6. KAPITEL

“Poppy, kannst du bitte runter in mein Büro kommen? Ich muss etwas mit dir besprechen.”

Poppy umklammerte krampfhaft den Hörer und merkte, wie ihre Handflächen vor Nervosität ganz feucht wurden.

“Muss das jetzt sein, James?”, fragte sie angespannt. “Ich sitze nämlich gerade an den Unterlagen, die du haben wolltest, und …”

“Ja, es muss jetzt sein”, fiel James ihr ins Wort.

Nachdem sie aufgelegt hatte, blickte sie starr aus dem Bürofenster. Dabei nahm sie gar nicht wahr, dass die Büsche am Rand des Firmenparkplatzes bereits in voller Blüte standen.

Seit der Konferenz in Italien waren mittlerweile fast zehn Wochen vergangen. Daher hätte sie eigentlich so weit sein müssen, den Schock über das, was dort vorgefallen war, zumindest ansatzweise zu verarbeiten. Stattdessen versuchte sie jedoch, James möglichst aus dem Weg zu gehen, und hatte den Eindruck, dass er dasselbe tat.

Als sie nun ihren Stuhl zurückschob und aufstand, war ihr ganz schwindelig, und das Herz klopfte ihr bis zum Hals.

Anders als die meisten Firmeninhaber hatte James sein Büro im Erdgeschoss eingerichtet. Es würde ihm dabei helfen, mit beiden Beinen fest auf der Erde zu stehen, wie er Poppy einmal erklärt hatte, nachdem sie ihn darauf angesprochen hatte. Ein erfolgreiches Unternehmen wäre wie eine Pyramide, hatte er hinzugefügt, und wer immer an seiner Spitze stünde, befände sich in einer sehr labilen Position, wenn er nicht wüsste, dass die Basis solide ist.

Damals, als Teenager, hatte sie nicht richtig verstanden, was er damit meinte. Jetzt dagegen tat sie es und zollte ihm dafür Respekt, wenn auch widerwillig.

Während sie die Treppe zum Erdgeschoss hinuntereilte, überlegte sie nervös, warum James sie sprechen wollte. Mit den Unterlagen, die sie gerade übersetzte, konnte es jedenfalls nichts zu tun haben, weil bis zum Abgabetermin noch Zeit war.

Als sie den Flur zu seinem Büro entlangging, stellte sie fest, dass die Tür zu Chris’ Büro offen stand. Getreu ihrem Vorsatz, den sie auf seiner und Sallys Hochzeit gefasst hatte, widerstand Poppy jedoch der Versuchung, einen Blick hineinzuwerfen.

Da James’ Sekretärin nicht im Vorzimmer war, klopfte Poppy schließlich an seine Bürotür und trat ein.

James saß an seinem Schreibtisch, der wie die anderen Möbel im Raum ausgesprochen zweckmäßig war. Es widerstrebte ihm, Firmengelder für Statussymbole zu verschwenden. Dennoch schien die schlichte Ausstattung seines Büros die Aura der Macht, die ihn umgab, eher zu verstärken.

Während Poppy darauf wartete, dass er ihr sein Anliegen erläuterte, sagte sie sich energisch, dass er nicht nur ihr Chef war, sondern auch ihr Cousin. Daher brauchte sie sich auch nicht wie eine Schülerin zu fühlen, die wegen eines Vergehens zu ihrem Lehrer zitiert wurde.

Auf seinem Schreibtisch lagen einige Papiere, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie den Briefkopf des italienischen Hotels auf einem Blatt erkannte.

“Stewart Thomas hat heute mit mir gesprochen”, erklärte James schließlich. Stewart Thomas war der Buchhalter der Firma.

Nun begann ihr Herz schneller zu klopfen. In der Vorwoche hatte sie ihre vierteljährliche Spesenabrechnung bei der Buchhaltung eingereicht. Sie war immer überaus penibel damit, aber nachdem James ihr einmal die Leviten gelesen hatte, weil sie versehentlich eine private Tankquittung beigefügt hatte, fürchtete sie stets, einen solchen Fehler noch einmal zu machen.

“Falls es um meine Spesenabrechnung geht …”, begann sie schnell. “Ich …”

“Nein, Poppy, es geht nicht um deine Spesenabrechnung, sondern darum.” Er schob ihr den Brief des Hotels über den Schreibtisch zu.

Nervös nahm sie den Brief in die Hand.

