Kapitel 3
Chelsie musterte ihren Überraschungsgast, der offenbar nicht die Absicht hatte, gleich auf den Grund seines Besuchs zu sprechen zu kommen. Resigniert zuckte sie die Achseln und machte sich auf eine schleppende Unterhaltung gefasst.
Bisher hatte Griff nicht viel mehr getan, als sie für ihr unvorsichtiges Benehmen zu tadeln. Doch wenn sie richtig darüber nachdachte, war es wirklich nicht besonders klug, die Tür für die Nachbarin offen zu lassen. Sie hatte hart dafür gearbeitet, sich wieder sicher zu fühlen, und konnte es sich nicht leisten, dieses Gefühl leichtfertig aufs Spiel zu setzen. Ein Wachmann saß am einzigen Eingang zum Haus, und da es pro Etage nur wenige Wohnungen gab, kannten die Wachmänner alle Mieter beim Namen. Chelsie fühlte sich gut beschützt, deshalb hatte sie sich für diese Wohnung entschieden. In Zukunft wollte sie besser aufpassen.
Als sie aufgewacht war und einen Mann über sich gesehen hatte, war sie beinah zu Tode erschrocken. So übertrieben hatte sie schon seit Jahren nicht mehr reagiert. Offenbar besaß Griffin Stuart die seltene Gabe, die schlechtesten Erinnerungen ihres Lebens heraufzubeschwören, doch das konnte sie ihm nicht vorwerfen – nur sein schlechtes Benehmen. Womit sie wieder bei der Frage war, was er von ihr wollte.
»Magst du etwas trinken?«, fragte Chelsie, als ihr klar wurde, dass er sich nicht drängen lassen würde.
Griff schüttelte den Kopf. Chelsie kuschelte sich in einen großen Sessel und deutete auf die Couch.
»Nein danke.« Griff setzte sich ihr gegenüber und stützte sich auf die Ellbogen. »Du bist wesentlich gastfreundlicher, als ich es gewesen bin.«
»Das ist noch untertrieben. Was kann ich für dich tun?«
Müde wischte Griff sich mit der Hand über das Gesicht. Zum ersten Mal betrachtete Chelsie ihn richtig. Er hatte dunkle Ringe um die Augen und Bartstoppeln auf den Wangen. Er wirkte völlig erschöpft und gleichzeitig unglaublich sexy. Überrascht stellte sie fest, dass ihr heiß im Bauch wurde.
Es war Jahre her, dass sie auf einen Mann reagiert hatte. Sie hatte angenommen, ihr sexuelles Verlangen sei zusammen mit ihrer Ehe und ihrem ungeborenen Kind gestorben. Doch offensichtlich hatte Griff mehr als nur Erinnerungen in ihr geweckt. Er rief auch Sehnsüchte und Begierden wieder wach. Lauter Gefühle, die sie vor langer Zeit begraben hatte und nicht wieder zu beleben wagte. Hoffentlich verriet er ihr den Grund seines Besuchs bald.
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten«, sagte er endlich. »Und nach deinem Auftritt im Sorgerechtsprozess schuldest du mir einen.«
Sein hochnäsiger Tonfall ließ Chelsies erwartungsvolle Neugier abrupt in Ärger umschlagen. »Ich schulde dir etwas?« Empört über seine Dreistigkeit schüttelte sie den Kopf. »Versuch es noch einmal ohne Schuldzuweisungen. Ich habe mich bereits entschuldigt, und zwar nicht nur ein-, sondern zweimal. Daraufhin hat man mich angeblafft. Mir wurde deutlich zu verstehen gegeben, dass ich mich von dir und meiner Nichte fernhalten soll. Und danach, falls du dich zu erinnern beliebst, hast du mich praktisch aus dem Haus geworfen. Wenn du also meinst, dass ich noch nicht genug dafür bestraft worden bin, diesen verdammten Fall angenommen zu haben, überleg noch mal.«
Chelsie hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen. Nicht einmal ihre eigenen Eltern hatten nach dem verlorenen Prozess Einsicht gezeigt. Stattdessen waren sie ins sonnige Florida geflogen, um sich zu »erholen«. Chelsie stand weder Vater noch Mutter besonders nahe, deshalb hatte sie sich nach dem Tod ihrer Schwester so sehr bemüht, die Familie zusammenzuhalten. Seither plagten sie jedoch Gewissensbisse wegen dieses törichten Versuchs.
Griffs anhaltende Feindseligkeit störte sie mehr als die ihrer eigenen Blutsverwandten und mehr, als sie zugeben wollte. Sie schaute ihm in die Augen. »Wie es aussieht, habe ich dich sehr viel besser behandelt als du mich. Also frage ich dich noch einmal: Was kann ich für dich tun?«
Griff schluckte so schwer, dass sein Adamsapfel hüpfte. Chelsie fragte sich, ob er wohl gerade seinen Stolz hinuntergeschluckt hatte.
Seine funkelnden Augen spiegelten den Kampf in seinem Innern wider und gefielen ihr besser, als gut für sie war.
