2. KAPITEL

Poppy wachte auf und schaute auf ihren Wecker. Ihr Herz klopfte, weil sie befürchtete, sie hätte verschlafen.

Es war erst fünf Uhr. Sie seufzte erleichtert auf und schaltete den Wecker aus, den sie auf halb sechs gestellt hatte. Dann schwang sie die Beine aus dem Bett. Sie hatte schlecht geschlafen, und das nicht nur in dieser Nacht, sondern jede Nacht seit der Hochzeit.

Als sie am Vortag nach Hause gekommen war, hatten ihre Mutter und ihre Tante gerade zusammengesessen und die Probeabzüge von den Hochzeitsfotos betrachtet.

Dass beiden in ihrer Gegenwart offenbar etwas unbehaglich zumute gewesen war, hatte Poppy verletzt. Auf der Hochzeit war es genau dasselbe, dachte sie. Die Leute waren aus Mitleid besonders nett und vorsichtig gewesen, hatten damit aber genau das Gegenteil bewirkt. Sie hatte sich wie eine Außenseiterin gefühlt.

Die einzige Person, die sie halbwegs normal behandelt hatte, war Star, ihre älteste und beste Freundin, die ebenfalls Brautjungfer gewesen war. Sie hatte eine ziemlich seltsame, zynische Einstellung, was Beziehungen betraf.

“Liebe dauert vielleicht nicht ewig, aber Feindschaft schon, das kannst du mir glauben”, hatte sie vorher während einer Anprobe zu ihr gesagt, “und meine Eltern sind das beste Beispiel dafür. Ich schwöre dir, dass die beiden mehr Energie darauf verwenden, einander zu hassen und sich zu bekämpfen, als sie je auf ihre Ehe verwandt haben. Und dabei haben sie sich angeblich einmal geliebt.”

Am Vortag hatte Poppy beobachtet, wie ihre Tante die Hochzeitsfotos verstohlen beiseiteschob. Als sie aus der Küche ging, hörte sie, wie ihre Tante zu ihrer Mutter sagte, dass sie Sally sehr möge und diese bis über beide Ohren in Chris verliebt sei.

“Ich hätte nie gedacht, dass er sich einmal so verlieben würde”, hörte Poppy sie weitersprechen. Sie blieb auf der Treppe stehen, obwohl sie eigentlich nicht lauschen wollte. Trotzdem konnte sie nicht anders. Ich bin masochistisch, sagte sie sich bitter, während ihre Tante weitersprach: “Eigentlich war James immer der Leidenschaftlichere und Ernstere von beiden. Chris hat ein viel sonnigeres Gemüt. Ich wünschte nur … Wie geht es eigentlich Poppy? Sie …”

Schnell ging Poppy nach oben, da sie vor Wut und Schmerz ganz außer sich war.

Ihre Tante hatte gut reden, wenn sie James als den Ernsthafteren von beiden beschrieb. Aber vielleicht ist er das auch, hatte Poppy insgeheim eingeräumt, obwohl es eher so war, dass er immer seinen Willen durchsetzen musste und dies auch ohne Rücksicht auf Verluste tat. Aber war er auch leidenschaftlicher? Ihre Tante hatte angedeutet, dass er deswegen auch empfindsamer war als sein eher unkomplizierter jüngerer Bruder. Nein, das war er auf keinen Fall.

Die einzige leidenschaftliche Reaktion, die Poppy je bei ihm beobachtet hatte, war Wut. Diese Wut hatte sie zum Beispiel zu spüren bekommen, als er sie so überraschend geküsst und damit seine ganze Verachtung ihr gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte.

Poppy erschauerte jetzt, als sie ins Bad eilte. Es war ein verräterisches Gefühl, und es hatte nichts mit der kühlen Morgenluft zu tun. Als sie nämlich aus dem Fenster schaute, stellte sie fest, dass es ein schöner, warmer Tag zu werden versprach.

Dass sie eine Gänsehaut bekommen hatte, hatte einen ganz anderen Grund. Entsetzt wurde sie sich der Tatsache bewusst, dass es etwas mit dem Gedanken an James’ routinierten Kuss zu tun hatte, der ihr eben durch den Kopf gegangen war.

Da sie jedoch nicht weiter darüber nachdenken wollte, lenkte sie sich bewusst ab, indem sie unter der Dusche im Geiste noch einmal die japanischen Fachausdrücke wiederholte, die sie sich am Vorabend eingeprägt hatte.

Die Konferenz, an der sie teilnehmen würden, fand zum ersten Mal statt und hatte ein enorm hohes Prestige. Poppy hatte sich sehr darauf gefreut, bis sie von James erfahren hatte, dass er mitfliegen und nicht nur Chris, sondern auch das gesamte Verkaufsteam vertreten würde.