“Das ist die Rechnung von dem Hotel in Italien”, meinte sie. “Ich … Dafür habe ich keine Spesen berechnet. Du …”

“Es geht nicht um deine Spesenabrechnung”, wiederholte er finster. “Sieh dir die Rechnung noch einmal genau an. Oder wäre es dir lieber, wenn ich sie dir vorlesen würde? Vielleicht sollte ich es wirklich tun. So könnten wir wenigstens Zeit sparen.” Er nahm ihr die Rechnung aus der Hand und las: “‘Mr. und Mrs. Carlton: ein Doppelzimmer’.”

Poppy wurde aschfahl und blickte ihn starr an.

“Aber … aber es war ein Versehen des Hotels”, sagte sie unsicher. “Das hast du doch selbst gesagt. Du hast gesagt …”

Was ich gesagt habe, spielt keine Rolle”, erklärte er scharf. “Was allerdings eine Rolle spielt, ist, dass Stewart Thomas und alle anderen, die diese Rechnung zu sehen bekommen, unweigerlich ihre Schlüsse daraus ziehen werden. Allein die Tatsache, dass er meinte, mir die Rechnung sofort vorlegen zu müssen, ist sehr aufschlussreich, findest du nicht?”

Plötzlich wurde ihr übel.

“Aber du hast die Rechnung bezahlt, bevor wir abgereist sind. Sie haben dir eine Quittung gegeben und …”

“Und nun haben sie mir eine Kopie davon geschickt. Der Himmel weiß, wie viele Leute schon einen Blick darauf geworfen haben, bevor sie auf Stewarts Schreibtisch gelandet ist.”

“Aber … aber du hast ihm doch sicher alles erklärt … dass es ein Versehen des Hotels war, weil man zu viele Buchungen vorgenommen hatte.”

“Oh ja, das habe ich ihm gesagt”, bestätigte James. “Allerdings …” Er verstummte unvermittelt, da in diesem Moment die Tür aufgerissen wurde und Chris hereinstürmte. Er wirkte ziemlich verunsichert.

“James, ich habe keine Ahnung, was hier vor sich geht, aber ich habe gerade gehört …” Als er Poppy sah, verstummte auch er und blickte stirnrunzelnd von ihr zu James.

“Was hast du gehört?”, hakte James nach.

“Na ja, es hat wahrscheinlich nichts zu bedeuten, aber ich habe eben gehört, wie eine unserer Sekretärinnen zu ihrer Kollegin gesagt hat, dass du und Poppy … Man sagt, ihr hättet etwas miteinander”, meinte er schließlich verlegen. “Alle tratschen darüber. Was in aller Welt ist eigentlich los?”

James hatte sich inzwischen von seinem Stuhl erhoben und stand jetzt neben ihr, wie Poppy bemerkte.

Entsetzt beobachtete sie, wie er ihre Hand nahm und zärtlich drückte. “Wir hatten eigentlich gehofft, es noch eine Weile geheim halten zu können, aber … Ja, es stimmt. Poppy und ich …”

“Das ist ja fantastisch!”, fiel Chris ihm begeistert ins Wort. “Ich muss es unbedingt Sally erzählen. Wann ist es passiert, und warum habt ihr uns nichts gesagt? Wahrscheinlich wart ihr zu beschäftigt”, fügte er lachend hinzu. “Ich weiß noch, wie es bei uns war, als Sally und ich uns ineinander verliebt haben. Dich brauche ich wohl nicht zu fragen, ob du verliebt bist, James. Ansonsten wärst du bestimmt nicht so dumm gewesen, ein Doppelzimmer für euch beide zu buchen und zu glauben, niemand würde davon erfahren. Weiß unsere Familie schon davon, oder …?”

“Wir haben nicht …”, begann Poppy schnell, weil sie ihm klarmachen wollte, dass er alles falsch verstanden hatte, dass zwischen James und ihr nichts war und alles ein schreckliches Missverständnis sein musste, dass …

James brachte sie jedoch zum Schweigen, indem er seinen Griff verstärkte und sich an Chris wandte. “Wir wollten es noch niemandem erzählen. Es ist alles so neu für uns, dass wir unsere Gefühle erst einmal für uns behalten wollten.”

“Das ist jetzt wohl nicht mehr möglich”, bemerkte Chris lachend. “Die ganze Firma weiß inzwischen, dass ihr vier Nächte in einem Bett geschlafen habt.”

Poppy musste sich auf die Lippe beißen, um nicht laut zu schreien. Wusste er denn nicht, dass er derjenige war, den sie liebte, und nicht James? War es ihm denn völlig egal?

