17
Emily beugte sich über das Waschbecken und spritzte kaltes Wasser in ihr Gesicht. Ihre Wangen waren heiß wie im Fieber und ihre Augen brannten nicht weniger. Sie konnte sich nicht erinnern, wie lange sie dort auf dem Parkplatz gestanden und sich umschlungen hatten, doch im Nachhinein kam es ihr ewig vor. Sie hatte Matt nicht gedrängt, aufzuhören. Und er hatte es nicht getan. Erst, als ihnen die Luft ausgegangen war, hatten sie sich ein wenig unbeholfen voneinander gelöst, und Matt hatte sie schweigend zurück in das B&B gebracht.
Und nun sah sie grauenvoll aus. Die Nase rot und geschwollen, die Augen wässrig und trüb zugleich. Ein paar Spritzer würden hier nichts ausrichten können, also nahm Emily ein geblümtes Handtuch aus dem Regal neben dem Spiegel und tränkte es unter dem Wasserhahn. Sie drückte es aus, setzte sich auf den schmalen Hocker neben der Badewanne und legte den nassen Frottee auf ihr Gesicht. Die feuchte Kühle tat so gut. Mit einem wohligen Seufzer ließ sie ihren Kopf nach hinten gegen die Kacheln sinken.
»Warte hier auf mich«, hatte Matt gesagt. »Ich muss schnell etwas erledigen.«
Emily stöhnte auf.
Was er jetzt wohl von ihr dachte? Sie hatte geheult wie ein Kleinkind und sich dabei an ihn geklammert wie diese Magnet-Äffchen an einen Kühlschrank. Kein Wunder, dass er sie geküsst hatte! Er hatte Mitleid mit ihr gehabt!
Das Schlimmste aber war: Sie hatte sich wohl dabei gefühlt. Ihre Tränen waren längst getrocknet gewesen, doch sie hatte sich geweigert, loszulassen.
Sie hatte den Moment genossen, obwohl er doch so – so schrecklich gewesen war.
Grauenvoll.
Verwirrend.
»Emily?«
»Oh, autsch!« Beim plötzlichen Klang seiner Stimme war Emily so erschrocken aufgesprungen, dass sie sich das Knie an der Badewannenkante angeschlagen hatte. Der Hocker prallte mit einem dumpfen Klong auf den Boden, während das feuchte Handtuch auf die Fliesen platschte.
Matt klopfte energisch an die Badtür. »Emily, alles in Ordnung da drin?«
»Aber ja!« Natürlich. Klar. Was sollte nicht in Ordnung sein? »Ich mache mich nur eben fertig. Bin gleich soweit.«
Mit einer ungeduldigen Geste zupfte sie den Saum ihres Kleides nach unten. Sie hatte einen mittelschweren Schock erlitten, als sie das schwarze Nichts aus der Tasche zog, die Silly für sie gepackt hatte. Sie hatte inständig gehofft, etwas vorzufinden, das nicht pink war, doch dass Joe für sie stattdessen einen schulterfreien Minischlauch vorgesehen hatte, verschlug ihr für einen Moment den Atem. Sie fühlte sich nackt, doch leider mangelte es an Alternativen. Ihre zerrissene Jeans zu einem abendlichen Empfang? Unmöglich. Und die rosafarbene Leggings von heute Morgen? Auf gar keinen Fall!
Emily seufzte. Nicht nur, dass sie Matt nach dieser peinlichen Szene überhaupt unter die Augen treten musste, war sie gezwungen, es in diesem Nachtclub-Outfit zu tun.
Sie hob die Tasche vom Boden und kramte darin nach den weiteren »Schätzen«, die Joe und Silly für sie zusammengestellt hatten: Ein bauchfreies Jäckchen im Zebra-Look, dazu passende Pumps und ein im gleichen Design gehaltenes Ziertuch. Die Kleider hätten genauso gut aus dem Kostümfundus des Denver-Clans stammen können.