»Ich brauche dich«, gestand Griff widerwillig. »Das heißt, ich brauche deine Hilfe bei Alix.« Dann machte er sich auf Chelsies »Habe ich dir doch gesagt« gefasst.
Er war an diesem Abend nicht gerade geschickt vorgegangen, daher rechnete er damit, dass sie es ausnutzte, die Oberhand zu haben. Nach allem, was er ihr an den Kopf geworfen hatte, hätte es ihn nicht gewundert, wenn sie die Gelegenheit ergriff.
»Was ist los? Ist Alix okay?«
Griff kniff die Augen zusammen. »Ist das alles? Kein ›Hab ich dir doch gesagt‹?«
»Wäre dir das lieber? Hier geht es um wichtigere Dinge als darum, wer recht oder unrecht hat. Ist Alix okay?«, fragte sie noch einmal mit anscheinend echter Besorgnis.
»Ja und nein.« Chelsie war es gelungen, ihn zurechtzuweisen und zu beschämen, ohne irgendeine weibliche Taktik anzuwenden. Ohne Tränen, ohne Szenen, einfach durch ihre Ehrlichkeit. Obwohl Griff beeindruckt war, ermahnte er sich, vorsichtig vorzugehen. Er war schon zu oft in die Irre geführt worden.
»Also was jetzt?«, fragte Chelsie.
»Ein bisschen von beidem.« Dann begann Griff mit einer detaillierten Schilderung seiner Nächte seit der Zeit, in der Alix in seiner Obhut war, wobei kurz gefasst von viel Hin- und Hergelaufe und wenig Schlaf die Rede war. »Abgesehen von dem Tag, an dem du vorbeigeschaut hast. An diesem Nachmittag und Abend war sie so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Das Kind, das mein Bruder und deine Schwester großgezogen haben. Ich bin verzweifelt genug, das nicht für einen Zufall halten zu wollen. Deshalb möchte ich gern, dass du mehr Zeit mit Alix verbringst. Sie regelmäßig besuchst.«
Als sie diese Bitte hörte, riss Chelsie erstaunt die dunklen Augen auf. Griff sagte sich, dass er mehr als ein paar Tage Zeit gehabt hatte, sich an diese Vorstellung zu gewöhnen, während ihr nur eine Sekunde blieb. Falls ihr Hilfsangebot ernst gemeint war, würde es keine Probleme geben. Doch wenn es unaufrichtig gewesen war, nur eine vorübergehende Laune, um ihre Schuldgefühle zu beruhigen, fand er es besser heraus, ehe Alix irgendwie zu Schaden kam.
»Besuche am Abend, zum Essen«, erklärte er. »Einfach um dabei zu helfen, ein verlässliches Umfeld zu schaffen. Sobald sie besser schläft, lass ich dich wieder vom Haken.«
Chelsie schüttelte so heftig den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz hin und her flog. »Ich kann nicht.«
»Du meinst, du willst nicht.« Griff weigerte sich zuzugeben, dass sie ihn wieder enttäuscht hatte. Ihm war die ganze Zeit klar gewesen, dass es für Chelsie nichts zu gewinnen gab, wenn sie ihn unterstützte. Obwohl sie stets behauptet hatte, Alix’ Wohl läge ihr am Herzen, war ihr neu erwachtes Interesse an seiner Nichte wohl nur darauf zurückzuführen, dass sie ihren Eltern helfen und die beruflichen Vorteile nutzen wollte, die sich womöglich daraus ergaben. Schließlich hatten die Russells einflussreiche Freunde, die dazu gebracht werden konnten, eine neue Anwältin zu engagieren.
Vielleicht war Chelsie sogar kurz von Gewissensbissen geplagt worden, weil sie ihre Schwester auf Distanz gehalten hatte. Vielleicht auch nicht. Möglicherweise war sie auch auf Bitten ihrer Eltern bei ihm vorbeigekommen.
»Ich meine, ich kann nicht.«
»Ganz egal. Wie man es auch dreht und wendet, es kommt immer das Gleiche dabei heraus. Nein heißt Nein.« Griff umfasste die Armlehne des Ledersofas und stemmte sich hoch. »Danke für deine Zeit.« Ohne ein weiteres Wort ging er zur Tür.
»Warte.« Chelsies Stimme erreichte ihn, ehe er im Hausflur angekommen war.
Als Griff sich umdrehte, war sie direkt hinter ihm, und er musste sie am Oberarm festhalten, damit sie nicht mit ihm zusammenprallte. Ein Flackern in ihren Augen zeigte, dass die unerwartete Berührung sie aus der Fassung brachte. Auch ihr verwirrter Gesichtsausdruck und die geröteten Wangen verrieten den inneren Aufruhr. Griff hatte das Gefühl gehabt, allein in einem Gefühlschaos zu stecken. Dass es Chelsie genauso ging, überraschte ihn.
