Kalifornien – 1992

Es war ein klassischer Glasgow Kiss.

Auch wenn dies nicht Glasgow in Schottland war, sondern die Elite-High-School in Kalifornien.

Ein Kopfstoß voll auf die Nase.

Dass das Nasenbein hielt, lag nicht an mangelnder Technik, sondern daran, dass Franklin F. Fitzgerald im letzten Moment den Kopf zur Seite gerissen hatte. Trotzdem sprudelte ihm das Blut aus der Nase wie aus einem ausbrechenden Vulkan. Mit einem schmerzerfüllten Stöhnen sank er auf die Knie.

Ryan Nash, sechzehn Jahre alt, hatte dem gleichaltrigen Franklin F. Fitzgerald so richtig gezeigt, wo der Hammer hängt. Ryan lachte auf. Wahrscheinlich stand des F. in der Mitte für »Fuck«. Franklin Fuck Fitzgerald. Ryan beschloss, den Typen in Zukunft so zu nennen.

Im Grunde hatte er nicht erwartet, dass ihm seine Mitschüler zujubelten. Die Girls und Boys an der Highschool mochten Fitzgerald, auch wenn es kaum zu glauben war. Sie vergötterten den Blödmann regelrecht. Für die Jungs war er so etwas wie das große Vorbild, und die Girls schmachteten ihn an. Darum – bestimmt nicht aufgrund seines sportlichen Könnens – hatten sie Franklin Fuck Fitzgerald zum Captain ihrer Footballmannschaft gekürt. Doch in seinen Karohosen mit Bügelfalte, dem Lacoste-Shirt und dem Kaschmir-Pullover, den er lässig über den Schultern verknotet hatte, sah Triple-F alles andere als sportlich aus, eher wie das verwöhnte Millionärssöhnchen, das er in Wirklichkeit war. Wahrscheinlich machten die Millionen seines Daddys ihn in den Augen seiner Mitschülerinnen so attraktiv.

Ryan war das genaue Gegenteil. Die Haare ungekämmt, trug er meist schwarze Jeans und ein schwarzes Muscle-Shirt mit dem Aufdruck irgendeiner Heavy-Metal-Band, die nur Eingeweihte kannten. Die schwarze Lederjacke wirkte so billig und abgenutzt, als hätte er sie einem Penner geklaut – was die meisten seiner Mitschüler ihm durchaus zutrauten.

Alle starrten ihn entsetzt an. Sogar Lindsey, mit der ihn bisher mehr als Freundschaft verbunden hatte. Keine echte Liebe, kein wirklicher Sex, nur ein bisschen harmloses Gefummel, das Ryan nie zu weit getrieben hatte, aber eben doch mehr als nur Freundschaft. Doch aus ihrem Blick sprach nun Schock, Unverständnis und Abscheu.

Im nächsten Moment wurde Ryan von einem der Security Guards gepackt, die auf dem Schulhof für Sicherheit sorgten und darauf achteten, dass sich keine Dealer auf dem Schulgelände herumtrieben, und die auch bei Schlägereien eingriffen.

Ryan wurde der rechte Arm auf den Rücken gedreht. Ein Fuß trat von hinten in seine Kniekehle. Dann wurde er zu Boden gedrückt, mit dem Gesicht auf den Asphalt. Handschellen klickten, und er hörte den bulligen Kerl, der ihn gepackt hatte, über sich knurren: »Ich hab gesehen, was passiert ist, Kumpel. Das war Körperverletzung. Dafür bist du dran!«

Im nächsten Moment hörte er Franklin Fuck Fitzgerald kläglich jammern. Der Bursche hockte noch immer am Boden und blutete sein Lacoste-Shirt voll. »Du bist ein Freak, Nash!«, kreischte er. »Du hast nicht mehr alle Tassen im Schrank!«

Die anderen Mitschüler dachten offenbar genauso. »Ja, Nash hat sie nicht mehr alle!«, rief einer, und ein anderer schrie: »Du hast hier nichts zu suchen, du verdammter Irrer!«

Ryan waren diese Sprüche egal. Was ihm jedoch das Herz brach, als der Security Guard ihn hochriss und davonzerrte, war Lindsey, die ihm ins Gesicht spie: »Warum musst du dich immer wieder aufführen wie ein Verrückter, Ryan Nash? Ich hasse dich!«

Schluchzend lief sie davon.

Verdammt, ihr hatte er doch keine verpasst, sondern Triple-Fuck!

Aber es schien Lindsey peinlich zu sein. Jeder wusste, dass sie mit ihm, Ryan, rumgemacht hatte. Offenbar passte sein Auftreten nicht zu dem Sunshine-Highschool-Girlie, als das sie sich betrachtete.

Sieh es ein, Nash, sagte Ryan sich. Die Kleine kannst du abschreiben. Das Ding ist gelaufen.

Außerdem hatte er jetzt ganz andere Probleme.

