18

Sie erwachte von einem Lichtstrahl, der sich auf ihre geschlossenen Lider gelegt hatte. Emily wandte den Kopf, um der Störung auszuweichen, als die Bewegung jedoch einen stechenden Schmerz verursachte, stöhnte sie leise und blinzelte sich in die Realität.

Der Traum war wunderschön gewesen.

Sie hatte am Strand gesessen, im weißen Sand einer kleinen Bucht, über der ein azurblauer Himmel schwebte. Möwen umkreisten ein Fischerboot, das einige hundert Meter vor der Küste seine Netze einholte. Matt hatte einen Arm um ihre Schultern gelegt und ihr Kopf lehnte an seiner Brust. Sie spürte seinem Kuss auf ihren Lippen nach, und sie war glücklich – und unendlich wehmütig zugleich. Er schlang seinen zweiten Arm um ihren Körper und legte seine Wange auf ihr Haar, und sie schmiegte sich enger an ihn, ließ ihre Hand über seine Brust streichen und atmete ihn ein. Er roch nach Sonne und Salz, und Emily fühlte sich ihm so nah, dass es wehtat.

Mühsam richtete sie sich auf. Sie saß auf der Rückbank, auf der sie offenbar geschlafen hatte, und um sie herum strahlte heller Tag. Sie war nicht mehr im Wald. So wie es aussah, hatte Matt das Auto an eine andere Stelle gefahren, und wenn sie nicht völlig falsch lag, in die Nähe des Hügels, auf dem sie Silly und Joe begegnet waren.

Ihr Kopf schmerzte so sehr. Und ihre Wangen brannten von der Erinnerung an ihren Traum. Darüber hinaus jedoch ging es ihr besser. Die Schwere war von ihr abgefallen und sie konnte sich bewegen, ohne sich dabei schwach und zittrig zu fühlen.

Durch die Windschutzscheibe sah sie, dass Matt an der Motorhaube lehnte. Seine Schultern waren nach vorn gebeugt, so als habe er die Arme vor der Brust verschränkt, und sein weißes Hemd leuchtete gegen das Schwarz seiner Haare, die in alle Richtungen abstanden.

Wenn überhaupt möglich, glühten Emilys Wangen noch ein wenig mehr. Er hatte sie geküsst. Sich um sie gesorgt und sie hierher gebracht.

Sie geküsst.

Energisch schob Emily den Gedanken beiseite. Er sollte ihn nicht in ihrem Gesicht lesen können.

Matt drehte sich um, als Emily den Türgriff herunterdrückte, und war in zwei Schritten bei ihr, um ihr aus dem Wagen zu helfen.

»Hey«, begrüßte er sie. »Geht’s dir besser?« Seine Hand verweilte auf ihrem Arm, länger als nötig war, und Emilys Pulsschlag beschleunigte sich. Er musterte sie kritisch. Unter seinen Augen zeichneten sich schwarze Schatten ab, so als habe er die Nacht schlaflos verbracht, und das Blut an seinem Haaransatz war zu einer kleinen Wunde getrocknet. Doch seine Augen strahlten wie immer, und Emily fühlte eine Woge der Erleichterung.

»Wie spät ist es?«, fragte sie. Sie war sich peinlich bewusst, dass sie immer noch das viel zu kurze Kleid vom Vorabend trug, und strich es mit einer raschen Geste glatt. Es fühlte sich an, als schlängle sich eine Laufmasche von ihrem rechten Zeh ausgehend ihr Bein hinauf, aber sie wollte Matts Aufmerksamkeit nicht darauf lenken, deshalb sah sie nicht nach.

»Vier Uhr nachmittags«, antwortete er und griff nach einer braunen Papiertüte, die neben dem Vorderrad lehnte. »Hier, trink das.« Er öffnete eine Dose Cola und reichte sie Emily. »Du hast ewig nichts gegessen, der Zucker wird dir guttun.«

»Vier Uhr nachmittags?« Sie hatte mehr als zwanzig Stunden geschlafen?

