Kapitel 4

»Entschuldige, dass ich dich habe warten lassen.«

Von Griffs tiefer Stimme aufgeschreckt wandte Chelsie sich um. Nach ihrem Rückzug ins Wohnzimmer hatte sie sich in eine Akte vertieft, die sie aus dem Auto geholt hatte. Es gab keinen Grund, wertvolle freie Zeit zu verschwenden. Und was gab es Besseres, um unerwünschte Gefühle zu verdrängen, als sich in die Arbeit zu stürzen?

Sie klappte die Akte zu und legte sie auf das Polster neben sich. »Kein Problem. Wie könnte ich es einem vollgespuckten Mann verwehren, eine Dusche zu nehmen?«

»Alix zu füttern ist wirklich eine besondere Erfahrung«, erwiderte Griff lachend.

Lachend? Seit der Verhandlung hatte er ihr nicht einmal ein einfaches Lächeln gegönnt.

Beim Näherkommen fuhr Griff sich mit den Fingern durch das immer noch feuchte Haar. Chelsie fand schon immer, dass er ein gut aussehender Mann war, trotz seiner düsteren Strenge. Doch dieser neue, entspannte Gesichtsausdruck machte einen ganz anderen Menschen aus ihm. Eine kleine Narbe an seinem linken Auge legte sich in Falten, wenn er lachte. Außerdem hatte er dann tiefe Grübchen, die ihr vorher nie aufgefallen waren. Sie nahm an, dass die vergangenen Wochen der Trauer und die schlaflosen Nächte Spuren hinterlassen hatten, doch anstatt ihn alt wirken zu lassen, verliehen sie seinem Gesicht Charakter. Die Wirkung war einfach umwerfend.

Chelsie holte tief Luft und betete, dass sie die Kraft haben würde, die kommenden Monate unbeschadet zu überstehen. »Nun ja, das Füttern wäre vielleicht einfacher, wenn du etwas mehr Autorität an den Tag legen würdest, anstatt zuzulassen, dass Alix dich an der Nase herumführt.« Sie versüßte den Ratschlag mit einem Lächeln und fing dann selbst an zu lachen. Schließlich hatte sie sich von der Kleinen auch ganz schön auf der Nase herumtanzen lassen. Wenn sie das schiefe Grinsen und den Wuschelkopf ihrer Nichte sah, glaubte sie beinah, ihre Schwester vor sich zu haben. Dann war sie jedes Mal verloren.

»Wie bitte? Ich lasse mich nicht «, Griff schüttelte den Kopf, » doch, tue ich. Aber ich bezahle dafür, das kannst du mir glauben. Meine Sachen waren voller Brei.«

Chelsie kicherte. »Vielleicht wäre es besser, um nicht zu sagen hygienischer, wenn du bei der Fütterung gar nichts anhättest.« Heiße Röte überzog ihre Wangen, während sie verlegen die Augen verdrehte. »Ich kann nicht glauben, dass ich das gesagt habe.«

»Ich auch nicht, aber ich werde es mir überlegen.«

Da ihre Gedanken schon einmal in diese Richtung gegangen waren, sah Chelsie die Bilder von Griffs nacktem Körper diesmal noch schneller vor sich. Sie war sicher, dass er ohne Kleidung großartig aussah, aber ebenso sicher wusste sie auch, dass sie sich auf keinen Fall selber davon überzeugen wollte.

Ihre immer wieder abschweifenden Gedanken deuteten jedoch darauf hin, dass sie es in seiner Gegenwart schwer haben würde. Sie musste sich zusammenreißen. »Tut mir leid. Ich neige dazu, offen meine Meinung zu sagen.« Entschlossen, trotz ihres losen Mundwerks zu einem Ergebnis zu kommen, zuckte Chelsie die Achseln.

»Das habe ich bereits bemerkt.« Wieder lächelte Griff. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich zu dir setze?« Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das beige Sofa, während er ihre Akte auf den Couchtisch legte.

»Was hat dich bewogen, deine Meinung zu ändern?« Griff musterte sie abschätzend, und Chelsie gab sich große Mühe, unter seinem durchdringenden Blick nicht unruhig zu werden. Schließlich hatte sie sich selbst in diese Lage gebracht, nun musste sie damit fertigwerden.

»Du bist sicher nicht zum Spaß hier vorbeigekommen«, sagte Griff, plötzlich misstrauisch geworden.

