hinter Barry, Jill und Joseph zu seiner Rechten. Direkt vor ihnen befand sich eine spärliche Baumgruppe. Jill konnte brennenden Treibstoff riechen und sehen, wie sich Rauchfetzen durch das Geäst kräuselten.

Rasch bewegten sie sich durch das bewaldete Gelände. Die Sichtweite fiel bis dicht unter die nadelbewachsenen Äste. Der wohlige Duft von Kiefern und Erde wurde von Brandgeruch überlagert, und mit jedem Schritt nahm der beißende Gestank zu. In dem matten Licht, das zu ihnen durchsickerte, sah Jill, dass eine weitere freie Fläche vor ihnen lag, die mit hohem dürren Gras bewachsen war.

„Ich seh ihn, da vorn!“

Jill spürte, wie Barrys Ruf ihr Herz schneller schlagen ließ, und dann rannten sie alle, um zu ihm aufzuschließen. Jill tauchte aus dem Wäldchen auf, Joseph neben ihr. Barry war schon bei der abgestürzten Maschine, Chris und Wesker hinter ihm. Noch immer stieg Rauch aus dem still daliegenden Wrack, aber er wurde dünner. Wenn es ein offenes Feuer gegeben hatte, war es erloschen.

Jill und Joseph erreichten die anderen, blieben stehen und schauten nur. Niemand sprach ein Wort, während sie die Szenerie in Augenschein nahmen. Der lange, breite Rumpf des Hubschraubers war unversehrt, nicht ein Kratzer war zu sehen. Die Landekufe auf der Backbordseite wirkte verbogen, doch abgesehen davon und dem schwächer werdenden Rauch, der unter dem Rotor hervorkroch, schien alles mit der Maschine in Ordnung zu sein. Die Luken standen offen, der Strahl von Weskers Ministablampe offenbarte ihnen eine unbeschädigte Kabine. So weit Jill sehen konnte, befand sich der Großteil der Ausrüstung des Bravo-Teams noch an Bord.

Wo stecken sie bloß?

Es ergab keinen Sinn. Die letzte Funkmeldung von Bravo war keine fünfzehn Minuten alt. Wenn jemand verletzt worden wäre, dann wären sie doch beim Hubschrauber geblieben. Und wenn sie gegen alle Logik beschlossen hatten, sich zu entfernen, warum hatten sie dann ihre Ausrüstung zurückgelassen?

Wesker reichte Joseph die Lampe und nickte in Richtung des Cockpits. „Sehen Sie sich da drinnen um. Der Rest: Ausschwärmen und nach Spuren suchen – Fußabdrücke, Geschosshülsen, Anzeichen eines Kampfes! Wenn Sie etwas finden, lassen Sie es mich wissen. Und seien Sie auf der Hut.“

Jill blieb noch einen Moment stehen, starrte den rauchenden Hubschrauber an und fragte sich, was wohl passiert sein mochte. Enrico hatte etwas von einer Fehlfunktion gesagt. Okay, die Bravos waren also runtergegangen. Aber was war als Nächstes geschehen? Was hatte sie dazu gebracht, auf die beste Chance, gefunden zu werden, zu verzichten und ihre Notfallpacks und Waffen hier zu lassen? Jill sah ein paar kugelsichere Westen zerknüllt neben der Luke liegen, schüttelte den Kopf und fügte diese Beobachtung der länger werdenden Liste scheinbar irrationaler Handlungsweisen hinzu.

Sie wollte sich gerade an der Suche beteiligen, als Joseph aus dem Cockpit kam. Er wirkte so verwirrt, wie sie sich selbst fühlte. Sie wartete, um sich seinen Bericht anzuhören, während er, nervös mit den Achseln zuckend, die Lampe an Wesker zurückgab.

„Ich weiß nicht, was passiert ist. Die verbogene Kufe lässt auf eine Notlandung schließen, aber bis auf das elektronische System scheint alles okay zu sein.“

Wesker seufzte, dann hob er die Stimme, damit auch die anderen ihn hören konnten. „Sternförmig ausschwärmen, Leute, drei Meter auseinander, langsam ausweiten!“

Jill trat zwischen Chris und Barry. Die beiden suchten bereits den Boden zu ihren Füßen ab, während sie sich langsam nach Osten und Nordosten bewegten. Wesker enterte die Kabine und stocherte mit dem Strahl seiner Lampe im Dunkeln herum. Joseph wandte sich nach Westen.

Während sie den Kreis weiter zogen, knisterte trockenes Unkraut unter ihren Schritten, das einzige Geräusch in der stillen, warmen Luft außer dem schwachen Brummen des Alpha-Hubschraubers. Mit den Stiefeln strich Jill durch den dichten Bodenbewuchs, bei jedem Schritt drückte sie das hohe Gras beiseite. Noch ein paar Augenblicke, dann würde es zu dunkel sein, um etwas zu erkennen. Sie mussten die Taschenlampen zu Hilfe nehmen. Das Bravo-Team hatte seine zurückgelassen …

Jill blieb unvermittelt stehen, lauschte den knarrenden, knisternden Schritten der anderen, dem weit entfernten Dröhnen des Hubschraubers …

und sonst nichts. Kein Zwitschern, kein Zirpen, nichts.

Sie befanden sich im Wald, es war Hochsommer – wo waren die Tiere, die Insekten? Der Wald war unnatürlich still, die einzigen Geräusche wurden von Menschen verursacht. Zum ersten Mal, seit sie gelandet waren, hatte Jill Angst.

Sie wollte die anderen darauf hinweisen, als irgendwo hinter ihnen Joseph mit hoher, sich überschlagender Stimme rief: „Hey! Hier drüben!“

Jill machte auf dem Absatz kehrt, lief zurück und sah, wie Chris und Barry dasselbe taten. Wesker war noch am Hubschrauber und hatte auf Josephs Schrei hin seine Waffe gezogen, die er im Losrennen nach oben richtete.

Im trüben Licht konnte Jill nur Josephs schattenhafte Gestalt ausmachen, die im hohen Gras unweit einiger Bäume kauerte, etwa hundert Fuß von der Maschine entfernt. Instinktiv zog sie ihre eigene Waffe und lief schneller. Ein Gefühl nahenden Unheils überwältigte sie.

Joseph erhob sich. Er hielt irgendetwas in der Hand und stieß einen würgenden Schrei aus, ehe er den Gegenstand mit schreckensweiten Augen fallen ließ.

Für einen Sekundenbruchteil konnte Jills Geist nicht fassen, was ihr Blick in Josephs Griff gesehen hatte.

Eine S.T.A.R.S.-Pistole, eine Beretta …

Jill rannte schneller, schloss zu Wesker auf.

und eine am Gelenk abgetrennte menschliche Hand, die sie noch umklammert hielt.

Hinter Joseph, aus dem Dunkel der Bäume, ertönte ein tiefes, kehliges Fauchen. Das Knurren eines Tieres –

– gefolgt von einem weiteren krächzenden, heiseren Kreischen –

– und plötzlich brachen dunkle, kräftige Gestalten aus dem Wald, stürzten sich auf Joseph und rissen ihn zu Boden.

Joseph!“

Jills Schrei klang Chris in den Ohren, als er seine Waffe zog, auf der Stelle stehen blieb und freie Schussbahn auf die Biester suchte, die Joseph attackierten. Weskers Taschenlampe ließ einen dünnen Lichtstrahl über die gekrümmten Kreaturen tanzen und beleuchtete einen Albtraum.

Josephs Körper war fast komplett unter den drei Tieren verschwunden, die mit sabbernden Mäulern an ihm zerrten und rissen. In Größe und Form erinnerten sie an Hunde, an Deutsche Schäferhunde etwa, doch sie schienen kein Fell zu haben, keine Haut. Feuchte, rote Sehnen und Muskeln blitzten unter Weskers schwankendem Lichtstrahl. Die Hundewesen kreischten und schnappten in rasender Blutgier.

Joseph schrie auf, ein brodelnder, schwammiger Laut, während er mit erlahmender Kraft auf die wild Attackierenden eindrosch. Blut lief ihm aus mehreren Wunden. Es war der Schrei eines Sterbenden. Es gab keine Zeit zu verlieren – Chris zielte und zog durch.

Drei Kugeln klatschten schmatzend in einen der Hunde, ein vierter Schuss fuhr über ihn hinweg. Ein hohes Jaulen, und die Bestie fiel, blieb mit bebenden Flanken liegen. Die beiden anderen Tiere setzten ihre Attacke ungeachtet dem Donnern der Schüsse fort. Unter Chris’ entsetzten Blicken sprang einer der geifernden Höllenhunde vor und biss Joseph die Kehle heraus, entblößte blutigen Knorpel und die glänzende Glätte blanker Knochen.

Das S.T.A.R.S.-Team drückte ab, wieder und wieder, badete Josephs Mörder in einem Bleiregen. Blut spritzte, und während Kugeln ihr sonderbares Fleisch durchsiebten, verharrten die hundeartigen Geschöpfe bei dem zuckenden Leichnam. Mit einer letzten Folge schriller, winselnder Laute fielen sie endlich – und erhoben sich nicht wieder.

„Feuer einstellen!“

Chris nahm den Finger vom Abzug, hielt die Pistole aber weiterhin auf die Kreaturen gerichtet, bereit, die erste, die auch nur zuckte, in Fetzen zu schießen. Zwei atmeten noch, knurrten zwischen stoßweisem Hecheln. Das dritte Tier lag ausgestreckt neben Josephs verstümmeltem Körper.

Sie müssten tot sein, hätten schon nach den ersten Treffern liegen bleiben müssen! Was sind das nur für Viecher?

Wesker machte einen Schritt in Richtung des Gemetzels vor ihnen –

– als ringsum tiefes, widerhallendes Heulen die laue Nachtluft erfüllte. Schrille Stimmen raubtierhafter Wut drangen von allen Seiten auf die S.T.A.R.S.-Angehörigen ein.

„Zurück zum Kopter, sofort!“, rief Wesker.

Chris rannte los, Barry und Jill waren vor ihm, Wesker bildete das Schlusslicht. Die vier jagten zwischen dunklen Bäumen hindurch, im Finstern schlugen unsichtbare Äste nach ihnen, während das Heulen lauter und nachdrücklicher wurde.

Wesker drehte sich um und schoss blind in den Wald. Stolpernd näherten sie sich dem wartenden Hubschrauber, dessen Rotorblätter sich immer noch drehten. Chris spürte, wie ihn Erleichterung durchströmte – Brad musste die Schüsse gehört und reagiert haben. Sie hatten noch eine Chance …

Jetzt konnte Chris die Kreaturen hinter ihnen hören, das scharfe Rascheln, mit dem schlanke, kraftvolle Körper durchs Gehölz brachen. Durch die Glasfront des Hubschraubers konnte er auch Brads blasses Gesicht, seine weit aufgerissenen Augen sehen. Der Widerschein der Armaturenbeleuchtung legte einen grünlichen Schimmer über seine vor Entsetzen verzerrten Züge. Er rief irgendetwas, doch im Brüllen der Turbine ging jetzt jeder andere Laut unter. Der Rotorwind wühlte die Lichtung auf wie eine sturmgepeitschte See.

Noch fünfzig Fuß, gleich haben wir es geschafft …

Plötzlich machte der Hubschrauber einen Satz in die Höhe und beschleunigte. Chris erhaschte einen letzten Blick auf Brads Gesicht und sah das blanke Grauen darin, die gedankenlose Panik, die ihn gepackt hielt, während er die Steuerung umklammert hielt.

„Nein! Bleib hier!“, brüllte Chris, doch die schwankenden Kufen waren bereits außerhalb seiner Reichweite. Der Kopter neigte sich nach vorn und entfernte sich von ihnen, hinein in die dichte Dunkelheit.

Sie würden sterben.

Sei verdammt, Vickers!

Wesker wandte sich um, feuerte abermals und wurde mit dem schmerzvollen Quieken eines ihrer Verfolger belohnt. Es waren noch einige dicht hinter ihnen, die schnell aufholten.

„Lauft weiter!“, rief er und versuchte, sich zu orientieren, während sie voranstolperten und das durchdringende Gekreische der mutierten Hunde sie zu noch größerer Eile antrieb. Das Geräusch des Hubschraubers verklang. Vickers, dieser Feigling, hatte ihnen ihre Fluchtchance gestohlen.

Wesker schoss wieder, doch die Kugel ging fehl. Dafür sah er, dass sich eine weitere schattenhafte Gestalt der Jagd angeschlossen hatte. Die Hunde waren brutal schnell. Er und seine Leute hatten keine Chance, es sei denn …

Die Villa!

„Rechtsschwenk, ein Uhr!“, brüllte Wesker, hoffend, dass sein Richtungssinn noch funktionierte. Sie konnten diesen Wesen nicht davonlaufen, aber vielleicht konnten sie sich die Meute so lange vom Leib halten, bis sie Schutz gefunden hatten.

Er wirbelte herum und verschoss die letzte Kugel seines Magazins.

Während er das leergefeuerte Magazin auswarf, tastete er an seinem Gürtel nach einem neuen. Indes übernahmen Barry und Chris die Verteidigung, schossen an ihm vorbei auf das aufschließende Rudel. Wesker rammte sein frisches Magazin gerade in den Pistolengriff, als sie den Rand der grasbewachsenen Lichtung erreichten und auf die nächste dunkle Baumgruppe zuhielten.

Geduckt taumelten sie durch den Wald, strauchelten auf dem unebenen Untergrund, und die Killerhunde holten auf. Weskers Lungen bettelten nach Luft, als er die Kraft aufbrachte noch schneller zu rennen, und er meinte, den Gestank fauligen Fleisches zu riechen.

Wir müssten schon da sein – es kann nicht mehr weit sein …

Chris sah es als Erster, durch die lichter werdenden Baumschatten: Eine bedrohlich aufragende Monstrosität im Gegenlicht des früh aufgegangenen Mondes. „Da! Lauft zu dem Haus!“

Von außen wirkte die riesige Villa verlassen, ihre verwitterte Bausubstanz aus Holz und Gestein bröckelig und düster. Die volle Größe des Bauwerks wurde von den schemenhaften, wuchernden Hecken, die es umgaben und vom Wald abgrenzten, verhüllt. In einen wuchtigen Vorbau war ein doppelflügeliges Portal eingelassen – ihre einzige Chance zu entkommen.

Wesker hörte tatsächlich das Schnappen kräftiger Kiefer hinter sich und feuerte intuitiv in Richtung des Geräuschs, während er auf die Frontseite der Villa zulief. Ein röchelndes Aufjaulen, und das Wesen stürzte zur Seite. Das Geheul seiner Artgenossen wurde lauter denn je, von der Erregung der Hatz in fiebrige Höhen getrieben.

Jill erreichte die Doppeltür zuerst, rammte mit einer Schulter gegen das schwere Holz, wobei sie mit der Hand nach dem Türknauf schnappte. Zu ihrer eigenen Überraschung gaben die Flügel nach. Licht aus dem Innern ergoss sich auf die Steinstufen der Außentreppe und leuchtete ihnen den Weg. Jill drehte sich um und begann zu schießen, gewährte den drei nach Atem ringenden Männern, die in der Dunkelheit auf die Öffnung zurannten, Feuerschutz.

Sie drängten in die Villa. Jill tauchte zuletzt durch die Tür. Barry warf seine massige Gestalt dagegen und sperrte den heulenden Chor der Kreaturen aus. Mit hochrotem Gesicht und schwitzend sank er am Türblatt abwärts zu Boden. Chris fand den stählernen Schließriegel und schob ihn vor.

Sie hatten es geschafft. Draußen bellten die Hunde und kratzten vergebens an der schweren Tür.

Wesker nahm einen tiefen Zug von der kühlen, wohltuenden Luft, die den hellen Raum erfüllte, und stieß sie scharf wieder aus. Wie er bereits gewusst hatte, war das Spencer-Haus nicht verlassen. Und nun, da sie hier waren, erwies sich seine ganze sorgfältige Planung als umsonst.

Im Stillen verfluchte er Brad Vickers ein weiteres Mal und fragte sich, ob sie hier drinnen wirklich besser dran waren als draußen …

FÜNF

Während Jill wieder zu Atem kam, bekam sie allmählich ein Bild ihrer neuen Umgebung. Sie fühlte sich wie eine in einem Albtraum gefangene Figur, die gerade eine Abzweigung in ein fantastisches Märchen gefunden hatte. Wilde, heulende Ungeheuer, Josephs plötzlicher Tod, die fürchterliche Flucht durch den finsteren Wald – und jetzt das.

Verlassen, ah ja?

Es war ein Palast, schlicht und ergreifend das, was ihr Vater einen „Volltreffer“ genannt hätte. Der Raum, in den ihre Flucht sie geführt hatte, war der Inbegriff von fürstlich. Er war riesig, größer als Jills gesamtes Haus, mit graugemasertem Marmor gefliest und dominiert von einer breiten, mit Teppich belegten Treppe, die zu einer Galerie in der ersten Etage emporführte. Marmorbögen säumten das prunkvolle Vestibül und stützten die aus dunklem, schwerem Holz gefertigte Balustrade des Obergeschosses. Wandleuchten mit Rüschenschirmen fächerten Licht über mit Eichenholz vertäfelte Wände, deren Farbe sich vom tiefen Ockerton der Teppiche abhob. Kurzum, es war prachtvoll.

„Was ist das?“, murmelte Barry. Niemand antwortete ihm.

Jill holte tief Luft und entschied sofort, dass ihr das Ganze nicht gefiel. Der riesige Raum hatte etwas …Falsches, eine Atmosphäre, die Beklemmung schuf. Irgendwie wirkte er, als spuke es darin, auch wenn Jill nicht hätte sagen können, wer oder was hier sein Unwesen trieb.

Immer noch besser jedenfalls, als von mutierten Hunden gefressen zu werden, das muss ich zugeben, räumte sie ein. Und im Fahrwasser dieses Gedankens: Oh Gott, armer Joseph! Aber es war keine Zeit um ihn zu trauern, auch jetzt nicht – was nichts daran änderte, dass sie ihn alle vermissen würden.

Die Pistole fest umklammert, näherte sich Jill der Treppe. Der feudale Teppichläufer, der von der Tür wegführte, dämpfte ihre Schritte. Auf einem kleinen Tisch rechts neben den Stufen stand eine alte Schreibmaschine, in die ein leeres Blatt Papier eingespannt war. Ein merkwürdiges Zierstück. Ansonsten war die weitläufige Halle leer. Jill wandte sich wieder den anderen zu. Sie fragte sich, was sie von all dem hielten. Barry und Chris wirkten unsicher, während sie sich mit geröteten und verschwitzten Gesichtern umschauten. Wesker kniete vor dem Eingangsportal und untersuchte einen der Riegel. Er stand auf, die dunkle Brille immer noch auf der Nase, und vermittelte wie stets einen unbeteiligten Eindruck. „Das Holz um das Schloss herum ist gesplittert. Jemand hat diese Tür aufgebrochen, bevor wir reinkamen.“

„Vielleicht die Bravos?“, meinte Chris hoffnungsvoll.

Wesker nickte. „Daran habe ich auch gedacht. Hilfe sollte unterwegs sein, vorausgesetzt, unser ,Freund‘ Mister Vickers hat sich bequemt, Alarm zu schlagen.“

Seine Stimme troff vor Sarkasmus, und Jill spürte, wie in ihr selbst Zorn aufflammte. Brad hatte Riesenmist gebaut – seine Feigheit hätte sie alle um ein Haar das Leben gekostet. Was er getan hatte, war unentschuldbar.

Wesker durchquerte die Halle bis hin zu der Doppeltür auf der Westseite. Er rüttelte am Knauf, doch die Flügel öffneten sich nicht. „Es ist zu gefährlich, wieder hinauszugehen. Bis die Kavallerie auftaucht, können wir uns genauso gut ein wenig umsehen. Es ist offensichtlich, dass irgendjemand das Haus instand gehalten hat – aber warum und seit wann …“

Seine Stimme erstarb. Er kehrte zur Gruppe zurück. „Wie sieht’s mit unserer Munition aus?“

Jill ließ das Magazin aus ihrer Beretta schnappen und zählte: noch drei Patronen waren übrig plus den beiden vollen Magazinen im Gürtel. Dreiunddreißig Schuss also. Chris hatte noch zweiundzwanzig, Wesker siebzehn. Barry hatte zwei volle Speedloader für seinen Colt, dazu eine Handvoll loser Patronen in einer Gürteltasche, insgesamt neunzehn Schuss.