“Das muss ich unbedingt Sally erzählen”, wiederholte er.

“Nein!”, platzte sie verzweifelt heraus.

“Nein”, meinte auch James und drückte warnend ihre Hand, als Chris sie überrascht ansah. “Noch nicht. Wir brauchen noch etwas Zeit.”

“Na ja, der Familie müsst ihr es jedenfalls bald sagen”, beharrte Chris. “Schließlich spricht es sich schnell herum. Ma und Tante Fee kommen zwar nur einmal im Monat in die Firma, aber …”

“Danke, Chris”, fiel James ihm ins Wort. “Ich habe dich schon verstanden, aber …”

“Aber es geht mich nichts an”, beendete Chris fröhlich den Satz für ihn. “Allerdings bezweifle ich, dass Ma und Tante Fee auch der Meinung sind. Und denk daran, dass Tante Fee nächsten Sonntag Geburtstag hat und wir alle zum Essen eingeladen sind. Es wird euch bestimmt schwerfallen, euch nichts anmerken zu lassen. Schließlich sind alle daran gewöhnt, dass ihr euch ständig streitet oder einander ignoriert, statt Händchen zu halten und …”

Poppy versuchte daraufhin sofort, ihre Hand zurückzuziehen, doch James hielt sie mit eisernem Griff fest.

Wenn er Chris nicht die Wahrheit sagt, muss ich es eben tun, beschloss sie und wandte sich kurz entschlossen an Chris. “Chris, bitte, es …”

Weiter kam sie jedoch nicht, denn im nächsten Moment steckte seine Sekretärin den Kopf zur Tür herein und informierte ihn, dass er einen wichtigen Anruf erhalten hatte.

“Danke, ich bin schon unterwegs”, erwiderte er und fuhr nach einer kurzen Pause an Poppy und James gewandt fort: “Ihr könnt es ihnen genauso gut sagen, denn jetzt könnt ihr es sowieso nicht mehr geheim halten.”

Nur mit Mühe konnte Poppy sich noch so lange beherrschen, bis Chris den Raum verlassen und die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann wandte sie sich wütend an James. “Warum hast du ihm nicht die Wahrheit gesagt? Warum …?”

“Welche Wahrheit?”, unterbrach er sie. “Willst du wirklich, dass ich es tue, Poppy? Soll ich Chris wirklich erzählen, was passiert ist? Soll ich es ihm in allen Einzelheiten schildern?”, fügte er rücksichtslos hinzu.

Beschämt wandte sie den Blick ab.

“So habe ich es nicht gemeint, und das weißt du genau.” Sie war kreidebleich und konnte kaum noch sprechen. “Aber du hattest keinen Grund, ihn glauben zu lassen, dass …”

“Was? Dass wir ein Paar sind? Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Ihm sagen, dass es bloß Sex war?”

“Du hättest sagen können, dass das mit dem Zimmer ein Versehen war!”, fuhr sie ihn an. “Dass es ein Missverständnis war, weil wir beide denselben Namen haben.”

“Ja, das könnte ich. Und was dann?”

“Was meinst du damit?”, erkundigte sie sich verwirrt.

“Wenn ich ihm das gesagt hätte, hätte Chris zwangsläufig gefragt, was passiert ist und wie wir das Missverständnis aufgeklärt haben. Mit anderen Worten, er hätte von mir hören wollen, dass ich darauf bestanden habe, zwei Einzelzimmer zu bekommen und getrennte Rechnungen.”

“Und wessen Schuld ist es, dass wir keine Einzelzimmer bekommen haben? Wir können die Leute nicht in dem Glauben lassen, dass … dass wir ein Paar sind”, fügte sie bedrückt hinzu.

“Die Leute oder Chris?”, hakte James nach. “Sieh den Tatsachen ins Auge, Poppy. Du bist ihm völlig egal. Wahrscheinlich ist er sogar erleichtert, weil er dich endlich los ist. Es ist höchste Zeit für dich, in der Wirklichkeit zu leben. Du und ich …”

“Es gibt kein ‘Du und ich’”, erklärte Poppy heftig. “Ich mag überhaupt nicht daran denken, was zwischen uns passiert ist. Sobald ich es tue, wird mir ganz schlecht. Mir ist klar, dass du mich immer gehasst und verachtet hast, James. Nun hast du es geschafft, dass ich mich selbst noch mehr hasse und verachte als du.” Daraufhin eilte sie zur Tür. “Mehr kann ich einfach nicht ertragen.”