»Nein, wir müssen die Einzelheiten besprechen, und die größte Schwierigkeit hat sich gerade eben gezeigt.«

»Und die wäre?«

»Dein großes und unverhohlenes Misstrauen, egal, was ich tue oder sage.« Chelsie seufzte und stützte sich auf eine Armlehne. »Sieh mal, ich bitte dich ja gar nicht darum, mir vollkommen zu vertrauen. Nach diesem Prozess kann ich deinen Standpunkt sogar verstehen. Aber das hier ist deine Idee, also musst du doch glauben, dass ich irgendwelche positiven Eigenschaften habe, sonst würdest du mich nicht in Alix’ Nähe lassen. So weit richtig?«

»Bislang argumentieren Sie verdammt gut, Frau Anwältin. Fahren Sie fort.«

»Ich bitte dich nur, nicht vorschnell zu urteilen. Lass meine Taten für sich sprechen, ohne Rücksicht auf vorgefasste Meinungen, die zutreffen mögen oder auch nicht.« Chelsie grinste. »Und ich gebe zu Protokoll, dass sie wahrscheinlich nicht zutreffen werden.«

»Das werden wir ja sehen«, sagte Griff mit zuckenden Lippen, denn er versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, was Chelsie verriet, dass sie einen Schritt weiter gekommen war.

»Gut. Also halten wir fest, keine negativen Schlussfolgerungen und keine grundlosen Verdächtigungen mehr. Einverstanden?«, fragte sie.

»Einverstanden. Und weiter?«

»Abwarten, Herr Anwalt. Sonst komme ich noch auf die Idee, Sie für einen leichten Gegner zu halten.«

Griffs Blick richtete sich auf Chelsies Mund. »Wie ich schon sagte, wir werden sehen.«

Verwirrt von seinem Unterton und nervös, weil sie sich etwas wünschte, was sie sich nicht erlauben wollte, redete Chelsie hastig weiter. »Ich schenke euch meine gesamte Freizeit.«

Zufrieden, Fortschritte gemacht zu haben, lächelte Griff vor sich hin. »Wir wissen das zu schätzen.«

»Aber leider heißt das nicht viel, wenn man meinen Terminkalender betrachtet. Die meiste Zeit bin ich nämlich unabkömmlich.«

Griff war überrascht, wie sehr ihn diese Mitteilung enttäuschte. »Die Verpflichtungen, die du neulich erwähnt hast?« Chelsie hatte nicht direkt verneint, dass sie gesellschaftlicher Natur waren, und vermutete, dass Griff sich insgeheim fragte, inwieweit sie mit anderen Männern zu tun hatten.

»Ganz genau.«

»Was immer du auch an Zeit erübrigen kannst, ich wir würden uns freuen. Du hast ja gesehen, was du erreicht hast.«

»Am Ende stellt sich noch heraus, dass das nur ein Zufall war.«

Griff musterte sie ernst. »Das glaube ich nicht.«

»Und ich glaube, du überschätzt meine Fähigkeiten, Griff. Alix hat auf eine Tante reagiert, die sie zwar kennt, aber ihr längst nicht so vertraut ist wie du. Ich schenke ihr meine Aufmerksamkeit, und sie findet das toll. Sobald sie die Gelegenheit bekommt, wird sie mich genauso testen wie dich.«

»Du scheinst viel über Kinder zu wissen. Bist du sicher, dass du nicht irgendwo heimlich ein paar versteckt hast?«

Chelsies bedrücktes Schweigen dämpfte Griffins Euphorie. Der schmerzliche Ausdruck, der über ihr Gesicht geglitten war, war eindeutig Trauer gewesen. Er hätte es wissen müssen. In der ersten Woche nach dem Tod seines Bruders hatte er nicht ein einziges Mal in den Badezimmerspiegel geschaut. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich zu rasieren, bis Ryan anfing, dämliche Witze darüber zu reißen, dass er mit seinem Aussehen Alix verschrecke.

Griff sah wieder zu Chelsie hinüber. Sie hatte die Arme um sich geschlungen und erinnerte ihn an ein verlorenes Kind. Erstaunt stellte er fest, dass er den Drang verspürte, sie in die Arme zu nehmen und ihre unbekannten Dämonen zu verjagen. Doch nach den letzten Begegnungen, das jähe Ende ihres Kusses eingeschlossen, bezweifelte er, dass sie ihn an sich heranlassen würde. Und außerdem, ermahnte er sich selbst, sollte er gar nicht an einen Annäherungsversuch denken.

Chelsie atmete langsam und vorsichtig ein und setzte ein Lächeln auf. Ihr tapferer Versuch, sich zu fangen, versetzte ihm einen Stich. Mit seinem gut gemeinten Witz hatte er offensichtlich einen sehr empfindlichen Nerv getroffen.