Jill dachte an all das, was sie im Hubschrauber gelassen hatten, und spürte, wie ihre Wut auf Brad einen neuen Schub erhielt. Schachteln mit Munition, Taschenlampen, Walkie-Talkies, Gewehre – ganz zu schweigen von der Sanitätsausrüstung. Diese Beretta, die Joseph draußen auf dem Feld gefunden hatte, die bleichen, blutbespritzten Finger noch darum gekrampft – ein S.T.A.R.S.-Teammitglied war tot oder lag im Sterben, und dank Brad hatten sie nicht einmal ein Heftpflaster anzubieten.

Ein Geräusch ertönte. Das Geräusch von etwas Schwerem, das nicht weit entfernt zu Boden rutschte … Synchron wandten sie sich der einzigen Tür auf der Ostseite zu. Jill erinnerte sich plötzlich an jeden Horrorfilm, den sie je gesehen hatte – ein unheimliches Haus, ein unheimliches Geräusch … Sie schauderte und nahm sich fest vor, Brad in seinen mageren Arsch zu treten, wenn sie hier herauskamen.

„Chris, sehen Sie nach und erstatten Sie Bericht, schnell“, sagte Wesker. „Wir warten hier für den Fall, dass das RCPD anklopft. Wenn Sie in Schwierigkeiten geraten, schießen Sie, dann finden wir Sie.“

Chris nickte und bewegte sich in Richtung der Tür. Seine Stiefel klackten laut über den Marmorboden.

Jill spürte abermals dieses ungute Gefühl einer Vorahnung in sich aufsteigen. „Chris?“

Die Hand am Knauf drehte er sich um, und Jill wurde klar, dass es nichts gab, was sie ihm sagen konnte, nichts, was Sinn ergab. Alles geschah so schnell und an dieser Situation stimmte so vieles nicht, dass sie nicht wusste, wo sie hätte anfangen sollen …

Er ist ausgebildeter Profi, genau wie du. Also fang an, dich auch wie ein solcher zu benehmen.

„Sei vorsichtig“, sagte sie schließlich. Es war nicht das, was sie sagen wollte, aber es musste genügen.

Chris schenkte ihr ein schiefes Lächeln, dann hob er seine Beretta und trat über die Schwelle. Jill hörte das Ticken einer Uhr, dann war Chris verschwunden. Die Tür hatte er hinter sich wieder geschlossen.

Barry fing Jills Blick auf und lächelte ihr zu, eine Geste, die ihr bedeuten sollte, dass sie sich keine Sorgen zu machen brauchte – doch sie konnte sich der plötzlichen Eingebung nicht erwehren, dass Chris nicht zurückkommen würde.

Chris ließ den Blick durch den Raum schweifen, nahm die vornehme Eleganz seiner Umgebung in sich auf und stellte fest, dass er allein war. Wer das Geräusch auch verursacht hatte, war nicht hier.

Das erhabene Ticken einer Standuhr schwang durch die kühle Luft und hallte von glänzenden schwarzen und weißen Fliesen wider. Er befand sich in einem Speisesaal von jener Art, wie er sie nur aus Filmen über das Leben reicher Leute kannte. Wie schon der andere Raum hatte auch dieser hier eine unglaublich hohe Decke und eine Galerie im ersten Stock, aber er war darüber hinaus noch mit teuer aussehenden Gemälden dekoriert. Am jenseitigen Ende befand sich ein offener Kamin mit einem Wappen und gekreuzten Schwertern, die über dem Sims hingen. Einen Weg in die erste Etage hinauf schien es nicht zu geben, aber rechts vom Kamin befand sich eine geschlossene Tür …

Chris senkte seine Waffe und ging auf die Tür zu, immer noch beeindruckt von der Vornehmheit der „verlassenen“ Villa, in die er und seine Kollegen geraten waren. Das Speisezimmer wartete mit polierten Zierleisten aus Rotholz und kostbar wirkendem Artwork an beigefarbenen Stuckwänden auf, die eine lange Holztafel säumten, welche wiederum die gesamte Länge des Raumes einnahm. An dem Tisch musste Platz für mindestens zwanzig Personen sein, auch wenn er nur für eine Handvoll gedeckt war. Dem Staub auf den Platzdeckchen nach zu urteilen, war hier seit Wochen nichts mehr serviert worden.

Aber angeblich soll hier doch seit dreißig Jahren niemand mehr wohnen, geschweige denn Festmahle veranstalten! Spencer hat dieses Haus dichtgemacht, bevor irgendjemand hier einziehen konnte.

Chris schüttelte den Kopf. Offensichtlich hatte jemand es vor langer Zeit doch wieder bewohnt. Aber wie kam es dann, dass jedermann in Raccoon City glaubte, das Spencer-Anwesen sei mit Brettern vernagelt, nichts weiter als eine verfallende Ruine draußen im Wald? Und wichtiger noch: Warum hatte Umbrella gegenüber Irons bezüglich des Zustands dieses Hauses gelogen?

Morde, Vermisste, Umbrella, Jill … Es war frustrierend; Chris hatte das Gefühl, als kenne er ein paar der Antworten und wüsste nur nicht, welche Fragen er stellen sollte, um sie herauszukitzeln.

Er erreichte die Tür und drehte langsam den Knauf, dabei lauschte er nach irgendeinem verdächtigen Geräusch auf der anderen Seite. Doch außer dem Ticken der alten Uhr konnte er nichts hören; sie stand an der Wand und jede Bewegung des Sekundenzeigers hallte hohl und durch die Weite des Raumes verstärkt wider.

Die Tür führte auf einen schmalen Korridor, den antike Lampen in trübes Licht tauchten. Rasch sicherte Chris nach beiden Seiten. Rechts lag ein etwa zehn Meter langer Flur mit Hartholzboden, gegenüber ein paar Türen und am Ende des Korridors eine weitere. Links knickte der Gang weg von der Stelle, an der Chris stand, und verbreiterte sich. Dort sah er den Rand eines braunen Läufers auf dem Boden.

Er rümpfte die Nase, runzelte die Stirn. In der Luft lag ein schwacher Geruch, die vage Ahnung von etwas Unangenehmem – etwas Vertrautem. Chris verharrte noch einen Moment lang auf der Schwelle und versuchte den Geruch einzuordnen.

Eines Sommers, er war noch ein Kind gewesen, war ihm bei einem Ausflug mit ein paar Freunden die Kette vom Fahrrad gesprungen. Er war im Straßengraben gelandet, etwa fünfzehn Zentimeter von einem totgefahrenen Tier entfernt, den ausgetrockneten, zerquetschten Überresten von etwas, das einmal ein Murmeltier gewesen sein mochte. Zeit und Sommerhitze hatten den schlimmsten Gestank vertrieben, aber der Rest war noch übel genug. Sehr zum Vergnügen seiner Freunde hatte Chris sein Mittagessen über den Kadaver gekotzt, tief Luft geholt und sich dann noch einmal übergeben. Er entsann sich noch des sonnengebackenen Geruchs von trocknender Verwesung, wie eine Mischung aus dick und sauer gewordener Milch und Galle – der gleiche Geruch zog sich jetzt durch diesen Flur wie ein schlechter Traum.

Wwwsch!

Ein weicher, schleifender Laut hinter der ersten Tür zu seiner Rechten, wie von einer gepolsterten Faust, die über eine Wand fährt. Auf der anderen Seite war jemand.

Chris schob sich in den Flur und bewegte sich auf die Tür zu, sorgsam darauf achtend, dass er dem ungesicherten Bereich nicht den Rücken zukehrte. Als er näher kam, verstummten die leisen Geräusche, die von einer Bewegung zeugten, und er konnte sehen, dass die Tür nicht ganz geschlossen war.

Na, dann mal rein in die gute Stube.

Auf leichten Druck hin schwang die Tür nach innen und gab den Blick frei auf einen halbdunklen Flur mit grünfleckiger Tapete. Gute fünf Meter entfernt stand, halb verborgen in den Schatten und mit dem Rücken zu Chris, ein breitschultriger Mann. Langsam drehte er sich um, unbeholfen schlurfend wie jemand, der betrunken oder verletzt ist. Der Geruch, den Chris vorher bemerkt hatte, strömte ihm von diesem Mann entgegen, in dichten, giftigen Wogen. Die Kleidung des anderen war zerrissen und schmutzig, sein Hinterkopf wie fleckig von dem spärlichen zotteligen Haar.

Muss krank sein, vielleicht todkrank.

Was immer mit dem Mann nicht stimmte, es gefiel Chris nicht; sein Instinkt brüllte ihm zu, etwas zu tun. Er trat ein und richtete seine Beretta auf die Brust des Mannes. „Stehen bleiben, keine Bewegung!“

Der Mann drehte sich nun vollständig um und kam schwerfällig auf Chris zu – ins Licht. Sein Gesicht war totenbleich, abgesehen von dem Blut, das ihm die fauligen Lippen verschmierte. Fetzen trockener Haut hingen ihm von den eingefallenen Wangen, und in den dunklen Augenhöhlen schimmerte Hunger, während er seine knochendürren Hände ausstreckte –

Chris schoss. Drei Kugeln klatschten in die Brust des Wesens, wo sie einen Nebel aus feinem, blutrotem Staub herauspumpten. Mit einem keuchenden Stöhnen sank es zu Boden. Tot.

Chris wankte rückwärts. Seine Gedanken rasten mit seinem hämmernden Herzen um die Wette. Mit der Schulter streifte er die Tür und war sich vage bewusst, dass sie hinter ihm ins Schloss fiel, während er auf die zusammengesackte, stinkende Kreatur hinabstarrte.

Tot! Dieses … Ding ist ein gottverdammter wandelnder Toter!

Die Kannibalenangriffe von Raccoon, allesamt in der Nähe des Waldes – Chris hatte genügend Spätfilme gesehen, um zu wissen, womit er es hier zu tun hatte, aber er konnte es noch immer nicht glauben.

Zombies.

Nein, unmöglich, die waren nur erfunden – aber vielleicht handelte es sich um irgendeine Krankheit, die ähnliche Symptome nachahmte. Er musste den anderen Bescheid sagen.

Chris drehte sich um und packte den Türknauf, doch die schwere Tür rührte sich nicht. Das Schloss musste eingeschnappt sein, als er dagegen getaumelt –

Hinter ihm entstand Bewegung. Chris wirbelte herum. Aus großen Augen sah er, wie sich das zuckende Geschöpf in den Holzboden krallte und sich lautlos auf ihn zuzog, gierig, zielstrebig. Chris bemerkte, dass die Kreatur geiferte, und der Anblick der klebrigen, rosafarbenen Rinnsale, die auf dem hölzernen Boden Pfützen hinterließen, trieben ihn endlich zum Handeln.

Er schoss abermals, zwei Kugeln setzte er dem Ding in das verweste, ihm zugewandte Gesicht. Dunkle Löcher bohrten sich in den knorrigen Schädel, sandten schmale Bäche flüssigen und halbfesten Gewebes durch den Unterkiefer. Schwer seufzend blieb das verfaulende Etwas in einer sich ausbreitenden roten Lache liegen.

Chris wollte nicht darauf wetten, dass es dabei bleiben würde. Er zerrte noch einmal vergebens an der Tür, dann stieg er vorsichtig über den Leichnam hinweg und lief den Korridor hinab. Er rüttelte an einer Tür zu seiner Linken, doch sie war abgesperrt. In die Verkleidung des Schlosses war etwas eingeätzt, ganz klein, etwas, das aussah wie ein Schwert; Chris verstaute dieses Informationsfitzelchen in seinen wirbelnden Gedanken und ging weiter, die Beretta fest im Griff.

Rechts von ihm gab es eine Abzweigung mit einer einzigen Tür, doch er ignorierte sie, weil er einen Weg finden wollte, der einen Bogen schlug und ihn zurück in die Eingangshalle führte. Die anderen mochten die Schüsse zwar gehört haben, aber er musste davon ausgehen, dass hier noch mehr Wesen herumliefen wie jenes, das er niedergestreckt hatte. Der Rest des Teams hatte vielleicht schon selbst alle Hände voll zu tun.

An der Biegung des Gangs befand sich linker Hand eine Tür. Chris eilte darauf zu. Der Fäulnisgeruch des Dings …

– des Zombies, nenn es endlich beim Namen! –

verursachte ihm Brechreiz. Als er sich der Tür näherte, merkte er, dass der Geruch mit jedem Schritt schlimmer wurde.

Als seine Hand den Knauf berührte, hörte er ein leises, hungriges Stöhnen, und ihm fiel ein, dass er nur noch zwei Kugeln im Magazin hatte. In den Schatten zu seiner Rechten – Bewegung.

Muss neu laden und dann irgendwohin, wo ich in Sicherheit bin …

Chris stieß die Tür auf und lief der ungelenken Kreatur genau in die Arme, die auf der anderen Seite lauerte, ihn mit ihren rindigen Fingern packte und ihm an die Kehle ging.

Drei Schüsse. Sekunden später zwei weitere. Von fern, aber unmissverständlich drangen die peitschenden Geräusche in die palastartige Lobby.

Chris!

„Jill, sehen Sie nach –“, begann Wesker, doch Barry ließ ihn nicht ausreden.

„Ich geh mit“, erklärte er und lief bereits auf die Tür in der östlichen Wand zu. Chris würde nicht sinnlos herumballern, sondern nur, wenn es keine andere Möglichkeit gab; er brauchte Hilfe.

Wesker gab sofort nach und nickte. „Gehen Sie. Ich warte hier.“

Barry öffnete die Tür. Jill war direkt hinter ihm. Sie traten in ein riesiges Speisezimmer, das nicht so breit wie die Eingangshalle war, aber mindestens so lang. Am gegenüberliegenden Ende befand sich eine zweite Tür, neben einer Standuhr, deren Ticken laut durch die kalte, staubige Luft drang.

Barry, gleichermaßen angespannt wie besorgt, lief darauf zu, den Revolver in der Hand. Herrgott noch mal, was war das doch für ein Scheißeinsatz! S.T.A.R.S.-Teams wurden oft in gefährliche Situationen mit ungewöhnlichen Umständen geschickt, doch dies war das erste Mal seit seiner Rekrutenzeit, dass Barry das Gefühl hatte, die Dinge seien völlig außer Kontrolle geraten. Joseph war tot, Hasenfuß-Vickers hatte sie als Futter für Höllenhunde hier sitzen lassen, und jetzt steckte Chris in Schwierigkeiten. Wesker hätte ihn nicht allein losschicken dürfen …

Jill langte als Erste bei der Tür an, fasste mit ihren schlanken Fingern nach dem Griff und sah Barry fragend an. Er nickte. Sie drückte die Tür auf, ging geduckt hindurch und tauchte nach links weg.

Barry nahm die andere Seite. Beide ließen sie den Blick durch einen leeren Flur schweifen.

„Chris?“, rief Jill leise, erhielt aber keine Antwort. Barry schnüffelte und verzog das Gesicht. Es roch nach faulem Obst.

„Ich check die Türen“, sagte Barry. Jill nickte und schob sich nach links, aufmerksam, konzentriert.

Barry bewegte sich auf die erste Tür zu. Jill hinter sich zu wissen, war ein gutes Gefühl. Nachdem sie hierher versetzt worden war, hatte er sie erst für etwas biestig gehalten, aber sie hatte sich als intelligente und fähige Soldatin erwiesen, eine willkommene Bereicherung der Alphas.

Jill stieß einen hohen überraschten Laut aus, und Barry wirbelte herum. Plötzlich lastete der Fäulnisgeruch drückend in dem schmalen Gang. Jill rückte von einer Öffnung am Ende des Flures ab, die Waffe auf etwas gerichtet, was Barry nicht sehen konnte.

„Stopp!“ Ihre Stimme war schrill und zittrig, ihre Miene entsetzt.

Und dann drückte sie ab, einmal, zweimal, sich dabei immer noch rückwärts auf Barry zu bewegend. Ihr Atem flatterte.

„Zur Seite, nach links!“ Er hob den Colt, während sie ihm freie Schussbahn ermöglichte. Ein großer Mann trat in sein Blickfeld. Die Arme der Gestalt waren vorgestreckt wie die eines Schlafwandlers, die Hände vollführten schwache Greifbewegungen.

Dann sah Barry das Gesicht des Wesens und zögerte nicht länger. Er schoss. Eine Kugel Kaliber .357 sprengte dem Geschöpf die Decke vom aschfarbenen Schädel. Blut ström-te ihm über die unheimlichen, grauenerregenden Züge und besudelte die farblosen, rollenden Augen.

Das „Ding“ wurde nach hinten geschleudert und kam mit dem Gesicht nach oben vor Jill zum Liegen. Wie benommen eilte Barry zu ihr.

„Was –“, setzte er an, doch dann sah er, was vor ihnen auf dem Teppich der kleinen Sitzecke lag, die das Ende des Korridors markierte.

Für einen Augenblick dachte Barry, es sei Chris – bis er das Bravo-Abzeichen von S.T.A.R.S. auf der Weste entdeckte. Er spürte, wie ihn klammes Entsetzen packte, als er sich bemühte, das Gesicht zu identifizieren. Der Bravo war enthauptet worden, der Kopf lag eine Fußlänge vom Körper entfernt, die Züge völlig mit getrocknetem Blut überkrustet.

Oh Gott, es ist Ken.

Kenneth Sullivan, einer der besten Scouts, die Barry je gekannt hatte, und ein verdammt netter Typ. In seiner Brust klaffte eine gezackte Wunde, Fetzen angefressenen Gewebes und Eingeweide säumten das blutige Loch. Kens linke Hand fehlte, und es war keine Waffe in der Nähe zu sehen; es musste Kens Pistole gewesen sein, die Joseph draußen im Wald gefunden hatte …

Von Übelkeit geplagt wandte Barry den Blick ab. Ken war ein ruhiger, anständiger Bursche gewesen, hatte viele Jobs erledigt, die Kenntnisse in Chemie erforderten. Er hatte einen Sohn im Teenageralter, der bei Kens Exfrau in Kalifornien lebte. Barry dachte an seine eigenen Mädchen daheim, Moira und Poly, und fühlte hilflose Angst um sie in sich aufwallen. Er fürchtete sich nicht vor dem Tod, aber der Gedanke, dass sie ohne Vater aufwachsen müssten …

Jill ließ sich neben der verheerten Leiche in die Hocke nieder und durchwühlte schnell die Gürteltasche. Barry warf sie einen verzeihungsheischenden Blick zu, doch er nickte ihr schwach zu. Sie brauchten Munition – Ken ganz bestimmt nicht mehr.

Sie fand zwei Ladestreifen für eine Neun-Millimeter und steckte sie in ihre Hüfttasche. Barry drehte sich um und starrte auf Kens Mörder hinab, voll von Abscheu, aber auch voller Verwunderung.

Er zweifelte nicht daran, dass er einen der „Killer-Kannibalen“ vor sich hatte, die sich Raccoon City zum Jagdrevier erkoren hatten. Die Kreatur hatte eingetrockneten roten Schaum um den Mund und mit Eingeweiderückständen verkrustete Fingernägel. Ihr zerlumptes Hemd war steif von geronnenem Blut. Doch am unheimlichsten war, wie … wie tot dieses Wesen aussah.

Barry war einmal bei einer verdeckten Geiselbefreiung in Ecuador dabei gewesen, wo eine Gruppe von Bauern wochenlang von einer Bande wahnsinniger Guerilla-Rebellen festgehalten worden war. Einige der Geiseln waren bereits zu Beginn der Belagerung ums Leben gekommen, und nachdem die S.T.A.R.S.-Angehörigen die Rebellen schließlich ausgeschaltet hatten, hatte Barry mit Hilfe eines der Überlebenden die Namen der Toten ins Protokoll aufgenommen. Die vier Opfer waren erschossen, ihre Leichen hinter die kleine Holzhütte, welche die Rebellen besetzt hatten, geworfen worden. Nach drei Wochen in der südamerikanischen Hitze war ihre Gesichtshaut runzlig geworden, und das Fleisch hatte sich in Streifen von den Sehnen und Knochen geschält. Barry erinnerte sich noch klar und deutlich an diese Gesichter, und jetzt sah er sie wieder vor sich, als er die am Boden liegende Kreatur musterte. Sie trug das Gesicht des Todes.

Außerdem riecht das Ding wie ein Schlachthof an einem schwülheißen Tag. Irgendwer hat vergessen, diesem Kerl zu sagen, dass Tote nicht mehr herumspazieren sollten.

Von Jills Gesicht las Barry die gleiche angewiderte Verwirrung, in ihren Augen die gleichen Fragen, die auch ihn beschäftigten, doch im Moment gab es keine Antworten; sie mussten Chris finden und sich neu formieren.

Gemeinsam kehrten sie in den Flur zurück, überprüften die drei Türen, rüttelten an den Griffen und drückten gegen die schweren Holzfüllungen. Alle Türen waren fest verschlossen.

Aber Chris muss durch eine davon verschwunden sein, er kann nirgends sonst hingegangen sein.