“Ist wirklich alles in Ordnung mit dir, Poppy?”

Poppy schenkte ihrer Mutter ein schwaches Lächeln. “Ja, mir geht es gut”, schwindelte sie.

“Wahrscheinlich vermisst sie James”, neckte Chris sie. Sally und er waren vor wenigen Minuten als Erste zur Geburtstagsfeier ihrer Mutter eingetroffen, und nun standen sie im Wintergarten, während ihr Vater die Drinks einschenkte.

Poppy warf ihrer Mutter einen ängstlichen Blick zu, doch diese hatte Chris’ Bemerkung anscheinend gar nicht gehört.

“Keine Angst, er kommt noch”, sagte Chris zu Poppy. “Er hat mich gestern Abend angerufen, um mir zu sagen, dass er Ma mitbringt.”

Zum ersten Mal, seit sie sich in ihn verliebt hatte, fühlte sie sich durch seine Anwesenheit gestört. An den Blicken, die Sally und er tauschten, merkte sie, dass er Sally von ihrer angeblichen Affäre mit James erzählt hatte.

Poppy errötete verlegen und fragte sich verzweifelt, wie viele von den anderen Gästen ebenfalls davon wussten. Und wo steckte James bloß? Was sollte sie tun, wenn er nicht kam und sie allein die neugierigen Fragen der anderen beantworten musste? Der Panik nahe, sah sie aus dem Wohnzimmerfenster und hielt nach ihm Ausschau.

“Was ist, Poppy? Nach wem hältst du Ausschau?”, fragte ihre Mutter sie daraufhin prompt.

“Nichts … nach niemandem”, erwiderte Poppy stockend, merkte jedoch, dass sie noch tiefer errötete und ihre Mutter sich ganz offensichtlich über ihr Verhalten wunderte.

“Poppy, meine Liebe … wie war’s in Italien?”, erkundigte sich eine Freundin und Nachbarin ihrer Eltern, nachdem sie ihre Mutter begrüßt hatte. “Es ist ein so schönes Land, und James ist ja Halbitaliener …”

“Oh, hast du mit James zusammen Urlaub gemacht?”, fragte nun eine von Poppys Großtanten, die halb taub war. “Wie nett! Ich fand ja schon immer, dass ihr beide gut zusammenpasst.”

“James und Poppy waren geschäftlich in Italien”, erklärte ihre Mutter schnell.

Kurz darauf waren fast alle Gäste eingetroffen, und ihr Herz setzte einen Schlag aus, als Poppy auf der anderen Seite des Raums Stewart Thomas und seine Frau entdeckte. Sie hatte nichts davon gewusst, dass die beiden auch eingeladen waren. Was sollte sie bloß tun, wenn Stewart Thomas ihrer Mutter gegenüber die Hotelrechnung erwähnte?

War James bewusst nicht gekommen, damit sie allein mit den Konsequenzen ihres Verhaltens fertig werden musste? Vor Angst wurde ihr übel, und sie begann zu zittern. Wie sollte sie ihrer Familie und besonders ihren Eltern unter diesen Umständen nur gegenübertreten?

Er kommt bestimmt noch, sagte sie sich dann. Schließlich hatte Chris ihr erzählt, dass er seine Mutter mitbringen würde. Als sie beobachtete, wie Stewart Thomas sich mit seiner Frau unterhielt und beide dabei verstohlen in ihre Richtung blickten, war ihr klar, dass sie über sie sprachen.

Schließlich fuhr draußen ein Wagen vor, und ihre Tante stieg aus. Der Mann, der am Steuer gesessen hatte, war aber nicht James, sondern ein alter Freund ihrer Tante.

“Sind wir etwa die Letzten?”, hörte Poppy ihre Tante fragen, nachdem ihre Eltern sie begrüßt hatten. “Das tut mir wirklich leid. Wir mussten in letzter Minute umdisponieren, weil James uns eigentlich herfahren wollte.”

“Mach dir deswegen keine Sorgen. Es gibt sowieso ein kaltes Büfett”, erwiderte ihre Mutter. “Kommt rein und nehmt erst einmal einen Drink.”

Verzweifelt überlegte Poppy, warum ihre Mutter nicht gefragt hatte, wo James war. Und warum hatte ihre Tante nicht erklärt, weshalb er sie nicht begleitet hatte?