Trotz mehrerer Schichten Kleidung spürte er an den Fingerspitzen ihr warmes Fleisch. Fest und weich – wieder einer ihrer Widersprüche. Dieser allerdings ließ seinen Körper zum Leben erwachen. Der Drang, den Kopf zu senken und ihren vor Staunen leicht geöffneten Mund zu küssen, war unwiderstehlich.
Ehe Griff sich eines Besseren besinnen konnte, beugte er sich vor, um das, was sie ihm anzubieten schien, zu kosten. Er drückte seinen Mund auf ihren und Chelsies Lippen gaben bereitwillig nach.
Dann streichelte er sie gierig. Selbst durch die hinderliche Kleidung hindurch war jede Kurve zu ertasten. Griff atmete aus, und beim nächsten Atemzug wurde er von einem berauschenden Duft erfüllt, der dafür sorgte, dass seine Hände sich ballten und auch andere Teile seines Körpers sich auf unmissverständliche Weise anspannten.
Er wollte mehr als nur einen einfachen Kuss. Er wollte Chelsie. Bei diesem Gedanken wurden ihm der Grund seines Besuchs und die nüchterne Realität schlagartig wieder bewusst, und seine Finger, die Chelsies Sweatshirt umklammert hielten, erschlafften. Er ließ los und trat zurück.
Chelsie sah ihn einfach nur an. Ihre feuchten Lippen schienen sich über seinen plötzlichen Versuch, sich zusammenzureißen, zu mokieren. Er war ein verdammter Narr gewesen, auf eine Frau hereinzufallen, die ihn maßlos ärgerte und mit dem Leben eines Kindes spielte, indem sie leichtfertige Hilfsangebote machte, die sie wieder zurückzog, wenn man sie beim Wort nehmen wollte. Die Erinnerung daran ließ Griff so weit vor ihr zurückweichen, wie es die schmale Diele erlaubte.
»Also?«, fragte er, ohne das Fünkchen Ungeduld in seiner Stimme zu verbergen. Alles war besser als die Funken, die gerade geflogen waren. Die körperliche Anziehungskraft zwischen ihnen war ein kleines, aber lästiges Übel, das er mit genügend Willenskraft in den Griff bekommen konnte. Und nachdem Chelsie seine Nichte mit ihren Problemen einfach allein lassen wollte, sollte ihm das nicht allzu schwerfallen. Zumindest redete er sich das ein, denn er wusste, dass er lächerlich viel Zeit darauf verwenden würde, sich selbst immer wieder davon zu überzeugen.
»Also was?«, fragte Chelsie mit nicht gerade sicherer Stimme.
»Ich war auf dem Weg hinaus. Du bist mir gefolgt. Ich nehme an, du wolltest etwas von mir.«
Seine Wortwahl ließ sie dunkelrot anlaufen, doch es sprach für sie, dass sie seinen Sarkasmus einfach ignorierte.
»Komm zurück und setz dich«, sagte sie. »Wir sind noch nicht fertig.« Dann kreuzte sie die Arme vor der Brust und erwiderte seinen starren Blick.
»Ich habe meine Antwort bereits.«
»Aber du kennst die Gründe nicht. Ich möchte sie dir erklären, also setz dich und hör mir zu, nur ein einziges Mal.« Kopfschüttelnd rauschte sie an ihm vorbei, und der ausgesprochen weibliche Duft, der hinter ihr herwehte, traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. War das Flieder? Griff unterdrückte ein Stöhnen. Chelsie Russell stellte seine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe.
Als er hörte, dass sie sich räusperte, schaute er zu ihr hinüber. Sie stand mitten im Wohnzimmer und winkte ihn zu sich. »Wie kannst du Rechtsanwalt sein, wenn du nicht gelernt hast zuzuhören?«, fragte sie.
Dabei hörte er jedem zu – außer Chelsie. Bei ihr handelte er, ohne zu überlegen. Das hieß jedoch, dass er ohne Rücksicht auf die Fakten unschöne Schlüsse zog. Selbst wenn er sich anhörte, was sie zu sagen hatte, tat er ihre Worte als unwichtig ab.
Immerhin war er so weit gegangen, sie um ihre Hilfe zu bitten. Er hatte die Phase des Nachdenkens abgeschlossen und tatsächlich gewollt, dass sie seiner Nichte Gesellschaft leistete, also musste er in ihrem Charakter einen gewissen Anstand entdeckt haben. Trotz allem, was gerade zwischen ihnen vorgefallen war, hatte Chelsie recht. Er schuldete ihr die Gelegenheit, sich zu erklären.
Stöhnend folgte Griff ihr zurück ins Zimmer und nahm seinen Platz auf der Couch wieder ein. »Ich höre.«
»Okay.« Chelsie beugte sich in ihrem Sessel vor. »Deine Bitte beinhaltet wesentlich mehr, als du ahnst. Der Vorschlag, dir einen festen Plan an die Hand zu geben, würde für keinen von uns funktionieren.«
Durch und durch professionell. Offenbar hatte die Dame ihren Beinahe-Zusammenstoß locker verdrängt. Genau das hatte er auch vor. Also warum kehrte sein Blick immer wieder zu ihrem nach wie vor erhitzten Gesicht zurück?