Die Konferenz fand nicht in Mailand statt, wo Poppy bereits einige Male gewesen war, sondern in einem neu eröffneten Kurhotel in den Bergen. Dem Prospekt nach zu urteilen, den Chris ihr gezeigt hatte, würde die Veranstaltung eher einem Luxusurlaub gleichen als einer Dienstreise.

Allerdings werde ich keine Zeit haben, um die Angebote des Hotels zu nutzen, überlegte Poppy, als sie aus der Dusche kam und nach einem Handtuch griff. Dafür wird James schon sorgen.

Während sie sich die Unterwäsche anzog, betrachtete sie sich im Badezimmerspiegel. Sie war schon immer schlank gewesen, aber in den Wochen vor der Hochzeit hatte sie abgenommen, und nun war sie fast zu dünn. Als sie sich im Geiste mit Sally verglich, die über beinahe üppige weibliche Rundungen verfügte, konnte sie verstehen, dass Chris Sally ihr vorgezogen hatte.

Erst vor wenigen Monaten hatte James eine spöttische Bemerkung über ihre knabenhafte Figur gemacht, und zwar während ihres gemeinsamen obligatorischen Tanzes auf der Weihnachtsfeier in der Firma. Er umfasste ihre Taille nahezu mit beiden Händen und neckte sie damit, dass ihre Figur vielmehr mädchenhaft als weiblich war.

“Es ist nur ein weiterer Beweis dafür, dass du dich weigerst, erwachsen zu werden und das Leben so zu sehen, wie es wirklich ist”, bemerkte er.

“Ich bin erwachsen. Ich bin zweiundzwanzig”, entgegnete Poppy wütend.

“Nach außen hin schon”, räumte er ein, “aber innerlich bist du immer noch ein pubertierender Teenager, der in seiner Fantasiewelt lebt. Du hast überhaupt keine Ahnung vom wirklichen Leben, Poppy … von echten Gefühlen … richtigen Männern.”

Natürlich hatte sie das bestritten, doch es hatte keine Rolle gespielt.

Allerdings hatte diese Feindseligkeit, die im Laufe der Jahre immer stärker geworden war, nicht immer zwischen ihnen bestanden.

Als Kind hatte Poppy James bewundert. Damals war er derjenige gewesen, der sie verteidigt hatte, wenn Chris sie ärgerte. Er hatte ihr das Radfahren beigebracht, ihr gezeigt, wie man Drachen steigen ließ, und sie getröstet, wenn es dabei nicht auf Anhieb klappte.

Alles war jedoch anders geworden, als sie sich mit zwölf in Chris verliebt hatte. Von dem Moment an, als James erkannte, was sie für seinen Bruder empfand, hatte er sie feindselig und herablassend behandelt, und sie hatte darauf mit Wut und Verachtung reagiert.

Poppy ging ins Schlafzimmer, wo sie den blauen Rock ihres Kostüms und dazu eine cremefarbene Seidenbluse anzog. Dabei dachte sie daran, dass sie nicht die geringste Lust hatte, sich in den nächsten vier Tagen so von James schikanieren zu lassen. Andererseits war es nicht ihre Art, einen Rückzieher zu machen, indem sie sich weigerte, ihn zu begleiten. Dafür nahm sie ihren Job viel zu ernst.

Die Übersetzertätigkeit lastete sie zwar nicht aus, doch in Anbetracht der Tatsache, welche Jobs ihre ehemaligen Kommilitonen und Kommilitoninnen hatten annehmen müssen, hatte sie beschlossen, sich in der Firma zu bewähren. Daher hatte sie einen Computerkurs belegt und außerdem administrative Aufgaben übernommen.

Manchen Leuten wäre diese Arbeit womöglich banal vorgekommen, aber Poppy sah es so, dass sie wertvolle praktische Erfahrungen sammelte, die sich später in ihrem Lebenslauf genauso gut machen würden wie ihr Hochschulabschluss und ihre Sprachkenntnisse.

Die kleine Reisetasche, die sie am Vorabend gepackt hatte, stand bereits unten im Flur. Poppy nahm ihre Kostümjacke und betrachtete sich abschließend noch einmal kritisch im Schlafzimmerspiegel.

Obwohl ihre Frisur sie jünger aussehen ließ, wollte Poppy sich das lange Haar nicht abschneiden lassen. Chris hatte ihr einmal gestanden, dass er langes Haar sehr weiblich fand. Seltsamerweise hatte Sally jedoch kurze blonde Locken.