Emily entschied sich, zumindest auf die Schuhe zu verzichten und stattdessen bei ihren schwarzen Ballerinas zu bleiben. Sie wollte bei diesem wichtigen, vielleicht gefährlichen Auftritt, der ihr bevorstand, nicht auch noch auf Absätzen umherstolpern müssen. Doch sie schlüpfte in die schwarz glänzenden Nylons und knotete das Tuch um ihren Hals, um zumindest ein kleines Stück Haut zu bedecken. Die Schnitte an ihren Armen verbarg sie unter den Ärmeln des Zebra-Jäckchens.
Blieb noch ihr Gesicht.
Nach einem weiteren Blick in den Spiegel beugte sich Emily über die Badewanne und ließ eisiges Wasser über Stirn und Wangen laufen. Dann stellte sie auf Warm und begann, die lila Farbe aus ihrem Haar zu waschen. Sie trocknete es, föhnte es, teilte es in zwei dicke Strähnen und begann zu flechten. Sie legte Wimperntusche auf und ein ganz klein wenig Rouge. Zuletzt tupfte sie den rosafarbenen Gloss auf ihre Lippen, atmete tief ein, öffnete die Tür und ging in die Offensive.
»Ich weiß, was du denkst, aber glaub’ mir, es ist die einfachste Lösung, und wir wussten doch von vornherein, dass am besten ich den Köder …« So plötzlich Emily ihren Redeschwall gestartet hatte, so abrupt versiegte er jetzt. Sie war drei Schritte ins Zimmer gegangen, und dann stand sie Matt gegenüber, der sie anstarrte, mit Augen groß und veilchenblau, und Emily starrte zurück. Sie kam sich vor wie eines dieser Mädchen aus den amerikanischen Highschool-Filmen, das die Treppe herunterschreitet, um ihr Date für den Abschlussball zu begrüßen. Das dem Jungen, der noch nie zuvor so elegant gekleidet gewesen war, zittrig die Hand reicht, um das Blumenbouquet zu empfangen, passend zum Dress.
Emily spürte, wie ihre Wangen sich erwärmten. Sie wünschte die albernen Gedanken aus ihrem Kopf und ihr Kleid ein Stück länger. Sie wünschte, sie könnte damit aufhören, über Matt nachzudenken und zu fühlen, was sie fühlte.
Matt räusperte sich und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Wir sind ein kleines bisschen overdressed, oder?«, fragte er, und Emily dachte unwillkürlich, dass auch er erhitzt aussah. Und irgendwie peinlich berührt.
Hilflos hob sie die Schultern. »Keine Ahnung, was die Leute in den 80er-Jahren auf Gala-Events wie diesen so anziehen.«
O Gott. Sie stöhnte innerlich. Was redest du denn da?
Laut fuhr sie fort: »Hoffen wir einfach, dass die anderen auch in Anzug und Abendkleid aufkreuzen.«
Matt nickte.
Er stand nicht einmal einen Meter von Emily entfernt und als sie jetzt einatmete, sog sie seinen Duft ein. Er roch nach – Matt.
Es war unglaublich, wie nah sie sich gekommen waren in den vergangenen drei Tagen.
Matt roch wunderbar nach Matt und er sah umwerfend aus.
»Okay«, sagte er und holte Luft. »Was denke ich also?«
Emily runzelte verwirrt die Stirn. »Wie bitte?«
»Du kamst aus dem Bad und sagtest: ›Ich weiß, was du denkst‹. Also?«
Emily seufzte. »Du hältst es für gefährlich, wenn ich für Quayle den Köder spiele.«
Matt hob überrascht die Augenbrauen. »Das war nun wirklich nicht schwer zu erraten. Und weiter?«
»Und weiter hast du leider keine bessere Idee, sonst würdest du nämlich versuchen, mich daran zu hindern.«
Schweigen.