»Mein Leben ist … sagen wir einfach, es ist kompliziert«, erklärte Chelsie.
»Inwiefern?«
»Wegen meines Berufs. Ich arbeite zwölf, manchmal fünfzehn Stunden am Tag, auch am Wochenende. Und trotzdem hört die Arbeit nicht auf.«
Dass sie die Karriere ihrer Nichte vorzog, sollte ihn nicht wundern. Bisher hatte Chelsie nur wenig Zeit mit dem kleinen Mädchen verbracht. Doch dieses Hindernis war leicht aus der Welt zu schaffen. »Du könntest doch abends zum Essen kommen. Essen musst du so oder so.«
»Am Schreibtisch oder im Gehen. Im Moment habe ich mehr Mandanten, als mir lieb ist, und lange Abendessen würden mich nur noch weiter zurückwerfen.« Eine schlüssige Argumentation, doch aus irgendeinem Grund konnte sie ihm dabei nicht in die Augen sehen. Vielleicht wies sie ihn doch nicht so endgültig ab, wie sie ihn glauben machen wollte.
So sicher, wie Alix unter einer weiteren unruhigen Nacht leiden würde, wusste Griff, dass er seine nächsten Worte bereuen würde. Aber sie waren ausgesprochen, ehe er darüber nachdenken konnte. »Ich könnte dir doch bei der Arbeit helfen, dir ein paar Fälle abnehmen.«
Chelsie starrte ihn an. »Ich möchte dich nicht darum bitten …«
»Hast du auch nicht. Ich hab’s angeboten.«
»Aber warum?«
Ich habe keinen blassen Schimmer. Seit dem Tag, an dem er Chelsie Russell im Gerichtssaal gegenübergestanden hatte, bis zu dem Augenblick, in dem er sie küsste, war nichts in seinem Leben erklärbar gewesen. Warum sollte es jetzt anders sein?
»Wegen Alix«, erwiderte er. »Deiner Nichte.« Falls Chelsies Probleme echt waren und er jedes einzelne löste, hatte sie keine Veranlassung mehr, ihn abzuweisen. Mit einem Mal war ihm ihre Zustimmung aus ganz anderen Gründen wichtig als nur wegen Alix, auch wenn er diese Gründe nicht in Worte fassen wollte.
»Ich weiß nicht.«
»Denk darüber nach.«
»Abgesehen von meiner Arbeit habe ich noch andere Verpflichtungen zu erfüllen. Nichts Wichtiges, aber dennoch.«
Andere Verpflichtungen, dachte Griff mit einer seltsamen Mischung aus Unbehagen und Enttäuschung. Und einem Hauch Eifersucht? »Könntest du deinem Partner oder Lebensgefährten nicht erklären, dass du nur einem Freund einen Gefallen tust?«
Chelsie grinste und ein amüsiertes Glitzern verscheuchte die dunklen Schatten in ihren Augen. »Nun bin ich also in den Stand einer Freundin erhoben? Ich fühle mich geschmeichelt.«
»Ich meinte, es geht doch um Alix.«
»Die gehört zur Familie.« Chelsies Mundwinkel hoben sich und ein leises Kichern entschlüpfte ihr.
»Also?«, fragte Griff.
»Anders als du haben einige von uns Verpflichtungen, die nicht gesellschaftlicher Natur sind.«
»Was soll das heißen?« Seit sein Bruder verunglückt war, hatte Griffs Leben sich um eine zweijährige Göre und deren Launen und Wutanfälle gedreht. Für gesellschaftliche Verpflichtungen war in dieser Konstellation kein Platz gewesen.
»Dass du einen gewissen Ruf hast.«
»Sag bloß, du glaubst alles, was man dir erzählt?«
»Nein, aber wenn man die Informationen meiner Eltern dazunimmt …«
»Und weil du sie von deinen Eltern hast, stimmen sie natürlich.« Da die Lügen der Russells im Prozess entlarvt worden waren, schnaubte Griff abfällig bei den Worten. »Hast du deine Lektion nicht gelernt?«
»Du hast recht.« Chelsie seufzte.
Etwas an ihrer Stimme verriet ihm, dass sie ihre Eltern besser durchschaute, als er angenommen hatte. Das und die Tatsache, dass sie nicht den abgehobenen, egoistischen Lebensstil der Russells pflegte, sondern ihren eigenen Weg gegangen war, machten sie für ihn glaubwürdig.
Er beugte sich vor.
»Entschuldige, dass ich so neugierig war«, sagte Chelsie, »aber du hast damit angefangen, nach persönlichen Dingen zu fragen. Dann kannst du es mir nicht verübeln, wenn ich das Spiel mitspiele.«
»Das Leben eines kleinen Mädchens ist kein Spiel.«
»Das habe ich nicht gemeint, und das weißt du auch.«
Wenn er ehrlich sein wollte, musste er Chelsie recht geben. »Also, ich war verlobt und es hat nicht funktioniert. Soweit ich weiß, gehört eine feste Beziehung bislang nicht in die Rubrik ›ausschweifendes Gesellschaftsleben‹.« An welcher Stelle war diese Unterhaltung eigentlich zu einem Streifzug durch sein Intimleben geworden? Und warum hatte er sich entschlossen, Chelsie Russell auch nur eine knappe Zusammenfassung zu geben?