Sie konnten entweder die Türen aufbrechen oder –

„Wir sollten Wesker Bericht erstatten“, meinte Jill. Barry nickte. Wenn sie tatsächlich über das Versteck der Mörder gestolpert waren, brauchten sie einen Angriffsplan.

Sie liefen durch den Speisesaal zurück. Die abgestandene Luft darin war eine Wohltat nach dem Blut- und Verwesungsgestank im Korridor. Sie erreichten die Tür, die in die Haupthalle führte, und schlüpften hindurch. Barry fragte sich, was der Captain von all dem halten würde. Es war geradezu …

Barry verharrte, ließ den Blick durch die elegante, leere Halle schweifen und kam sich vor wie das Opfer eines Streiches, der schlicht nicht komisch war.

Wesker war verschwunden.

SECHS

„Wesker!“ Barrys tiefe Stimme schallte durch die kühle Halle. „Captain Wesker!“

Er lief auf die Stirnseite der Halle zu. Dabei forderte er Jill über die Schulter hinweg auf: „Bleib hier drin!“

Jill ging zur Treppe. Ihr war beinahe schwindelig. Erst Chris, jetzt der Captain. Sie waren doch kaum fünf Minuten fort gewesen, und er hatte versprochen, sich nicht vom Fleck weg zu rühren. Warum sollte er also weggegangen sein? Sie sah sich nach Spuren eines Kampfes um, einer Patronenhülse vielleicht oder einem Blutfleck – doch es gab nichts, das darauf hingewiesen hätte, was geschehen war.

Barry erschien auf der anderen Seite der gewaltigen Treppe, schüttelte den Kopf und trottete zu ihr herüber. Jill biss sich auf die Unterlippe.

„Glaubst du, Wesker ist auf eins dieser – Dinger getroffen?“, fragte sie.

Barry seufzte. „Ich glaube jedenfalls nicht, dass das RCPD aufgekreuzt ist und ihn rausgeschmuggelt hat. Aber wenn er in Schwierigkeiten geraten wäre, hätten wir Schüsse gehört …“

„Nicht unbedingt. Er könnte aus dem Hinterhalt heraus angegriffen und verschleppt worden sein.“

Einen Moment lang standen sie schweigend da und überlegten. Jill war noch aufgewühlt von der Begegnung mit dem wandelnden Leichnam, fand aber, dass sie die aberwitzige Begegnung ganz gut weggesteckt hatte, die in der Erkenntnis gipfelte, dass die Wälder um Raccoon City mit Zombies verseucht waren.

Nachdem du dein Leben lang Schundromane über Serienkiller gelesen hast, ist da ein kannibalischer Zombie so schwer zu verdauen? Irgendwie nicht, und ebenso wenig die mörderischen Hunde und das geheim gehaltene Anwesen. Es gab keinen Zweifel, dass all das existierte. Die Frage war nur: Warum? Hatte die Villa etwas mit den Morden zu tun, oder waren die Zombies einfach hier eingefallen, so wie sie in den Raccoon Forest eingefallen waren?

Und war diese Kreatur das Letzte, was Becky und Pris gesehen haben?

Jill stieß diesen Gedanken fast gewaltsam von sich; es wäre ein Fehler gewesen, jetzt emotionsgeladen an die Mädchen zu denken.

„Machen wir uns auf die Suche oder warten wir?“, wollte sie schließlich wissen.

„Wir suchen. Ken hat’s hierher geschafft. Die anderen Bravos könnten irgendwo im Haus sein. Dürfte nicht schwer sein, sich hier drinnen zu verlaufen. Chris …“

Er lächelte halbherzig, doch Jill konnte die Sorge in seinen Augen sehen. „Chris und Wesker wurden von uns getrennt, aber wir werden sie finden. Es braucht schon mehr als ein paar lebende Leichen, um den beiden ernsthaften Ärger zu machen.“

Barry fasste in eine Tasche seiner Weste, zog etwas hervor, das in ein Taschentuch eingeschlagen war, und reichte es Jill. Sie fühlte die dünnen metallenen Gegenstände unter dem leichten Stoff und erkannte sie sofort.

„Das Set, das du mir vorigen Monat zum Üben gegeben hast“, sagte Barry. „Ich schätze, du wirst mehr Glück damit haben.“

Jill nickte und verstaute die Dietriche in ihrer Hüfttasche. Barry hatte sich für ihre frühere „Karriere“ interessiert, und sie hatte ihm einige Sachen aus ihrer alten Ausrüstung gegeben, ein paar Dietriche und Torsionsstäbe. Sie konnten sich jetzt als nützlich erweisen. Das kleine Bündel landete auf etwas Hartem, Glattem –

– Trents Computer! In all der Aufregung hatte Jill ihre sonderbare Begegnung im Umkleideraum völlig vergessen gehabt. Sie öffnete den Mund, um Barry davon zu erzählen, schloss ihn aber wieder, als sie sich Trents kryptischer Warnung entsann.

„Wenn ich an Ihrer Stelle wäre, würde ich diese Unterhaltung niemandem gegenüber erwähnen.“

Drauf geschissen. Sie hatte es mit Chris sowieso schon fast riskiert …

Und wo ist Chris jetzt? Wer sagt denn, dass Trents „schwerwiegende Konsequenzen“ nicht schon eingetreten sind?

Jill wurde sich bewusst, was sie da dachte, und musste den Drang niederkämpfen, sich selbst auszulachen. Die Sache mit Trent war vermutlich völlig unerheblich für ihr Dilemma, und ob sie Barry nun traute oder nicht, sie wusste, dass sie Trent nicht traute – dennoch beschloss sie, nichts davon zu sagen, zumindest bis sie Gelegenheit hatte, nachzusehen, was der Computer enthielt.

„Ich denke, wir sollten uns trennen“, fuhr Barry fort. „Ich weiß, es ist gefährlich, aber wir müssen ’ne Menge Räume absuchen, schätze ich. Wenn wir jemanden finden, treffen wir uns hier wieder. Diese Halle ist ab sofort unser Stützpunkt.“

Sich den Bart reibend, musterte er Jill mit ernstem Blick. „Bist du einverstanden? Wir könnten zusammen suchen …“

„Nein, du hast recht“, erwiderte sie. „Ich übernehme den Westflügel.“ Anders als Cops schlossen sich S.T.A.R.S.-Mitglieder selten mit einem Partner zusammen. Sie waren darauf trainiert, in Gefahrensituationen selbst auf sich aufzupassen.

Barry nickte. „Okay. Ich geh zurück und seh zu, ob ich eine dieser Türen zum Aufgehen überreden kann. Halt Ausschau nach einem Hinterausgang, geh sparsam mit der Munition um … und sei vorsichtig.“

„Du auch.“

Barry grinste, seinen Colt Python in die Höhe haltend. „Ich komm schon klar.“

Es gab nichts mehr zu sagen. Jill hielt geradewegs auf die Doppeltür in der Westwand zu, die Wesker vorher zu öffnen versucht hatte. Hinter ihr eilte Barry zurück in den Speisesaal. Sie hörte, wie sich die Tür öffnete und schloss, dann war sie allein.

Na denn – hab ja nichts zu verlieren außer ein bisschen Leben.

Die blau gestrichenen Türflügel schwangen auf und gaben den Blick frei in einen kleinen, schattenerfüllten Raum, kühl und still wie die Eingangshalle, ganz in Blauschattierungen gehalten. Gedämpftes Licht beleuchtete gerahmte Bilder an dunklen Wänden, und in der Mitte des Zimmers stand die große Statue einer Frau, die eine Urne auf der Schulter trug.

Jill schloss die Tür hinter sich und wartete, bis sich ihre Augen auf das Zwielicht eingestellt hatten. Dann bemerkte sie die beiden Türen, die jener gegenüber lagen, durch die sie gerade gekommen war. Die linke stand offen, aber eine kleine Truhe war davor geschoben worden und blockierte den Durchgang. Unwahrscheinlich, dass Wesker diesen Weg genommen hatte …

Jill ging zur rechten Tür und drehte versuchshalber den Knauf. Zugesperrt. Seufzend tastete sie nach den Dietrichen in ihrer Tasche und zögerte, als sie die Glätte des Mini-Disk-Readers spürte.

Wollen wir doch mal sehen, was Mr Trent für so wichtig hält.

Sie zog das Gerät hervor und musterte es für einen Moment, dann drückte sie eine Taste. Ein Bildschirm von der Größe einer Baseballkarte erwachte flackernd zum Leben, und nachdem sie ein paar weitere Tasten gedrückt hatte, scrollten schmale Zeichenzeilen über den Monitor. Jills Blick huschte darüber, erfasste Namen und Daten lokaler Zeitungen. Trent hatte offenbar alle Artikel zusammengestellt, die er über die Mord- und Vermisstenfälle in Raccoon finden konnte, dazu noch sämtliche, die sich mit S.T.A.R.S. befassten.

Alles nichts Neues … Jill sprang von Text zu Text und fragte sich, was Sinn und Zweck des Ganzen sein sollte. Den Artikeln folgte eine Liste von Namen:

WILLIAM BIRKIN

STEVE KELLER

MICHAEL DEES

JOHN HOWE

MARTIN CRACKHORN

HENRY SARTON

ELLEN SMITH

BILL RABBITSON

Jill legte die Stirn in Falten. Keiner der Namen klang vertraut, außer … War Bill Rabbitson nicht Chris’ Freund? Derjenige, der für Umbrella gearbeitet hatte? Sie war sich nicht sicher, sie würde Chris fragen müssen.

Vorausgesetzt, wir finden ihn. Was sie hier tat, war Zeitverschwendung – sie musste endlich nach den anderen S.T.A.R.S.-Mitgliedern suchen.

Jill drückte die Vorwärts-Taste, um ans Ende der Datenkolonne zu gelangen, und ein Bild erschien, dünne Linien bauten sich zu Mustern auf. Darunter stand eine einzelne Zeile, eine Nachricht, so rätselhaft, wie es von Mr Trent eben zu erwarten war:

RITTERSCHLÜSSEL; TIGERAUGEN; VIER WAPPEN (TOR ZU NEUEM LEBEN); OST-ADLER/WEST-WOLF.

Wow! Wie aufschlussreich. Na, das erklärt doch alles, oder? Das Bild stellte eine Art Karte dar, befand Jill. Es sah aus wie ein Grundrissplan. Der größte Bereich lag in der Mitte, ein etwas kleinerer schloss sich links an …

Jill spürte plötzlich, wie ihr Herz einen Takt übersprang. Sie starrte auf den kleinen Bildschirm und fragte sich, woher Trent das gewusst hatte.

Der Bildschirm zeigte das Erdgeschoss der Villa. Jill drückte abermals auf die Vorwärts-Taste, und was sie nun sah, konnte nur das zweite Stockwerk sein. Die Grundrisse entsprachen der ersten Karte. Nach der zweiten kam nichts mehr, aber das reichte ja auch.

Was sie anging, hegte Jill keinen Zweifel mehr daran, dass das Spencer-Anwesen die Quelle des Schreckens von Raccoon City war – was bedeutete, dass die Antworten hier lagen und darauf warteten, gefunden zu werden.

Der Zombie stöhnte auf, als Chris ihm aus nächster Nähe zwei Kugeln in die Eingeweide jagte. Das ranzige Fleisch dämpfte die Treffergeräusche. Das Wesen fiel gegen Chris, ein Schwall fauliger Luft fuhr über sein Gesicht.

Mit eng werdender Kehle stieß Chris das Wesen von sich. Seine Hände und der Lauf seiner Pistole troffen vor klebrigen Flüssigkeiten. Das Geschöpf ging mit spasmisch zuckenden Gliedern zu Boden.

Chris trat zurück, wischte die Beretta an seiner Weste ab und atmete in tiefen Zügen, eisern bemüht, sich nicht zu übergeben. Der Zombie draußen auf dem Flur war ein ausgedörrtes Etwas gewesen, runzlig und trocken; dieser hier war jedoch noch – frisch, wenn man so sagen konnte. Verwesend, brandig, feucht …

Chris schluckte hart, und der Brechreiz ließ langsam nach. Er hatte nicht unbedingt einen schwachen Magen, aber dieser Gestank. Grundgütiger Himmel!

Reiß dich zusammen, vielleicht gibt es noch mehr von der Sorte …

Der Flur, den er betreten hatte, wurde beherrscht von dunklem Holz und mattem Licht. Im Moment gab es kein Geräusch außer dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Chris sah auf den Toten hinunter und fragte sich, was genau er war, wer er einmal gewesen sein mochte. Er hatte den heißen, fauligen Atem des Wesens im Gesicht gespürt. Es war kein wiederbelebter Leichnam, ganz gleich, wie es auch aussah.

Chris entschied, dass es darauf nicht ankam. Im Grunde handelte es sich um einen Zombie. Das Ding hatte versucht, ihn zu beißen, und Kreaturen seines Schlages hatten bereits einen Teil der Bevölkerung von Raccoon City gefressen. Chris musste den Weg zurück zu den anderen finden, und sie mussten hier raus, um Hilfe zu holen. Sie verfügten nicht über die Feuerkraft, um das Problem allein aus der Welt zu schaffen.

Er ließ das leere Magazin aus der besudelten Waffe gleiten und lud rasch nach. Seine Brust war eng vor Anspannung. Nur noch fünfzehn Schuss waren übrig. Er hatte ein Bowiemesser, aber die Vorstellung, nur mit einem Messer bewaffnet auf einen Zombie loszugehen, war nicht allzu verlockend.

Zu seiner Linken befand sich eine schlicht aussehende Tür. Chris zog am Knauf, doch sie war zugesperrt. Aus zusammengekniffenen Augen musterte er das Schließblech und war nicht überrascht, eine Ätzung zu entdecken, die wie eine Rüstung aussah. Schwert, Rüstung – hier entwickelte sich eindeutig ein Schema.

Er durchmaß den breiten Gang, horchte auf mögliche Geräusche und atmete tief und gleichmäßig durch die Nase. Wegen der Schmierspuren an seiner Weste und seinen Händen war es schwer zu sagen, ob sich noch mehr dieser Kreaturen hier aufhielten. Ihr Gestank hüllte ihn völlig ein, aber das mochte seine einzige Chance sein, einer weiteren direkten Konfrontation zu entgehen.

Der Flur setzte sich nach links fort. Chris tauchte schnell um die Ecke. Sein Blick wanderte von einer Seite zur anderen. Die Beretta machte die Bewegung mit. Obwohl ihm ein Stützpfeiler teilweise die Sicht nahm, konnte er unmittelbar dahinter die Rückenpartie eines Mannes ausmachen, den die hängenden Schultern und die verschmutzte Kleidung als eine der Kreaturen auswiesen.

Chris schob sich rasch nach rechts, um freie Schusslinie zu bekommen. Der Zombie befand sich gut vierzig Fuß entfernt, und Chris wollte seine letzten Kugeln nicht verschwenden. Beim Geräusch seiner Stiefel auf dem harten Holzboden drehte sich der Untote schwerfällig um. So langsam, dass Chris zögerte und die Art und Weise der Bewegung studierte.

Dieses Geschöpf hier schien mit einer dünnen Schleimschicht überzogen zu sein. Trübes Licht brach sich auf seiner glänzenden Haut, während es fast blind auf Chris zutorkelte. Langsam hob das Wesen die Arme. Der bleiche, haarlose Schädel schaukelte auf dem ausgemergelten Hals. Leise schlurfte es vorwärts.

Chris vollführte einen gleitenden Schritt nach hinten und wich eine Spur nach links aus. Der Zombie änderte die Richtung, hielt weiter zielstrebig auf ihn zu und verringerte langsam die Distanz zwischen ihnen.

Genau wie in den Filmen – gefährlich, aber dumm. Kein Problem, vor ihnen davonzurennen …

Chris musste Munition sparen für den Fall, dass er in die Enge getrieben wurde. Am Ende des Ganges gab es eine Treppe. Chris holte tief Luft und machte sich bereit. Er trat nach hinten, verschaffte sich genügend Bewegungsfreiheit –

– und hörte hinter sich ein keuchendes Ächzen. Eine neuerliche Woge ranzigen Gestanks schlug über ihm zusammen. Er wirbelte herum. Er begriff, noch ehe er es wirklich sah.

Der verwesende Zombie war nur zwei, drei Schritte entfernt, griff nach ihm, und Teile seiner verfaulenden Eingeweide quollen ihm aus dem aufgerissenen Bauch. Chris hatte ihn nicht getötet, hatte nicht lange genug gewartet, um sicher sein zu können, und jetzt würde er für dieses Versäumnis bezahlen müssen.

Heilige Scheiße!

Chris spurtete los, den Korridor hinunter, wich den beiden Untoten geduckt aus und verfluchte sich selbst. Er passierte den dicken Stützpfeiler, war fast an der Treppe –

– und blieb wie festgewurzelt stehen, als er sah, was oben lauerte. Er erhaschte nur einen flüchtigen Blick auf die zerlumpte Gestalt, die dort am Ende der Treppe stand. Dann drehte er sich auch schon um und riss die Waffe hoch, um sich den Angreifern zu stellen, die gierig auf ihn zutappten.

Aus den Schatten unter der Treppe vernahm er ein schweres, glucksendes Seufzen und das Schaben von Holz – noch einer. Chris saß in der Falle. Er konnte sie unmöglich alle ausschalten …

Die Tür!

Sie befand sich seitlich der Treppe. Ihr dunkles Holz verschmolz derart mit den Schatten, dass Chris sie fast nicht gesehen hätte. Er rannte darauf zu, packte den Griff und betete, dass sie offen war, während die Wesen den Halbkreis um ihn enger zogen.

Wenn die Tür verriegelt war, hatte er nicht mehr lange zu leben.

Noch nie hatte sich Rebecca Chambers so gefürchtet, nicht ein einziges Mal in ihren achtzehn Lebensjahren. Ihr schien, als lauschte sie schon seit einer Ewigkeit dem leisen Schaben verwesten Fleisches, das über die Tür rieb. Verzweifelt sann sie über einen Plan nach, und ihre Angst steigerte sich mit jeder Minute, die verstrich. Die Tür hatte kein Schloss, und ihre Pistole hatte Rebecca auf der Flucht zu diesem Haus verloren. Der kleine Lagerraum war zwar voll mit Chemikalien und Papierstapeln, bot ihr jedoch nichts zur Verteidigung außer einer halb leeren Dose Insektenspray.

Diese Dose hielt sie jetzt, während sie hinter der Tür des winzigen Raumes stand, fest umklammert. Falls die Monster doch noch herausfanden, wie man einen Türknauf bediente, wollte sie ihnen das Mittel in die Augen sprühen und dann versuchen, davonzurennen.

Vielleicht lachen sie ja so sehr, dass ich eine Chance habe, an ihnen vorbeizuschlüpfen – Mückenspray, wirklich eine tolle Waffe …

Irgendwo in der Nähe hatte Rebecca etwas gehört, das Schüsse gewesen sein konnten, doch sie hatten sich nicht wiederholt. Ihre Hoffnung, dass es jemand aus dem Team war, schwand mit jeder Sekunde. Allmählich zog sie ernsthaft in Betracht, dass sie die einzige Überlebende war …

… als plötzlich die Tür aufplatzte und eine keuchende Gestalt hereinstürzte!

Rebecca zögerte nicht. Sie sprang vor, drückte den Spraykopf, sprühte dem Eindringling eine Wolke chemischen Nebels ins Gesicht, spannte sich, um an ihm vorbeizurennen und –

„Gah!“, machte die Gestalt, fiel nach hinten gegen die Tür und rammte sie mit ihrem Gewicht zurück ins Schloss. Fluchend fuhr sich der Eindringling über seine Augen.

Es war kein Monster. Rebecca hatte die chemische Keule soeben einem der Alphas übergebraten.

„O nein!“ Rebecca wühlte bereits in ihrem Medi-Pack. Ihre immense Erleichterung darüber, ein anderes S.T.A.R.S.-Mitglied zu sehen, rang mit abgrundtiefer Beschämung.

Sie fummelte ein sauberes Tuch hervor, dazu eine kleine Wassersprühflasche, und trat zu ihrem Kollegen. „Halt die Augen geschlossen, nicht reiben.“

Der Alpha senkte die Hände. Sein Gesicht war rot, und jetzt erkannte Rebecca ihn. Es war Chris Redfield – „nur“ der bestaussehende Typ bei S.T.A.R.S. und dazu noch, kaum der Rede wert, ihr Vorgesetzter. Sie merkte, wie sie selbst puterrot anlief und war auf einmal heilfroh, dass er sie nicht sehen konnte.

Grandiose Leistung, Rebecca. Genau so macht man beim ersten Einsatz einen guten Eindruck: Verlier deine Waffe, verlauf dich, blende einen Teamkameraden …

Sie führte Chris zu einer schmalen Liege in einer Ecke des Raumes, setzte ihn hin und ließ sich ihr weiteres Tun von ihrer Ausbildung diktieren.