»Wäre es dir lieber, ich würde mich hier auf dem Zimmer verstecken und auf dich warten?«
»Würdest du das denn tun?«
»Was denkst du?«
Jetzt war es an Matt, zu seufzen. »Ich denke, es ist unmöglich, dich von etwas abzubringen, das du dir in den Kopf gesetzt hast.«
Emilys Augen funkelten. »Stimmt«, sagte sie.
»Gut«, gab Matt zurück.
Sie hielten den Blick des jeweils anderen für einige Sekunden, dann hob Matt mit einer unschlüssigen Geste seine Hand und nahm einen von Emilys Zöpfen zwischen Daumen und Zeigefinger. Obwohl er nicht einmal ihre Haut berührte, sandte er einen Schauer durch Emilys Körper.
»Du solltest ihn nicht provozieren«, sagte er schließlich. Er ließ die Strähne zurückfallen, und Emily atmete wieder.
Matt wandte sich ab. »Also gut«, sagte er entschlossen, »hier ist deine Eintrittskarte zum Ball.« Er nahm einen kleinen Gegenstand vom Schreibtisch und hielt ihn Emily hin. »Du stehst auf der Gästeliste. Darf ich bitten, Mrs. Browser?«
Emily griff nach dem Namensschild und drehte es zwischen ihren Fingern.
»Woher …«, setzte sie an, aber dann besann sie sich eines Besseren. »Arme Mrs. Browser«, murmelte sie stattdessen und ließ das Schild in ihre Zebra-Clutch fallen, die sie ebenfalls in der Reisetasche gefunden hatte. Matt schob seinen Anstecker in die Brusttasche seines Jackets.
»Tust du mir einen Gefallen?«, fragte er, ohne Emily aus den Augen zu lassen.
Sie hob überrascht den Kopf. »Was für einen?«
»Unterschätze ihn nicht – Quayle, meine ich.« Er ließ eine Hand durch seine Haare gleiten. »Wir wissen, wozu er im Stande ist. Sei einfach vorsichtig, okay? Tu nichts, was dich in Gefahr bringt.«
Jetzt musste Emily trotz allem lachen. »Ich fürchte«, sagte sie, »diesen Tipp hätte mir jemand geben sollen, bevor ich in dieses Flugzeug nach England gestiegen bin.«
Sie fühlte seine Anwesenheit so deutlich, dass ihr ein Schauer über den Rücken lief. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen, als sie in das orangefarbene Licht der Bar eintauchte, die Handtasche mit beiden Händen vor den Körper gepresst. Dabei scannte sie den Raum mit ihren Augen.
Er war hier. Quayle war hier. Sie konnte ihn spüren.
Die Bar hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem Ort, an dem sie und Matt heute Mittag Kaffee getrunken hatten. Die matten Polster der Ledersofas schimmerten anheimelnd im gedimmten Licht der Stehlampen, und leise Klaviermusik füllte die zuvor hohle Atmosphäre des prächtigen Raums. Den Mittelpunkt aber bildete der von innen heraus beleuchtete Tresen, dessen hochprozentige Ausstellungswaren in den wärmsten Brauntönen funkelten. Auf den Hockern davor saßen ausnahmslos Männer.
Emily hatte die Theke fast erreicht, konnte Quayle aber noch immer nicht entdecken. Also schritt sie gemächlich daran vorbei und steuerte schließlich auf eine der Sitzgruppen zu, die unter den hohen Fenstern drapiert worden waren. Sie ließ sich in einem schweren Sessel nieder, schlug ein Bein über das andere und legte ihre Hände mitsamt Tasche in den Schoß. Ihr war klar, dass das ohnehin schon fürchterlich kurze Kleid mehr von ihrem Bein preisgab, als sie je freiwillig bereit gewesen wäre zu zeigen. Aber hey – sie war ein Lockvogel, oder etwa nicht?
Also los, Quayle, lass dich ködern.