Poppy fand, dass ein auffälliges Make-up ihr nicht stand, zumal sie ziemlich blass war. Ihre Augen, ihrer Meinung nach das Schönste an ihr, waren groß und mandelförmig, die Wimpern so lang und dicht, dass sie auf Mascara bewusst verzichtete. Ihre Nase war klein und gerade, ihr Mund ihrer Ansicht nach zu sinnlich, sodass sie immer dezente Lippenstifte benutzte, um die vollen Lippen nicht noch zu betonen.

Schließlich ging sie nach unten, wo sie sich Kaffee und eine Scheibe Toast machte, die sie dann doch nicht aß. Ihr war ziemlich flau im Magen, denn sie war noch nie gern geflogen.

James und Chris’ Vater, ihr Onkel, der ein begeisterter Amateurpilot gewesen war, war zusammen mit einem Freund bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Poppy erinnerte sich noch gut daran, wie erschüttert Chris über den Tod seines Vaters gewesen war.

Sie hatten zusammen geweint und ihren Kummer geteilt. James dagegen hatte sich in sich selbst zurückgezogen und auf sie wie ein Fremder gewirkt. Für Poppy hatte es so ausgesehen, als hätte er Chris und ihr nur Verachtung entgegengebracht.

Gerade als sie den letzten Schluck Kaffee getrunken hatte, hörte sie draußen einen Wagen vorfahren. Sie stellte die Tasse in die Spüle und eilte in den Flur, wo sie in die Kostümjacke schlüpfte und ihre Aktentasche und die Reisetasche nahm. Dann ging sie zur Haustür, um James zu öffnen. Er trug einen leichten blassgrauen Anzug, in dem er noch größer und breitschultriger als sonst wirkte.

Als er ihr die Reisetasche abnahm, musterte er sie abschätzig. Daraufhin hob Poppy herausfordernd das Kinn, denn sie rechnete damit, dass er gleich eine kritische oder abfällige Bemerkung machte. Dann stellte sie allerdings unbehaglich fest, dass er den Blick auf ihren Brüsten ruhen ließ.

Derartige Blicke war sie sonst nur von anderen Männern gewohnt. Von James dagegen … Als sie mit elf Jahren zum ersten Mal einen BH getragen und Chris sie deswegen geneckt hatte, hatte James seinen jüngeren Bruder energisch ermahnt.

Nun beunruhigte es sie zutiefst, dass er sie so sinnlich betrachtete. Schließlich hatte sie jahrelang geglaubt, er hätte gar nicht gemerkt, dass aus ihr eine Frau geworden war.

Trotzdem widerstand sie der Versuchung, ihre Kostümjacke zuzuknöpfen, und funkelte ihn stattdessen wütend an. Was hätte er wohl gesagt, wenn sie ihn derart anzüglich gemustert hätte?

“Hast du alles?”, hörte sie ihn fragen. “Das Flugticket, deinen Pass, Geld …”

“Natürlich”, erwiderte sie und verkniff sich eine scharfe Bemerkung. Das hier war eine Geschäftsreise, und sie wollte Distanz zu James wahren – und sei es nur, um ihm zu beweisen, dass sie kein pubertierender Teenager war, wie er es ihr ständig vorhielt.

Zusammen gingen sie zu seinem Jaguar. Als James ihr die Beifahrertür aufhielt, nahm Poppy den Geruch der Ledersitze wahr. Chris und ihre Mutter, die die Firma zusammen mit James leiteten und wie er Aktienanteile besaßen, fuhren nicht so teure Wagen. Poppy hätte es ihm am liebsten unter die Nase gerieben, als er hinter dem Steuer Platz nahm und den Motor anließ.

“Wirklich nett”, meinte sie, während sie mit den Fingerspitzen über das helle Leder strich. “Ein Dienstwagen, schätze ich …”

“Nein, das ist kein Dienstwagen”, stellte er richtig, während er sich in den Verkehr einfädelte. “Du solltest dich mal über die Steuergesetze informieren, Poppy”, fuhr er scharf fort. “Selbst wenn ich mir aufgrund der Tatsache, dass die Firma sich in Familienbesitz befindet, finanzielle Vorteile verschaffen würde, würde mir das Steuergesetz verbieten, einen teuren Firmenwagen zu fahren.”

Sie errötete beschämt, als ihr klar wurde, was er damit andeuten wollte. Im Gegensatz zu ihr profitierte er nicht davon, dass die Firma sich in Familienbesitz befand.

Poppy wurde wütend. Würde er sie denn nie aufgrund ihrer Verdienste um die Firma beurteilen? Was würde er denn dazu sagen, wenn sie ihn daran erinnerte, dass er seine Position seinem Vater zu verdanken hatte?