»Nein, keine heimlichen Kinder«, scherzte sie, »nur ein paar Leichen im Keller.«

»Gut zu wissen. Also, was für eine Art Plan schwebt dir vor?«

Voller Enthusiasmus stürzte Chelsie sich auf das neue Thema, aber Griff bemerkte, dass der schmerzliche Ausdruck noch nicht aus ihren Augen verschwunden war. »Gelegentlich könnte ich zum Abendessen kommen. Das heißt, wenn das Angebot noch gilt.«

»Natürlich. Aber was ist mit deinen vielen Fällen?«

»Ich werde immer schön einen nach dem anderen abarbeiten. Und wenn mir alles über den Kopf wächst «

»… lässt du es mich wissen. Dann denken wir uns etwas aus. Du hast mehr Arbeit, als dir lieb ist, und ich mache gerade eine Kanzlei auf. Ich schätze, da könnten wir uns doch gegenseitig gut helfen.«

Chelsie legte den Kopf schief. »Wirklich? Du weißt doch noch nicht einmal, ob du mich magst.«

Wenn du wüsstest. Griffs Verstand erinnerte ihn daran, wie wenig Zeit diese Frau früher mit Alix verbracht hatte, an ihre Rolle bei der Sorgerechtsverhandlung und an ihre ursprüngliche Weigerung, ihm zu helfen. Doch egal wie groß sein Misstrauen war, er hatte das Gefühl, dass Chelsie Russell wesentlich mehr zu bieten hatte, als ihm bislang aufgefallen war. Sein Körper war definitiv darauf erpicht, sie besser kennenzulernen, und ihre Besuche würden eine Qual werden, im wahrsten Sinne des Wortes.

Chelsie nahe zu sein und nicht zuzulassen, dass zwischen ihnen die Funken sprühten, war sicher nicht leicht. Wenn er klug war, achtete er darauf, dass sie nur so viel Zeit miteinander verbrachten, wie es für Alix’ Wohlergehen nötig war und keine Minute mehr. Also warum drängte er Chelsie, mehr zu tun, als sie wollte? Kein geschickter Schachzug, warf Griff sich vor. Warum hatte er dann diese Arbeitsteilung vorgeschlagen?

»Biete nicht übereilt etwas an, das du später bereust«, warnte Chelsie, als ob sie seinen stummen Einwand gehört hätte. »Mich für ein oder zwei Stunden am Tag hier zu haben ist eine Sache. Doch eine Zusammenarbeit ist etwas völlig anderes. Unser Arrangement ist dazu da, Alix zu helfen. Es ist nur vorübergehend.«

Das wusste Griff. Schließlich hatte er den Plan ausgeheckt. Also warum ärgerte er sich dann über Chelsies pragmatisches Beharren auf einer zeitlich begrenzten Abmachung?

»Was mich zu meinem nächsten Punkt bringt.«

»Hat dir schon einmal jemand gesagt, dass du es zu genau nimmst?«

Chelsie grinste. »Jeder einzelne Richter am Familiengericht.«

»Das habe ich mir gedacht.«

»Meine Verpflichtungen beanspruchen mich an zwei Abenden in der Woche und manchmal auch an den Wochenenden.« Chelsie stockte, offenbar überlegte sie, wie viel sie ihm verraten sollte. »Ich bin ehrenamtlich für ein Frauenhaus in der Innenstadt tätig.«

Griff hatte eine persönlichere Erklärung erwartet als ehrenamtliche Arbeit, eher etwas in Richtung eifersüchtiger Liebhaber. Zunächst war er sehr erleichtert, dann frustriert. Was Chelsie in ihrer Freizeit machte, ging ihn nichts an, also sollte er sich auch davor hüten, darüber nachzugrübeln. Er bewunderte ihr Engagement, fragte sich jedoch, warum sie zunächst gezögert hatte, darauf zu sprechen zu kommen. Schließlich brauchte man sich nicht zu schämen, wenn man anderen half. Außerdem brachte es ihn dazu, seine Ansichten über ihre selbstsüchtige Natur zu revidieren.

Er wollte nicht noch einen Grund finden, Chelsie zu mögen oder um sich haben zu wollen. Griff räusperte sich. »Ich habe nicht vor, mich in dein Leben einzumischen. Ich freue mich über deine Hilfe, egal wie viel oder wenig du einbringen kannst. Ehe du dich versiehst, werden deine Pflichtbesuche vorüber sein«, sagte er mit einem gezwungenen Lachen.

Dass Chelsie nicht mitlachte zeigte, wie schwierig das Ganze für sie beide geworden war.