„Leg deinen Kopf zurück. Das wird ein bisschen brennen, aber es ist nur Wasser, okay?“ Mit dem feuchten Tuch tupfte sie seine Augen, froh, dass sie ihm nichts noch Schlimmeres ins Gesicht gesprüht hatte.

„Was war das für Zeug?“, fragte Chris heftig blinzelnd. Tränen und Wasser liefen ihm übers Gesicht, aber er schien nicht ernstlich verletzt.

„Oh, Insektenspray. Das Etikett ist abgerissen, aber der Wirkstoff ist wahrscheinlich Permephrin. Das ist ein Reizmittel, aber die Wirkung sollte nicht allzu lange anhalten. Ich hab meine Pistole verloren, und als du reinkamst, hielt ich dich für eins dieser Monster. Wenn sie also bis jetzt nicht rausgefunden haben, wie man einen Türknauf dreht, werden sie wahrscheinlich nicht –“

Sie merkte, dass sie wie ein Wasserfall redete und hielt abrupt den Mund. Kurz darauf beendete sie die improvisierte Augenspülung und trat zurück. Chris wischte sich übers Gesicht und blinzelte aus blutunterlaufenen Augen zu ihr hoch.

„Rebecca … Chambers, richtig?“

Sie nickte unglücklich. „Ja. Tut mir wirklich leid –“

„Ist schon in Ordnung“, erwiderte er und lächelte. „Im Grunde gar keine schlechte Waffe.“

Er stand auf und schaute sich in der kleinen Kammer um. Es gab nicht viel zu sehen: einen offenen Schrankkoffer voller Papiere, ein Regal, auf dem sich zumeist unbeschriftete Flaschen mit Chemikalien reihten, eine Liege und ein Schreibtisch. Rebecca hatte sich das alles bereits betrachtet, als sie nach etwas gesucht hatte, mit dem sie sich gegen die Kreaturen wehren konnte.

„Was ist mit dem Rest deines Teams?“, fragte Chris.

Rebecca schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Irgendwas stimmte nicht mit dem Hubschrauber, wir mussten landen. Dann wurden wir von Tieren angegriffen, einer Art Hunde, und Enrico befahl uns, Schutz zu suchen.“

Sie hob die Schultern und kam sich auf einmal wie zwölf vor. „Ich habe im Wald die Orientierung verloren und kam an der Eingangstür dieses Hauses heraus. Ich schätze, einer von den anderen hat sie aufgebrochen. Sie war offen …“

Rebeccas Stimme wurde leiser, bis sie schließlich ganz verstummte. Sie wich Chris’ brennendem Blick aus. Der Rest lag vermutlich auf der Hand: Sie hatte keine Waffe, sie hatte sich verirrt, sie war hier gelandet. Alles in allem ein ziemliches Armutszeugnis.

„Hey“, sagte er sanft. „Du konntest nichts weiter tun. Enrico sagte: ,Rennt!‘, und du bist gerannt, hast den Befehl befolgt. Diese Wesen da draußen, diese Zombies … sie treiben sich hier überall herum. Ich hab mich auch verlaufen, und die anderen Alphas könnten sonst wo sein. Glaub mir, schon allein die Tatsache, dass du es so weit geschafft hast –“

Draußen gab eines der Ungeheuer ein tiefes, klagendes Wimmern von sich, und Chris verstummte mit verbissener Miene.

Rebecca schauderte. „Und was machen wir jetzt?“

„Wir schauen uns nach den anderen um und versuchen, einen Ausweg zu finden.“ Seufzend sah er auf seine Waffe hinab. „Aber du hast keine Pistole, und ich hab fast keine Munition mehr …“

Rebeccas Gesicht hellte sich auf. Sie griff in ihre Hüfttasche, zog zwei volle Magazine heraus und reichte sie ihm, froh, ihm helfen zu können.

„Oh! Und das habe ich auf dem Schreibtisch gefunden“, sagte sie und kramte einen silberglänzenden Schlüssel hervor, in den ein Schwert eingraviert war. Sie wusste nicht, was sich damit aufsperren ließ, hoffte aber, dass er zu etwas nütze sein würde. Chris betrachtete ihn nachdenklich, dann steckte er ihn in eine seiner Taschen. Er ging zu dem offenen Schrankkoffer, nahm sich die Stöße von Papieren vor, blätterte darin und zog schließlich die Stirn kraus.

„Du hast eine Ausbildung in Biochemie, oder? Hast du dir das hier mal angesehen?“

Kopfschüttelnd trat Rebecca neben ihn. „Nur flüchtig. War ziemlich damit beschäftigt, die Tür im Auge zu behalten.“

Er reichte ihr eines der Blätter, und sie überflog es rasch. Es handelte sich um eine Auflistung von Neurotransmittern und Pegel-Indikatoren.

„Gehirnchemie“, stellte sie fest. „Aber diese Werte sind völlig absurd. Serotonin und Norepinephrin sind viel zu niedrig … aber hier, schau, der Dopamin-Spiegel liegt über dem Normalwert, wir reden hier von ernsthafter Schizo …“

Sie bemerkte den ungläubigen Ausdruck auf seinem Gesicht und lächelte schwach. Als achtzehnjährige College-Absolventin passierte ihr das häufiger. S.T.A.R.S. hatte sie gleich nach dem Abschluss rekrutiert und ihr ein eigenes Forschungsteam nebst Labor versprochen, wo sie sich dem Studium der Molekularbiologie widmen konnte, ihrer wahren Leidenschaft – vorausgesetzt natürlich, dass sie zunächst die Grundausbildung durchlief und etwas Einsatzerfahrung sammelte. Niemand sonst hatte Interesse daran gezeigt, ein Wunderkind anzuheuern …

An der Tür erklang ein weiches Bomm!, und Rebecca verging das Lächeln. Kein Zweifel, sie sammelte Einsatzerfahrung.

Chris fischte den Schlüssel mit dem stilisierten Schwert aus seiner Tasche und musterte Rebecca ernst. „Ich bin an einer Tür vorbei gekommen, über deren Schlüsselloch ein Schwert eingraviert war. Ich geh und seh nach, ob diese Tür zurück in die Haupthalle führt. Du bleibst hier und siehst diese Unterlagen durch. Vielleicht steht etwas drin, was uns weiterhilft.“

Ihre Unsicherheit musste auf ihrem Gesicht Niederschlag gefunden haben. Er lächelte milde und sagte in beruhigendem Tonfall: „Dank dir habe ich reichlich Munition, und ich werde nicht lange weg sein.“

Sie nickte und versuchte ganz bewusst, sich zu entspannen. Sie fürchtete sich, aber ihm das zu zeigen, hätte ihnen beiden nichts gebracht. Wahrscheinlich ängstigte er sich auch.

Auf dem Weg zur Tür sagte er: „Das RCPD müsste auch bald eintreffen. Wenn ich also nicht gleich zurückkomme, warte einfach hier.“

Er hob die Waffe und umschloss mit der anderen Hand den Türknauf. „Mach dich bereit. Sobald ich draußen bin, schiebst du den Koffer vor die Tür. Ich mach mich bemerkbar, wenn ich zurückkomme.“

Rebecca nickte wieder, und mit einem letzten knappen Lächeln öffnete Chris die Tür. Er schaute sich nach beiden Seiten um, ehe er auf den Gang hinaus trat. Sie schloss die Tür hinter ihm und lehnte sich dagegen, lauschte. Nach langen Sekunden der Stille hörte sie, nicht weit entfernt, das Krachen von Schüssen, fünf oder sechs – mehr wurden es nicht.

Nach ein paar Minuten bewegte sie den Schrankkoffer vom Fleck, um die Tür zu blockieren. Sie positionierte ihn vor den Angeln, damit sie ihn später leichter beiseite schieben konnte. Dann kniete sie davor nieder und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, während sie sich daranmachte, die Blätter durchzusehen – und sie versuchte, sich nicht so jung und unsicher zu fühlen, wie sie es eigentlich war.

Seufzend zog sie eine Handvoll Papiere heraus und fing an zu lesen.

SIEBEN

Das Schloss war ein Kinderspiel. Jill hätte es mit ein paar Büroklammern aufbekommen. Der Karte zufolge würde die Tür in einen langen Flur führen …

Tatsächlich. Jill warf noch einen Blick auf das Display des Mini-Computers, dann ließ sie ihn in ihre Tasche gleiten und dachte nach. Es schien, als gäbe es weiter hinten einen Weg nach draußen, der zunächst durch mehrere Gänge und eine Reihe von Zimmern führte. Unterwegs konnte sie nach Wesker und den anderen suchen und gleichzeitig vielleicht einen Fluchtweg sichern. Jill betrat den engen Korridor, die Beretta in der Hand. Das Bild, das sich ihr bot, war das Musterbeispiel einer unheimlichen Atmosphäre: Der Flur an sich war nicht sonderlich spektakulär. Teppichläufer und Tapeten waren in braunen Grundtönen gehalten, durch die großen Fenster war nur die Dunkelheit draußen zu sehen. Die teilweise offenen Vitrinen jedoch, die sich entlang einer der Wandseiten reihten –

Es waren drei, darüber jeweils eine kleine Lampe, und in jeder waren bleiche Menschenknochen zur Schau gestellt. Die Zahl der Ausstellungsstücke war groß, sie lagen aufgereiht in offenen Fächern, dazwischen gab es kleine obskure Gegenstände. Jill ging den Gang hinab, legte aber vor jeder der bizarren Präsentationen einen kurzen Halt ein. Schädel, Arm-, Bein-, Hand- und Fußknochen. Insgesamt waren es mindestens drei vollständige Skelette, und zwischen den fahlen, verschrammten Gebeinen fanden sich Federn, Tonkügelchen, knotige Lederstreifen …

Jill hob einen der Lederstreifen auf, legte ihn aber schnell wieder zurück und wischte sich die Finger an der Hose ab. Sie war nicht sicher, aber es hatte sich so angefühlt, wie sie glaubte, dass sich gegerbte und getrocknete Menschenhaut anfühlen musste, steif und irgendwie speckig.

Klirrrr!

Das Fenster hinter ihr barst nach innen, eine geschmeidige, sehnige Gestalt sprang knurrend und um sich schnappend in den Flur. Es handelte sich um einen der mutierten Killerhunde, seine Augen waren ebenso rot wie seine nässende Haut. Er wandte sich sofort Jill zu. Seine Zähne glänzten ähnlich tückisch wie das schartige Glas, das im zertrümmerten Fensterrahmen hing.

Jill wich zwischen zwei Vitrinen zurück und schoss. Der Winkel war ungünstig, die Kugel hackte nur ins Holz des Bodens, und der Hund sprang sie mit einem tiefen kehligen Knurren an.

Er traf sie an den Schenkeln, stieß sie schmerzhaft gegen die Wand und wollte ihr die Zähne ins Fleisch schlagen. Verwesungsgeruch spülte über Jill hinweg, während sie abdrückte, wieder und wieder, und kaum merkte, dass sie vor Angst und Ekel stöhnte. Laute, so kehlig und primitiv wie das wütende, ersterbende Kreischen, das diese Monstrosität von einem Hund ausstieß.

Die fünfte Kugel fuhr der Kreatur direkt in die gewölbte Brust und schleuderte sie davon. Mit einem letzten, fast welpenhaften Jaulen sank sie zu Boden. Blut ergoss sich über den braunen Teppich.

Jill hielt ihre Waffe weiter auf das nun reglose Geschöpf gerichtet, während sie in tiefen, zittrigen Zügen Luft in ihre Lungen würgte. Plötzlich zuckten die Glieder des Hundes, seine kräftigen Krallen scharrten ein flüchtiges Muster in das feuchtrote Gewebe des Bodens, bevor er wieder still lag. Jill entspannte sich, da sie die Bewegung als letzte Zuckung erkannte, mit der der Körper das Leben entließ. Sie selbst würde ein paar blauen Flecken davontragen, aber der Hund war tot.

Jill strich sich das Haar aus den Augen, kniete neben dem Kadaver nieder und begutachtete die merkwürdige offen liegende Muskulatur und die gewaltigen Kiefer. Auf dem Weg zum Haus war es zu dunkel und zu hektisch gewesen, um einen richtigen Blick auf die Biester zu werfen, die Joseph auf dem Gewissen hatten – doch auch im hellen Licht des Korridors änderte sich Jills dort gewonnener erster Eindruck nicht: Das Ungetüm sah aus wie ein gehäuteter Hund.

Sie stand auf und wich nach hinten. Dabei beäugte sie die Fenster des Flures misstrauisch. Offensichtlich boten sie keinen Schutz vor den draußen lauernden Gefahren. Der Korridor vollführte einen scharfen Linksknick. Jill eilte um die Ecke und vorbei an weiteren Vitrinen mit makaberem Inhalt, die entlang der Wand aufgereiht standen.

Die Tür am Ende des langen Gangs war unverschlossen. Sie führte in einen weiteren Flur, der nicht so gut beleuchtet war wie der hinter Jill liegende, aber er war gottlob auch weniger schaurig. An der in gedämpft graugrünem Ton gehaltenen Tapete hingen Gemälde allgemeiner Natur und idyllische Landschaftsbilder – Knochen und Fetische waren nicht zu sehen.

Die erste Tür rechts war zugesperrt. In die Schlossverkleidung war eine Rüstung eingeritzt. Jill erinnerte sich, dass auf der Liste im Computer etwas über „Ritterschlüssel“ gestanden hatte, wollte sich aber jetzt nicht damit aufhalten. Laut Trents Karte befand sich hinter der Tür ein Raum, der nirgendwohin führte. Abgesehen davon glaubte sie nicht, dass Wesker, wenn er denn hier entlang gekommen war, Türen hinter sich abgeschlossen hätte.

Klar, und genauso unwahrscheinlich war es, dass Chris verschwinden würde – in diesem Haus gibst du dich am besten keinerlei Mutmaßungen hin.

Die nächste Tür, die sie probierte, öffnete sich in ein kleines Badezimmer. Der Stil war altmodisch, es gab einen Deckenventilator und eine altmodische vierfüßige Wanne. Es fanden sich jedoch keine Anzeichen, dass dieser Raum in jüngster Zeit benutzt worden war.

Einen Moment lang blieb Jill in dem muffigen kleinen Raum stehen, atmete tief durch und spürte die Folgen des Adrenalinstoßes, den sie im Korridor erlitten hatte. Als Heranwachsende hatte sie gelernt, den Kitzel der Gefahr zu genießen, das prickelnde Gefühl, sich in fremde Häuser hinein- und wieder hinauszuschleichen, nur mit einer Handvoll Werkzeug und den eigenen Fähigkeiten gewappnet. Nachdem sie sich S.T.A.R.S. angeschlossen hatte, war diese jugendliche Erregung geschwunden, den Realitäten von Rückendeckung und Schusswaffen gewichen – aber hier war sie wieder, unerwartet und keineswegs unwillkommen. Jill verspürte jene schlichte Freude, die oft folgte, wenn man gerade dem Tod ins Auge gesehen hatte und mit heiler Haut davon gekommen war. Sie fühlte sich … gut. Lebendig.

Lass uns mit der Party noch warten, flüsterte ihre innere Stimme sarkastisch. Oder hast du schon vergessen, dass in diesem Höllenpfuhl S.T.A.R.S.-Mitglieder gefressen werden?

Jill trat wieder hinaus auf den stillen Flur und bewegte sich um eine weitere Ecke. Sie fragte sich, ob Barry auf Chris gestoßen war und ob einer der beiden jemanden von den Bravos gefunden haben mochte. Sie glaubte sich der Lagepläne wegen im Vorteil und beschloss, in die Eingangshalle zurückzukehren und dort auf Barry zu warten, sobald sie einen möglichen Fluchtweg ausbaldowert hatte. Mit den Informationen aus Trents Computer konnten sie schneller und gründlicher suchen.

Der Korridor endete vor zwei sich gegenüberliegenden Türen. Die rechte interessierte Jill. Sie drehte den Knauf und wurde mit dem leisen Klack des zurückschnappenden Riegels belohnt.

Sie trat in einen dunklen Gang und entdeckte einen der Zombies, der etwa drei Meter entfernt neben einer Tür stand, als klobigen, fahlen Schatten. Als sie die Waffe hob, setzte sich die Kreatur in Bewegung und entließ leise hungrige Laute über die fauligen Lippen. Einer der Arme hing schlaff herunter, und obwohl Jill gezackte Knochen aus der Schulter ragen sah, ballte und öffnete das Geschöpf doch immer noch gierig seine verweste Faust, während es den anderen Arm nach ihr ausstreckte.

Der Kopf – ziel auf den Kopf!

Die Schüsse donnerten ohrenbetäubend laut in der kühlen Düsternis. Der erste riss dem Zombie das linke Ohr ab, Nummer zwei und drei stanzten Löcher in den Schädel, direkt über der bleichen Stirn. Etwas Dunkles, Flüssiges rann über das abblätternde Gesicht. Das Wesen fiel auf die Knie. Seine blanken, leblosen Augen rollten nach hinten, wie in den Schädel hinein.

In den Schatten im rückwärtigen Teil des Flures war behäbige Bewegung auszumachen, genau dort, wo Jill hinwollte. Sie richtete die Pistole ins Dunkel und wartete darauf, dass die Bewegung näher kam. Ihr ganzer Körper stand vor Anspannung wie unter Strom.

Wie viele von diesen Dingern gibt es denn noch?

Als der Zombie aus den Schatten hervortrat, drückte Jill ab. Die Beretta ruckte leicht in ihren schweißnassen Händen. Die Kugel bohrte sich ins rechte Auge des Wesens, und noch in der selben Sekunde schlug es auf das dunkle, geschliffene Holz des Bodens. Der klebrige Brei des zerschossenen Auges sprenkelte sein skelettiertes Gesicht.

Jill wartete, doch abgesehen von den Blutlachen, die sich um die toten Kreaturen herum ausbreiteten, rührte sich nichts. Durch den Mund atmend, um dem ärgsten Gestank auszuweichen, eilte sie ans Ende des Korridors und wandte sich nach rechts in eine kurze, enge Sackgasse, die vor einer rostigen Metalltür endete.

Quietschend schwang sie auf, und frische Luft flutete an Jill vorbei, warm und wunderbar rein nach der gruftartigen Kälte des Hauses. Das Summen von Zikaden und Grillen in der Nachtluft ließ Jill lächeln. Sie hatte die letzte Etappe ihrer kleinen Exkursion erreicht, und auch wenn sie noch nicht draußen war, gaben ihr die Geräusche und Gerüche des Waldes doch neuen Auftrieb.

Jetzt habe ich einen sicheren Weg gefunden, direkt zur Rückseite des Hauses. Von hier aus können wir nach Norden laufen, bis wir auf einen Forstweg stoßen, und dann hinunter zur Straßensperre …

Sie trat hinaus auf einen überdachten Fußweg, ein Mosaik aus grünen Steinen, gesäumt von hohen Betonmauern. Nahe der Dachkonstruktion, die den Weg überragte, gab es in regelmäßigen Abständen schmale Öffnungen, durch die jene schwache Brise hereinwehte, die nach Kiefern duftete. Efeu rankte sich von den bogenförmigen Luken herab, wie zur Erinnerung, dass es die Welt draußen gab. Jill lief den diffus erhellten Weg entlang. Von der Karte wusste sie, dass am Ende und rechts des Pfades ein einzelner Raum lag, wahrscheinlich ein Lagerschuppen.

Sie bog um die Ecke und blieb vor einer weiteren massiv aussehenden Metalltür stehen. Jills Lächeln erlosch, als sie reflexhaft nach dem Knauf fasste – das Schlüsselloch war verstopft. Sie bückte sich und stocherte in der kleinen Öffnung herum, aber vergeblich. Jemand hatte das Loch mit Epoxydharz verplombt.

Links der Tür war eine Art Diagramm aus mattem Kupfer in den Beton eingelassen. Die flache Metallplatte wies vier sechseckige Vertiefungen auf; jede dieser faustgroßen Mulden war mit der nächsten durch eine dünne Linie verbunden. Aus zusammengekniffenen Augen betrachtete Jill die darunter eingravierte Legende. Sie wünschte, sie hätte eine Taschenlampe besessen, weil sie die Worte nicht entziffern konnte. Nachdem sie eine dünne Staubschicht von den eingeprägten Buchstaben gewischt hatte, versuchte sie es noch einmal.

WENN DIE SONNE … IM WESTEN VERSINKT UND DER MOND IM OSTEN AUFGEHT, ERSCHEINEN STERNE AM HIMMEL … UND WIND STREICHT ÜBER DIE ERDE. DANN WIRD SICH DAS TOR ZU NEUEM LEBEN ÖFFNEN.