Allerdings war ihr klar, dass er diesen Vorwurf leicht zurückweisen konnte. Obwohl er als sehr anspruchsvoller Chef galt, ließ sich nicht bestreiten, dass der Erfolg der Firma ihm zu verdanken war. Und er verlangte seinen Mitarbeitern nicht mehr ab als sich selbst.

Je weiter sie sich dem Flughafen näherten, desto dichter wurde der Verkehr. Poppy war so nervös, dass ihr Magen sich zusammenkrampfte. Am meisten fürchtete sie sich immer vor dem Start. Sobald der hinter ihr lag, konnte sie sich einigermaßen entspannen.

Da der Ort in Italien, in dem die Konferenz stattfinden sollte, etwa drei Fahrstunden vom Flughafen entfernt war, würden sie vermutlich den ganzen Tag unterwegs sein. Poppy hatte sich etwas Arbeit mitgenommen – einerseits, um sich die Zeit während des Flugs zu vertreiben, andererseits, um nicht mit James reden zu müssen. Trotzdem dachte sie wehmütig darüber nach, was gewesen wäre, wenn Chris sie begleitet hätte … wenn er nicht verheiratet gewesen wäre …

Hör auf damit, sagte sie sich dann. Er ist verheiratet, und du darfst nicht mehr an ihn denken. Du darfst ihn nicht mehr lieben …

Sie schluckte, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. In diesem Moment hörte sie James spöttisch sagen: “Arme Poppy, immer noch unglücklich in einen Mann verliebt, der sie nicht will. Warum habe ich bloß den Eindruck, dass du deine Rolle gern spielst?”, fügte er so schroff hinzu, dass sie über seinen Tonfall nicht minder schockiert war als über seine grausamen Worte.

“Das stimmt nicht”, brachte sie hervor.

“Den Eindruck habe ich aber nicht”, widersprach er. “Im Gegenteil, mir kommt es so vor, als ginge es dir mehr darum, diese Rolle auszukosten, als um deine Gefühle.”

Inzwischen hatte er den Wagen geparkt, und als er ihr kurz darauf die Tür öffnete, brannten ihre Wangen. Auf keinen Fall wollte sie ihn in seiner Annahme bestätigen, indem sie ihm widersprach oder sich rechtfertigte. Genauso wenig wollte sie ihm zeigen, wie tief er sie verletzt hatte.

“Kein Wunder, dass Chris es vorzieht, mit einer richtigen Frau zu schlafen”, fuhr James unbarmherzig fort, während er darauf wartete, dass sie ausstieg.

Ich bin eine richtige Frau, hätte sie ihm am liebsten entgegengeschleudert. Genau wie Sally bin ich fähig, einen Mann zu lieben und sein Verlangen zu wecken. Aber war sie das wirklich? Fehlte ihr womöglich etwas, das Sally besaß? Das gewisse Etwas, das eine Frau liebenswert und begehrenswert machte?

Mehr denn je wurde Poppy in diesem Moment von starken Selbstzweifeln geplagt, die sie befallen hatten, als sie von Chris’ Verlobung erfuhr, und die sie bisher verdrängt hatte.

Während sie darauf wartete, dass James das Gepäck aus dem Kofferraum nahm, fragte sie sich, ob er wusste, welche Ängste sie in Bezug auf ihre Sexualität hatte.

Doch wie hätte er das wissen sollen? Nein, er wollte sie nur verletzen und sie zu einer Reaktion provozieren, damit er sie wieder als unreif und albern hinstellen konnte.

Warum er das tat, wusste sie nicht, und sie hatte sich auch nie Gedanken darüber gemacht. Mit ihrer Liebe zu Chris war die Feindschaft zwischen ihnen immer tiefer und damit für sie auch genauso selbstverständlich geworden. Da Chris geheiratet hatte, musste Poppy nun zwangsläufig einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen und sich damit abfinden, dass Chris nicht Teil ihres Lebens sein würde. Trotzdem schien James ihr seit der Hochzeit noch feindseliger gesonnen zu sein.

Aber warum? Versuchte er etwa, sie aus der Firma zu drängen? War das der Grund für sein offensichtliches Bestreben, sie zu demütigen? Oder hatte er persönliche Gründe dafür?

James hatte inzwischen den Wagen abgeschlossen und drängte zum Gehen.

Die nächsten vier Tage werden die längsten meines Lebens sein, dachte sie.

“Du kannst dich jetzt entspannen. Wir sind in der Luft.”

Als sie James’ Stimme hörte und die Bedeutung seiner Worte erfasste, öffnete Poppy die Augen und atmete erleichtert aus.

James hatte ihr den Fensterplatz überlassen wollen, doch sie hatte abgelehnt und versucht, den Start zu überstehen, ohne seine Hand zu halten.