Emily zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass er sie finden würde. Und sie hoffte inständig, dass für Matt das Gleiche galt. Sie hatte ihn dazu gebracht, sich schon vor dem Hotel von ihr zu verabschieden, denn sie wollte nicht, dass Quayle sie mit jemandem zusammen sah. Er sollte sie als potenzielles Opfer wahrnehmen – allein und somit wehrlos. Dass sie sich in diesem Moment genau so fühlte, musste sie wohl oder übel in Kauf nehmen. Sie hatte es so gewollt, und allein von der logischen Seite her betrachtet war es sicherlich die beste Lösung. Aber.
Sie nahm an, dass Matt sich zunächst auf die Suche nach den anderen machen würde: Bestimmt wollte er sichergehen, dass Josh, Eve und ganz besonders ihre Mutter nicht auf sie aufmerksam wurden. Und noch hatten sie gute Chancen, Quayle rechtzeitig und quasi unbemerkt aus dem Weg zu räumen: Es war erst kurz vor fünf, der Empfang hatte noch nicht begonnen, und das Servicepersonal – und somit auch Josh und Esther – war sicher hinter den Kulissen mit den Vorbereitungen beschäftigt. Während sich Quayle in der Bar in Stimmung brachte. Womöglich suchte er sogar nach ihr.
»Darf ich?« Seine säuselnde Stimme ließ sie zusammenzucken, und sofort sehnte sich Emily danach, ihr Kleid in die Länge zu ziehen. Sie hatte so sehr mit ihm gerechnet und war trotzdem nicht gewappnet. Ihr Weglauf-Impuls war immens. Doch sie blieb, hob den Blick und lächelte gequält in Quayles perfekt geglättete Maske von Gesicht.
»Bitte«, sagte sie gestelzt. Ihre Stimme klang heiser. So, als habe er mit seinen eiskalten Augen ihre Kehle eingefroren.
Er nahm ihr gegenüber Platz. Stellte sein Whiskyglas auf dem niedrigen Tisch zwischen ihnen ab, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und faltete die Hände in seinem Schoß, als wollte er sie spiegeln. Auch er lächelte. Dann neigte er den Kopf und fragte: »Was haben Sie mit Ihren Haaren gemacht?«
Emilys Magen zog sich zusammen. Saß sie hier wirklich und führte Smalltalk mit einem Mann, der kaltblütig Mädchen umbrachte? Der sie selbst betäubt und entführt und gequält hatte und ihre Freundin Fee in einem Kofferraum gefangen hielt?
Sie zuckte mit den Schultern. Sie konnte nur hoffen, dass er ihr Zittern nicht bemerkte. »Ich dachte, das Violett sei der Veranstaltung heute Abend nicht ganz angemessen«, erklärte sie. Sie reckte das Kinn vor. »Sie mochten es?«
Quayles Lächeln verformte sich zu einem amüsierten Schmunzeln. Während er sich vorbeugte, um nach seinem Glas zu greifen, antwortete er: »Nun, mir gefällt Ihre neue Frisur besser.«
Emilys Herz schlug so laut, dass sie fürchtete, Quayle könnte es hören. »Vielen Dank«, sagte sie langsam, löste eine Hand, die krampfhaft die Tasche in ihrem Schoß gehalten hatte, und strich mit einer scheinbar unbewussten Geste über einen der Zöpfe.
»Meine Mutter hat es mir beigebracht.« Die Lüge platzte nur so aus Emily heraus. »Das Flechten, meine ich. Sie trug ihre Haare meistens so.« Sie hatte keine Ahnung, woher diese plötzliche Eingebung kam, aber kaum waren die Worte über ihre Lippen, wusste Emily, dass sie ins Schwarze getroffen hatte. Quayles Augen zuckten für den Bruchteil einer Sekunde, dann waren sie von jeglichem Ausdruck befreit. Die Mutter ist der Schlüssel, dachte Emily, was für ein Klischee! Und dennoch – damit konnte sie ihn womöglich aus seiner Reserve locken. Und das wollte sie doch, oder etwa nicht?