Griff schüttelte den Kopf. »Zurück zu dir. Könntest du deine Verpflichtungen, welcher Art sie auch sein mögen, nicht für eine Weile zurückstellen?«
»Auf keinen Fall.« Chelsie seufzte erneut und nahm das Band aus dem Haar. Dann fuhr sie mit den Fingern durch die verhedderten Strähnen. »Ich habe gesagt, dass ich dir gern helfen würde, was Alix betrifft, aber dabei hatte ich nicht an eine feste Vereinbarung gedacht, auf die sie sich dann mit der Zeit verlassen würde.« Chelsies ausdrucksvoller Blick verschleierte sich und richtete sich auf das Bild an der Wand hinter ihm.
Noch eine Frau, die mit den Komplikationen, die er und seine Nichte mit sich brachten, nicht zurechtkam. Er hätte wissen müssen, dass er es nicht schaffen würde, Chelsie umzustimmen. Alle Schmeicheleien der Welt und die gegenseitige Anziehungskraft waren nicht imstande, den Status quo zu ändern.
»Ich muss zu Alix zurück. Ich habe deine Gründe zur Kenntnis genommen, und ich akzeptiere sie. Trotzdem danke.« Griffs Erschöpfung machte sich bemerkbar. Sie überfiel ihn wie ein gut bekannter, aber unwillkommener Besucher. Für einen Abend hatte er genug Süßholz geraspelt, und er hatte noch eine schlaflose Nacht vor sich.
Chelsie folgte ihm durch die schmale Diele und hielt die Tür auf, als er in den Hausflur trat. Hätte er es nicht besser gewusst, hätte er gesagt, dass sie mitgenommen wirkte. Aber er musste sich täuschen. Wenn einer von ihnen beiden an diesem Abend auf eine emotionale Achterbahnfahrt gegangen war, dann er. Sie hatte nur das Vergnügen gehabt, dabei zusehen zu dürfen.
»Gute Nacht, Chelsie.« Er ging auf die Reihe von Aufzügen zu.
»Griff?«
Der sanfte Klang ihrer Stimme veranlasste ihn, sich noch einmal umzudrehen. »Ja?« Ein Fünkchen Hoffnung glomm in ihm auf.
Chelsie machte den Mund auf, als wollte sie etwas sagen, doch dann klappte sie ihn wieder zu und schüttelte nur den Kopf. Allein in dem leeren Flur wirkte sie klein und zart, so als müsse er schützend die Arme um ihre schmale Taille legen. Die Aufzugstür öffnete sich und hielt ihn davon ab, diesem unerwünschten Drang nachzugeben.
Griff wappnete sich gegen den Ansturm seiner widersprüchlichen Gefühle und betrat den Fahrstuhl, ohne sich noch einmal umzusehen. Dann lehnte er sich an die Wand und drückte den Knopf für das Erdgeschoss heftiger, als es nötig war.
Wann würde er es endlich lernen? Obwohl er gedacht hatte, die Fähigkeit, jemandem zu vertrauen, verloren zu haben, musste ein Teil von ihm dummerweise an Chelsie geglaubt haben, sonst wäre er nicht hergekommen. Er hatte sich eingebildet, es gäbe eine emotionale Verbindung zwischen seiner Nichte und dieser Anwältin. Alix’ Tante, korrigierte er sich.
Deswegen hatte er insgeheim gehofft, dass Chelsie am Ende doch anders sein könnte als die anderen Frauen in seinem Leben.
Griff unterdrückte ein bitteres Lachen. Chelsie war kein bisschen anders, nur besser darin, ihn vorzuführen. Ihr Interesse an Alix war nicht größer als das ihrer Eltern.
Mit zitternden Händen goss Chelsie sich eine Tasse Kräutertee ein. Was an Lockerung von ihrer Übung noch übrig gewesen war, hatte sich längst verflüchtigt. Jeder Muskel in ihrem Körper war verhärtet vor lauter Stress und Anspannung. Der enttäuschte Ausdruck in Griffs Augen hatte sie ins Mark getroffen.
Wann war seine Meinung ihr so wichtig geworden? Als er sie geküsst hatte? Als sein Körper sich in seiner ganzen Länge an sie gedrückt hatte? Oder als sie auf eine nie gekannte Weise auf ihn reagiert hatte?