Das war ihr zumindest gelungen, aber … Verstohlen zog sie die Hand zurück. Unwillkürlich hatte sie sie in seinen Ärmel gekrallt, und nicht nur das. Sie hatte seinen Arm umklammert.

Als er ironisch “Danke, Poppy”, sagte, errötete sie verlegen und mied seinen Blick.

Hat er denn nie Angst?, fragte sie sich bitter. Gab es nichts, das seine eiserne Selbstbeherrschung ins Wanken bringen konnte? War er noch nie verletzt worden? Hatte er sich noch nie so nach einer Frau gesehnt, dass ihm nichts anderes wichtig war?

Wenn das der Fall war, dann habe ich davon nichts mitbekommen, dachte Poppy. Andererseits war sie zu sehr mit ihren eigenen Gefühlen beschäftigt gewesen, um sich um andere zu kümmern.

Allmählich beruhigte sie sich wieder und entspannte sich ein wenig.

Den Drink, den die Stewardess ihr anbot, lehnte sie ab und nahm die Unterlagen aus ihrer Aktentasche, um etwas zu arbeiten. James war bereits in einige Papiere vertieft. Solange er damit beschäftigt ist, wird er mich wenigstens in Ruhe lassen, dachte Poppy erleichtert.

“Sieh nur, James, was für eine fantastische Aussicht!”, sagte Poppy entzückt angesichts des beeindruckenden Panoramas, das sich ihnen bot.

Obwohl ein Zubringerservice vom Flughafen zum Hotel eingerichtet worden war, hatte James sich dafür entschieden, einen Leihwagen zu nehmen. Über die Aussicht, drei Stunden allein mit ihm in einem Wagen zu verbringen, war Poppy nicht besonders begeistert gewesen. Bis sie die Berge erreicht hatten, hatte sie daher ihren Gedanken nachgehangen, um nicht mit James Konversation machen zu müssen. Wenn sie sich mit ihm unterhielt, endete es doch immer nur im Streit.

Aus Stolz und in Anbetracht der Tatsache, wie taktlos und feindselig er ihr gegenüber gewesen war, hatte sie ihm nicht erzählt, dass ihre Gefühle für Chris sie mittlerweile nur noch belasteten und sie sich davon befreien wollte.

Wenn James und sie sich nähergestanden hätten, hätte sie ihm vielleicht gesagt, dass sie sich danach sehnte, sich jemandem anzuvertrauen. Wenn er noch derselbe gewesen wäre wie damals … Aber er war nicht mehr der nette Cousin von damals, mit dem sie eine tiefe Freundschaft verband.

Als sie die Berge erreicht hatten, war Poppy jedoch von ihrem Vorsatz abgewichen, Distanz zu James zu halten und ihm so keine Gelegenheit zu geben, sie zu kritisieren. Die serpentinenreiche Gebirgsstraße führte durch kleine Dörfer und staubige Orte mit Marktplätzen aus der Renaissance. Poppy konnte sich lebhaft vorstellen, wie dort in vergangenen Zeiten bewaffnete Soldaten zusammen mit den Fürsten, unter deren Befehl sie standen, um das fruchtbare Land gekämpft hatten.

Heute wirkten die Orte verschlafen, und nur die Architektur erinnerte noch an diese bewegte Epoche. Die Landschaft war so atemberaubend schön, dass Poppy ihre Eindrücke einfach nicht für sich behalten konnte.

James war natürlich weniger beeindruckt. Da seine Verwandten in der Toskana und in Rom lebten, war er sowohl mit der herrlichen Landschaft als auch mit der imposanten Architektur Italiens vertraut. Auf ihre impulsive Bemerkung hin drehte er sich zu ihr um und meinte: “Aber zweifellos würdest du die Aussicht noch mehr genießen, wenn mein Bruder jetzt bei dir wäre. Wirklich zu schade, dass Chris deine Begeisterung nicht teilt. Er ist ein Stadtmensch, und das ist eine weitere Eigenschaft, die Sally und er gemeinsam haben und ihr nicht.”

Poppy fühlte sich wie ein Kind, das man ungerecht behandelt hatte. Schweigend wandte sie sich ab, damit er nicht sah, dass ihr die Tränen in die Augen gestiegen waren.

Selbstverständlich wusste sie, dass Chris ihr Interesse für Geschichte und ihre Begeisterung für die Natur nicht teilte. Das hatte er selbst oft genug eingeräumt.

Allerdings hatte sie nicht vor, sich zu verteidigen oder James zu sagen, dass sie sich gar nicht gewünscht hatte, Chris wäre bei ihr – was ihr seltsam genug vorkam.