“Du bist schrecklich blass, Poppy. Ich hoffe, mein Sohn lässt dich nicht zu hart arbeiten. Übrigens, wie war’s in Italien? Die Landschaft in der Gegend ist wirklich wunderschön! Wir haben uns noch gar nicht gesehen, seit du wieder zurück bist …”

Poppy warf einen nervösen Blick über die Schulter, bevor sie ihrer Tante antwortete. Stewart stand jetzt nämlich ganz in ihrer Nähe und unterhielt sich mit ihrem Vater.

“Ich …”

“Oh, ich glaube nicht, dass Poppy allzu viel Zeit hatte, um sich die Landschaft anzuschauen”, mischte Chris sich ein und warf ihr einen boshaften Blick zu. “Allerdings kann ich mir vorstellen, dass sie gewisse andere Dinge sehr zu schätzen gelernt hat …”

“James!”

Poppy machte keinen Hehl aus ihrer Erleichterung, als sie sah, dass James den Raum betrat. Statt Chris einen vorwurfsvollen Blick zuzuwerfen, wie sie es eigentlich vorgehabt hatte, eilte sie auf James zu und umfasste seinen Arm. Dass viele Gäste sie überrascht oder sogar belustigt beobachteten, merkte sie erst, als es bereits zu spät war. Mit ihrem Verhalten hatte sie nun die Gerüchte bestätigt, die er für sie aus der Welt räumen sollte.

“Poppy?”, hörte sie ihre Mutter unsicher fragen. Sie konnte es offenbar nicht fassen, dass ihre Tochter James’ Anwesenheit überhaupt wahrnahm, geschweige denn auf ihn zulief und sich ihm praktisch in die Arme warf, sich an ihn klammerte wie eine Ertrinkende an einen Rettungsring.

“Jetzt musst du es ihnen wohl sagen”, meinte Chris, der Poppy zusammen mit Sally, ihren Eltern und ihrer Tante gefolgt war. Alle schauten sie nun erwartungsvoll an.

“Was sollst du uns sagen?”, erkundigte sich ihre Mutter verwirrt.

Poppy blickte Hilfe suchend zu James.

“Poppy und ich …”, begann er leise.

Sein Bruder kam ihm jedoch zuvor, indem er fröhlich verkündete: “Poppy und James lieben sich. Sie …”

“Endlich! Oh Poppy, ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich darüber bin!”, rief ihre Tante. “Ihr beide habt immer so gut zueinandergepasst. Ich erinnere mich noch genau daran, wie du James als Kind immer gefolgt bist. Sobald du laufen konntest, bist du hinter ihm hergewackelt. Und nun …”

“Und nun hat sie ihn eingeholt”, bemerkte Chris trocken, während seine Mutter sich die Tränen abtupfte und Poppy umarmte.

“Seit wann wisst ihr es?”

“Wann ist es passiert?”

“Habt ihr schon Pläne gemacht?”

Wie in Trance ließ Poppy die Glückwünsche ihrer Familie über sich ergehen, während James wie erstarrt neben ihr stand.

“Ich habe doch gesagt, dass ihr es nicht lange geheim halten könnt”, meinte Chris schadenfroh, während ihr Vater eine Flasche Champagner holte.

“Jetzt weiß ich auch, warum du so traurig ausgesehen hast, als ich ohne James gekommen bin.” Lächelnd umarmte ihre Tante sie wieder. “Oh Poppy, ich freue mich ja so! Ich dachte, dass James …” Sie verstummte und schüttelte den Kopf. Wieder traten ihr die Tränen in die Augen.

Was ist bloß mit meiner Familie los?, überlegte Poppy benommen, als ihr Vater Champagner einschenkte und jedem ein Glas reichte. Obwohl sie alle wussten, dass sie Chris liebte, taten sie so, als hätten sie es nicht anders erwartet.

Poppy hörte, wie ihr Vater einen Toast aussprach, während jemand anders James gratulierte und ihn fragte, wann sie heiraten würden.

“Ihr wollt damit hoffentlich nicht zu lange warten, oder?”, mischte Sally sich ein. “Schließlich müsst ihr nicht einmal ein Haus suchen. Du kannst gleich bei James einziehen.”

Unwillkürlich fragte sich Poppy, ob der Ausdruck in Sallys Augen nicht so etwas wie Erleichterung verriet. Nun drehte Chris sich zu ihr um und nahm sie in die Arme. Ihr fiel auf, dass er sie nicht küsste. Ob er die Wahrheit ahnte? Wusste er, dass er derjenige war, den sie immer noch liebte?

“Also, wann ist es passiert?”, wollte ihre Mutter wissen, sobald die erste Aufregung sich gelegt hatte.