Bei dem Versuch, die Tasse an die Lippen zu führen, schwappte der Tee über den Rand. Verdammt, Männer sollten ihr doch egal sein. Dieser aber war es nicht und ihre Nichte auch nicht. Doch wie konnte sie ihm die Wahrheit sagen? Dass sie sich fürchtete, ein emotionales Band zu Alix – und ihm – zu knüpfen, nur damit er es wieder durchschneiden konnte, wenn ihm danach war? Trotz der Tatsache, dass er sie momentan brauchte, würden sie sich am Ende trennen. Das war ihr klar geworden, als Griff ihren Kuss so abrupt beendet hatte – was sie schon viel früher hätte tun sollen.
Sie würde immer eine Randfigur in Alix’ Leben sein, obwohl sie gern eine Beziehung zu ihrer kleinen Nichte aufgebaut hätte. Aber wenn sie es sich erlaubte, Alix jeden Tag zu sehen, es sich gestattete, sich ernsthaft an sie zu binden, würde die daraus entstehende Leere sie zwingen, ihren schlimmsten Albtraum noch einmal zu durchleben. Die Fehlgeburt und die Misshandlung, die dazu geführt hatte, waren schon traumatisch genug gewesen, doch als der Arzt ihr mitteilte, dass sie kein Baby mehr bekommen könne, waren ihre Träume zerbrochen und ihr Leben hatte sich von Grund auf geändert. Sie hatte gelernt, sich nichts zu wünschen, was sie nicht bekommen konnte.
Griff und Alix waren eine kleine Familie, die Art von Familie, die sie nie haben würde. Sich bewusst in eine Situation zu bringen, die Seelenqualen garantierte, war schlichtweg dumm. Sie hatte das Richtige getan. Sie konnte ihre Nichte nach wie vor sehen, aber zu ihren Bedingungen. Sicheren Bedingungen.
Aber der Ausdruck in Griffs Augen … ihm und Alix ging es nicht gut. Auch wenn Chelsie bezweifelte, dass sie die Lösung war, die Griff so dringend brauchte, er glaubte daran, und zwar so sehr, dass er seine anhaltenden Zweifel hintanstellen und Alix in ihre Obhut geben wollte. So viel Vertrauen sollte eigentlich belohnt werden, dachte Chelsie, ohne einer Entscheidung näher zu kommen.
Wie konnte sie ihre Seelenruhe so in Gefahr bringen? Wie konnte sie sich weigern?
Es wurde schon dunkel, als Chelsie vor dem großen Haus mit dem frisch gestrichenen weißen Lattenzaun um den Vorgarten parkte. Rote Topfgeranien, die gerade zu blühen begannen, säumten die drei Eingangsstufen, die zum Haustürvorbau führten. Einen hübscheren Platz zum Aufwachsen konnte ein Kind nicht finden, was, so vermutete Chelsie, für Griff den Ausschlag gegeben hatte. Es war kitschig und dennoch perfekt.
Mit schnellen Schritten ging sie über den gepflasterten Weg, voller Angst, dass sie sonst vielleicht kehrtmachte und weglief. Dieses Haus war nicht nur der Traum eines jeden Kindes, auch eine Familie konnte keinen schöneren Platz finden, um ihn mit Erinnerungen zu füllen.
Mrs. Baxter öffnete, strahlte sie an und bat sie mit freundlichen Worten, ihr ins Haus zu folgen.
»Gib’s zu, du Feigling. Du hast keine Angst davor, wie er darauf reagiert, dass du schon wieder unangekündigt auftauchst, du hast Angst davor, dass sein Angebot nach wie vor steht«, murmelte Chelsie vor sich hin.
»Haben Sie etwas gesagt?« Die ältere Haushälterin blieb auf halbem Wege stehen und drehte sich zu Chelsie um.
»Ich sagte, es tut mir leid, dass ich immer wieder hier hereinplatze, ohne vorher anzurufen.« Chelsie zwang sich zu lächeln.
»Unsinn. Kommen Sie einfach mit. Die beiden sind da drin.« Mrs. Baxter deutete auf einen Bogengang. »Sie, Miss Russell, sind genau das, was diese Familie braucht.«
Diese Feststellung erweckte in Chelsie den dringenden Impuls, sofort die Flucht zu ergreifen. Sie drehte auf dem Absatz um, um wieder zu ihrem Auto zu laufen. Bis acht Uhr konnte sie sich in ihrem Büro in Sicherheit gebracht haben. Es war immer noch Arbeit zu erledigen. Verschiebe nichts auf morgen, was du heute kannst besorgen. Gab es nicht so ein Sprichwort?
Sie war nur einen Schritt weit gekommen, als Mrs. Baxter ihrem feigen Rückzug ein Ende setzte. »Alix, rat mal, wer dich besuchen kommt.«
Es war zu spät zum Weglaufen oder Verstecken. Zögernd drehte Chelsie sich wieder um.
»Die Kleine lässt das Buch, das Sie ihr mitgebracht haben, nicht mehr aus den Augen«, sagte die Haushälterin mit einem freundlichen Lächeln im Gesicht.
»Oh.« Chelsie spürte, dass ihr die Knie weich wurden. Sie hatte den Punkt verpasst, an dem ein würdevoller Abgang noch möglich gewesen wäre. Also holte sie tief Luft und folgte Mrs. Baxter in die Küche. Blieb nur die Hoffnung, dass Griff bessere Laune hatte als sie.