Zum Glück kann es nicht mehr weit sein, dachte sie. Sie schloss die Augen und lehnte sich zurück, wobei sie das Gesicht weiterhin abwandte.

Vier Tage, viermal vierundzwanzig Stunden … Unwillkürlich erschauerte sie bei der Vorstellung. Hoffentlich vergeht die Zeit schnell, betete sie insgeheim.

“Poppy.”

Schläfrig öffnete Poppy die Augen und richtete sich auf, als sie merkte, dass sie ihr Ziel erreicht hatten. James hatte den Wagen im Innenhof des Hotels geparkt.

Wie Poppy aus der Lektüre des Prospekts wusste, handelte es sich um eine ehemalige Festung, die ein italienischer Fürst im Mittelalter zum Schutz seines Landes hatte erbauen lassen. Trotzdem war sie zutiefst beeindruckt, als sie das imposante Gebäude vor sich erblickte. Es sah aus, als hätte man es aus den Felsen gehauen, und die hohen, efeubewachsenen Mauern wirkten ein wenig Furcht einflößend.

Einige Jahrhunderte lang war der Palazzo in Privatbesitz gewesen, und zwar bis zum Zweiten Weltkrieg, als die deutschen Truppen ihn beschlagnahmt hatten. Der jetzige Besitzer hatte ihn modernisiert, und die ehemaligen Säle bildeten nun den Empfangsbereich. Auch der alte Garten mit den Brunnen war wiederhergestellt und nach altem Vorbild mit verschiedenen Rosensorten und anderen Blumen bepflanzt worden.

Als Poppy aus dem Wagen stieg und in die Sonne trat, erschauerte sie unwillkürlich beim Anblick des Felsmassivs, aus dem man die Außenmauern der Festung gehauen hatte.

“Nicht gerade der Ort, wo man im Kerker sitzen möchte”, hörte sie James hinter sich sagen. Da er damit ausgesprochen hatte, was sie dachte, drehte sie sich überrascht zu ihm um. “Hier hätte wohl niemand eine Chance, zu entkommen”, fügte er trocken hinzu.

“Nein”, bestätigte sie düster. Die Chancen wären vermutlich genauso schlecht gewesen wie ihre, in den nächsten Tagen vor ihm zu fliehen.

Mittlerweile trafen auch andere Konferenzteilnehmer auf dem Parkplatz ein. James hob ihr Gepäck hoch und berührte Poppy an der Schulter.

“Der Empfang scheint dort zu sein. Komm, lass uns gehen, bevor der Andrang zu groß wird.”

Der Kontrast zwischen dem fast bedrohlich wirkenden Äußeren des Palazzos und der luxuriösen Ausstattung hätte nicht größer sein können. Der Anblick war atemberaubend: Der große Raum mit der hohen, gewölbten Decke wurde von Kristalllüstern erhellt, deren Licht die Farben der Fresken an den Wänden besonders intensiv erscheinen ließ. Nur ein Raum von dieser Größe kann die Kombination von Gold, Purpurrot und Blau vertragen, dachte Poppy, während sie James zum Empfangstresen folgte.

Die Empfangsdamen, die dezente Kostüme trugen und perfekt frisiert waren, hatten alle Hände voll zu tun, die Anmeldungen der eintreffenden Gäste entgegenzunehmen. Poppy lächelte ironisch, als sie beobachtete, wie eine von ihnen James anstrahlte, obwohl noch drei Männer vor ihm standen.

Sie hatte schon immer gewusst, dass viele Frauen ihren Cousin attraktiv fanden. Sogar jetzt noch erinnerte sie sich daran, dass sie früher, bevor sie sich in Chris verliebt hatte, immer wütend und eifersüchtig gewesen war, wenn James ihren Schulfreundinnen mehr Aufmerksamkeit gewidmet hatte als ihr. Doch die Zeiten waren vorbei, und deshalb ließ es sie kalt, als er sich nun über den Tresen beugte, um der Empfangsdame ihre Pässe zu reichen, und diese sie abschätzig musterte. Von ihr aus konnte die Frau ihn haben. Poppy erschauerte leicht. Sie konnte sich nichts Abscheulicheres vorstellen, als …

Unwillkürlich verspannte sie sich, als ihr klar wurde, was die Empfangsdame zu James sagte. Sofort eilte Poppy zu ihm. “Was meint sie damit, unser Zimmer?”, erkundigte sie sich wütend.

Die Frau griff bereits nach hinten, um ihm einen Hauptschlüssel zu reichen. Es war nur ein Schlüssel, wie Poppy ungläubig bemerkte.

“James …”, drängte sie, doch er hatte sich bereits an die Empfangsdame gewandt, um ihr auf Italienisch mitzuteilen, dass ein Irrtum vorliegen musste und sie zwei Einzelzimmer brauchten.