»Ehe wir uns definitiv einigen, solltest du darüber nachdenken, was du willst«, sagte sie. »Was geschieht, wenn du der Meinung bist, Alix gehe es so gut, dass du mich wieder aus ihrem Leben ausschließen kannst?«, fragte sie.

Die Unverblümtheit, mit der sie ihre Gedanken aussprach, ließ Griff zusammenzucken. War er mit ihr auch so hart umgesprungen? Offensichtlich. »Du bist Alix’ Tante. Warum machen wir nicht einen Schritt nach dem anderen, wie du es vorhin vorgeschlagen hast?«

Chelsie schüttelte den Kopf. »Sie ist noch ein Kind. Eins, das Mutter und Vater verloren hat«, erwiderte sie sanft. »Du kannst nicht nach Belieben Menschen in ihr Leben lassen und daraus entfernen und erwarten, dass sie das einfach so mitmacht.«

Wieder einmal hatte er Chelsie unterschätzt. Wenn sie jemanden ins Herz geschlossen hatte, setzte sie sich für ihn ein. Um ihn hatte sich nie jemand auf diese Weise gekümmert, daher hatte er nur wenig Zeit und Verständnis für tiefergehende zwischenmenschliche Beziehungen. Die langjährige Freundschaft mit Ryan und, bis vor Kurzem, die enge Verbindung zur Familie seines Bruders waren die einzigen Ausnahmen. Dank seiner Vormundschaft für Alix war er nun ins kalte Wasser geworfen worden, allerdings war es schlichtweg unmöglich, ein kleines Mädchen, das ihm all seine Liebe schenkte und noch viel mehr brauchte, nicht zurückzulieben. Aber Kinder waren anders, unverdorben bis sie groß wurden und lernten, andere zu manipulieren.

Doch hier war Chelsie, die für das Kind ihrer Schwester kämpfte und mehr Herz zeigte, als er ihr zugetraut hätte. Griff sah sie an und fragte sich, wie es wohl sein mochte, so bedingungslos geliebt zu werden. Das kannst du dich lange fragen, mein Lieber. Du wirst es nie erfahren. Er war zweimal im Leben verlassen worden. Nur ein Dummkopf ging das Risiko ein, so etwas ein drittes Mal zu erleben.

Trotzdem bewunderte er Chelsies Weitsicht. Er hatte nur daran gedacht, wie er sie in ihr Familienleben einbinden konnte, nicht daran, wie er sie wieder daraus entfernen sollte. Aus irgendeinem Grunde gefiel es ihm nicht, an das Ende ihrer noch nicht einmal begonnenen Beziehung zu denken. »Das kriegen wir schon hin«, hörte er sich sagen. Leider hatte er keine Ahnung, wie.

Chelsie beugte sich vor und fuchtelte beim Reden erregt mit den Händen. »Menschen sind nicht aus Stein, mein lieber Herr Anwalt. Man kann nicht erwarten, dass sie einen Schlag nach dem andern einstecken und keinen Schaden nehmen. Und man kann ihnen nicht vorschreiben, wie sie zu leben haben.« Sie ließ sich gegen die Rückenlehne fallen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Griff kniff die Augen zusammen. Von wem hatte sie da gesprochen? Vordergründig von Alix. Chelsies instinktive Zuneigung zu dem Kind war ihm bereits aufgefallen, und er würde es ihr nicht verbieten, ihre Nichte zu sehen. Das war ihr doch wohl klar.

Blieb also Chelsie selbst. Aber da er sie nicht gut genug kannte, wusste er nicht weiter. »Was soll ich dazu sagen?«, fragte er.

»Wenn ich bei dieser Sache mitmache, muss ich mich darauf verlassen können, dass ich mitbestimmen kann, wie sie zu Ende geht. Dass Alix, wenn ich damit aufhöre, beinahe täglich vorbeizukommen, nicht schon wieder denkt, sie sei verlassen worden.« Von ihren Gefühlen übermannt, versagte Chelsie die Stimme.

Ihre entschlossene Miene verriet Griff, dass sie gehen und einen Weg finden würde, ihre Nichte auch ohne ihn zu sehen, wenn er ihr keine befriedigende Antwort geben konnte. Aber im Moment war er verunsichert …

War er bereit, ihr bei der Entscheidung, was für Alix am besten war, ein Mitspracherecht einzuräumen? Dazu musste er Chelsie einen Vertrauensvorschuss gewähren, und er war sich nicht sicher, ob er das wollte. Gerade erst hatte er einen inneren Kampf verloren und eingesehen, dass er ihre Hilfe brauchte; es akzeptiert, dass sie sein Leben teilte, allerdings ohne sich gleichzeitig auch das starke Bedürfnis, sie näher kennenzulernen, einzugestehen.

