36

 

Als sie am nächsten Morgen aufbrachen, war der Nebel so dicht, dass man in keine Richtung weiter als drei Meter sehen konnte. Sie stiegen den Berg hinauf und folgten dem schwach erkennbaren Wildwechsel. Bald erreichten sie einen zweiten Kamm, dann ging es abwärts. Tom konnte am Fuß des Berges das Tosen eines Gewässers hören. Kurz darauf kamen sie am Steilufer eines Flusses heraus, der an der Bergseite in die Tiefe stürzte und dabei über die Findlinge schoss.

»Wir fällen einen Baum«, sagte Don Alfonso. Er pirschte herum und fand schließlich einen schlanken Stamm, der so günstig stand, dass er in die richtige Richtung fallen musste. »Schlagt ihn an dieser Stelle«, ordnete er an. Alle gaben sich größte Mühe. Nach einer Viertelstunde war der Baum gefällt und bildete dort, wo der von einem anderen Stamm versperrte Fluss sich zu einer strudelnden Rinne verengte, die dann in einem wirbelnden Tümpel endete, eine Art Brücke über die brüllende Stromschnelle.

Don Alfonso hackte auf einen in der Nähe stehenden jungen Baum ein. Kurz darauf hatte er ihn zu einem etwa zehn Meter langen Stab verarbeitet. Er reichte ihn Vernon. »Sie gehen als Erster, Vernito.«

»Warum ich?«

»Weil ich sehen will, ob die Brücke Sie trägt.«

Vernon schaute ihn kurz an. Don Alfonso klopfte ihm lachend auf die Schulter. »Sie müssen die Schuhe ausziehen,

Vernito. Gott hat uns nicht ohne Grund nackte Füße gegeben.«

Vernon streifte seine Schuhe ab, knotete die Schnürsenkel aneinander und hängte sie sich um den Hals. Don Alfonso reichte ihm den Stecken.

»Machen Sie langsam, und halten Sie an, sobald der Baum anfängt zu schaukeln.«

Vernon begab sich auf die Behelfsbrücke und balancierte den Stab wie ein Seiltänzer. Seine Füße wirkten auf dem dunklen Grün ziemlich weiß. »Es ist aalglatt hier.«

»Langsam, langsam«, sagte Don Alfonso.

Als Vernon weiterging, bog sich der Stamm und federte. Nach einigen Minuten war Vernon auf der anderen Seite. Er warf den Stab hinüber.

»Sie sind dran.« Don Alfonso reichte Tom den Stecken.

Tom zog seine Schuhe aus und hob den Stab hoch. Er kam sich albern vor, wie jemand vom Zirkus. Er wagte sich vorsichtig auf den Baumstamm und glitschte, einen Fuß vor den anderen setzend, vorsichtig dem anderen Ufer entgegen. Jede seiner Bewegungen schien zu bewirken, dass der Baum schaukelte und bebte. Er ging, hielt an, ging weiter. Als die Hälfte der Strecke hinter ihm lag, nutzte Kniich, der in seiner Hemdtasche geschlafen hatte, die Gelegenheit, um den Kopf ins Freie zu schieben und sich umzuschauen. Als er das tosende Gewässer unter sich sah, stieß er ein Gebrüll aus, sprang aus der Tasche und krallte sich in Toms Haar. Tom war so überrascht, dass ein Ende des Stabes nach unten sackte. In seiner Panik riss er es wieder hoch, doch die Schwungkraft der Bewegung hebelte das Holz fast senkrecht in die Höhe. Tom machte zwei rasche Schritte, um sein Gleichgewicht zu bewahren, doch dies führte nur dazu, dass die Behelfsbrücke umso heftiger federte.

Tom stürzte ab.

Den Bruchteil einer Sekunde hing er in der Luft, dann war ihm, als würde er von etwas Schwarzem und Eiskaltem verschluckt. Als die Strömung ihn packte, empfand er ein heftiges Zerren, einen Furcht erregenden Ansturm von Gewichtslosigkeit und dann plötzlich ein gewaltiges Brüllen. Er schlug mit den Armen um sich, versuchte nach oben zu kommen, doch er hatte keine Ahnung, wo oben überhaupt war. Dann spürte er, wie die Strömung ihn gegen ein Unterwasserdickicht aus Baumstämmen presste. Seine Arme fuchtelten herum. Ein schrecklicher Druck lastete auf seinem Brustkorb. Die Luft wurde ihm aus der Lunge gedrückt. Tom versuchte, sich mit Tritten abzustoßen, doch die ihn umgebenden Stämme waren glatt und der Druck stark. Ihm war, als würde er lebendig begraben. Vor seinen Augen zuckten Lichtblitze. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, doch spürte er nur, wie der Druck seinen Mund füllte. Er drehte sich, rang verzweifelt nach Luft, versuchte, sich vom Gewirr der Äste zu befreien, und drehte sich erneut. Doch er hatte jegliche Orientierung verloren. Neue Lichtblitze erfüllten nun sein Blickfeld. Er drehte sich und trat um sich, aber er spürte schon, wie ihm die Kräfte schwanden. Er wurde leichter. Er wurde gewichtslos und ging weit, weit fort.

Da spürte er plötzlich einen Arm, der sich ihm um den Hals schlang, und wurde brutal in die Wirklichkeit zurückgerissen. Jemand zerrte ihn durchs Wasser, zog ihn übers Gestein und legte ihn hin. Er ruhte auf festem Boden und schaute in ein Gesicht, das er nur zu gut kannte. Dennoch brauchte er eine Weile, um Vernon zu erkennen.