Jill blinzelte. Vier Vertiefungen …

Trents Liste! Vier Wappen und irgendwas über ein Tor zu neuem Leben – es ist ein Kombinationsmechanismus für das Schloss. Setz die vier Wappen ein, und die Tür geht auf … allerdings muss ich sie dazu erst mal finden.

Jill drückte gegen die Tür und spürte, wie ihre Hoffnung vollends schwand – nicht einmal ein Klappern ließ sich der Tür abringen, sie gab kein Quäntchen nach. Sie würden sich einen anderen Weg nach draußen suchen müssen, es sei denn, sie fanden die Wappen – was in dieser Villa allerdings Jahre dauern konnte.

In der Ferne hob ein einsames Heulen an, in das die hallenden Rufe der Hunde nahe der Villa einfielen. Die seltsamen, jaulenden Laute schnitten durch die sanfte Ruhe des Waldes. Es mussten Dutzende da draußen sein, und Jill wurde sich plötzlich bewusst, dass eine Flucht durch den Hinterausgang wahrscheinlich doch keine so gute Idee war. Sie besaß nur begrenzte Munition für ihre Pistole und hatte keine Zweifel, dass noch mehr Schauergestalten durch die Gänge streiften, in gieriger, geistloser Lautlosigkeit umhertappten auf der Suche nach ihrem nächsten grausigen Mahl …

Sie seufzte schwer und machte sich auf, um ins Haus zurückzukehren. Schon unterwegs fürchtete sie den kalten Gestank des Todes und bereitete sich auf die Gefahren vor, die dort drinnen hinter jeder Ecke lauern mochten.

Das S.T.A.R.S.-Team saß in der Falle.

Chris war sich im Klaren darüber, dass er sparsam mit seiner Munition umgehen musste. Nachdem er Rebecca verlassen hatte, rannte er deshalb so schnell er konnte den düsteren Korridor entlang. Seine Stiefel hämmerten auf dem Holzboden.

Nach wie vor waren es nur drei der Kreaturen. Sie hielten sich nahe der Treppe auf. Problemlos wich er ihnen aus, spurtete den Gang hinunter und um die Ecke. Als er die Tür, die in den anderen Flur führte, erreichte, drehte er sich um und nahm die klassische Schießhaltung ein, stützte die Waffenhand am Gelenk, legte den Finger um den Abzug.

Einer nach dem anderen kamen die Zombies, ächzend und stolpernd, um die Ecke gewankt. Chris nahm sie sorgfältig ins Visier, atmete gleichmäßig, konzentrierte sich …

Er drückte ab, jagte dem ersten Wesen zwei Kugeln durch die brandige Nase. Ohne innezuhalten setzte er dem nächsten Zombie die dritte Kugel mitten in die Stirn. Flüssigkeit und weiches Gewebe sprühten hinter ihnen an die Wand, während die Kugeln ins Holz schlugen.

Als die beiden Getroffenen zu Boden sanken, nahm Chris das dritte Wesen aufs Korn. Zwei weitere gedämpfte Explosionen, und die Stirn des Zombies dellte sich nach innen. Die Kreatur fiel um wie der Sack voll Knochen, der sie letztlich auch war.

Chris senkte die Beretta und empfand einen Anflug von Stolz. Er war ein erstklassiger Schütze, hatte sogar ein paar Auszeichnungen, die dies bewiesen – aber es tat trotzdem gut zu sehen, wozu er fähig war, wenn ihm genügend Zeit zum Zielen blieb. Im Ziehen und aus der Hüfte schießen war er nicht annähernd so gut, das war Barrys Stärke …

Er fasste nach dem Türgriff. Der Gedanke an alles, was auf dem Spiel stand, trieb ihn voran. Er ging davon aus, dass die Alphas auf sich selbst Acht geben konnten. Ihre Chancen standen so gut wie seine – aber für Rebecca war dies der erste Einsatz, und sie hatte nicht einmal eine Waffe; er musste sie hier herausschaffen.

Er trat zurück in das weiche Ganglicht mit der grünen Tapete, sicherte rasch in beide Richtungen. Geradeaus lag der Korridor in tieferem Schatten. Es war unmöglich zu sagen, ob er „sauber“ war.

Zu seiner Rechten befanden sich die Tür mit dem Schwert auf dem Schließblech und der erste Zombie, den er erschossen hatte; er lag immer noch leblos hingestreckt auf dem Boden. Es erleichterte Chris zu sehen, dass er sich nicht bewegt hatte. Offensichtlich war ein Kopfschuss der beste Weg, einen Zombie zu töten – genau wie in den Filmen …

Chris bewegte sich auf die Schwerttür zu, richtete seine Waffe erst nach links, dann nach rechts, dann wieder nach links. Für heute reichten ihm die Überraschungen. Er überprüfte die schmale Abzweigung gegenüber der Tür; von dort drohte keine Gefahr. Dann schob er rasch den schlanken Schlüssel ins Schloss.

Er ließ sich leicht drehen. Chris trat in ein kleines Schlafzimmer, das eine einzelne Lampe auf einem Schreibtisch in der Ecke nur wenig heller machte, als den Korridor. Die Luft war rein, es sei denn, etwas versteckte sich unter dem schmalen Bett … oder vielleicht im Schrank gegenüber dem Schreibtisch …

Fröstelnd schloss Chris die Tür hinter sich. Es waren eines jeden Kindes erste Ängste, und es waren auch seine gewesen – Ungeheuer im Schrank und das Ding, das unter dem Bett hauste, und nur darauf lauerte, dass der Fußknöchel eines arglosen Kindes in seine Reichweite geriet …

Und jetzt bist du wie alt?

Chris schüttelte die Nervosität ab, peinlich berührt von den Kapriolen, die seine Fantasie schlug. Langsam durchschritt er das Zimmer und hielt Ausschau nach irgendetwas, das hilfreich sein könnte. Es gab keine andere Tür, keinen Rückweg in die Eingangshalle, aber vielleicht fand er ja für Rebecca eine bessere Waffe als eine Dose Insektenspray.

Neben einem Tisch und einem Bücherregal aus Eichenholz gab es noch ein schmales, ungemachtes Bett und einen Schreibtisch, sonst nichts. Chris warf einen schnellen Blick auf die Bücher, dann ging er um das Fußende des Bettes herum zum Schreibtisch. Neben der Lampe lag ein dünnes Buch, dessen Leineneinband keinen Titel trug – ein Tagebuch. Die Schreibtischoberfläche war staubbedeckt, das Tagebuch erst kürzlich bewegt worden, wie die entsprechenden Spuren zeigten.

Gespannt nahm Chris es auf und blätterte vor bis zu den letzten paar Seiten. Vielleicht fand sich dort ein Hinweis darauf, was zum Teufel hier eigentlich vorging. Er setzte sich auf den Rand des Bettes und fing an zu lesen.

9. Mai 1998: Heute Nacht habe ich mit Scott und Alias von der Security und Steve von der Forschung gepokert. Steve war der große Gewinner, aber ich glaube, er hat beschissen. Dieser Drecksack.

Darüber musste Chris ein klein wenig schmunzeln. Sein Blick wanderte weiter zum nächsten Eintrag, und sein Lächeln gefror. Sein Herz schien mitten im Schlag innezuhalten.

10. Mai 1998: Eins von den hohen Tieren hat mich angewiesen, mich um ein neues Experiment zu kümmern. Sieht aus wie ein gehäuteter Gorilla. Laut Fütterungsanweisung musste ich ihm lebende Tiere geben. Ich habe ein Schwein reingetrieben – das Wesen schien damit zu spielen … riss dem Schwein die Beine ab und die Eingeweide raus, bevor es anfing, es aufzufressen.

Experiment? War es möglich, dass der Schreiber die Zombies meinte? Aufgewühlt von seiner Entdeckung las Chris weiter. Das Tagebuch gehörte offenbar jemandem, der hier arbeitete, so musste es sein – was hieß, dass es sich um eine Vertuschung von weit größerem Ausmaß handelte, als Chris bislang vermutet hatte.

11. Mai 1998: Scott weckte mich gegen 5 Uhr früh. Jagte mir eine Scheißangst ein. Er trug eine Schutzmontur, die wie ein Raumanzug aussah. Er gab mir auch eine und sagte, dass ich sie anziehen solle. Sagte, dass es im Kellerlabor einen Unfall gegeben hätte. Ich habe immer gewusst, dass so was mal passieren würde. Diese Arschlöcher von der Forschung machen nie Pause, nicht mal nachts.

12. Mai 1998: Seit gestern trage ich nun diesen verdammten Raumanzug. Meine Haut wird schwarz und juckt überall. Die gottverdammten Hunde haben mich komisch angeglotzt, deshalb habe ich beschlossen, sie heute nicht zu füttern. Sollen mich am Arsch lecken.

13. Mai 1998: Bin aufs Krankenrevier, weil mein Rücken total geschwollen ist und elend juckt. Sie verbanden ihn und erklärten mir, dass ich den Anzug nicht länger zu tragen brauche. Ich will nur noch schlafen.

14. Mai 1998: Heute morgen fand ich eine weitere Pustel an meinem Fuß. Auf dem Weg zum Zwinger musste ich den Fuß nachziehen. Die Hunde waren den ganzen Tag über ruhig gewesen, was seltsam ist. Dann stellte ich fest, dass ein paar entwischt waren. Wenn das jemand herausfindet, reißt man mir den Kopf ab.

15. Mai 1998: Mein erster freier Tag seit langem und ich fühle mich beschissen. Beschloss, Nancy trotzdem zu besuchen, aber als ich das Anwesen verlassen wollte, wurde ich von den Wachen aufgehalten. Sie sagten, laut Firmenanordnung dürfe niemand das Gelände verlassen. Ich kann nicht mal anrufen – alle Telefonanschlüsse wurden gekappt! Was für eine gottverdammte Scheiße läuft hier ab?!

16. Mai 1998: Es geht das Gerücht um, dass ein Forscher, der gestern Nacht zu fliehen versuchte, erschossen wurde. Mein ganzer Körper fühlt sich heiß an und juckt, und ich schwitze jetzt die ganze Zeit. Ich habe an der Schwellung auf meinem Arm gekratzt, und ein Stück faules Fleisch fiel einfach ab. Richtig schlecht wurde mir aber erst, als mir bewusst wurde, dass mich der Geruch hungrig machte.

Die Schrift war zitterig geworden. Chris blätterte um. Die letzten paar Zeilen konnte er kaum noch entziffern. Die Worte waren wie willkürlich über das Papier gekritzelt worden.

19. Mai: Fieber weg, juckt aber. Hungrig. Hundefutter gegessen. Juckt. Juckt. Scott kam … hässliche Visage … also ihn umgebracht. Lecker. 4 // Juckt. Lecker.

Die restlichen Seiten waren leer.

Chris stand auf und verstaute das Tagebuch unter seiner Weste. Seine Gedanken rasten. Ein paar der Puzzleteile fügten sich endlich aneinander – heimliche Forschungen in einem geheim gehaltenen Anwesen; ein Unfall in einem versteckten Labor; irgendein freigesetztes Virus, das die Menschen, die hier arbeiteten, veränderte, sie in Ghuls verwandelte …

Und ein paar davon sind entkommen.

Die Morde und Attacken um Raccoon City hatten Ende Mai begonnen – das stimmte von der zeitlichen Abfolge her mit den Auswirkungen dieses „Laborunfalls“ überein. Aber welche Art von Forschung hatte man hier betrieben, und wie tief war Umbrella darin verstrickt?

Wie tief hat Billy seine Finger drin gehabt?

Darüber wollte Chris gar nicht nachdenken, doch kaum hatte er diesen Gedanken aus seinem Kopf verbannt, erwachte ein anderer: Was, wenn es immer noch ansteckend war …?

Er stürmte zur Tür, wollte schleunigst zurück zu Rebecca, um ihr davon zu erzählen. Vielleicht konnte sie mit ihrem Fachwissen herausfinden, was in dem Geheimlabor dieses Anwesens entfesselt worden war.

Chris schluckte hart. Denn er und die anderen S.T.A.R.S.-Mitglieder konnten jetzt schon damit infiziert sein.

ACHT

Nachdem sich Jill und Barry getrennt hatten, verharrte Wesker geduckt auf der Galerie der Eingangshalle und überlegte. Er wusste, dass Zeit von entscheidender Bedeutung war, doch er wollte erst ein paar mögliche Szenarien durchspielen, bevor er handelte. Er hatte bereits Fehler gemacht und wollte keine weiteren begehen. Die Raccoon-Alphas waren eine intelligente Truppe, was seinen Spielraum für Fehler erheblich eingrenzte.

Er hatte seine Befehle vor ein paar Tagen erhalten, jedoch nicht damit gerechnet, dass er so bald in der Lage sein würde, sie auszuführen. Die Notlandung des Bravo-Hubschraubers war ein glücklicher Zufall gewesen, ebenso wie Brad Vickers plötzlicher Anflug von Feigheit. Dennoch hätte er besser vorbereitet sein müssen. Mit heruntergelassener Hose erwischt zu werden, wie in diesem Fall, ging Wesker gegen den Strich, es war so … stümperhaft.

Seufzend schob er diese Gedanken beiseite. Zeit für Selbstvorwürfe würde später sein. Er hatte nicht erwartet, hier zu landen, aber er war nun einmal hier, und sich selbst wegen mangelnder Voraussicht in den Hintern zu beißen, würde rein gar nichts ändern. Außerdem gab es viel zu tun.

Er kannte das Anwesen ziemlich gut und die Labors wie seine Westentasche. In der Villa allerdings war er nur ein paar Mal gewesen – und kein einziges Mal, seit er „offiziell“ nach Raccoon City versetzt worden war. Das Haus war ein Labyrinth, entworfen von einem genialen Architekten auf Geheiß eines Wahnsinnigen. Spencer war übergeschnappt, daran gab es nichts zu deuteln, und er hatte das Haus mit allen möglichen raffinierten Mechanismen ausstatten lassen, jede Menge von dieser dämlichen Agentenkacke, die in den späten Sechzigern so beliebt gewesen war …

Agentenkacke, die diesen Job doppelt so schwer macht, wie er es eigentlich sein müsste. Versteckte Schlüssel, Geheimtunnel – ich komme mir vor, als säße ich in einem Spionagethriller fest, inklusive wahnsinniger Wissenschaftler und einer tickenden Zeitbombe …

Weskers ursprünglicher Plan hatte vorgesehen, sowohl das Alpha- als auch das Bravo-Team zu dem Anwesen zu führen und das Gebiet zu räumen, bevor er sich den Kellerlaboren zuwandte und die Sache zu Ende brachte. Er hatte natürlich die Generalschlüssel und Codes; sie waren ihm mit seinen Befehlen zugegangen und würden ihm die meisten Türen des Anwesens öffnen. Das Problem war, dass es keinen Schlüssel zu der Tür gab, die in den Garten hinter der Villa führte; sie war mit einem Rätselschloss versehen – und gegenwärtig der einzige Weg, um zu den Labors zu gelangen, wenn man nicht durch den Wald marschieren wollte.

Was ich ganz sicher nicht will. Die Hunde hätten mich angefallen, ehe ich zwei Schritte machen könnte, und wenn die 121er entkommen sind …

Wesker schauderte in Erinnerung an den Zwischenfall mit dem neuen Wachmann, der vor etwa einem Jahr zu dicht an einen der Käfige geraten war. Der Junge war tot gewesen, bevor er auch nur den Mund hatte öffnen können, um nach Hilfe zu brüllen. Wesker hatte nicht die Absicht, wieder hinauszugehen, solange ihm keine Armee den Rücken deckte.

Der letzte Kontakt mit dem Anwesen lag über sechs Wochen zurück – Michael Dees hatte, völlig hysterisch, einen der Schlipsträger aus dem White Office angerufen. Der Doktor hatte die Villa abgeriegelt und die vier Teile des Rätselschlosses versteckt, im fruchtlosen Bemühen zu verhindern, dass weitere Virusträger das Haus erreichten. Zu dem Zeitpunkt waren sie schon alle infiziert und litten unter einer Art paranoidem Wahn, eine der entzückenderen Nebenwirkungen des Virus. Gott allein wusste, mit welchen Tricks und Fallen die Forscher unten in den Labors herumgespielt hatten, während sie langsam den Verstand verloren …

Dees war da keine Ausnahme gewesen, auch wenn er es geschafft hatte, länger durchzuhalten als die meisten anderen. Es hatte irgendetwas mit dem individuellen Metabolismus zu tun, wie man Wesker erklärt hatte. Die Firma hatte bereits beschlossen, einen Radikalschlag vorzunehmen, wenngleich man dem stammelnden Wissenschaftler versichert hatte, dass Hilfe unterwegs sei. Darüber hatte Wesker herzlich gelacht. Die White-Jungs würden unter keinen Umständen eine Ausbreitung der Infektion riskieren. Sie hatten fast zwei Monate lang die Hände stillgehalten, während Raccoon längst unter den Folgen litt. Sie hatten das unfähige RCPD ermitteln lassen, während das Virus allmählich seine Wirkung verlor – und dann hatten sie ihn, Wesker, hingeschickt, damit er die Sauerei aufwischte. Die mittlerweile beträchtlich war.

Gedankenverloren strich der Captain mit den Fingern über den eleganten Teppich und versuchte sich an die Einzelheiten des Briefings zu Dees’ Anruf zu erinnern. Ob es ihm gefiel oder nicht, heute Nacht musste alles erledigt werden. Er musste die verlangten Beweise einsammeln und in die Labors gelangen – was wiederum bedeutete, dass er zunächst einmal die Teile des Rätselschlosses finden musste. Dees hatte größtenteils wirr geredet, von Mörderkrähen und Riesenspinnen gefaselt. Darüber hinaus hatte er behauptet, die Wappenschlüssel zum Rätselschloss seien „versteckt, wo nur Spencer sie finden könnte“, und das ergab Sinn. Jeder, der im Haus arbeitete, wusste von Spencers Vorliebe für mysteriöse Mechanismen. Unglücklicherweise hatte Wesker darauf verzichtet, sich groß mit der Villa zu beschäftigen, weil er nie gedacht hätte, dass er derartige Informationen je brauchen würde. Er erinnerte sich an ein paar der auffälligeren Verstecke – die Statue des Tigers mit den ungleichen Augen kam ihm in den Sinn, ebenso der Gas-Saal, in dem die Rüstungen aufgestellt waren, und der Geheimraum in der Bibliothek …

Aber ich habe keine Zeit, sie alle zu durchsuchen, nicht allein.

Plötzlich grinste Wesker. Er stand auf und wunderte sich, dass er nicht eher daran gedacht hatte. Wer sagte denn, dass er es allein erledigen musste? Er hatte sich von den S.T.A.R.S. abgesetzt, um einen neuen Plan zu entwerfen und nach den Wappen zu suchen, aber es gab keinen Grund, warum er alles machen sollte. Chris kam nicht in Frage, er war zu wild entschlossen, zu übereifrig, und Jill war immer noch eine unbekannte Größe. Barry allerdings … Barry Burton war ein Familienmensch. Und sowohl Jill als auch Chris vertrauten ihm.

Und während sie alle noch im Haus herumtappen, kann ich zum Öffnungsmechanismus gehen und mich hier rausscheren. Auftrag ausgeführt, verdammt noch mal.

Unverändert grinsend ging Wesker zu der Tür, die zur Galerie über dem Speisezimmer führte. Überrascht stellte er fest, dass er sich auf sein kleines Abenteuer regelrecht freute. Es war eine Möglichkeit, seine Fähigkeiten mit dem Rest des Teams zu messen und auch mit den unbeabsichtigten Versuchsobjekten, die hier sicher noch herumtorkelten – ganz zu schweigen vom alten Spencer selbst. Und wenn er die Sache durchgezogen hatte, würde er ein reicher Mann sein.

Das, meinte Wesker, könnte tatsächlich Spaß bringen.

NEUN

Kraaah!

Jill lenkte die Beretta in Richtung des klagenden Schreis. Das Kreischen hallte ihr als Echo entgegen, während die Tür hinter ihr zufiel. Dann sah sie, wo der Laut herrührte, und entspannte sich nervös lächelnd.

Was zum Teufel tun die denn hier?

Sie hielt sich immer noch im rückwärtigen Teil des Hauses auf und hatte beschlossen, ein paar der anderen Zimmer zu überprüfen, bevor sie in die Eingangshalle zurückkehrte. Die erste Tür, die sie zu öffnen versucht hatte, war abgesperrt gewesen. Auf dem Schließblech hatte sich ein eingravierter Helm befunden. Ihre Dietriche hatten sich als nutzlos erwiesen, da ihr der Schlosstyp unbekannt war. So hatte sie sich entschlossen, ihr Glück mit der Tür auf der anderen Flurseite zu versuchen, die sich mühelos hatte öffnen lassen. Jill war eingetreten, auf alles gefasst – wenn auch das Letzte, womit sie gerechnet hätte, eine Schar Krähen war, die auf dem Träger einer quer durch das Zimmer verlaufenden Beleuchtungsschiene hockte.