Bei dem Streit zwischen Ryan und Franklin F. Fitzgerald war es im Grunde um gar nichts gegangen. Ryan hätte nicht einmal sagen können, wer angefangen hatte. Wahrscheinlich er selbst. Weil er Typen wie Fuck Fitzgerald hasste. Weil er die meisten seiner Mitschüler hasste. Weil sie aus gutem Hause kamen – verwöhnte Gören, denen Daddy alles kaufte, was sie haben wollten, von der Eliteschulausbildung über den Sportwagen bis hin zum Studium an der besten Uni.

Ryan hasste die Typen, weil er sich selbst hasste.

Der Direktor der Schule hatte ihm klargemacht, dass er kurz vor dem Rauswurf stand. Der Mittfünfziger spielte sich auf, als hätte Ryan ein Kapitalverbrechen begangen, seine Lehrerin für englische Literatur vergewaltigt, Feuer gelegt und auf seine Mitschüler geschossen wie einer dieser wahnsinnigen Amokläufer, die sich wie Rambo vorkamen, wenn sie auf unbewaffnete Mitschüler ballerten.

Verdammt, er hatte doch nur diesem Yuppie eins aufs Maul gegeben!

Mit dem Erfolg, dass Fitzgerald ihn nun wegen Körperverletzung anzeigen würde.

Nachdem der Schuldirektor mit Ryan fertig war, durfte er gnädigerweise am restlichen Unterricht dieses Tages teilnehmen. Franklin F. Fitzgerald war nicht mehr in der Klasse; er hatte sich ins Krankenhaus fahren lassen, wo er sämtliche Schäden, die er davongetragen hatte, ärztlich beglaubigen ließ, um sie vor Gericht geltend machen zu können. Ryan hörte die anderen Schüler immer wieder tuscheln, und man braucht nicht paranoid zu sein, um zu wissen, dass Leute was gegen einen haben.

Obwohl es hilft.

Nash war klar, dass er es diesmal zu weit getrieben hatte.

Er suchte Blickkontakt zu Lindsey, doch sie wich ihm aus und starrte demonstrativ zum Lehrerpult.

Nach dem Unterricht versuchte Ryan mit ihr zu sprechen, aber sie fuhr ihn zornig an: »Lass mich in Ruhe, Nash! Es ist aus zwischen uns! Endgültig! Kapiert? Versuch doch mal, dich wie ein normaler Mensch aufzuführen!«

Ryan Nash fuhr einen alten, klapprigen Ford Mustang. Er hatte ihn gebraucht von einem Mann gekauft, der den Wagen ebenfalls aus zweiter Hand hatte. Obwohl Ryan den Mustang liebte und mehrere Stunden die Woche daran herumschraubte, fiel der Wagen immer mehr auseinander. »Die Kiste wird nur noch vom Rost zusammengehalten«, hatte ein Bekannter gespöttelt.

Der Mustang passte so ganz und gar nicht zu den Edelsportwagen und Luxuskarossen, die vor der Villa seines Daddys standen und die seinem alten Herrn und Ryans Mutter gehörten. Mom allein brauchte einen Ferrari, wenn sie ihre Freundinnen besuchen fuhr, und einen Cadillac für kleinere Shopping-Fahrten. Wobei sie sich häufig auch in einem S500er-Benz von einem Chauffeur kutschieren ließ, denn allzu oft ließ ihr Alkoholspiegel es nicht mehr zu, dass sie sich selbst hinter das Steuer setzte. Das war manchmal schon vormittags der Fall.

Ryan stellte den Mustang vor der beeindruckenden elterlichen Villa ab. Sein Dad war in der Bekleidungsindustrie tätig und machte mit seinen Edelklamotten ein Vermögen. Die meisten von Ryans Mitschülern trugen Sachen aus Daddys Produktion – aus Fabriken, die sich überwiegend in der Dritten Welt befanden und in denen Minderjährige für Hungerlöhne sieben Tage die Woche schufteten. Ryans Mitschüler taten so, als würden sie es nicht einmal ahnen. Vielleicht ahnten sie es ja wirklich nicht oder hatten es zumindest erfolgreich verdrängt. Für Ryan jedoch waren die Markenklamotten, die sie zur Schau trugen, um ihren Reichtum zu präsentieren, mit dem Schweiß und Blut hungernder Kinder getränkt.

Im Foyer des elterlichen Hauses wurde Ryan von Jameson empfangen, dem Butler. Das war ein Luxus, den sich nur jemand leistete, der sich alles leisten konnte. Ein britischer Butler. »Ihr Vater wünscht Sie zu sprechen, Sir.«

»Wie geht es Mutter?«, wollte Ryan wissen.

»Sie leidet heute wieder unter schwerer Depression. Der Arzt war bei ihr. Sie schläft jetzt.«

»Hat sie wieder gesoffen?«, fragte Ryan grob.