Matt drückte einen Apfel in Emilys andere Hand und nickte ihr zu. »Iss.«

Emily nippte an ihrer Limonade. Das letzte Mal, dass sie etwas getrunken hatte, konnte sie sich anschließend kaum auf den Beinen halten. Das Letzte, an das sie sich erinnerte, war Quayles zerdrückter Wagen, eingeklemmt zwischen zwei Bäumen, umrahmt von dunkelgrauem Qualm.

»Ist Quayle …«, begann sie, brachte den Satz aber nicht zu Ende.

Matt betrachtete sie schweigend, dann richtete er seinen Blick gen Horizont und holte Luft. »Quayle ist mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe geprallt«, erklärte er. »Er war nicht angeschnallt. Ich schätze, er war sofort tot.« Er wandte sich wieder Emily zu und fuhr fort: »Sie werden ihn sicher längst gefunden haben. Wir konnten nicht warten, bis die Polizei dort aufkreuzt.« Er lächelte schief. »Ohne Ausweis und Führerschein wäre das bestimmt keine schöne Befragung geworden. Außerdem lag da ein narkotisiertes Mädchen auf der Rückbank.«

Emily spürte, wie sie rot wurde. Sie senkte ihre Lider und starrte auf die Dose in ihrer Hand.

»Was ist mit dem Dorf? Ist es noch da?«

»Nein.«

»Dann sind die anderen weg?«

Matt zögerte einen Moment, und Emily sah fragend zu ihm auf.

»Josh, Eve und der Rest jedenfalls«, antwortete er schließlich. »Was deine Eltern angeht, weiß ich nicht, ob …«

»Schon gut.« Emily hob eine Hand, um Matt zu stoppen.

Sie würde jetzt nicht weinen.

Sicher hatte sie ohnehin keine Tränen mehr.

Sie atmete tief ein. »Sie wusste, dass ich komme«, sagte sie. Sie sah Matt an und schüttelte den Kopf. »Ihr war nicht klar, dass sie mich dort, bei diesem Kongress, auf diesem Parkplatz treffen würde, aber sie wusste, dass wir uns eines Tages begegnen.« Sie blinzelte, schloss die Augen, öffnete sie wieder. »Sie hat von mir geträumt.«

Matts Augen weiteten sich. »Natürlich«, murmelte er.

Emily seufzte. »Vermutlich war es ihr in dem Moment klar, in dem sie mich von Quayle weggezerrt hat. Sie erkannte mich und sie wusste, dass dies ihr letzter Abend in England war. Sie – sie hat sie gesehen, ihre Zukunft, und … sie konnte sie nicht ändern.«

O Gott. Emily schluckte. Sie hatte noch Tränen, jede Menge davon, und sie wischte sie ungeduldig von ihrer Wange. Hätte sie bei ihrer Mutter bleiben sollen? Doch was wäre dann mit Matt geschehen? Mit ihrer Großmutter? Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? War es am Ende möglich, das Schicksal anderer zu beeinflussen, aber sein eigenes nicht? War es das, was sie hier lernen sollte?

»Was hast du da gerade gesagt?«, fragte Matt.

»Wie?«

»Über ihre Zukunft?«

»›Ich sehe die Zukunft‹«, wiederholte sie, »›aber ich kann sie nicht ändern.‹ Das hat sie gesagt.«

Aber du kannst es. Geh und rette ihn.

Matts Augen verengten sich nur das kleinste bisschen. Er fuhr sich mit einer Hand durch seine Haare und deutete mit der anderen in Richtung Moor. »Gehen wir ein Stück«, sagte er. »Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden auch wir springen. Die alte Eiche ist ein guter Ort, um zu warten.«

Sie nahmen den gleichen Pfad wie vor zwei Tagen, als sie Quayle ins Moor gefolgt waren und dann vom Hügel aus das Dorf gesehen hatten. Sie gingen schweigend nebeneinander her, jeder in seine eigenen Überlegungen versunken. Emily kaute nachdenklich an ihrem Apfel. Sie würden in ihre Zeit zurückkehren, richtig? Matt war überzeugt davon, also brauchte auch sie sich nicht zu sorgen.

Sie dachte an Fee: Wenn Quayle gestorben war, dann musste sie in Sicherheit sein. Er konnte ihr nichts anhaben in einer Zukunft, in der er gar nicht existierte, oder doch?

Und dann dachte sie wieder an ihre Mutter.