Sie verlangte ein Mitspracherecht bei der Entscheidung, wann und wie sie sich trennten. An und für sich eine einfache Bitte. Aber was war, wenn er ihre Zusammenarbeit eher beenden wollte, als sie es für richtig hielt? Und schlimmer noch, was, wenn er und Alix nicht so weit waren, wenn Chelsie beschloss, es genug sein zu lassen? Seine Mutter war einfach gegangen. Deirdre ebenso.

Griff musterte die Frau, die neben ihm saß die fest zusammengebissenen Zähne, die geballten Fäuste und die dunklen gefühlvollen Augen. Ihre Wirkung auf ihn hatte sich schon auf zu vielen Ebenen gezeigt. Sollte er ihr auch noch die Macht geben, ihn zu verletzen?

Alix schrie im Schlaf. Doch kaum war Griff auf die Füße gesprungen, hatte die Kleine sich schon wieder beruhigt. Bald würde er sowieso nach ihr sehen müssen.

»Nun?«, fragte Chelsie.

Halt suchend lehnte Griff sich an den Kaminsims und betrachtete sein Lieblingsfoto von Jared. Sag mir, was ich tun soll, kleiner Bruder. Doch es kam keine Antwort.

Griff dachte an seine Nichte. War die Gefahr, dass Chelsie ihn verletzte, beim Stand der Dinge tatsächlich so wichtig? Ja, zum Teufel. Hatte er eine Wahl? Nein, keine.

Er sah Chelsie an. »Du hast keine Veranlassung, darüber nachzudenken, dass du plötzlich aus Alix’ Leben verschwinden musst. Du wirst immer für sie wichtig sein, denn du bist ihre einzige Verbindung zu ihrer Mutter. Du darfst mitentscheiden, wie es weitergehen soll«, sagte er entschlossen, trotz seiner Unsicherheit.

Er hatte ihr mehr zugestanden, als sie verlangt hatte. Nachdem die Entscheidung gefallen war, gab es offenbar kein Zurück mehr. Chelsies übersprudelnde Gefühle, die sie nur selten verbarg, beeinflussten ihn in vielerlei Hinsicht, ohne dass er es richtig verstand.

»Ich danke dir.« In ihren feuchten Augen schimmerten Tränen.

»Gern geschehen.« Griff spürte, dass sie mehr als nur Dankbarkeit empfand. Offenbar hatte er einen wichtigen Hinweis übersehen, der ihm geholfen hätte, sie besser zu verstehen. Aber er würde sie nicht drängen. Alix brauchte ihn und für diesen Abend war genug besprochen worden. Es würden noch andere kommen.

»Ich wusste, dass du einsiehst, wie wichtig es für Alix ist, dieses familienähnliche Szenario richtig zu beenden, wenn die Zeit dafür gekommen ist. Wir werden uns etwas ausdenken. Schließlich tun wir das alles für die Kleine, nicht wahr?«

Mrs. Baxter beendete ihre Mahlzeit und legte die Serviette auf den Tisch. »Seit ich hier arbeite, ist es das erste Mal, dass Mr. Stuart es nicht geschafft hat, zum Abendessen zu Hause zu sein.«

Chelsie lächelte. »Das liegt sicher daran, dass seine Kanzlei langsam in Schwung kommt. Es gibt keinen Anwalt auf der ganzen Welt, der nicht von langen Arbeitstagen berichten könnte. Spiel nicht mit deinem Essen, Süße.« Chelsie bückte sich, um das Gemüse aufzuheben, das Alix alles andere als heimlich auf den Boden geworfen hatte.

»Aber bestimmt fühlt er sich besser dabei, wenn er weiß, dass Sie in seiner Abwesenheit hier sind.«

»Das glaube ich auch.«

Wahrscheinlich war er froh, von der höflichen Steifheit der letzten Abende verschont zu bleiben. Könntest du mir das Salz reichen? Danke. Schweigen. Gibst du mir bitte die Kartoffeln? Danke. Noch mehr Schweigen. Ein wenig Nachtisch? Danke, nein. Bei der Erinnerung wand Chelsie sich fast vor Verlegenheit. Nur Alix hatte sie davor bewahrt, vollständig zu Salzsäulen zu erstarren.