In Italien, wollte Poppy erwidern, aber James kam ihr zuvor. “Weihnachten.”

Sie drehte sich zu ihm um und blickte ihn starr an. Weihnachten hatten sie eine ihrer schlimmsten Auseinandersetzungen überhaupt gehabt. James hatte ihr nämlich vorgeworfen, sie würde versuchen, Sally das Weihnachtsfest zu verderben, indem sie Chris “anhimmelte”, wie er es ausgedrückt hatte.

Poppy rechnete damit, dass ihre Mutter darüber lachte, weil sie ihm kein Wort glaubte. Stattdessen lächelte ihre Mutter jedoch und meinte, es sei ihnen wirklich gut gelungen, es geheim zu halten.

“Wir wollten Chris und Sally nicht die Show stehlen”, schwindelte James.

“Jetzt müssen wir also noch eine Hochzeit planen”, stellte ihre Mutter fest. “Wann wollt ihr …?”

Eine Hochzeit … Poppy warf James einen entsetzten Blick zu, bevor sie zu ihrer Mutter sagte: “Oh nein, wir können nicht …”

“Wir können uns noch nicht auf einen Termin einigen”, fiel er ihr ins Wort.

“Na, wenigstens müsst ihr euch kein Haus suchen”, erklärte ihre Mutter und griff damit Sallys Bemerkung auf. An James gewandt, fuhr sie ein wenig zerknirscht fort: “Damals fand ich es ziemlich komisch, dass du dir ein Einfamilienhaus gekauft hast. Eigentlich hätte ich gleich darauf kommen müssen. Poppy hatte schon immer eine Schwäche für die viktorianischen Häuser unten am Fluss.”

Poppy musste sich beherrschen, um ihre Mutter nicht aufzuklären, dass sie mit seiner Wahl überhaupt nichts zu tun hatte.

Unterdessen erwiderte James ruhig: “Ja, ich weiß. Ich erinnere mich noch daran, dass sie als Kind auf dem Nachhauseweg von der Schule immer dort entlanggegangen ist, obwohl es weiter war.”

Das stimmte. Sie liebte die großen viktorianischen Häuser, die miteinander verbunden waren und deren Gärten an den Fluss grenzten, und hatte sich auch schon oft vorgestellt, in einem davon zu wohnen – allerdings nicht mit James, sondern mit Chris.

Als James eines der Häuser gekauft hatte, war sie daher so wütend gewesen, dass sie nicht einmal zu seiner Einweihungsparty gegangen war.

Während des Essens standen sie im Mittelpunkt des allgemeinen Interesses. Poppy hatte jedoch überhaupt keinen Appetit, weil sie so nervös war. Seit ihrer Rückkehr aus Italien hatte sie bereits einige Pfund abgenommen.

“Ich möchte mit dir reden”, flüsterte James ihr schließlich ins Ohr, woraufhin sie sich sofort verspannte.

“Das geht nicht … Nicht jetzt. Nicht hier.”

“Ich gehe in einer halben Stunde”, erklärte er, nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. “Und du wirst mich begleiten.”

“Nein”, protestierte sie. “Ich kann nicht einfach verschwinden. Was sollen die anderen denken?”

“Sie werden denken, dass wir verliebt sind und allein sein wollen, um …”

“Hör auf!”, fauchte sie ihn an und errötete wieder. “Warum willst du sie glauben machen, dass …?”

“Was meinst du wohl, warum?”, konterte er finster.

Poppy errötete noch tiefer, als sie sich daran erinnerte, wie sie seinen Namen gerufen und sich ihm in die Arme geworfen hatte. Ihr Verhalten war wirklich sehr aufschlussreich gewesen.

“Wohin fahren wir?”, fragte Poppy, nachdem sie den Sicherheitsgurt angelegt hatte. Um nicht mit James wegfahren zu müssen, hatte sie behauptet, sie müsse ihrer Mutter später in der Küche helfen, aber er hatte überhaupt nicht zugehört. Daher saß sie nun neben ihm im Wagen und fragte sich, wie sie so dumm hatte sein können, in ihm einen Verbündeten zu sehen, nur weil einige Gäste sie neugierig gemustert hatten.

“Was glaubst du denn?”, erkundigte er sich trocken.

“Ich will nicht zu dir”, protestierte sie, als sie merkte, dass er zu sich nach Hause fuhr.

“Warum nicht? Wo könnten wir sonst in Ruhe miteinander reden, ohne dass jemand zuhört?”