Jameson tat nicht einmal so, als wäre er empört über die Frage. Sein Gesicht blieb ausdruckslos, seine Haltung steif. »Sir, ich überwache den Alkoholkonsum Ihrer Mutter nicht. Das steht mir nicht zu.«

Ryan nickte nur und ließ Jameson stehen. Er wusste, wo er seinen Vater finden würde. In seinem Arbeitszimmer, das Ryan Augenblicke später betrat, ohne anzuklopfen.

Harold Nash, Ryans Vater, gab sich empört und sprang hinter seinem Schreibtisch auf, das Gesicht hochrot. »Was platzt du hier einfach herein!« Der Unternehmer war um die fünfzig und trug auch zu Hause einen teuren taubenblauen Anzug und Krawatte. Das silbergraue Haar war nach hinten gekämmt und wirkte von den Sprays und Haarwässern, die er reichlich benutzte, so steif wie eine Haube.

»Hast du Angst, ich könnte dich mit einer Geliebten erwischen?«, fragte Ryan zurück. Er wusste zwar nicht, ob sein Vater eine Geliebte hatte, aber es hätte ihn nicht gewundert. Ryan liebte seine Mutter, wäre aber eher ausgewandert, als mit einer Frau wie ihr verheiratet zu sein. Er konnte sich nicht vorstellen, dass bei seinen Eltern im Bett noch irgendetwas lief.

»Werde bloß nicht frech.« Sein Vater kam hinter seinem Schreibtisch hervor. »Dafür hast du keinen Grund. Gerade du nicht!« Drohend baute er sich vor seinem Sohn auf, und Ryan musste einmal mehr zugeben, dass sein Vater tatsächlich einschüchternd wirkte. »Dein Schulleiter hat mich angerufen. Es gab wieder eine Schlägerei, nicht wahr? Die wievielte diesen Monat war das eigentlich? Jedenfalls wollten sie dich diesmal endgültig von der Schule werfen.« Er stockte; dann brüllte er Ryan an: »Ich zahle ein Vermögen für deine Ausbildung, und du ruinierst alles! Jetzt wird mir nichts anderes übrig bleiben, als den neuen Sportplatz zu finanzieren, damit du an der Schule bleiben kannst!«

Obwohl Ryan es sich nur ungern eingestand: Er fürchtete seinen Vater, denn der war unberechenbar und neigte zur Boshaftigkeit. Trotzdem versuchte Ryan, sich locker zu geben, als er antwortete: »Lass am besten auch gleich ’ne neue Kantine bauen. Der Fraß dort ist ungenießbar. Jedenfalls verglichen mit dem, was es im Ritz …«

Weiter kam er nicht. Die Faust seines Vaters traf ihn völlig unerwartet. Er sah den Schlag nicht einmal kommen. Er traf punktgenau den Solarplexus. Ryan sank keuchend auf die Knie. Er bekam kaum noch Luft, und seine Blase schien sich schlagartig gefüllt zu haben, sodass er befürchtete, seine schäbige Hose und den teuren Teppich zu beschmutzen, auf dem er kniete.

»Überall machst du Stunk!«, schimpfte sein Vater, der drohend über ihm aufragte, das Gesicht noch immer dunkelrot. »Du führst dich auf wie ein Verrückter! Du bist es nicht wert, mein Sohn zu sein!«

Er machte ganz den Eindruck, als wollte er noch einmal zuschlagen. Dann aber drehte er sich um, ging zurück zu seinem Schreibtisch und stemmte sich mit geballten Händen auf der Mahagoniplatte ab, wobei er Ryan den Rücken zukehrte. »Als deine Mutter von der Sache erfahren hat, ist sie wieder in Depressionen verfallen. Sie hat geweint und davon geredet, sich das Leben zu nehmen. Aber bevor es so weit kommt, erwürge ich dich mit bloßen Händen, das kannst du mir glauben. Geht jetzt! Geh mir aus den Augen!«

Ryan kämpfte sich hoch und ging, ohne ein Wort zu sagen. Er wusste, warum seine Mutter Depressionen hatte. Weil sie mit diesem Mann nur wegen seines Reichtums zusammenblieb. Weil es auch ihr letztendlich nur um das Geld und den Luxus ging. Dafür hatte sie ihre Seele verkauft und ihr eigenes Leben aufgegeben. Nun war sie an einen Mann gekettet, der den Reichtum mehr liebte als die Menschen, sich selbst mit eingeschlossen.

Ryan ging zu seiner Mutter, die im Bett lag und schlief. Auf dem Nachtschränken sah er Antidepressiva – Tavor und Anafranil – sowie ein leeres Whiskeyglas. Pillen und Psychopharmaka. Eine höllische Mischung.

Ryan streichelte der Schlafenden übers Gesicht.

Unvermittelt schlug sie die Augen auf, schaute ihn mit glasigem Blick an und murmelte: »Oh, Ryan, was tust du uns an?«

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