Quayle nippte an seinem Whisky, und ein Lichtstrahl brach sich in der bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Er lehnte sich wieder in seinen Sessel zurück und drehte das Glas zwischen seinen langen Fingern. Seine ganze Erscheinung wirkte derart gelassen und in sich ruhend, dass es Emily innerlich schüttelte. Wie kalt er war. Wie abgebrüht.
»Sie starb, als ich klein war.« Emily musste sich nicht einmal anstrengen, ihre Stimme brüchig klingen zu lassen, sie tat es auch so. »Ich kann mich kaum mehr an sie erinnern. Ich habe Bilder. Sie sah wunderschön aus mit ihren …«
»Verraten Sie mir Ihren Namen?«, fragte er plötzlich.
»Greta«, antwortete Emily sofort. Sie setzte sich etwas aufrechter hin und zupfte nun doch an ihrem Saum. »Und Ihr Name ist James?«
»Greta«, wiederholte Quayle. Er hatte offenbar nicht vor, ihre Frage zu beantworten. »Was für ein hübscher Name. Woher kommt er?«
Emily starrte Quayle einen Augenblick an. Sie hatte auf einmal das Gefühl, dass ihr Schicksal besiegelt war. Dass er ihr Schicksal besiegelt hatte. Sie hatte seine Mutter erwähnt und damit einen Schalter umgelegt. Sollte er zuvor noch nicht vollständig davon überzeugt gewesen sein, sie töten zu wollen – jetzt war er es, das spürte sie.
Sie räusperte sich. »Ich weiß nicht, woher der Name kommt«, antwortete sie, »aber ich bin aus … Schweden. Stockholm, um genau zu sein.«
O Gott, Emily! Beinahe hätte sie selbst die Spur nach München gelegt. Sie betete, dass ihr Gestammel ihn nicht stutzig gemacht hatte. Und dass er nun nicht etwas Schwedisches von ihr hören wollte. Doch wie sich herausstellte, schien ihm ihre Herkunft gleichgültig zu sein.
»Greta«, sagte er einfach. »Greta mit den Zöpfen.« Er nahm einen weiteren Schluck, diesmal einen großzügigen, und stellte das leere Glas auf dem Tisch ab. »Greta«, setzte er an, etwas lauter diesmal. »Was macht ein Mädchen wie Sie auf einem Kongress wie diesem? Begleiten Sie Ihren Vater?« Seine Kohleaugen betrachteten Emily. Er sah gierig aus.
Emily schüttelte den Kopf. »Nein«, antwortete sie, »ich bin allein hier.« Sie überlegte eine Sekunde. »Schülerpraktikum. Vor dem Medizinstudium.«
Liebe Güte, wann hatte sie gelernt, so zu lügen? Sie war heilfroh, dass Matt sie nicht hören konnte.
»Ich verstehe«, sagte Quayle. Er nickte. »Wie hat Ihnen mein Vortrag gefallen?«
Emily zögerte einen Moment. Wie weit wollte sie gehen? Schließlich sagte sie: »Interessant. Obwohl ich Ihre Meinung nicht teilen kann. Ich persönlich würde mich nicht als Lebewesen betrachten, das sich über Leben und Tod stellen darf.«
Quayles Augen verengten sich. »Und das habe ich getan?«, fragte er ungläubig.
Emily legte den Kopf schief. »›Gott ist tot, Gott bleibt tot, und wir haben ihn getötet?‹«, zitierte sie.
Quayles Lippen verzogen sich zu einem schmalen Lächeln. »Ich verstehe«, sagte er. »Aber dann und wann muss man plakativ werden, damit die Zuhörer nicht einschlafen. Das war nur ein Zitat von Nietzsche.«
»Das macht es nicht besser.«
»Nein?«
»Nietzsche war ein frauenfeindlicher Macho.«
Quayle lachte auf, laut und hart. »War er das?«, fragte er. Der Ausdruck in seinen Augen schwankte zwischen Belustigung und Begehren.