Wie oft hatte sie sich in den vergangenen Tagen gefragt, warum ihre Mutter so gehandelt hatte. Warum sie ausgerissen war mit dem fremden Mann, nur Stunden nach ihrem Kennenlernen. Warum sie ihre Familie und ihre Freunde im Stich gelassen hatte. Jetzt wusste sie, dass ihr keine andere Wahl geblieben war, und dieses Wissen war für Emily unendlich tröstlich. Ihre Mutter hatte niemandem wehtun wollen. Aber sie hatte Emily genauso geliebt wie sie sie liebte, und dies hatte ihr keine andere Möglichkeit gelassen. Sie hatte ihr bisheriges Leben aufgegeben, um mit Emily eine Zukunft zu haben. Die Vorstellung war schwindelerregend, aber so war es: Emily war in die Vergangenheit gereist, um ihre eigene Zukunft zu sichern. Und ihre Mutter hatte sich nicht in erster Linie für den Mann entschieden, sondern für das Kind, von dem sie geträumt hatte.

»Eines verstehe ich nicht«, sagte sie schließlich. Sie warf den Rest ihres Apfels in die blühenden Ginsterbüsche neben dem Weg und wischte sich die Hand am Stoff ihres Kleides ab. »Wieso hat sie nicht wenigstens Josh oder Eve den Grund genannt, warum sie nicht mit ihnen zurückkehrt? Sie hätte es doch einfach erklären können.«

Matt sagte nichts. Emily warf ihm einen fragenden Blick zu, aber er wirkte überhaupt nicht so, als ob er ihr antworten wollte. Er hatte die Augen leicht zusammengekniffen und starrte geradeaus.

»Matt?« Sie berührte seinen Arm, und er reagierte, indem er ihre Hand nahm. Seine Finger verflochten sich mit ihren, und Emily schwieg.

»Du weißt, warum sie diese Träume hatte?«, fragte er schließlich.

Emily runzelte die Stirn. »Offenbar konnte sie damit in die Zukunft sehen«, antwortete sie. Und offenbar kann ich das auch, fügte sie in Gedanken hinzu.

Matt blieb stehen, sie waren bei der alten Eiche angekommen. Einmal mehr spannte sich ein magischer Himmel über den Hang, der nach unten ins Tal führte – blaugrau und mit gelben Lichtblitzen gesprenkelt, die sich am Fuße des Hügels zu einem warmen Sonnenmeer ergossen.

Das Dorf war nicht da. Und doch meinte Emily bereits den Schwindel zu spüren, der ihrem ersten Sprung in die Vergangenheit vorausgegangen war.

»Wann hast du das erste Mal in die Zukunft geträumt?«, fragte Matt.

Emily antwortete sofort. »In der Nacht, als mir meine Großmutter das Armband gab«, erklärte sie. Sie erinnerte sich noch an jedes Detail. Sie hatte von ihm geträumt, Matt – wie er auf seinem Pferd saß und ihr seine Hand entgegenstreckte, und sie vor etwas davonlief, von dem sie nicht wusste, was es war.

Sie hatte von Matt geträumt, bevor sie ihn das erste Mal gesehen hatte. Es kam ihr immer noch absurd vor, dass so etwas überhaupt möglich war.

Matt ließ seinen Blick zu Emilys Handgelenk schweifen und strich mit dem Daumen über die Kette.

»Es war ihre Gabe«, sagte er leise. »Ihr übersinnliches Talent. Es gibt viele dieser Fähigkeiten in Hollyhill, aber es gibt sie immer nur einmal.« Er hielt Emilys Blick und sah dabei so traurig aus, dass ihr automatisch Tränen in die Augen stiegen.

»Das Armband gehörte zu ihr«, erklärte er, »so wie es jetzt zu dir gehört.«

Er holte tief Luft. »Ich nehme an, dass sie wusste, als sie dich mit dem Armband sah, dass sie …«

»Nein!« Emily hob eine Hand und legte Matt einen Finger auf seine Lippen. Sie konnte sich vorstellen, was er ihr sagen wollte, aber sie wollte es nicht hören.

Dass ihre Mutter wusste, dass sie sterben würde.

Dass sie dieses schreckliche Wissen unmöglich mit jemandem hatte teilen können.