»Ich sagte, iss es, und nicht, wirf es.«
Chelsie blieb im Türrahmen stehen und sah ungläubig zu, wie Griff sich Kartoffelpüree von Gesicht und T-Shirt wischte.
»Probieren wir es noch einmal, Schätzchen.« Er füllte einen weiteren Löffel und versuchte, Alix zu füttern, die seine Hand aber auf halbem Wege abfing und seine Bemühungen zunichtemachte. »Ich warne dich. Wenn das Essen wieder nicht in deinem Bauch landet, werfe ich es in den Müll.«
Chelsie wusste – so wie Griff wahrscheinlich auch –, dass vernünftiges Argumentieren bei einer Zweijährigen ebenso wenig bewirkte wie bei einem sturen Mandanten. Doch ihm dabei zuzusehen, wie er genau das versuchte, und zwar mit weit mehr Geduld, als sie ihm zugetraut hätte, machte ihn ihr nur noch sympathischer. Der Junggeselle mit dem lockeren Lebenswandel hatte es wieder einmal geschafft, sie positiv zu überraschen.
Der Löffel erreichte den Mund des kleinen Mädchens, doch statt zu schlucken, grinste Alix und spuckte den Brei wieder aus. Stöhnend gab Griff sich geschlagen und warf das Handtuch auf den Kinderstuhl. »Ich geb’s auf. Wenn du solchen Unsinn machst, kannst du keinen Hunger haben.«
Chelsie unterdrückte den Impuls, über die Art, wie das Kind den Mann manipuliert hatte, zu kichern.
»Mrs. Baxter!«, rief Griff alles andere als leise.
»Direkt hinter Ihnen, Mr. Stuart.« Als Griff die sanfte Stimme seiner Haushälterin hörte, drehte er sich hastig um.
»Tut mir leid. Ich habe Sie nicht kommen hören.«
»Ich weiß. Sie waren auf etwas anderes konzentriert.«
»Würde es Ihnen etwas ausmachen, das Kind zu säubern, während ich mich um mich selbst kümmere?«
Da konnte nur eine Dusche helfen, dachte Chelsie. Ohne Vorwarnung sah sie vor ihrem geistigen Auge einen kräftigen Körper und Wasserstrahlen, die auf nackte Haut trafen. Sie bemühte sich, die verführerischen Bilder, die sie heraufbeschworen hatte, zu verdrängen, doch Griff machte es ihr unmöglich.
Obwohl er immer noch die Hose trug, die er zur Arbeit angehabt hatte, ließ sein Oberkörper, der nur mit einem T-Shirt bekleidet war, sie das Spiel seiner Muskeln verfolgen. Was sie daran erinnerte, wie diese harten Muskeln sich angefühlt hatten, und es ihr schwermachte, die Augen von dem Anblick loszureißen. Wenn er doch bloß nicht daran gedacht hätte, Hemd und Krawatte vor der Zielsicherheit der Kleinen zu bewahren.
»Ich wünschte, sie würde mehr essen«, sagte Mrs. Baxter, und Griff nickte zustimmend.
Nichts hätte Chelsie schneller ablenken können als das Chaos vor ihr. Sie konzentrierte sich auf ihre Nichte, die bei ihrer Babysitterin auch nicht besser mitarbeitete als bei ihrem Onkel.
Die Lippen des kleinen Mädchens blieben fest verschlossen. Mrs. Baxter und Griff wechselten enttäuschte Blicke. Alix hatte die Haushälterin vollkommen vergessen lassen, dass Besuch im Türrahmen stand und das Schauspiel genoss. Und Chelsie hatte die allgemeine Aufmerksamkeit nicht früher als nötig auf sich lenken wollen, doch die Bewohner des Hauses brauchten ganz offensichtlich Hilfe. Dieses liebenswerte, aber quirlige Kind wusste anscheinend, welche Knöpfe es bei den Erwachsenen drücken musste, um seinen Willen zu bekommen.
»Vielleicht sollte ich es mal versuchen«, sagte Chelsie.
»Wie kommst du denn hier rein?«, fragte Griff entgeistert, während er sich umdrehte.
»Oh, ebenfalls guten Abend.« Ungerührt ging Chelsie zu Alix hinüber, die gerade das Püree und was es sonst noch zu essen gegeben haben mochte auf dem Tischchen des Kinderstuhls verschmierte.
»Ähm, tut mir leid, Mr. Stuart. Ich habe vergessen, Ihnen zu sagen, dass Miss Russell gekommen ist, um Sie und Alix zu besuchen.«
»Das habe ich schon bemerkt.« Griff schenkte seiner Haushälterin ein beruhigendes Lächeln. »Warum machen Sie nicht Schluss für heute?« Er sprach mit Mrs. Baxter, sah aber Chelsie an. »Miss Russell und ich übernehmen das hier. Einverstanden?«
Sein gerader Blick machte Chelsie nervös. Alix’ Faxen hatten sie vom Anlass ihres Besuchs abgelenkt, doch Griff brachte sie umgehend in die Realität zurück. Der Mann hatte etwas an sich, das sie auf mehr als einer Ebene auf den Boden holte.