Ein weiterer der großen schwarzen Vögel stieß sein verdrießliches Krächzen aus, und das Geräusch ließ Jill erschauern. Es handelte sich um mindestens ein Dutzend Krähen. Sie plusterten ihr glänzendes Gefieder auf und starrten Jill, als diese den Raum rasch auf irgendwelche Gefahren hin sondierte, aus ihren klugen, perlenartigen Augen an.

Der U-förmige Raum, den sie betreten hatte, war sauber – und so kalt wie der Rest des Hauses. Vielleicht noch kälter. Außerdem enthielt er keine Möbel. Es handelte sich um eine Galerie – Porträts und Gemälde zierten die Wände. Über den abgetretenen Holzboden verstreut lagen schwarze Federn inmitten getrockneten Vogelkots, und Jill fragte sich erneut, wie die Krähen hereingekommen und wie lange sie schon hier hausen mochten. Irgendetwas am Aussehen der Vögel war unbestreitbar absonderlich. Sie wirkten viel größer als normale Krähen und musterten Jill mit einer Intensität, die beinahe … unnatürlich schien.

Jill fröstelte abermals und wandte sich zur Tür um. In dem Raum war nichts von Bedeutung, und die Vögel waren ihr nicht geheuer. Nichts, was sie hier hielt …

Auf dem Weg hinaus blickte sie flüchtig auf ein paar der Gemälde, zumeist handelte es sich um Porträts. Dabei fiel ihr auf, dass sich unter den schweren Rahmen Schalter befanden – Jill nahm an, dass sie zum Ein- und Ausschalten der einzelnen Strahler an der Leuchtschiene dienten, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, warum sich jemand die Mühe machen sollte, so eine aufwändige Galerie für offensichtlich zweitklassige Kunstwerke einzurichten. Ein Baby, ein junger Mann … Die Gemälde waren nicht wirklich schlecht, aber auch alles andere als meisterhaft.

Sie hielt inne, als sie den kühlen Metallknauf berührte und runzelte die Stirn. Rechts der Tür war auf Augenhöhe eine kleine Schalttafel eingelassen und mit „Spotlights“ beschriftet. Jill drückte einen der Knöpfe, und das Zimmer wurde ein wenig dunkler, da einer der Punktstrahler erlosch. Einige der Krähen krächzten missbilligend, ebenholzfarbene Flügel flatterten. Jill schaltete die Lampe wieder ein und überlegte.

Wenn das also die Lichtschalter sind, wofür sind dann die Schalter unter den Gemälden?

Vielleicht barg dieser Raum doch mehr, als sie zunächst angenommen hatte. Sie ging zum ersten Bild gegenüber der Tür, ein großes Gemälde, das fliegende Engel und sonnendurchstrahlte Wolken zeigte. Der Titel lautete: Von der Wiege bis zum Grabe. Darunter befand sich kein Schalter. Jill ging zum nächsten.

Es war das Porträt eines Mannes mittleren Alters, dessen Züge wie vor Erschöpfung schlaff wirkten. Er stand neben einem kunstvoll gearbeiteten Kamin. Dem Schnitt seines Anzugs und seiner mit Pomade nach hinten gekämmten Haare nach zu urteilen, musste das Bild in den späten Vierzigern oder Anfang der Fünfziger gemalt worden sein. Darunter befand sich ein simpler, unbeschrifteter Kippschalter. Jill legte ihn um. Ein elektrisches Knack ertönte –

– und hinter ihr explodierten die Krähen zu kreischender Bewegung, stiegen alle gleichzeitig von der Beleuchtungsschiene auf. Das Einzige, was Jill noch hörte, war das Schlagen der dunklen Schwingen und die plötzliche Raserei ihrer eigenen Schreie, als die Vögel auf sie zuschwärmten.

Jill rannte. Die Tür schien eine Million Meilen entfernt zu sein, ihr Herz hämmerte. Die erste Krähe erreichte sie, als sie nach dem Knauf fasste. Die Krallen des Vogels fanden die weiche Haut ihrer Nackenpartie. Sie spürte einen scharfen, stechenden Schmerz direkt hinter dem Ohr und drosch nach dem raschelnden Gefieder, das über ihre Wangen fegte. Sie stöhnte. Umgeben von wütendem Gekreische, schlug sie hinter sich ins Leere und erntete dafür ein gleichermaßen erschrockenes wie überraschtes Keifen. Der Vogel ließ sie los, torkelte davon.

Zu viele! Raus, raus, RAUS …!

Jill zerrte die Tür auf, stürmte in den Gang, fiel und trat im Liegen die Tür zu. Einen Augenblick rührte sie sich nicht vom Fleck, rang um Atem und genoss trotz des Zombiegestanks die kühle Stille des Korridors. Keine der Krähen hatte es geschafft, mit ihr durch die Tür zu schlüpfen.

Als sich ihr Herzschlag annähernd normalisiert hatte, setzte sie sich auf und tastete vorsichtig über die Wunde hinter ihrem Ohr. Sie fühlte Nässe unter den Fingern, aber es war nicht allzu schlimm. Das Blut gerann bereits. Sie hatte Glück gehabt. Wenn sie daran dachte, was hätte passieren können, wenn sie drinnen gestolpert und hingefallen wäre …

Warum hatten die Vögel sie angegriffen, was hatte der Schalter ausgelöst? Jill erinnerte sich an das elektrische Klicken, als sie ihn umgelegt hatte, das Geräusch eines Funkenschlags.

Die Beleuchtungsschiene!

Sie empfand einen jähen Anflug widerwilliger Bewunderung für denjenigen, der diese schlichte Falle ersonnen und eingerichtet hatte. Mit dem Drücken des Schalters hatte sie dem Anschein nach die Metallstange, auf der die Krähen gehockt hatten, unter Strom gesetzt. Sie hatte nie von Krähen gehört, die dazu abgerichtet worden waren, Menschen anzugreifen, fand jedoch keine andere Erklärung – was bedeutete, dass sich irgendjemand sehr viel Mühe gemacht hatte, um das geheim zu halten, was sich in dem Raum befinden mochte. Und um herauszufinden, worum es sich dabei handelte, würde sie wieder hineingehen müssen.

Ich kann auf der Türschwelle stehen bleiben und die Vögel der Reihe nach abschießen … Die Idee gefiel ihr nicht sonderlich, denn sie vertraute nicht ausreichend genug auf ihre Zielfähigkeit und würde dabei sicher eine Menge Munition verschwenden.

Nur Narren akzeptieren das Nächstliegende und überlegen nicht weiter – streng deinen Grips an, Jilly.

Jill lächelte leise. Sie glaubte ihren Vater zu hören, der sie an die Ausbildung gemahnte, die sie vor ihrer S.T.A.R.S.-Zeit durchlaufen hatte. In einer ihrer frühesten Erinnerungen sah sie sich und ihren Vater, wie sie sich in den Büschen um das marode alte Haus versteckten, das ihr Vater gemietet hatte, und die dunklen, leeren Fenster betrachteten. Dabei hatte er ihr erklärt, wie man es richtig anstellte, „eine Goldmine auszubaldowern“. Dick hatte ein Spiel daraus gemacht, ihr im Laufe der nächsten zehn Jahre die Feinheiten des Einbrechens beizubringen, angefangen damit, wie man Treppen hochstieg, ohne dass sie knarrten, bis hin zum Entfernen von Glasscheiben, ohne sie zu zerbrechen – und er hatte ihr auch eingetrichtert, wieder und immer wieder, dass es für jedes Problem mehr als eine Lösung gab.

Die Vögel zu erschießen war einfach zu naheliegend. Jill schloss die Augen und konzentrierte sich.

Schalter und Porträts … Ein kleiner Junge, ein Säugling, ein junger Mann, einer mittleren Alters …

„Von der Wiege bis zum Grabe.“

Wiege zum Grabe …

Als ihr die Lösung einfiel, war ihr deren Einfachheit fast peinlich. Jill stand auf, klopfte sich den Staub von der Kleidung ab und fragte sich, wie lange es wohl dauern mochte, bis die Krähen sich wieder auf der Stange niedergelassen hatten. Wenn sie erst einmal wieder dort hockten, sollte es kein Problem mehr sein, das Geheimnis des Raumes zu lüften.

Sie öffnete die Tür einen Spalt breit, lauschte dem Flüstern schlagender Flügel und schwor sich, dieses Mal vorsichtiger zu sein. In diesem Haus den falschen Knopf zu drücken, konnte tödlich sein.

„Rebecca? Lass mich rein, ich bin’s – Chris.“

Er hörte, wie etwas Schweres an der Wand vorbeischabte, dann öffnete sich die Tür zur Abstellkammer quietschend. Rebecca trat zurück, als er ins Innere stürmte und dabei seine Entdeckung unter der Weste hervorzog.

„Ich hab dieses Tagebuch in einem der Zimmer gefunden“, erklärte er. „Es sieht aus, als sei hier irgendeine Art von Forschung betrieben worden. Ich weiß zwar nicht, was, aber –“

„Virologie“, unterbrach ihn Rebecca und hielt lächelnd einen Stapel Papiere hoch. „Du hattest recht damit, dass wir hier etwas Hilfreiches finden könnten.“

Chris nahm die Dokumente entgegen und überflog die erste Seite. Für ihn sah es aus, als wäre alles in einer fremden Sprache geschrieben, ein Mischmasch aus Zahlen und Buchstaben.

„Was ist das für ein Zeug? DH5a-MCR …“

„Was du hier siehst, ist ein Stammdiagramm“, erwiderte Rebecca lebhaft. „Es dient zur Erstellung von Gen-Bibliotheken, die methyliertes Zystein enthalten – oder Adeninrückstände, je nachdem.“

Chris zwinkerte ihr zu. „Tun wir mal so, als hätte ich keine Ahnung, wovon du redest, und fangen wir noch mal von vorne an. Was hast du gefunden?“

Rebecca errötete etwas und nahm ihm die Papiere wieder ab. „Entschuldige. Im Grunde steht hier drin eine Menge … nun, Zeug über virale Infektion.“

Chris nickte. „Das kapier ich. Ein Virus …“

Er blätterte im Tagebuch und suchte den ersten Eintrag über den Unfall im Labor. „Am elften Mai wurde in einem Laboratorium auf diesem Anwesen irgendetwas verkleckert, oder es ist etwas ausgebrochen. Innerhalb von acht oder neun Tagen verwandelte sich derjenige, der das geschrieben hat, in eine dieser Kreaturen da draußen.“

Rebeccas Augen weiteten sich. „Steht auch drin, wann die ersten Symptome aufgetreten sind?“

„Sieht aus, als hätte der Verfasser oder die Verfasserin nach vierundzwanzig Stunden über Hautjuckungen geklagt. Schwellungen und Pusteln folgten innerhalb von achtundvierzig Stunden.“

Rebecca wurde blass. „Das ist … Grundgütiger.“

Chris nickte. „Genau das hab ich auch gedacht. Gibt es eine Möglichkeit festzustellen, ob wir infiziert sein könnten?“

„Nicht ohne weitere Informationen. All das –“, Rebecca machte eine Geste zu dem mit Unterlagen gefüllten Schrankkoffer hin, „– ist ziemlich alt, zehn Jahre und mehr, und es gibt keine spezifischen Informationen über die Anwendung. Andererseits, wenn sich etwas derart Toxisches, das sich so schnell ausbreitet, noch in der Luft befände und infektiös wäre, dann hätte es mittlerweile wahrscheinlich schon ganz Raccoon City befallen. Ich kann es nicht mit absoluter Gewissheit sagen, aber ich bezweifle, dass es noch ansteckend ist.“

Chris war erleichtert, seinetwegen und um der anderen S.T.A.R.S.-Angehörigen willen, aber die Tatsache, dass die „Zombies“ alle Opfer einer Seuche waren, war bedrückend, ganz gleich, ob sie die Katastrophe selbst verursacht hatten oder nicht.

„Wir müssen die anderen finden“, sagte er. „Sollte einer von ihnen auf das Labor stoßen, ohne zu wissen, was drin passiert ist …“

Rebecca wirkte betroffen ob dieser Vorstellung, nickte jedoch tapfer und ging rasch in Richtung der Tür. Chris befand, dass sie mit etwas Erfahrung ein erstklassiges S.T.A.R.S.-Mitglied abgeben würde. Offenkundig beherrschte Rebecca ihr Fachgebiet, und selbst ohne Waffe war sie willens, die relative Sicherheit dieses Lagerraums aufzugeben, um dem Rest des Teams zu helfen.

Gemeinsam hasteten sie den dunklen, holzvertäfelten Flur entlang. Rebecca hielt sich dicht neben Chris. Als sie die Tür erreichten, die zurück in den ersten Korridor führte, überprüfte er seine Beretta, dann wandte er sich an Rebecca.

„Bleib hinter mir. Die Tür, zu der wir müssen, liegt rechts am Ende des Flurs. Ich werde wahrscheinlich das Schloss zerschießen müssen, und ich bin sicher, dass da wenigstens ein oder zwei Zombies herumlaufen, deshalb musst du gut die Augen offen halten.“

„Ja, Sir“, sagte sie leise, und Chris grinste trotz der angespannten Situation. Genau genommen war er ihr Vorgesetzter – dennoch war es komisch, direkt darauf gestoßen zu werden.

Er öffnete die Tür und trat hindurch, richtete seine Pistole auf die vor ihm nistenden Schatten und dann nach rechts, den Gang hinab. Nichts rührte sich.

„Los“, flüsterte er, dann liefen sie den Korridor entlang und stiegen schnell über die tote Kreatur hinweg, die im Weg lag. Rebecca drehte sich, um das hinter ihnen liegende Stück des Flurs im Auge zu behalten, während Chris am Türknauf rüttelte, in der vergeblichen Hoffnung, sie könnte sich von selbst entriegelt haben.

Er wich von der Tür zurück und zielte sorgfältig. Auf eine verschlossene Tür zu schießen, war nicht so leicht oder ungefährlich, wie es in Filmen weisgemacht wurde. Ein Querschläger, der aus solcher Nähe von Metall abprallte, konnte den Schützen töten.

„Chris!“

Er blickte über die Schulter und sah am anderen Ende des Gangs eine Gestalt, die langsam auf sie zuschlurfte. Selbst im Dämmerlicht konnte Chris erkennen, dass ihr ein Arm fehlte. Der typische Verwesungsgeruch waberte ihnen entgegen, während der Zombie mit schwerer Zunge stöhnend vorwärts taumelte.

Chris wandte sich wieder der Tür zu und schoss zweimal. Der Rahmen splitterte, das eingebaute Metallrechteck kam hinter einer Wolke von Holzspänen zum Vorschein. Er zerrte am Knauf, und das Schloss gab nach, die Tür schwang auf. Er drehte sich um, packte Rebecca am Arm und drängte sie über die Schwelle. Die Beretta hielt er in den Flur gerichtet.

Die Kreatur hatte die Hälfte des Weges zurückgelegt, wurde aber von dem leblosen Zombie aufgehalten, den Chris niedergestreckt hatte. Entsetzt und angewidert sah Chris mit an, wie der einarmige Zombie auf die Knie sank und die ihm verbliebene Hand in den zertrümmerten Schädel des anderen tauchte. Wieder stöhnte das Wesen, und Chris vernahm einen feuchten, schleimigen Laut, dann führte der Untote eine Handvoll matschiger, grauer Substanz an die gierigen Lippen.

O Mann …

Chris fröstelte. Hastig folgte er Rebecca und schloss die Tür, um die grausige Szene auszusperren. Rebecca war blass, wirkte aber gefasst, und abermals bewunderte Chris ihren Mut. Sie war jung, aber faff – taffer als er es mit achtzehn gewesen war …

Mit einem Blick erfasste er den Gang. Die Veränderungen fielen ihm sofort auf. Rechts von ihnen lag in einiger Entfernung ein regloser Zombie, dem die Schädeldecke weggeblasen worden war. Sein Gesicht zeigte nach oben, die tiefen Augenhöhlen waren mit Blut gefüllt. Linker Hand gab es zwei Türen, die Chris auf seinem ersten Erkundungsgang nicht ausprobiert hatte. Die Tür ganz am Ende des Korridors stand offen, dahinter gähnte tiefes Dunkel.

Mindestens einer der S.T.A.R.S.-Angehörigen ist hier lang gekommen, hat wahrscheinlich nach mir gesucht …

„Mir nach“, sagte er leise und bewegte sich auf die offene Tür zu, die Beretta fest umklammert. Er wollte mit Rebecca zurück in die Haupthalle, aber der Umstand, dass ein Mitglied seines Teams durch diese Tür gegangen sein musste, verdiente eine schnelle Überprüfung.

Als sie an der geschlossenen Tür auf der rechten Seite vorbeikamen, zögerte Rebecca. „Neben dem Schloss ist ein Schwert abgebildet“, flüsterte sie.

Chris konzentrierte seine Aufmerksamkeit weiter auf die Schwärze hinter der offenen Tür, doch Rebeccas Worte machten ihm bewusst, dass es zu viele Dinge gab, die sie dort vom eigentlichen Ziel ablenken konnten. Er glaubte nicht, dass der Rest des Teams noch auf ihn wartete, aber sein ursprünglicher Befehl hatte gelautet, sich in der Lobby zurückzumelden – er durfte eine unbewaffnete Rekrutin nicht auf ein Terrain führen, das er nicht vorher selbst abgecheckt hatte …

Chris seufzte und senkte die Waffe. „Lass uns in die Haupthalle gehen“, sagte er. „Wir können später hierher zurückkommen und nachsehen.“

Rebecca nickte. Gemeinsam gingen sie zum Speisesaal zurück, und Chris hoffte entgegen aller Wahrscheinlichkeit, dass sie dort jemanden antreffen würden.

Barry richtete seinen Colt auf den kriechenden Ghul und schoss. Die großkalibrige Kugel zerstampfte den weichen Schädel des Dings zu Brei, gerade als es nach Barrys Stiefel grapschte. Als der Zombie zuckend verendete, sprühten winzige Tröpfchen in Barrys Gesicht. Verdrossen wischte er sich mit dem Handrücken über die Haut. Die kleinen weißen Fliesen der Küchenwand hatte es noch weit schlimmer erwischt – rote Bäche rannen die Fugen hinab zum verblichenen braunen Linoleum und sammelten sich dort zu Pfützen.

Verdammt ekelhaft. Barry senkte den Revolver und spürte den Schmerz in seiner linken Schulter. Die Tür im Obergeschoss war fest verschlossen gewesen, seine Prellung waren der Beweis dafür – und während er auf das Zombie-Haschee zu seinen Füßen hinabstarrte, wurde ihm klar, dass er wieder hinaufgehen und eine weitere Tür einschlagen musste. Falls er sich vorher noch nicht sicher gewesen war, jetzt war er es – hier war Chris nicht vorbeigekommen. Andernfalls wäre die kriechende Kreatur bereits Geschichte gewesen.

Aber wo zum Teufel steckst du dann, Chris?

Von den drei zugeschlossenen Türen hatte Barry rein instinktiv die am Ende des Gangs gewählt. Er war in einem dunklen, stillen Flur gelandet, der an einem leeren Aufzugsschacht vorbei zu einer schmalen Treppe führte. Die leere Küche an ihrem Ende hatte verlassen gewirkt – auf den Arbeitsflächen dicker Staub und Rostflecke an den Wänden. Keine Anzeichen, dass die Küche in jüngerer Zeit benutzt worden war, keine Spur von Chris, und die Tür gegenüber der Spüle war abgesperrt gewesen. Barry hatte gerade gehen wollen, als er die Spuren im Staub auf dem Boden bemerkt hatte und ihnen gefolgt war …

Mit einem tiefen Seufzer stieg Barry über das stinkende Monster hinweg. Er gestattete sich einen letzten prüfenden Blick, dann machte er sich auf den Weg zu Tür Nummer zwei. Es gab ein paar übereinander gestapelte Kisten und denselben altmodischen Aufzugschacht, ebenfalls leer. Den Rufknopf drückte er erst gar nicht erst, nachdem der im Obergeschoss schon nicht funktioniert hatte. Abgesehen davon hatte, dem Rost auf dem Metallgitter nach zu schließen, den Fahrstuhl seit einer ganzen Weile niemand mehr benutzt.

Barry kehrte um und fragte sich, wie es wohl Jill ergehen mochte. Je eher sie hier wegkamen, desto besser. Noch nie hatte ein Ort Barry so wenig gefallen wie diese Villa. Es war kalt, es war gefährlich, und es roch wie im Kühlhaus eines Schlachthofs, in dem seit mindestens einer Woche Stromausfall herrschte.