Dass sie sich, obwohl sie ahnte, was ihr bevorstand, für diese Zukunft entschieden hatte.

Emily wollte nicht darüber nachdenken, was das für sie selbst bedeutete. Sie wollte überhaupt nicht mehr nachdenken. Sie ließ ihre Hand sinken und schloss die Augen. Sie hörte einen Vogel singen und Blätter rascheln. Sie lauschte auf ihren Herzschlag, der ihr auf einmal merkwürdig träge vorkam.

Matt bewegte sich und machte einen Schritt auf sie zu. Obwohl sie die Augen geschlossen hielt, spürte Emily seine Nähe – die Wärme, die von ihm ausging, sein mittlerweile vertrauter Duft.

Er hob eine Hand und strich mit den Fingerspitzen sanft über ihre Stirn, die Kontur ihres Gesichtes entlang hinunter zu der Beuge zwischen Hals und Schulterblatt. Dort löste er das Band aus ihren Haaren und teilte mit den Fingern ihren Zopf in seine einzelnen Strähnen.

Ein Schauer durchlief Emilys Körper und sie spürte, wie sie zu zittern begann.

Matt löste das zweite Haarband. Sein Zeigefinger streifte die Haut unter ihrem Ohrläppchen, doch im nächsten Moment vergrub er beide Hände in ihren Haaren und zog Emily zu sich heran. Er beugte sich zu ihr hinunter und lehnte seine Stirn gegen ihre.

»Ich bin froh, dass du hergekommen bist«, flüsterte er. Seine Finger streichelten zärtlich ihre Schläfen.

Die Worte kreisten in Emilys Kopf. Sie wiederholte sie im Stillen und ließ es zu, dass sie ihn leerfegten, ganz und gar, bis auf den letzten nagenden Gedanken, der sich dort festsetzen wollte und dem sich Emily noch früh genug würde stellen müssen.

Sie öffnete ihre Augen, hob ihre Hände und legte sie auf Matts Brust. Ihre Fingerspitzen tasteten sich vom Kragen seines Hemdes weiter nach oben, berührten seinen Hals und schließlich seinen Nacken, während Emily ihr Kinn anhob. Matts Haut erzitterte unter ihren Händen und seine Lider flatterten, aber er kam nicht näher.

Die Erinnerung an den gestrigen Nachmittag flammte vor ihren Augen auf – da hatte er nicht gezögert, nicht eine Sekunde, und Emily fragte sich, warum er es jetzt tat. Wartete er auf ihre Zustimmung? Konnte es sein, dass Matt sich ihrer nicht sicher war?

Entschlossen griff Emily in Matts Haare und zog ihn näher zu sich heran. Seine Lider senkten sich, als sich ihre Lippen sanft auf seine pressten. Er seufzte leise und drückte sie an sich.

Emily schloss die Augen. In ihrem Körper breitete sich eine Wärme aus, die jede Zelle und jede Pore einzuschließen schien. Während Matt sie küsste, zärtlicher und vorsichtiger als beim ersten Mal, verstärkte sich der Schwindel in ihrem Herzen.

Nein, sie war sich nicht sicher. Sie wusste nicht mehr, was sie denken sollte, was sie fühlen sollte, wer sie war. Sie schlang ihre Arme fester um Matts Nacken und schmiegte sich enger an ihn. Sie wollte nicht an Lukas denken, doch sie tat es trotzdem. Für ihn hatte sie nie so empfunden und auch nicht für jemanden sonst. Für niemanden. Nie.

Nicht loslassen, schoss es ihr durch den Kopf.

Matt streichelte ihre Wange, ihre Haare, ihren Rücken. Seine Lippen lösten sich von ihren, streiften ihr Kinn, ihren Hals, ihr Ohrläppchen, um dann wieder zu ihrem Ausgangspunkt zurückzukehren.

Emily seufzte. Aus den Augenwinkeln nahm sie ein Flirren wahr, das vom Fuße des Hügels zu ihnen hinauf blitzte. Sie spürte, wie sie sprangen, wie die Zeit an ihnen zog, aber diesmal würde sie nicht ohnmächtig werden, ganz bestimmt nicht.

Sie würde nicht loslassen.

Noch nicht.

Nicht jetzt.