Mrs. Baxter zögerte. »Wenn das für Sie in Ordnung ist?«
»Das ist es«, antworteten sie einmütig. Chelsie wollte kein Publikum bei der dritten Runde mit Griffin Stuart.
Nachdem sie Alix einen Gute-Nacht-Kuss gegeben hatte, zog die Haushälterin sich in ihr Zimmer zurück.
»Dann zeig mal, was du kannst.« Griff reichte Chelsie die klebrige Schüssel und deutete auf das Kind im Kinderstuhl.
Wortlos nahm sie die Herausforderung an. Im Laufe des Abends schaffte sie es nicht nur, Alix dazu zu überreden, ihr Essen aufzuessen, sie brachte sie auch dazu, sich im Bad zu benehmen. Eine stille Übereinkunft war erreicht. Alles, was noch zu tun blieb, war, die Details abzuklären. Doch wie die Einzelheiten auch aussehen mochten, Chelsie hatte die Absicht, eine imaginäre Grenze zu ziehen, die sie unter keinen Umständen überschreiten würde.
Das schien ein guter Ausgangspunkt zu sein, dachte sie, während sie in der Tür zu Alix’ Schlafzimmer stand. Im Schein eines kleinen Micky-Maus-Nachtlichts war Griffs große Gestalt zu erkennen, die sich über das Bett des kleinen Mädchens beugte. Seine Bewegungen, obschon im Dämmerlicht schwer zu sehen, waren flink, aber geübt und behutsam.
Ja, dachte Chelsie anerkennend, tief in ihm steckte ein weicher Kern. Selbst wenn er gemein zu ihr gewesen war, hatte sie diese innere Anständigkeit gespürt. Genauso wie in seinem warmen, vielversprechenden Kuss.
Mit einem Mal schaute Griff über die Schulter und begegnete ihrem Blick. Gebannt von dem Einverständnis, das zwischen ihnen herrschte, schaffte Chelsie es nicht, die Augen abzuwenden. Plötzlich änderten sich die Schwingungen im Raum und ein erregender Schauer durchrieselte sie. Schockiert und beschämt wandte sie sich ab. Erst als sie sich etwas gefangen hatte, drehte sie sich noch einmal um, doch Griff war wieder mit Alix beschäftigt. Nachdem es Chelsie schon unter seinem Blick heiß geworden war, fragte sie sich unwillkürlich, wie es wohl sein mochte, Gegenstand seines Interesses zu sein, und ein beinahe atemberaubendes Verlangen überkam sie.
»Sag Chelsie gute Nacht.« Griffs tiefe Stimme unterbrach ihre Träumereien.
Das kleine Mädchen murmelte etwas Unverständliches, und Griff deckte es sorgfältig zu. Chelsie lächelte, aber Tränen trübten ihre Sicht, während sie aus sicherer Entfernung zusah. Sie unterdrückte das Bedürfnis, bei diesem nächtlichen Ritual des Zubettbringens mitzuwirken, Alix in eine Decke zu hüllen, ihre dunklen Locken zu zausen und ihr einen Gute-Nacht-Kuss zu geben. Mütterliche Gesten führten nur zu mütterlichen Gefühlen. Wenn sie mitmachte, war sie verloren – steckte sie fest zwischen einer Vergangenheit, die sie nicht ändern, und einer Zukunft, die sie nicht haben konnte.
Chelsie holte tief Luft. Es roch nach Talkumpuder, Shampoo und anderen Babydüften. Sie schlang die Arme um sich, um ein jähes Frösteln zu unterdrücken. Eine dumme und nutzlose Geste, da die Kälte tief aus ihrem Innern kam.
Griff näherte sich und legte eine Hand auf ihren Rücken. Chelsie wusste, dass er sie nur aus dem Zimmer führen wollte, doch seine Berührung löste zahllose kleine Explosionen aus – an Körperstellen, die längst vergessen waren … und anderen, von deren Existenz sie noch gar nichts gewusst hatte. Selbst ihre Haut bebte.
Ein weiterer Schauer überlief sie, dieser jedoch war warm und angenehm. So als ob Griff die Reaktion, die er ausgelöst hatte, bemerkt hätte und es bereute, sie angefasst zu haben, zog er seine Hand wieder zurück. Chelsie atmete tief durch und ging ihm voran aus dem Zimmer.
Sie hatten als Gegner begonnen und waren nun wider Willen Verbündete. Chelsie fragte sich, ob sie jemals über das unangenehme Misstrauen hinwegkommen würden, das ihre Beziehung belastete. Vielleicht war es am besten, wenn es nie so weit kam. Mehr als freundliche Antipathie konnte sie wohl nicht erwarten. Wenigstens gab es dann eine Chance, dass ihr Herz intakt blieb.