Im Allgemeinen war er nicht der Typ, der sich so leicht ins Bockshorn jagen oder seiner Fantasie die Zügel schießen ließ, aber hier rechnete er hinter jeder Ecke damit, irgendeinem Gespenst zu begegnen …

Hinter ihm erklang ein fernes, hallendes Scheppern. Barry wirbelte herum. Einen Angstknoten im Bauch, richtete er den Lauf seiner Waffe ziellos ins Leere. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Mund trocken. Das metallische Klappern wiederholte sich, gefolgt vom tiefen, pochenden Brummen einer Maschine.

Um Fassung bemüht, holte Barry tief Luft und stieß sie langsam wieder aus. Immerhin handelte es sich wohl nicht um einen körperloser Geist – jemand benutzte den Aufzug.

Wer? Chris und Wesker sind verschwunden, und Jill ist im anderen Flügel …

Barry blieb, wo er war und senkte den Colt ein wenig. Er glaubte nicht, dass die Ghuls schlau genug waren, um Knöpfe zu drücken, geschweige denn, den Zustieg zu öffnen, aber er wollte kein Risiko eingehen. Er befand sich gut fünf Schritte von der Stelle entfernt, an der sich die Kabine öffnen würde, vorausgesetzt sie hielt im Keller. Er würde freie Schussbahn auf denjenigen haben, der heraustrat.

Ein Hoffnungsfunke flackerte durch seine konfusen Gedanken: Vielleicht war es ja einer der Bravos oder jemand, der hier lebte und ihm sagen konnte, was geschehen war …

Mit einem dumpfen Klank! stoppte der Aufzug in der Küche. Barry hörte das Kreischen trockener Metallscharniere und Schritte.

Dann trat … Captain Wesker in sein Blickfeld, die unvermeidliche Sonnenbrille auf der gebräunten Stirn.

Barry senkte den Revolver und grinste. Kühle Erleichterung überkam ihn. Wesker blieb stehen und grinste zurück.

„Barry! Genau der Mann, den ich gesucht habe“, sagte er gelassen.

„Mein Gott, haben Sie mich erschreckt! Ich hab gehört, wie der Aufzug sich bewegte, und dachte, ich krieg einen Herzinfarkt …“ Barry verstummte, sein Lächeln gerann.

„Captain“, sagte er langsam, „wo sind Sie gewesen? Als wir zurückkamen, waren Sie weg.“

Weskers Grinsen wurde breiter. „Tut mir leid. Ich hatte etwas zu erledigen – musste dem Ruf der Natur folgen, Sie wissen schon.“

Barry lächelte wieder, doch die Erklärung befremdete ihn – gefangen auf feindlichem Territorium, und der Mann war pinkeln gegangen?

Wesker schob seine Sonnenbrille von der Stirn auf die Nase, womit er den Augenkontakt unterbrach, und Barry wurde plötzlich leicht nervös. Weskers Grinsen schien noch breiter zu werden. Es sah aus, als blecke er sämtliche Zähne.

„Barry, ich brauche Ihre Hilfe. Haben Sie schon mal von White Umbrella gehört?“

Barry schüttelte den Kopf. Mit jeder Sekunde fühlte er sich unbehaglicher.

„White Umbrella ist ein Sektor von Umbrella Inc., eine sehr wichtige Abteilung. Sie ist auf … biologische Forschung spezialisiert, könnte man wohl sagen. Das Spencer-Anwesen beherbergt ihre Forschungseinrichtungen, und vor kurzem ereignete sich hier ein Unfall.“

Wesker wischte ein Stück der Arbeitsfläche in der Mitte der Küche sauber und lehnte sich lässig dagegen. Fast im Plauderton fuhr er fort: „Diese Abteilung von Umbrella hat ein paar Verbindungen zur S.T.A.R.S.-Organisation, und vor kurzem wurde ich gebeten, bei der Handhabung dieser Situation … zu assistieren. Es ist eine sehr heikle Angelegenheit, streng geheim. White Umbrella will, dass nicht mal der Hauch eines Gerüchts darüber nach außen dringt. – Nun, meine Aufgabe besteht darin, in die Laboratorien auf diesem Grundstück vorzudringen und eine Reihe ziemlich belastender Beweise zu beseitigen – Beweise dafür, dass White Umbrella verantwortlich ist für den Unfall, der in letzter Zeit so viel Ärger in Raccoon verursacht hat. Das Problem ist, dass ich den Schlüssel zu den Labors nicht habe – die Schlüssel, genau genommen. Und hier kommen Sie ins Spiel: Ich brauche Ihre Hilfe, um diese Schlüssel zu finden.“

Barry starrte ihn einen Moment lang sprachlos an, seine Gedanken wirbelten. Ein Unfall, ein Geheimlabor für biologische Forschungen …

und Killerhunde und Zombies, die frei durch die Wälder streifen!

Er hob den Revolver und richtete ihn auf Weskers lächelndes Gesicht, gleichermaßen verblüfft und wütend. „Sind Sie wahnsinnig? Sie glauben, ich helfe Ihnen dabei, Beweismaterial zu vernichten? Sie durchgeknallter Hurensohn!“

Wesker schüttelte langsam den Kopf und tat gerade so, als stünde ihm in Barry ein Kind gegenüber. „Ah, Barry, Sie verstehen nicht – Ihnen bleibt in dieser Sache keine Wahl. Sehen Sie, ein paar meiner Freunde von White Umbrella stehen derzeit vor Ihrem Haus und sehen Ihrer Frau und Ihren Töchtern beim Schlafen zu. Wenn Sie mir nicht helfen, wird Ihre Familie sterben.“

Barry konnte regelrecht fühlen, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er spannte den Hahn des Colts, verspürte plötzlich einen brutalen, jede Faser seines Seins erfüllenden Hass auf Wesker.

„Bevor Sie abdrücken, sollte ich erwähnen, dass, wenn ich mich nicht bald wieder melde, meine Freunde den Befehl haben, die Exekution durchzuführen.“

Die Worte schnitten durch den roten Nebel, der Barrys Denken geflutet hatte. Seine Hände waren klamm vor Entsetzen.

Kathy – die Kinder …

„Sie bluffen“, flüsterte er, und endlich verschwand Weskers Grinsen, seine Miene wurde wieder zu jener unlesbaren Maske, die er für gewöhnlich trug.

„Tu ich nicht“, versetzte er kalt. „Lassen Sie es darauf ankommen. Sie können sich später bei den Grabsteinen Ihrer Lieben entschuldigen.“

Für einen Augenblick bewegte sich keiner von ihnen. Die Stille war etwas beinahe Greifbares in der eisigen Luft. Dann entspannte Barry langsam den Hahn und ließ die Waffe sinken. Seine Schultern sackten nach unten. Er konnte … er würde es nicht riskieren. Seine Familie bedeutete ihm alles.

Wesker nickte und fasste in eine seiner Taschen, aus der er einen Schlüsselbund hervorholte. Sein Gebaren war mit einem Mal forsch und geschäftsmäßig. „Irgendwo im Haus befinden sich vier Kupferplatten. Jede davon hat in etwa die Größe einer Untertasse. Auf einer Seite ist jeweils ein Bild eingraviert – Sonne, Mond, Sterne und Wind. In der Villa gibt es eine Tür mit einem Schloss, zu dem diese vier Wappen gehören.“

Er hakte einen Schlüssel vom Ring, legte ihn auf den Tisch und schob ihn Barry zu. „Der hier sollte alle Türen im anderen Flügel öffnen oder zumindest die wichtigen, im Erdgeschoss und ersten Stock. Finden Sie diese Teile für mich, und Ihrer Familie wird nichts passieren.“

Mit tauben Fingern griff Barry nach dem Schlüssel. Er fühlte sich schwach und von mehr Angst erfüllt als je zuvor in seinem Leben. „Chris und Jill …“

„ … werden Ihnen zweifellos bei der Suche helfen wollen. Wenn Sie einen der beiden sehen, sagen Sie ihnen, dass die Hintertür, die Sie entdeckt haben, ein Fluchtweg sein könnte. Ich bin sicher, dass sie Ihrem vertrauenswürdigen Freund, dem guten alten Barry, nur zu gern behilflich sein werden. Sie sollten in der Tat möglichst jede Tür aufschließen, um eine optimale Suche zu gewährleisten.“

Wesker lächelte wieder – ein freundliches, schiefes Grinsen, das im Widerspruch zu seinen Worten stand. „Wenn Sie ihnen natürlich erzählen, dass Sie mich getroffen haben, könnte das die Angelegenheit verkomplizieren. Denn wenn mir etwas zustößt, wenn ich, sagen wir mal, von hinten erschossen würde … nun, genug geredet. Behalten wir das Ganze einfach für uns.“

In den Schlüssel war ein kleines Bild eingraviert, der Brustpanzer einer Rüstung. Barry ließ ihn in seine Tasche gleiten. „Wo werden Sie sein?“

„Oh, ich bleibe in der Nähe, keine Sorge. Ich melde mich rechtzeitig.“

Barry sah Wesker flehentlich an, unfähig, das angstvolle Schwanken seiner Stimme zu unterdrücken. „Sie sagen denen doch, dass ich Ihnen helfe, oder? Sie werden nicht vergessen, sich bei Ihren … Leuten zu melden?“

Wesker wandte sich ab, ging auf den Fahrstuhl zu und rief über die Schulter zurück: „Vertrauen Sie mir, Barry. Tun Sie, was ich Ihnen sage, und Sie haben keinen Grund zur Sorge.“

Die Aufzugtür öffnete und schloss sich scheppernd, dann war Wesker verschwunden.

Barry blieb noch einen Moment lang stehen, starrte auf die leere Stelle, an der Wesker eben noch gestanden hatte, und suchte nach einer Möglichkeit, dem Verhängnis zu entgehen. Vergebens. Es gab kein Abwägen zwischen Ehre und Familie – ohne Ehre konnte er leben, aber …

Er reckte das Kinn vor und kehrte zur Treppe zurück, entschlossen zu tun, was er tun musste, um Kathy und die Mädchen zu retten. Wenn das hier jedoch überstanden war, wenn er sicher sein konnte, dass ihnen nichts mehr zustoßen konnte, dann –

Dann wird es kein Versteck auf der ganzen Welt geben, in dem Sie sich verkriechen können, „Captain“.

Barry ballte seine riesigen Fäuste, bis die Knöchel weiß hervortraten, und schwor sich, dass Wesker für seine Verbrechen bezahlen würde. Mit Zins und Zinseszins.

ZEHN

Jill schob das schwere Kupferwappen mit dem eingravierten Stern in die dafür vorgesehene Vertiefung des Diagramms über den drei anderen Öffnungen. Mit einem leisen Klick! rastete es bündig mit der Metallplatte ein.

Eins weniger … Triumphierend lächelnd trat Jill von dem Rätselschloss zurück.

Die Krähen hatten sie beobachtet, als sie durch den Raum mit den Gemälden gegangen war, ohne sich von der Beleuchtungsschiene zu erheben. Sie hatten nur ab und zu gekrächzt, während Jill das Rätsel löste. Es waren insgesamt sechs Porträts gewesen, von der Wiege zum Grabe – von einem neugeborenen Baby bis hin zu einem recht streng dreinblickenden alten Mann. Jill nahm an, dass sie alle Lord Spencer zeigten, wenn sie auch nie ein Foto von ihm gesehen hatte.

Das letzte Gemälde war ein Todesszenario gewesen, ein bleicher Mann, der still dalag, von Trauernden umringt. Als Jill den Schalter darunter umgelegt hatte, war das Bild von der Wand gefallen, herausgedrückt von winzigen Metallstiften an jeder Ecke. Dahinter hatte sich eine kleine, mit Samt ausgeschlagene Öffnung befunden, mit dem Kupferwappen darin. Jill hatte den Raum ohne weitere Schwierigkeiten verlassen; falls die Vögel enttäuscht waren, hatten sie es sich nicht anmerken lassen.

Sie nahm noch einen tiefen Atemzug von der angenehmen Nachtluft, ehe sie in die Villa zurückkehrte. Im Gehen zog sie Trents Computer aus der Tasche, und während sie vorsichtig über den im halbdunklen Flur zu Boden gesunkenen Leichnam stieg, studierte sie die Karte, um festzustellen, wo sie ihr Glück als Nächstes versuchen sollte.

Wie es aussah, würde es wohl das Beste sein, den Weg zurückzugehen, den sie auch gekommen war. Durch die Doppeltür, welche die Korridore miteinander verband, trat sie zurück in den gewundenen, graugrünen Flur mit den Landschaftsgemälden. Der Karte zufolge führte die gegenüber liegende Tür in einen kleinen, quadratischen Raum, dem sich ein größerer anschloss.

Angespannt griff sie nach dem Knauf, drückte die Tür auf, duckte sich und hielt ihre Beretta bereit. Der kleine Raum war tatsächlich quadratisch – und völlig leer.

Sich aufrichtend, betrat Jill die Kammer, taxierte kurz deren schlichte Eleganz und wandte sich der Tür zu ihrer Rechten zu. Der Raum hatte eine hohe, lichte Decke, die Wände waren aus cremefarbenem, goldgesprenkeltem Marmor – wunderschön. Und teuer, um es milde auszudrücken. Mit vagem Wehmut dachte Jill an die alten Zeiten mit Dick, an all ihre großen Pläne und Hoffnungen, die sie an jeden Einbruch geknüpft hatten. Hier sah sie, was sich mit richtigem Geld kaufen ließ …

Sie machte sich bereit, umfasste das kalte, schimmernde Metall des Riegels und drückte die Tür auf. Ein schneller Halbkreis mit der Beretta, und Jill spürte, wie sie sich entspannte. Sie war allein.

Es gab einen aufwändig gearbeiteten Kamin, direkt unter einem reich verzierten, rotgoldenen Gobelin, und auf einem dunkelorangefarbenen Teppich in orientalischem Design standen eine niedrige moderne Couch mit einem dazu passenden ovalen Tisch. An der Rückwand hing … eine Pumpgun, mit zwei Haken befestigt. Sie glänzte im Licht der antiken Lampen darüber. Jill grinste und durchquerte rasch das Zimmer. Sie konnte ihr Glück kaum fassen.

Bitte, sei geladen, bitte, sei geladen …

Als sie vor der Waffe stehen blieb, erkannte sie das Modell. Gewehre waren zwar nicht ihre Stärke, aber das hier entsprach genau dem Modell, das auch die S.T.A.R.S.-Mitglieder benutzten: eine Remington M870, fünf Schuss.

Sie schob die Beretta ins Holster und nahm, immer noch lächelnd, das Gewehr mit beiden Händen von der Wand ab. Doch ihr Lächeln schwand, als die beiden Halterungshaken, des Gewichts der Waffe entledigt, klickend nach oben schnappten. Gleichzeitig ertönte jenseits der Wand ein schwereres Geräusch, ein Laut wie von ausgewogenem Metall, das nun seine Lage veränderte.

Jill wusste nicht, was es bedeutete, aber es gefiel ihr nicht. Schnell drehte sie sich um und sondierte das Zimmer auf Bewegung. Doch alles war so still, wie sie es vorgefunden hatte, keine kreischenden Vögel, keine plötzlichen Sirenen oder blinkenden Lichter, keines der Bilder fiel von der Wand. Hier existierte keine Falle …

Erleichtert überprüfte sie die Waffe und fand sie geladen, das Magazin voll. Jemand hatte sie gepflegt, der Lauf war sauber und roch schwach nach einem Reinigungsmittel und Öl; im Augenblick war dies der beste Geruch, den Jill sich vorstellen konnte. Das schwere Gewicht in ihren Händen verlieh ihr Sicherheit, das Gefühl von Macht.

Sie durchsuchte den übrigen Raum und war enttäuscht, dass sie keine weiteren Patronen fand. Dennoch, der Fund der Remington war ein Glücksfall. Die S.T.A.R.S.-Westen waren mit einem Rückenholster für eine Flinte oder ein Gewehr ausgestattet, und wenn sie auch nicht allzu gut darin war, eine Waffe über die Schulter zu ziehen, konnte Jill sie auf diese Weise doch wenigstens tragen, ohne sich quasi selbst die Hände zu binden.

Ansonsten gab es nichts Interessantes in dem Zimmer. Jill ging zur Tür und konnte es kaum noch erwarten, in die Haupthalle zurückzukehren, um Barry über ihre Entdeckungen zu unterrichten. Auf dieser Seite des Erdgeschosses hatte sie jeden Raum, den sie öffnen konnte, überprüft. Wenn er im anderen Flügel dasselbe geschafft hatte, konnten sie sich nach oben wenden, um ihre Suche nach den Bravos und ihren verschollenen Teamkameraden abzuschließen. Und um dann, hoffentlich gemeinsam mit ihnen aus diesem elenden Leichenschauhaus zu verschwinden.

Sie schloss die Tür hinter sich, schritt über den schieferfarbenen Marmor, fasste nach dem Knauf und hoffte, dass Barry inzwischen Chris und Wesker gefunden hatte. Hier sind sie bestimmt nicht gewesen.

Die Tür war abgeschlossen. Stirnrunzelnd versuchte Jill, den kleinen goldenen Knauf zu drehen. Er ließ sich eine Idee bewegen, gab aber nicht genügend nach. Schlagartig beunruhigt, äugte Jill durch den winzigen Spalt, wo die Tür auf den Rahmen traf.

Da war er, neben dem Griff, der dicke Stahlbolzen, der auf einen Innenriegel hinwies, einen äußerst massiven noch dazu; der ganze Bereich drum herum war verstärkt. Aber nur ein Schlüsselloch, und das ist für das reguläre Schloss …

Klick! Klick! Klick!

Von oben regnete Staub herab, als das Geräusch sich drehender Zahnräder den Raum zu erfüllen begann, das tiefe, rhythmische Rattern von Metall, irgendwo hinter den Wänden aus Stein.

Was …?

Erschrocken blickte Jill nach oben – und spürte, wie sich ihr Magen gleichsam in sich selbst verkroch, wie ihr der Atem in der Kehle stockte. Die hohe Decke, die sie vorhin noch bewundert hatte, bewegte sich. Der Marmor an den Ecken zerpulverte mit dem schweren Knirschen von Stein auf Stein zu Staub. Die Decke senkte sich.

Wie der Blitz war Jill wieder an der Tür des Zimmers, aus dem sie die Pumpgun genommen hatte. Sie schnappte nach der Klinke, drückte sie hinunter …

… und fand diese Tür ebenso fest verschlossen wie die andere.

Ach du Scheiße! Böse Sache! Böse Sache!

Panik breitete sich in ihr aus. Sie rannte zurück zur anderen Tür. Jills angstvoller Blick wurde von der sich herabsenkenden Decke angezogen. Bei fünf bis sieben Zentimetern pro Sekunde würde sie in weniger als einer Minute den Boden erreichen.

Jill hob die Pumpgun und zielte auf die Tür zum Korridor. Sie versuchte nicht daran zu denken, wie viele Schüsse es brauchen würde, um einen verstärkten Stahlriegel in Stücke zu fetzen – es war alles, was ihr noch übrig blieb. Die Dietriche würden ihr bei diesem Schloss nicht weiterhelfen.

Die erste Kugel explodierte an der Tür. Splitter stoben auf und enthüllten genau das, was Jill befürchtet hatte. Die Metallplatte, die den Riegel verstärkte, erstreckte sich über das halbe Türblatt.

Ihre rasenden Gedanken suchten nach einer Lösung und stießen doch immer nur ins Leere. Sie hatte nicht genug Patronen, um sich durch die Tür zu schießen, und in der Beretta steckten Hohlspitzgeschosse, die beim Aufschlag abflachten.

Vielleicht kann ich die Tür wenigstens schwächen und dann einschlagen …

Sie drückte wieder ab, diesmal zielte sie auf den Rahmen. Der donnernde Schuss zerfetzte Holz und riss Splitter aus dem Marmor. Aber es reichte nicht einmal annähernd aus. Die Decke senkte sich ratternd weiter herab, befand sich jetzt keine drei Meter mehr über ihrem Kopf. Sie würde zu Tode gequetscht werden.

Lieber Gott, lass mich nicht so sterben!

„Jill? Bist du das?“

Eine gedämpfte Stimme rief von draußen, vom Korridor, und Jill fühlte bei ihrem Klang, wie jähe, verzweifelte Hoffnung in ihr erwachte.

Barry!

„Hilfe! Barry, schlag die Tür ein, mach schnell!“ Sie schrie es mit schriller, bebender Stimme.

„Geh zurück!“

Jill taumelte nach hinten. Dann hörte sie, wie ein schwerer Hieb die Tür traf. Das Holz erzitterte, hielt aber stand. Jill stieß einen leisen Schrei aus, der ihre hilflose Enttäuschung verriet. Ihr furchtsamer Blick huschte zwischen Tür und Decke hin und her.