»Seit Sie sich bereit erklärt haben, regelmäßig vorbeizukommen, ist er viel entspannter. Selbst Alix spürt, dass sich etwas verändert hat.«

Chelsie hob eine Augenbraue. Hatte die Haushälterin an den vergangenen Abenden etwa geschlafen? »Entspannt ist in diesem Zusammenhang vielleicht nicht das richtige Wort.« Sie hinderte Alix daran, sich das Essen in die Haare zu schmieren.

»Ich rede ja nicht von dem kalten Krieg, den Sie beide angefangen haben.« Mrs. Baxter kicherte in sich hinein. »Die Atmosphäre bei Tisch ist tatsächlich so frostig, dass man glattweg erfrieren könnte.« Sie tätschelte Chelsies Hand. »Sie werden sich schon aneinander gewöhnen. Diese Vereinbarung ist auf jeden Fall ein Segen.«

»Wollen Sie damit sagen, dass es Ihnen nichts ausmacht? Ich hatte befürchtet, Sie könnten sich übergangen fühlen.«

»Von Ihnen? Um Himmels willen, Sie sind Alix’ Tante. Außerdem habe ich, ehe ich den Job übernahm, Mr. Stuart selber gefragt, ob er nicht lieber eine jüngere Frau engagieren wolle bei diesen Anforderungen. Kochen, Putzen und auf eine Zweijährige aufpassen. Puh«, sagte Mrs. Baxter und wischte sich die Stirn.

Chelsie lachte, doch sie wusste, dass die grauen Haare der Haushälterin täuschten. Sie hatte sowohl die Kraft als auch den Willen, für das kleine Mädchen zu sorgen. »Und was hat er darauf geantwortet?«

»Ein junges Mädchen, das versuche, Mutter zu spielen, könne er nicht gebrauchen. Dann wollte er von mir wissen, ob ich mir die Aufgabe zutraue, und als ich bejahte, hat er mich eingestellt. Aber ich gebe gern zu, dass die Tage lang sind.«

»Wie waren denn die Nächte in der vergangenen Woche?« Chelsie wusste, dass es von Alix’ Stimmungen und Schlafverhalten abhing, wie viel Zeit sie mit der Kleinen und Griff verbrachte.

»Nach allem, was ich am Tag zu tun habe, schlafe ich meist wie eine Tote. Mr. Stuart behauptet, alles sei wie immer. Aber Alix hat sich verändert. Sie ist zufriedener.«

»Das freut mich sehr, doch die Zeit wirkt manchmal Wunder. Wie ich Griff schon sagte – es könnte sich herausstellen, dass die Besserung ihres Gemütszustandes rein zufällig mit dem Beginn meiner Besuche zusammenfällt.«

Die Haushälterin schüttelte den Kopf. »Unsinn. Aber wie auch immer, Sie erleichtern mir meine Arbeit, und das ist eine große Hilfe.«

»Leider nur vorübergehend.«

»Wir werden sehen.« Die mütterliche Frau unterdrückte ein Schmunzeln.

Chelsie ignorierte den Kommentar. Falls die Haushälterin sich einbildete, dass sich zwischen ihr und Griff eine feste Beziehung anbahnte, würde sie enttäuscht werden. Sie beide schafften es ja kaum, sich so weit zu entspannen, dass sie sich im selben Zimmer aufhalten konnten. Doch auch wenn ihr seine Gegenwart jederzeit bewusst war, war sie nicht so dumm, seiner Anziehungskraft zu erliegen.

Chelsie griff nach den schmutzigen Tellern.

»Damit werde ich schon allein fertig«, sagte Mrs. Baxter und nahm ihr das Geschirr wieder aus der Hand.

»In Ordnung. Dann stecke ich das kleine Fräulein hier mal in die Badewanne.«

Chelsie nahm das Kind auf den Arm und begann mit dem Ritual, das ihr bereits sehr vertraut war. Erstaunlich, wie schnell sie in die Mami-Rolle hineingewachsen war. Der Gedanke ängstigte sie, denn das war genau das, was auf keinen Fall passieren sollte. Das hatte sie sich fest versprochen.

Kreischend schlug Alix mit ihren Patschhändchen aufs Wasser, bis eine kleine Welle überschwappte und die Bluse ihrer Tante durchnässte. Seufzend zog Chelsie den beigefarbenen Seidenstoff glatt. »Immer mit der Ruhe, Schätzchen. Jetzt muss ich nochmal zu Hause vorbei, ehe ich wieder ins Büro gehe.«

Eine in letzter Sekunde anberaumte Besprechung in den Räumen des Richters hatte sie aufgehalten, daher war keine Zeit geblieben, um nach Hause zu fahren und die Kleidung zu wechseln. Chelsie sah an sich hinunter und runzelte die Stirn. Offensichtlich reichte es nicht, nur die Kostümjacke abzulegen, wenn man nicht nass werden wollte. Dass sie es nicht schaffte, einer Zweijährigen einen Schritt voraus zu sein, störte sie mehr, als sie zugeben mochte.