“Nein.” Die Frau schüttelte den Kopf und nahm ihre Pässe sowie eine Liste, die vor ihr lag. “‘Mr. und Mrs. Carlton’”, las sie langsam. “Sie sind Mrs. Carlton”, erklärte sie an Poppy gewandt, “und Sie sind Mr. Carlton”, fügte sie an James gewandt hinzu.

“Ja, ich bin Poppy Carlton”, bestätigte Poppy, “aber ich bin nicht seine Frau. Wir sind nicht verheiratet. Ich bin nicht … seine Frau”, bekräftigte sie betont langsam.

Da die Empfangsdame sie weiterhin verständnislos ansah, meinte Poppy ärgerlich zu James: “Sag du es ihr, James. Erklär es ihr.”

Wie hatte nur ein solcher Irrtum passieren können? Kochend vor Wut trat sie einen Schritt zurück, während er der Empfangsdame auseinandersetzte, dass ein Missverständnis vorliegen müsse, und sie bat, ihnen statt des Doppelzimmers zwei Einzelzimmer zu geben.

Chris’ Sekretärin hatte die Zimmer gebucht. Sie war eine sehr tüchtige Frau mittleren Alters, und Poppy konnte sich nicht vorstellen, dass ihr ein solcher Fehler unterlaufen war. Die Empfangsdame hatte mittlerweile den Geschäftsführer holen lassen, und James erklärte ihm die Situation und bat erneut darum, zwei Einzelzimmer zu bekommen.

Der Geschäftsführer zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf. “Das ist leider nicht möglich”, erwiderte er. “Wir sind wegen der Konferenz ausgebucht.”

“Aber es muss doch irgendwo noch ein freies Zimmer geben”, beharrte Poppy.

“Nein, alle Zimmer sind belegt”, sagte der Geschäftsführer bestimmt.

“Dann müssen wir in ein anderes Hotel gehen”, platzte sie heraus.

Gleich darauf errötete sie, denn James warf ihr einen vernichtenden Blick zu und erkundigte sich spöttisch: “Und was genau schwebt dir da vor? Die nächste Stadt ist vierzig Meilen entfernt.”

“Dann … dann muss ich eben … im Wagen schlafen”, verkündete sie wild entschlossen. “Ich …”

“Vier Tage?” Er musterte sie verächtlich. “Mach dich doch nicht lächerlich.”

“James, du kannst das nicht zulassen”, protestierte sie, als der Geschäftsführer sich abwandte, um mit einem Reiseleiter zu sprechen, der ziemlich mitgenommen wirkte. Er war für eine Gruppe japanischer Geschäftsleute verantwortlich, und Poppy konnte dem Gespräch entnehmen, dass diese unterwegs nicht nur einen Teil ihres Gepäcks, sondern auch einen Mitreisenden verloren hatten. “Tu doch etwas.”

“Und was?” James deutete auf die Schlangen, die sich unterdessen vor dem Empfangstresen gebildet hatten. “Du hast schon an vielen Konferenzen teilgenommen und weißt, wie es zugeht”, erinnerte er sie. “Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es auch schief.”

“Aber bis jetzt ist noch nie etwas schiefgegangen”, entgegnete sie aufgebracht. “Wie konnte so etwas bloß passieren? Sicher lässt sich etwas machen. Du kannst ihnen anbieten, mehr zu zahlen, oder …”

“Poppy.” Er sprach so langsam und geduldig, als wäre sie ein kleines Kind. “Es gibt keine freien Zimmer mehr, glaub mir. Ich habe gerade gehört, wie eine Empfangsdame zu einer anderen gesagt hat, dass sie ihr Zimmer räumen musste, weil zu viele Buchungen vorgenommen wurden. Entweder nehmen wir dieses Zimmer oder keins.”

Am liebsten hätte sie ihm erklärt, dass sie in dem Fall unter keinen Umständen bleiben würde. Dann rief sie sich jedoch ins Gedächtnis, dass James diese Gelegenheit nutzen würde, um ihr zu zeigen, wie unprofessionell sie war. Also schwieg sie.

Offenbar war er davon ausgegangen, sie würde sich damit einverstanden erklären, denn er trug sich bereits ins Gästebuch ein und nahm die Codekarten entgegen.

“Am besten gehen wir allein”, meinte er anschließend an Poppy gewandt. “Wer weiß, wie lange wir sonst auf einen Pagen warten müssen.”

Wie sie hatte James nur eine Reisetasche und eine Aktentasche dabei. Ich hoffe nur, dass der Reinigungsservice hier besser ist als das Buchungssystem, dachte sie ärgerlich, als sie ihm zu den Aufzügen folgte.