Ein weiterer massiver, die Tür erschütternder Schlag, und die Decke war noch zwei Meter entfernt.

Mach schon, MACH SCHON!

Der dritte wuchtige Hieb wurde vom Knirschen und Splittern des Holzes begleitet. Die Tür flog auf. Barry erschien im Rahmen, das Gesicht rot und verschwitzt. Er streckte die Hand nach Jill aus.

Sie warf sich nach vorne. Er packte sie an den Handgelenken, riss sie buchstäblich von den Füßen und zog sie hinaus auf den Gang. Als sie gemeinsam auf dem Boden aufschlugen, wurde hinter ihnen die Tür aus den Angeln gequetscht. Holz und Metall kreischten, während sich die Decke gemächlich weiter senkte. Die Tür zerbarst mit einem scharfen Krachen und Knacken.

Ein letztes, nachschwingendes Bomm! – dann setzte die Decke auf dem Boden auf. Vorbei. Das Haus war wieder still wie eine Gruft.

Wankend kamen sie auf die Beine. Jill starrte auf die Türöffnung. Der gesamte Rahmen wurde vom massiven Steinblock der Decke ausgefüllt. Ein paar Tonnen Fels, mindestens.

„Bist du in Ordnung?“, fragte Barry.

Jill antwortete nicht sofort. Sie starrte auf die Pumpgun, die noch in ihren zitternden Händen lag, erinnerte sich, wie überzeugt sie gewesen war, nicht schon wieder auf eine Falle gestoßen zu sein – und zum ersten Mal hatte sie ihre Zweifel, diesem Höllenhaus je wieder entkommen zu können.

Sie befanden sich in der leeren Eingangshalle – Chris lief auf dem Teppich vor der Treppe hin und her, Rebecca stand nervös am Geländer. Das gewaltige Foyer war so kalt und bedrohlich, wie Chris es schon beim ersten Betreten empfunden hatte. Die stummen Wände gaben keines ihrer Geheimnisse preis. Die anderen Teammitglieder waren verschwunden, und es gab keinen Hinweis auf das Wohin und Warum.

Von irgendwo tief aus der Villa drang ein schwerfälliges Rumpeln, als würde ein riesiges Tor zugeworfen. Sie legten beide den Kopf schief und lauschten, doch das Geräusch wiederholte sich nicht. Chris konnte nicht einmal sagen, aus welcher Richtung es gekommen war.

Toll, einfach großartig. Zombies, verrückte Wissenschaftler und jetzt auch noch Dinge, die in der Nacht rumpeln. Wunderbar.

Er lächelte Rebecca zu und hoffte, dass er weniger verwirrt aussah, als er es war. „Tja, keine Nachricht. Ich schätze, das bringt uns zu Plan B.“

„Was ist Plan B?“

Chris seufzte. „Verflucht, wenn ich das mal wüsste. Aber wir könnten damit anfangen, diesen anderen Raum mit dem Schwertschlüssel zu überprüfen. Vielleicht stoßen wir noch auf etwas Interessantes, solange wir darauf warten, dass sich das Team wieder sammelt – eine Karte oder etwas in der Art.“

Rebecca nickte, und so kehrten sie in das Speisezimmer zurück. Chris ging voran. Der Gedanke, Rebecca weiteren Gefahren auszusetzen, gefiel ihm nicht, aber er wollte sie auch nicht allein lassen, zumindest nicht in der Haupthalle; dort schien es ihm nicht sicher.

Als sie die tickende Standuhr passierten, knackte etwas Kleines, Hartes unter Chris’ Stiefel. Er bückte sich und hob ein dunkelgraues Stückchen Gips auf. In der Nähe lagen zwei oder drei weitere Bröckchen.

„Sind dir die aufgefallen, als wir vorhin hier durchgingen?“, fragte er.

Rebecca schüttelte den Kopf, und Chris beugte sich vor, um nach weiteren zu suchen. Auch er konnte sich nicht erinnern, dass sie vorhin schon hier gelegen hätten. Auf der anderen Seite des Tisches befand sich ein ganzer Haufen solcher Gipsfragmente. Rebecca und Chris eilten um das Ende des langen Tisches, vorbei an dem kunstvoll verzierten Kamin und blieben vor dem Haufen stehen. Chris stieß mit der Stiefelspitze gegen die grauen Bruchstücke. Den Bruchkanten und der Form nach zu schließen, hatte es sich einmal eine Art Statue gehandelt.

Was es auch war, jetzt ist es Müll.

„Ist es wichtig?“, fragte Rebecca.

Chris zuckte mit den Achseln. „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls einen Blick wert. In einer Situation wie dieser weiß man nie, was sich noch als wichtige Spur entpuppt.“

Das hallende Ticken der alten Uhr folgte ihnen bis zur Tür und hinaus in den Geruch von Fäulnis, der den engen Gang dahinter erfüllte. Während sie sich nach rechts wandten, zog Chris den silbernen Schlüssel aus der Tasche – und blieb stehen. Schnell zog er seine Beretta. Die Tür am Ende des Korridors war geschlossen. Als sie vorhin hier durchgekommen waren, hatte sie offen gestanden.

Er hatte nicht das Gefühl, beobachtet zu werden, machte keine Bewegung im Flur aus, aber irgendjemand musste hier langgegangen sein, während sie sich in der Lobby aufgehalten hatten. Der Gedanke war beunruhigend und bestärkte Chris in dem Gefühl, dass überall um sie herum geheimnisvolle Dinge geschahen. Die tote Kreatur links von ihnen lag noch so da wie zuvor. Ihre blutgefüllten Augen starrten blind zur Decke empor, und Chris fragte sich abermals, wer sie getötet haben mochte. Er wusste, dass er die Leiche und ebenso den ungesicherten Bereich hinter ihr untersuchen musste, wollte jedoch nicht allein losziehen, bis er Rebecca irgendwo in Sicherheit gebracht hatte.

„Komm“, flüsterte er, und sie traten auf die verschlossene Tür zu. Chris gab Rebecca den Schlüssel, damit er den Gang im Auge behalten konnte. Mit einem leisen Klicken schnappte der Schließriegel der mit komplizierten Mustern übersäten Tür zurück, und Rebecca drückte sie behutsam auf.

Ein rascher prüfender Blick zeigte Chris, dass in dem Raum alles in Ordnung war. Mit einer Geste bedeutete er Rebecca hineinzugehen. Das Zimmer war wie eine Pianobar eingerichtet, dominiert von einem Stutzflügel, der gegenüber einer eingebauten Theke stand. An diese wiederum reihten sich Barhocker, die am Boden verschraubt waren. Vielleicht waren es das weiche Licht und die gedämpften Farben, die dem Raum eine Atmosphäre erhabener Stille verliehen. Woran es auch liegen mochte, Chris befand, dass er der angenehmste war, den er bislang betreten hatte.

Und vielleicht ein guter Platz, an dem Rebecca bleiben kann, während ich nach den anderen suche …

Rebecca ließ sich auf der Kante der staubigen schwarzen Klavierbank nieder, während sich Chris gründlicher in dem Raum umsah. Es gab einige Topfpflanzen, einen kleinen Tisch und eine winzige Nische in der Wand hinter dem Klavier, in die ein paar Bücherregale geschoben worden waren. Der einzige Zugang war der, durch den sie hereingekommen waren. Ein idealer Unterschlupf für Rebecca.

Chris steckte seine Waffe ins Holster, trat zu Rebecca ans Klavier und versuchte, seine Worte mit Bedacht zu wählen; er wollte sie mit dem Vorschlag, allein hierzubleiben, nicht ängstigen. Zögerlich lächelte sie zu ihm auf und sah dabei noch jünger aus, als sie es war. Ihre roten Ponyfransen verstärkten den Eindruck, dass sie nur ein Kind war …

Ein Kind, das weniger Zeit fürs College brauchte als du für den Pilotenschein – tu nicht so gönnerhaft, sie ist wahrscheinlich schlauer als du.

Chris seufzte innerlich und erwiderte ihr Lächeln. „Würde es dir etwas ausmachen, hierzubleiben, während ich mich umsehe?“

Ihr Lächeln verblasste um eine Nuance, seinen Blick jedoch erwiderte sie fest. „Klingt vernünftig“, sagte sie. „Ich habe keine Waffe, und solltest du in Schwierigkeiten geraten, würde ich dir nur ein Klotz am Bein sein …“

Sie lächelte breiter und fügte hinzu: „Aber wenn dir ein mathematisches Theorem die Hölle heißmacht, heul hinterher nicht mir die Ohren voll.“

Chris lachte, über seine unzutreffende Annahme ebenso sehr wie über ihren Scherz. Rebecca war nicht zu unterschätzen. Er ging zur Tür und hielt inne, die Hand schon am Knauf.

„Ich komm zurück, so schnell ich kann“, sagte er. „Sperr die Tür hinter mir zu und geh nicht weg, okay?“

Rebecca nickte, und er trat wieder hinaus auf den Gang, zog die Tür fest hinter sich zu. Er wartete, bis er hörte, wie Rebecca abschloss, dann zog er seine Beretta. Die letzte Spur seines Lächelns schwand, als er rasch den Korridor hinabschritt.

Je näher er der verwesenden Kreatur kam, desto übler wurde der Gestank. Als er die Leiche erreichte, atmete er flach. Bevor er den Toten nach Einschüssen untersuchte, trat er an ihm vorbei, um zu schauen, ob sich der Gang fortsetzte.

Und dann gefror er inmitten seiner Bewegung, weil er auf einen zweiten Leichnam starrte, der in der Nische lag – enthauptet und mit Blut bedeckt. Chris musterte die schlaffen, leblosen Züge des Gesichts. Der Kopf befand sich eine Fußlänge entfernt, und Chris erkannte in dem Toten Kenneth Sullivan. Er spürte, wie ihn beim Anblick des toten Bravos eine Welle aus Wut und neuer Entschlossenheit durchlief.

Das ist alles so was von unfair! Joseph, Ken, Billy wahrscheinlich auch – wie viele sind noch gestorben? Wie viele müssen noch leiden wegen eines dämlichen Unfalls?

Endlich wandte er sich ab und schritt entschlossen auf die Tür zu, die in den Speisesaal führte. Er würde in der Haupthalle anfangen und jeden möglichen Weg überprüfen, den die S.T.A.R.S.-Mitglieder genommen haben konnten – und dabei jede Kreatur töten, die ihm bei seiner Suche über den Weg lief.

Seine Teamgefährten sollten nicht umsonst gestorben sein. Dafür wollte Chris sorgen, und wenn es das Letzte war, was er je tat.

Nachdem Chris gegangen war, sperrte Rebecca die Tür ab und wünschte ihm im Stillen viel Glück, bevor sie wieder zu dem staubigen Piano zurückkehrte und sich hinsetzte. Sie wusste, dass er sich für sie verantwortlich fühlte, und fragte sich abermals, wie sie nur so amateurhaft hatte sein können, ihre Waffe zu verlieren.

Wenn ich wenigstens eine Pistole hätte, dann müsste er sich nicht so viel Sorgen um mich machen. Ich mag vielleicht unerfahren sein, aber ich habe die Grundausbildung wie jeder andere durchlaufen …

Ziellos fuhr sie mit einem Finger über die staubigen Tasten, kam sich nutzlos vor. Sie hätte ein paar dieser Akten aus der Abstellkammer mitnehmen sollen. Sie wusste zwar nicht, ob sie noch viel Wissenswertes enthielten, aber zumindest hätte sie etwas zu lesen gehabt. Im Stillsitzen war sie nicht sonderlich gut, und nichts zum Zeitvertreib zu haben, machte es noch schwerer.

Du könntest ja üben, schlug eine Stimme in ihrem Kopf aufmunternd vor. Rebecca lächelte schwach und sah auf die Tasten hinunter. Nein danke. Sie hatte als Kind vier Jahre lang Unterricht durchlitten, ehe ihre Mutter sie endlich wieder hatte aufhören lassen.

Sie stand auf und schaute sich im Raum nach etwas um, mit dem sie sich beschäftigen konnte. Sie ging zum Tresen und beugte sich darüber, sah jedoch nur ein paar Regale mit Gläsern und einen Stoß Servietten, alles fein mit Staub bedeckt. Auf der Theke hinter der Bar standen einige zumeist leere Spirituosenflaschen und ein paar ungeöffnete, teuer aussehende Weinflaschen …

Rebecca verwarf den Gedanken, noch während er sich in ihr zu artikulieren begann. Sie trank ohnehin nicht viel, und jetzt war kaum die geeignete Zeit, um sich zu betrinken. Seufzend drehte sie sich um und inspizierte den Rest des Raumes.

Außer dem Klavier gab es nicht viel zu sehen. Links von ihr hing das kleine Gemälde einer Frau an der Wand – ein farbloses Porträt in dunklem Rahmen. Auf dem Boden neben dem Flügel stand eine welkende Laubpflanze, wie Rebecca sie häufig in hübschen Restaurants gesehen hatte. Darüber hinaus gab es noch einen an der Wand befestigten Tisch mit einem umgedrehten Martini-Glas darauf. In Anbetracht all dessen wirkte das Klavier dann fast schon wieder interessant.

Rebecca ging an dem Stutzflügel vorbei und lugte in die Öffnung zu ihrer Rechten. An einer Seite standen zwei leere Bücherregale.

Mit gerunzelter Stirn trat sie näher an die Regale heran. Das kleinere, außen stehende war leer, das dahinter jedoch …

Sie legte ihre Hände gegen das vordere Regal und schob es nach vorne. Es war nicht schwer und ließ sich leicht bewegen. Auf dem Holzboden blieben Spuren im Staub zurück.

Rebeccas Blick schweifte über die Fächer des zweiten Regals. Enttäuschung stieg in ihr auf. Ein zerbeultes altes Jagdhorn, ein verstaubtes Bonbonglas, einige Nippesvasen und ein paar Notenblätter mit Klaviermusik, die in einem kleinen Ständer steckten … Sie besah sich den Titel und verspürte einen plötzlichen Hauch nostalgischer Wärme, weil sie an die Zeit zurückdenken musste, als sie selbst noch gespielt hatte – es war die Mondschein-Sonate, eines ihrer Lieblingsstücke.

Rebecca nahm die vergilbten Blätter und erinnerte sich der Stunden, die sie darauf verwandt hatte, es zu lernen. Damals war sie zehn oder elf Jahre alt gewesen, und es war genau dieses Stück gewesen, das ihr zu der Einsicht verholfen hatte, nicht zur Pianistin geschaffen zu sein. Es war eine wunderschöne, zarte Melodie, und sie hatte sie jedes Mal, wenn sie auf der Bank Platz genommen hatte, ziemlich verdorben.

Mit der Komposition in der Hand ging sie zurück und betrachtete den Flügel nachdenklich. Es war ja nicht so, dass sie gerade etwas Besseres zu tun gehabt hätte …

Und außerdem hört es vielleicht jemand vom Team und kommt dann, um dem Ursprung des schrecklichen Lärms auf den Grund zu gehen.

Grinsend staubte sie die Bank ab, setzte sich und stellte die Blätter aufgeschlagen auf den Notenständer. Ihre Finger fanden die richtige Haltung fast automatisch, während sie die einleitenden Noten las – gerade so, als hätte sie das Klavierspielen nie aufgegeben. Es war ein gutes Gefühl, eine willkommene Ablenkung von den Schrecknissen, die in der Villa lauerten.

Langsam, zögerlich begann sie zu spielen. Als die ersten melancholischen Töne in die Stille drangen, spürte Rebecca, wie sie sich entspannte, wie Druck und Furcht verflogen. Sie war noch immer nicht allzu gut, ihr Tempo so daneben wie eh und je – aber sie traf die richtigen Noten, und die Kraft der Melodie machte ihre mangelnde Finesse mehr als wett.

Wenn nur die Tasten nicht so schwergängig wären …

Hinter ihr bewegte sich etwas.

Rebecca sprang auf, stieß in der Drehung die Bank um und suchte hastig nach dem vermeintlichen Angreifer. Was sie sah, traf sie so unerwartet, dass sie für ein paar Sekunden erstarrte, unfähig zu begreifen, was sie sah.

Die Wand bewegt sich!

Noch während die letzten Noten in der kühlen Luft schwangen, glitt ein quadratmetergroßes Paneel der kahlen Wand zu ihrer Rechten nach oben in die Decke und kam mit einem Rumpeln sanft zum Halten.

Rebecca rührte sich einen Moment lang nicht, wartete darauf, dass etwas Schreckliches geschah – doch nichts bewegte sich, und die Sekunden verstrichen. Der Raum war so still und bar aller Bedrohung wie zuvor.

Versteckte Notenblätter. Seltsam steife Klaviertasten …

als wären sie womöglich mit einer Art Mechanismus verbunden?

Hinter der schmalen Öffnung lag eine bis dahin verborgene Kammer, etwa von der Größe eines begehbaren Schrankes, genauso sanft erhellt wie der Rest des größeren Vorraumes. Bis auf eine Büste und einen Sockel war sie leer.

Rebecca trat auf die Öffnung zu und verharrte. Gedanken an Todesfallen und Giftpfeile wirbelten ihr durch den Sinn. Was war, wenn sie hineinging und dabei irgendeine Katastrophe auslöste? Was, wenn sich die Tür schloss und sie da drinnen festsaß – und Chris nicht zurückkam?

Was, wenn du das einzige Mitglied von S.T.A.R.S. wärst, das bei dieser Mission einen feuchten Schmutz gebacken kriegt? Zeig mal ein bisschen Rückgrat!

Rebecca wappnete sich für die Konsequenzen, trat ein und sah sich vorsichtig um. Wenn hier eine Gefahr lauerte, dann war sie nicht zu erkennen. Die glatten Stuckwände hatten die Farbe von Milchkaffee und waren mit Leisten aus dunklem Holz abgesetzt. Das Licht drang aus einem Fenster zur Rechten. Dahinter lag ein winziges Treibhaus. Hinter dem schmutzigen Glas war eine Handvoll absterbender Pflanzen auszumachen.

Rebecca näherte sich dem Sockel im hinteren Teil der Kammer und stellte fest, dass die Steinbüste darauf Beethoven darstellte. Sie erkannte das strenge Gesicht und die hohe Stirn des Komponisten der Mondschein-Sonate. Am Postament selbst prangte ein goldenes Emblem, das wie ein Schild oder Wappen geformt und etwa von der Größe eines Tellers war.

Rebecca ging neben der schlichten Säule in die Hocke und betrachtete das Emblem. Es war massiv und dick; entlang des oberen Randes verlief ein königlich anmutendes Muster in blasserem Gold. Es wirkte vertraut. Rebecca hatte dasselbe Muster schon an anderer Stelle im Haus gesehen …

Im Speisezimmer, über dem Kamin!

Ja, das war es – nur dass das Teil über dem Kaminsims aus Holz bestanden hatte, dessen war sie sich sicher. Es war ihr aufgefallen, während Chris sich die zerbrochene Statue angesehen hatte.

Neugierig berührte sie das Emblem, fuhr das Muster nach, das sich darüber zog – und dann packte sie die leicht erhabenen Kanten mit beiden Händen und hob es an. Die massive Plakette ließ sich leicht bewegen, beinahe so, als gehörte sie dort nicht hin –

– und hinter Rebecca rumpelte die Geheimtür herab und schloss sie ein.

Schnell drehte sie sich um, stellte das Emblem zurück in seine Vertiefung – und das Wandteil hob sich wieder, glitt sanft in verborgenen Führungen nach oben. Erleichtert blickte Rebecca hinab auf das schwere Goldemblem und dachte nach.

Jemand hatte all das konstruiert, nur um diese Medaille zu versteckten, also musste sie von Bedeutung sein – aber wie ließ sie sich von dort entwenden? Öffnete das über dem Kamin hängende Emblem ebenfalls einen geheimen Durchgang?

Oder … ist das über dem Kamin von gleicher Größe?

In dem Punkt war Rebecca unsicher, aber sie glaubte es – und sie wusste instinktiv, dass es die richtige Antwort war. Wenn sie die beiden austauschte, das Holzemblem verwendete, um die Tür dieser Kammer offen zu halten, und das goldene über dem Kaminsims platzierte, dann …

Ohne den Gedanken zu Ende zu führen, kehrte Rebecca, ein Lächeln auf den Lippen, ins Klavierzimmer zurück. Chris hatte sie angewiesen, sich nicht von der Stelle zu rühren, aber sie würde auch nicht länger als ein, zwei Minuten fort sein – und wenn er zurückkam, hatte sie ja vielleicht etwas vorzuweisen, einen echten Beitrag zur Lösung der Geheimnisse, die diese Villa umrankten.

Und einen Beweis dafür, dass sie nicht völlig nutzlos war.