Das kleine Mädchen lachte und ließ noch mehr Wasser aufspritzen. Chelsie kicherte und machte sich resigniert auf eine weitere lange Nacht gefasst. Griff konnte vielleicht darauf hoffen, durch ihr Arrangement etwas mehr Schlaf zu bekommen, sie aber sicher nicht. Die viele Arbeit, das ehrenamtliche Engagement im Frauenhaus und die Stunden bei den Stuarts ließen ihr, wenn überhaupt, nur wenig Zeit zum Schlafen.

Doch trotz des großen Schmerzes, den diese Übereinkunft hervorrufen konnte, hätte sie nicht eine Sekunde von ihrer Zeit mit Alix missen mögen. Chelsie kniete vor der Badewanne und versuchte, dem sich windenden Kind das Shampoo aus dem Haar zu waschen.

Alix spritzte schon wieder. Chelsie lachte und spritzte zurück. Warum nicht? Ihre Bluse war bereits nass, und das kleine Mädchen liebte das Spiel mit dem Wasser. Als sie glaubte, das Kind sei genauso müde wie sie, versuchte sie, Alix aus dem Wasser zu heben, doch die Protestschreie ihrer Nichte zeigten, dass Chelsie die Einzige war, die genug hatte.

»Mrs. Baxter hat es richtig gemacht. Vielleicht hätte ich doch lieber den Abwasch übernehmen sollen«, murmelte sie.

»Und ich dachte, die Badezeit wäre der Höhepunkt deines Abends.«

Überrascht, Griffs Stimme zu hören, fuhr Chelsie herum. Ihr Herz hatte schneller zu pochen begonnen. »Ich dachte, du würdest später nach Hause kommen.«

»Und mich darum bringen, mein Schätzchen zu sehen?« Mit dem Kosewort war eindeutig Alix gemeint, doch Griffs Augen ruhten wesentlich länger als nötig auf ihrer Tante.

Unter seinem durchdringenden Blick wurde ihr siedend heiß. Niemand, nicht einmal ihr Ex-Gatte, hatte sie jemals so angesehen. Sie genoss das Gefühl.

Chelsie hatte geglaubt, sich schon vor langer Zeit von romantischen Träumereien verabschiedet zu haben. Das erste Mal, als ihr Mann sie schlug, hatte er es auf einen anstrengenden Arbeitstag zurückgeführt, und sie hatte seine Entschuldigung angenommen.

Beim zweiten Wutausbruch hatte er einem angebrannten Essen die Schuld gegeben, und obwohl sie ihn nicht verstand, hatte sie ihm geglaubt, als er ihr versprach, dass das nie wieder vorkommen würde. Doch von dem Tag an hatte sie ihn mit anderen Augen betrachtet.

Außerdem hatte er sie niemals so angesehen, als wäre sie das Wichtigste auf der Welt. Am Anfang nicht und erst recht nicht, nachdem Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich selbst, zitternd vor Schreck, und einen großen Schatten, der drohend näher kam.

Ihr schauderte bei den düsteren Erinnerungen, die eigentlich aus ihren wachen Stunden verbannt waren.

»He, bist du in Ordnung? Chelsie!«

Griffs tiefe vertraute Stimme riss sie aus der Vergangenheit. Mit einer Sanftheit, die er sonst nur bei Alix zeigte, strich er ihr den feuchten Pony aus der Stirn.

»Bist du in Ordnung?«, fragte er noch einmal, während seine Finger über ihre Wange strichen und einen Moment dort verharrten, ehe er sie wieder zurückzog.

»Mir geht’s gut«, sagte Chelsie mit bebender Stimme, eine überaus peinliche Reaktion auf seine Zärtlichkeit.

»Entschuldige, dass ich das sage, aber du siehst nicht gut aus.« Die Besorgnis in Griffs haselnussbraunen Augen rührte sie. Wenn er die Stacheln einfuhr, fühlte sie sich zurückversetzt in eine Zeit, in der ihr naiver Glaube an ein Glück bis ans Ende aller Tage noch nicht zerbrochen war.