»Tom!«, schrie Vernon. »Schaut, seine Augen sind offen! Tom, sag was! Herrgott, er atmet nicht!«

Plötzlich war Sally da. Tom spürte einen plötzlichen Druck auf seinem Brustkorb. Alles sah eigenartig aus und vollzog sich sehr langsam. Vernon beugte sich über ihn. Tom spürte, wie er seinem Brustkorb einen heftigen Schlag versetzte. Dann wurden ihm die Arme in die Luft gerissen. Urplötzlich schien der Druck nachzulassen. Tom hustete heftig. Vernon legte ihn auf die Seite. Tom hustete sich die Seele aus dem Leib und spürte, wie irrsinnige Kopfschmerzen ihn packten. Die Wirklichkeit kehrte rasend schnell zurück.

Tom strengte sich an, um sich hinzusetzen. Vernon schob ihm die Arme unter die Achseln und stützte ihn.

»Was ist passiert?«

»Du bist vom Stamm gefallen«, erklärte Vernon.

»Ihr dämlicher Bruder Vernito ist in den Fluss gesprungen und hat Sie unter den Baumstämmen herausgezogen. Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen solchen Wahnwitz gesehen.«

»Wirklich?«

Tom drehte sich um und schaute Vernon an. Er war klitsch-nass und hatte eine Schnittwunde an der Stirn. Blut und Wasser vermischten sich in seinem Bart.

Vernon hielt ihn fest, und er stand auf. In Toms Kopf wurde es nun etwas klarer. Der stechende Kopfschmerz ließ nach. Tom schaute in die brodelnde Stromschnelle hinab, die in den wirbelnden Tümpel hineinraste. Er war voll von ausgerissenen Baumstämmen und Ästen. Dann schenkte er Vernon einen erneuten Blick.

Jetzt endlich dämmerte es ihm. »Du«, sagte er ungläubig.

Vernon zuckte die Achseln.

»Du hast mir das Leben gerettet.«

»Na und?«, erwiderte Vernon fast abwehrend. »Du hast meines ja auch gerettet. Du hast eine Schlange für mich geköpft. Ich bin nur ins Wasser gesprungen.«

»Bei der heiligen Jungfrau«, sagte Don Alfonso. »Ich kann es noch immer nicht fassen.«

Tom hustete noch einmal. »Ja, also, Vernon, danke.«

»Der Tod muss heute ganz schön enttäuscht sein«, rief Don Alfonso und deutete auf das klitschnasse und ängstliche Äffchen, das auf einem Felsen am Wasser hockte. »Ja, sogar der Mono chucuto hat dem Tod ein Schnippchen geschlagen.«

Der elend aussehende Kniich kletterte wieder in Toms Tasche, nahm seinen üblichen Platz ein und gab ein paar mürrische Laute von sich.

»Keine Beschwerden bitte«, sagte Tom. »Du bist schließlich schuld an all dem.«

Das Äffchen antwortete mit einem frechen Zungenschnalzen.

Auf der anderen Seite des Flusses ging es wieder bergauf, und sie stiegen stetig höher ins Gebirge. Dunkelheit und Kälte schlichen sich in die Luft. Tom, noch immer nass, fing an zu zittern.

»Erinnern Sie sich noch an das Tier, über das ich gestern mit Ihnen gesprochen habe?«, fragte Don Alfonso beiläufig.

Tom brauchte einen Moment, um sich klar zu machen, was er meinte.

»Es ist eine Dame - und sie ist noch immer bei uns.«

»Woher wissen Sie das?«

Don Alfonso wurde leiser. »Sie hat üblen Mundgeruch.«

»Sie haben sie gerochen?«, fragte Sally.

Don Alfonso nickte.

»Wie weit wird sie uns folgen?«

»Bis sie etwas zu fressen kriegt. Sie ist schwanger und hungrig.«

»Großartig. Dann sind wir wohl die Essiggürkchen und Silberzwiebeln.«

»Wir wollen zur Mutter Gottes beten, dass sie einen langsamen Ameisenbär ihren Weg kreuzen lässt.« Don Alfonso nickte Sally zu. »Und stets wachsam bleiben.«

Der Pfad führte durch einen Wald aus knorrigen Bäumen, der, je höher sie kamen, immer dichter wurde. An einer bestimmten Stelle bemerkte Tom, dass die Umgebung heller wurde. Irgendwie roch es auch anders hier, als wehte ein schwacher Duft in ihre Richtung. Dann traten sie ziemlich plötzlich aus dem Dunst heraus und fanden sich im Sonnenschein wieder. Tom blieb verdutzt stehen. Sie schauten nun über ein Meer aus Weiß hinweg. Am bauschigen Horizont ging die Sonne gerade in orangefarbenem Feuer unter. Der Wald wimmelte von leuchtenden Blüten.

»Wir sind über den Wolken«, rief Sally.

»Wir lagern auf dem Gipfel.« Don Alfonso schritt mit neuer Kraft aus.

Der Pfad verlief über den Bergrücken mit einer weitläufigen Wiese voller Wildblumen, die sich in der leichten Brise wiegten. Dann waren sie urplötzlich auf dem Gipfel und schauten über ein im Nordwesten wogendes Wolkenmeer hinweg. In einer Entfernung von ungefähr achtzig Kilometern erspähte Tom eine Reihe spitzer blauer Berggipfel. Sie brachen wie eine am Himmel schwebende Inselkette durch die Wolken.

»Die Sierra Azul«, sagte Don Alfonso mit seltsam leiser Stimme.

 


Der Codex
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