“Dann kannst du genauso gut anhalten und mir sagen …”

“Oh ja. Irgendjemand wird uns bestimmt beobachten und das Gerücht verbreiten, wir wären so scharf aufeinander, dass ich dich gleich im Wagen genommen habe.”

“Hör auf!”, rief sie mit brennenden Wangen. “Rede nicht so über mich. Ich würde niemals …” Sie verstummte unvermittelt. Wie sollte sie James klarmachen, dass sie sich billig vorkam, wenn er solche Dinge über sie sagte? Allerdings war es ohnehin zu spät, sich mit ihm zu streiten, denn er bog bereits in die Straße ein, in der er wohnte. Da sein Haus sich am Ende der Reihe befand, war der Garten auch größer als bei den anderen.

Alle Häuser hatten drei Stockwerke sowie einen Dachboden und waren unterkellert. Fast alle Keller waren irgendwann einmal zu Garagen ausgebaut worden. Als James den Wagen in die Garage fuhr, erschauerte Poppy ein wenig, weil sie Angst vor dem Gespräch mit ihm hatte.

“Hier entlang”, sagte er, nachdem er ihr die Beifahrertür geöffnet hatte und sie ausgestiegen war.

Als sie ihm die Steintreppe hinauffolgte, von der eine Tür zur Diele führte, versuchte Poppy, kein Interesse an dem Haus zu zeigen, das sie nun zum ersten Mal betrat. Allerdings konnte sie nicht umhin, die schöne Stuckdecke und die großzügigen Proportionen der Diele und des Treppenhauses zu bewundern.

Die Mahagonitüren schimmerten sanft im Licht der untergehenden Sonne, und Poppy musste dem Drang widerstehen, die Hand auszustrecken und das Holz zu berühren. Unbehaglich dachte sie an das letzte Mal, als sie das Bedürfnis gehabt hatte, etwas zu berühren … jemand. Es war James gewesen. Sie erschauerte so heftig, dass James sie stirnrunzelnd betrachtete.

Während sie die kostbaren Teppiche und den runden Tisch in der Diele betrachtete, kam sie zu dem Ergebnis, dass er einen guten Geschmack hatte. Wenn es ihr Haus gewesen wäre, hätte sie allerdings noch eine weibliche Note in den Raum gebracht und zum Beispiel eine große Vase mit Blumen auf den Tisch gestellt.

“Hier hinein”, erklärte James und öffnete eine Tür.

Als sie das Zimmer betrat, musste sie blinzeln, weil das einfallende Sonnenlicht sie blendete. Es handelte sich um einen sehr großen Raum, der das halbe Erdgeschoss einnahm und Fenster nach vorn und nach hinten hatte. James hatte ihn mit antiken und modernen Stücken möbliert, die hervorragend zusammenpassten und trotz ihrer Eleganz eine behagliche Atmosphäre schufen.

“Also”, begann er, nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte. “Würde es dir etwas ausmachen, mir zu sagen, was das alles soll?”

“Ich … ich weiß nicht, was du meinst”, erwiderte Poppy.

“Ach komm schon, Poppy, das kannst du mir nicht weismachen. Warum zum Teufel bist du vorhin so auf mich zugestürzt und hast so getan, als ob …?”

“Als ob was?”, verteidigte sie sich mit Tränen in den Augen. “Als hätten wir miteinander geschlafen? Das wissen doch schon alle – oder zumindest hätten sie es bald erfahren”, verbesserte sie sich.

Er runzelte die Stirn. “Was soll das heißen? Chris hat doch nicht …?”

“Nein, nicht Chris”, fiel sie ihm ins Wort. “Niemand hat etwas gesagt, aber Mum hatte Stewart und Diana Thomas eingeladen, und die Blicke, die die beiden mir zugeworfen haben, waren sehr aufschlussreich.” Sie biss sich auf die Lippe, weil sie nicht zugeben wollte, wie verletzlich und einsam sie sich in dem Moment gefühlt und was für eine Angst sie gehabt hatte.

“Dich betrifft es natürlich nicht”, warf sie ihm wütend vor. “Niemand würde nach dem, was vorgefallen ist, auf dich herabsehen, aber für mich ist es anders. Warum musste es so kommen?”, fügte sie mit tränenerstickter Stimme hinzu.

“Musst du das wirklich fragen?”, entgegnete er rau. “Das ist der Grund, Poppy.” Dann zog er sie an sich, um sie zu küssen. Fast brutal presste er die Lippen auf ihre. Noch mehr als seine unverhohlene Begierde schockierte sie allerdings, wie sie darauf reagierte, nämlich genauso verlangend, schamlos und frivol.