Da der modernere Teil des Gebäudes um ein Atrium herum erbaut worden war, hatte man vom Lift einen herrlichen Ausblick auf den Garten mit den Springbrunnen.

Ihr Zimmer befand sich in einem der oberen Stockwerke. Als sie den Lift verließen und den Korridor mit dem eleganten Marmorboden betraten, war nur das leise Summen der Klimaanlage zu hören.

“Hier entlang”, sagte James und blieb auf halber Höhe des Korridors stehen. Poppy wartete darauf, dass er die Tür öffnete, und folgte ihm dann hinein. Als sie sah, dass nur ein Doppelbett im Zimmer stand, erstarrte sie vor Schreck.

Sie schaute James an und anschließend wieder das Bett. “Das glaube ich einfach nicht”, meinte sie ausdruckslos.

“Korrigiere mich bitte, wenn ich mich irre”, erklärte er, “aber fällt es normalerweise nicht in dein Aufgabengebiet, fehlerfreie Übersetzungen für die entsprechenden Abteilungen anzufertigen?”

“Ja, das weißt du doch”, erwiderte sie gereizt. “Aber …”

“In dem Fall wäre es deine Aufgabe gewesen, diese Reservierung zu übersetzen.”

“Wenn man mich darum gebeten hätte, ja”, bestätigte sie. “Aber …”

“Und ich gehe wohl auch richtig in der Annahme”, fuhr James finster fort, “dass du zum Zeitpunkt der Reservierung geglaubt hast, du würdest zusammen mit Chris an der Konferenz teilnehmen.”

Poppy sah ihn entsetzt an, als ihr klar wurde, was James damit andeuten wollte.

“Ja, ich dachte, ich würde mit Chris nach Italien reisen”, erklärte sie wütend, “aber das heißt nicht, dass ich die Reservierung manipuliert habe, um ein Zimmer mit Chris teilen zu können. Ich hatte damit überhaupt nichts zu tun. Seine Sekretärin hat das Zimmer per Fax gebucht, während ich Urlaub hatte. Und wenn du auch nur einen Moment lang glaubst, ich würde mich zu so etwas herablassen … und versuchen, einen Mann zu zwingen … und ganz besonders einen Mann, den ich …”

Sie verstummte, weil ihre Gefühle sie wieder zu überwältigen drohten.

“Ich kann nicht mit dir dieses Zimmer teilen”, fuhr sie fort, sobald sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle hatte. “Ich kann es nicht … und ich …”

“Sei nicht so hysterisch”, unterbrach James sie kalt. “Du hast keine Wahl und ich auch nicht. Diese Konferenz ist sehr wichtig. Ich habe Monate darauf verwandt, Kontakte zu den internationalen Firmen herzustellen, deren Vertreter daran teilnehmen und die ich eventuell als Kunden gewinnen kann. Deshalb habe ich wirklich andere Dinge im Kopf, als meine Zeit mit einer hysterischen Frau zu vergeuden, die andere manipuliert.”

“Ich habe damit nichts zu tun”, wiederholte sie außer sich vor Zorn. “Ein Bett … ein Zimmer mit dir zu teilen ist wirklich das Letzte, was ich will.”

“Das glaube ich dir.” Scharf fügte er hinzu: “Aber schließlich wusstest du ja nicht, dass du mit mir hierherkommen würdest, stimmt’s? Und auf eins kannst du dich verlassen, Poppy: Ich möchte mein Bett auch nicht mit dir teilen. Was zum Teufel hattest du eigentlich vor? Wolltest du Chris erpressen und ihm damit drohen, du würdest Sally erzählen, dass du mit ihm geschlafen hast, wenn er nicht mitmacht und …”

“Nein!”

Während sie James ungläubig ansah, wurde ihr klar, dass sie geschrien hatte. Dachte er wirklich, sie würde sich zu so etwas herablassen?

Poppy zwang sich, seinem Blick standzuhalten, und verzog bitter den Mund. “Ich liebe Chris, und deshalb ist er mir so wichtig, dass ich ihn nie verletzen würde. Außerdem brauchst du mir nicht ständig zu sagen, dass er meine Gefühle nicht erwidert. Denkst du, ich will ihn zu solchen Bedingungen für mich gewinnen? Glaubst du wirklich, ich will einen Mann, der …” Sie schluckte krampfhaft, weil sie nicht weitersprechen konnte.

“Was ich glaube, ist, dass du gar nicht mehr klar denken kannst, weil du so besessen bist von deiner sogenannten Liebe zu Chris.”

“Du irrst dich”, widersprach sie, doch an seinem Gesichtsausdruck merkte sie, dass er es ihr nicht abnahm.