»Ich bin etwas erschöpft«, sagte sie mit einem gezwungenen Lächeln. »Hin und wieder wächst mir die Arbeit über den Kopf. Ich komme schon zurecht. Du hast genug um die Ohren, da musst du dir meine Sachen nicht auch noch aufhalsen.«

Sie schluckte schwer und beschloss, seine gerunzelten Brauen und den ungläubigen Gesichtsausdruck nicht zu beachten. Doch der maskuline Duft seines Rasierwassers machte es ihr unmöglich, ihn zu ignorieren. Das holzige Aroma ging ihr unter die Haut. Allein durch seine Anwesenheit wurden ihre Erinnerungen so weit verdrängt, dass sie beinahe geglaubt hätte, das Vergangene hätte keine Bedeutung mehr.

Aber das war ein Trugschluss. Es gab da draußen nicht einen einzigen Mann, dem das nicht wichtig wäre, Griffin Stuart eingeschlossen. Alix war seine Nichte, nicht sein Fleisch und Blut. Er würde eigene Kinder haben wollen. Und obwohl Chelsie viel zu bieten hatte, war sie dazu nicht fähig.

Verlegen wandte sie den Blick ab und beschäftigte sich damit, die Flasche mit dem Kindershampoo zu verschließen und Alix’ kleinen Fäusten die Gummiente zu entwinden.

»Bist du sicher, dass du in Ordnung bist?«, fragte Griff.

»Vollkommen sicher.« Sie hatte die letzten fünf Jahre überlebt, indem sie aus allem, was das Leben ihr bescherte, einfach das Beste gemacht hatte. Es war unvernünftig, das jetzt zu ändern. Momente wie dieser waren sehr selten. Besser, sie prägte ihn sich gut ein. Nur der Himmel wusste, wie viele ihr noch vergönnt sein würden.

Ohne Alix’ Gezappel zu beachten, nahm Chelsie sie aus der Wanne und hüllte sie in ein großes Badetuch. »Du bist ein kleiner Wildfang«, sagte sie, während sie ihre Nichte gleichzeitig kitzelte und abtrocknete.

»Soll ich dich ablösen? Bestimmt bist du mittlerweile ziemlich erschöpft.«

»Sie ist wirklich anstrengend, so viel ist sicher.«

Alix quittierte die Bemerkung mit einem Kichern und dem schnell vereitelten Versuch, wieder in die Wanne zu klettern.

»Der Beweis, dass Kinder nicht nur jedes Wort verstehen, sondern auch versuchen, unsere Erwartungen zu erfüllen«, murmelte Chelsie.

»Amen. Diese Tricks muss sie von ihrem Vater gelernt haben. Jared hat auch immer genau gewusst, wie er mich nehmen musste, damit ich ihm beinahe alles erlaubte.«

Dankbar dafür, dass er liebevoll und nicht bekümmert von seinem Bruder gesprochen hatte, lächelte Chelsie. Auch wenn Griff sein Leben Alix verschrieben hatte, wünschte sie ihm, dass er bald über seine Trauer hinwegkam.

»Hört sich so an, als wärst du der typische ältere Bruder gewesen.«

»Eher der typische Vater.«

»Wirklich?«

Griff nickte. »Aber dies ist nicht der richtige Augenblick, um alte Geschichten aufzuwärmen. Ich möchte dich nicht langweilen«, sagte er. »Schlafanzug an und dann ab ins Bett, Schätzchen.«

Alix rannte in ihr Zimmer und verlor mitten auf dem Flur ihr Handtuch. Laut lachend lief Griff hinter ihr her.

Chelsie ließ das Wasser aus der Wanne und trocknete sich die Hände ab. Sie war sicher, dass sie sich nicht langweilen würde. Ohne es zu wollen, war sie neugierig auf Griffs langjährige Beziehungen, auch auf die zu Jared und Ryan. Sie zeigten, ebenso wie seine Fürsorge für Alix, dass er imstande war, gesunde Freundschaften zu pflegen und emotionale Bindungen einzugehen, etwas, das sie bei einem Mann noch nie erlebt hatte.

Aber Chelsie wusste auch, wie wichtig es war, den Menschen ihre Privatsphäre zu lassen. Wenn sie Griffs Recht zu schweigen akzeptierte, behelligte er sie hoffentlich auch nicht mit Fragen. Sie knipste das Licht im Bad aus. Wenn sie schlau war, ging sie jetzt zu Mrs. Baxter in die Küche.

Mit einem ergebenen Seufzer schlug sie die andere Richtung ein, die zu Alix’ Zimmer. Ihre kleinen grauen Zellen schienen heute Abend nicht richtig zu funktionieren. Zuzuschauen, wie ihre Nichte sich an ihren Onkel schmiegte, wenn er sie ins Bett brachte, war eine ausgesprochen dumme Idee, und eigentlich hatte sie sich geschworen, es nicht noch einmal zu tun.