Poppy stöhnte auf, als James sie streichelte und sie spürte, wie seine Hand sich ihren Brüsten näherte. Wenn er sie dort berührte, war sie verloren. Als sie in Panik versuchte, sich von ihm zu lösen, wurde ihr wieder schwindelig wie bereits in seinem Büro – und nicht nur das. Diesmal wurde ihr auch noch übel, und sie fühlte sich ganz schwach.

Hilflos schloss sie die Augen und stöhnte wieder auf.

“Poppy, was ist los?”, rief James und hielt sie fest, als sie gegen ihn fiel. Sobald er sie stützte, verschwand das Schwindelgefühl wieder und damit auch die Übelkeit.

“Seit wann geht das schon so?”, fragte er. Er hielt sie immer noch fest, und seltsamerweise ging es ihr dabei besser, denn sie hatte nach wie vor ganz weiche Knie. Außerdem musste sie ständig daran denken, wie schrecklich ihr zumute gewesen war, bevor er das Wohnzimmer ihrer Eltern betreten hatte, und wie viel wohler sie sich dann in seiner Gegenwart gefühlt hatte.

“Wie lange geht was schon so?”, erwiderte sie matt.

“Du weißt genau, was ich meine”, entgegnete er schroff. “Bist du schwanger? Erwartest du ein Kind von mir?”

Ein Kind von ihm … Poppy errötete und wurde gleich darauf wieder blass, als ihr die Bedeutung seiner Worte richtig bewusst wurde.

“Nein, natürlich nicht”, widersprach sie. “Ich kann unmöglich schwanger sein, James. Es kann nicht sein.”

“Du meinst, du willst es nicht”, korrigierte er sie scharf.

Schwanger von ihm … Poppy schwankte ein wenig. Es war unmöglich, oder? Nachdem sie im Geiste die Wochen seit ihrer Rückkehr aus Italien gezählt hatte, und zwar sicherheitshalber zweimal, wurde ihr klar, was sie in letzter Zeit geflissentlich ignoriert hatte – nämlich dass sie längst überfällig war. Es war ein entsetzlicher Schock für sie. “Und?”, hakte James nach.

“Ich … ich weiß es nicht”, brachte sie hervor und fuhr schließlich verzweifelt fort: “James, ich kann nicht schwanger sein. Es ist völlig unmöglich.”

“Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, dass alle glauben, wir würden bald heiraten”, erklärte er kurz angebunden, ohne auf ihre letzten Worte einzugehen.

“Wir können nicht heiraten”, protestierte sie, die Augen angstvoll aufgerissen.

“Wir müssen sogar”, verbesserte er sie.

“Aber vielleicht bin ich gar nicht schwanger. Und selbst wenn …”

“Was dann? Würdest du lieber mein Kind töten, als …”

“Nein!”, entgegnete sie heftig. “Das würde ich niemals fertigbringen. Niemals!”

“In dem Fall haben wir wohl keine Wahl, oder? Wenn du ein Kind von mir erwartest, müssen wir heiraten.”

“Ja”, flüsterte sie, da ihr klar war, dass er recht hatte. Wenn sie nicht mit James verwandt gewesen wäre, hätte sie die Möglichkeit gehabt, ihr Kind allein großzuziehen. Unter den gegebenen Umständen allerdings …

“Vielleicht bin ich nicht schwanger”, wiederholte sie, doch vermutlich klang es in seinen Ohren genauso wenig überzeugend wie in ihren.

Als sie die Augen schloss, erinnerte sie sich daran, wie es gewesen war, James in sich zu spüren. In dem Moment hatte sie so etwas wie Genugtuung empfunden, ohne sich klarzumachen, was dieses Gefühl bedeutete. Nun aber glaubte sie es zu wissen. Ich muss mir einen Schwangerschaftstest in der Apotheke kaufen, entschied sie. Entweder das, oder ich muss zu meinem Hausarzt.

“Ich wollte nicht, dass es passiert”, sagte sie niedergeschlagen. “Ich wollte nicht …”

“Wolltest du mich nicht, oder wolltest du kein Kind von mir?”, fragte James. “Nein, ich weiß, dass … Sicher würdest du dir gern einreden, dass du ein Kind von Chris erwartest – genauso wie du dir eingeredet hast, er würde mit dir schlafen. Aber bedauerlicherweise – für uns beide – war er es nicht, sondern ich!”