Emilys Gesicht blieb ausdruckslos. Sie fragte sich, wo Matt blieb – sie war sich so sicher gewesen, dass er ihr nicht von der Seite weichen würde, hätte sie Quayle erst gefunden, doch nun konnte sie ihn nirgendwo entdecken. Wieso fühle ich, wenn ein Frauenmörder im Raum ist, aber nicht, ob … Sie hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, da spürte sie, wie sich Wärme in ihr ausbreitete, vom Nacken her über ihren gesamten Rücken. Ihre Lippen zuckten, beinahe hätte sie gelächelt. Natürlich war er hier, was hatte sie denn geglaubt?
Sie versuchte, sich wieder auf das Gespräch mit Quayle zu konzentrieren. Was war übriggeblieben aus ihrer Arbeitsgruppe Philosophie? »Ich bevorzuge Darwin«, erklärte sie schließlich. »›Alles, was gegen die Natur ist, hat auf Dauer keinen Bestand.‹«
Quayle lachte wieder, ein widerliches, heiseres Lachen. »Das bedeutet wohl in der Konsequenz, dass jeder Eingriff gegen das Natürliche nicht zu dulden ist«, erklärte er von oben herab. »Aber was ist dann mit denjenigen, die das Skalpell benutzen, um Leben zu retten? Um die Alten und Kranken zu verarzten oder auch die Jungen vor ihrem Schicksal zu beschützen? Was ist mit denjenigen, die es ansetzen, um Herzen zu bewahren – oder das Böse herauszutrennen?«
Uh! Nun bekam Emily wahrhaftig eine Gänsehaut. Wie dreist war er, ihr gegenüber das Wort Skalpell zu benutzen. Und dann auch noch in diesem Zusammenhang. Wie sicher war er sich ihrer, dass er anfing Spielchen zu spielen?
Sie räusperte sich. »Die gleichen Kräfte, die uns zu den Sternen fliegen lassen, ermöglichen uns auch, unseren eigenen Stern zu vernichten«, sagte sie. »So ähnlich heißt es doch, oder? Ich weiß nicht mehr, wer das gesagt hat. Ich hab’ es wohl irgendwo gelesen.«
Sie hielt Quayles Blick stand, der sie anstarrte, als sei ihm plötzlich etwas klar geworden. Ahnte er, dass Emilys Worte auf ihn gemünzt waren? Fragte er sich, was dieses Mädchen wissen konnte oder woher es ahnte, was er, Quayle, mit seinen Kräften trieb? Was auch immer es war, Emily konnte beinahe hören, wie es Klick machte in Quayles Kopf. Als sei das letzte Teil in seinem perversen Puzzle auf einmal in Position gerutscht. Er hatte eine Entscheidung getroffen, und die sollte ihr bestimmt nicht gefallen.
»Sie sind ein aufgewecktes Mädchen«, sagte er.
»Vielen Dank«, antwortete Emily höflich.
»Das müssen Sie auch sein«, fuhr Quayle fort, »sonst hätte man sicher für Sie keine Ausnahme gemacht, um an diesem Kongress teilzunehmen.« Sein Blick durchbohrte sie, und Emily hielt den Atem an, sagte jedoch nichts.
»Darf ich Ihnen etwas zu trinken bringen?«
Sie blinzelte.
Was war das für eine Ausnahme, und wieso ließ Quayle das Thema so einfach wieder fallen?
»Eine Cola, bitte«, antwortete sie zögernd.
Quayle nickte ihr zu, erhob sich und ging in Richtung Bar.
»O verdammt, Emily!«
Emily zuckte zusammen. Sobald Quayle außer Hörweite war, drang Matts Stimme an ihr Ohr, leise, aber so voll unterdrücktem Ärger, dass ihr Herz augenblicklich davongaloppierte. Sie sah in Quayles Richtung – er hielt immer noch auf die Bar zu – und drehte ihren Kopf nach rechts. Einen Meter von ihr entfernt, hinter einer der mächtigen Marmorsäulen, stand Matt und funkelte sie wieder einmal an, als wolle er ihr eigenhändig den Hals umdrehen.
»Was sollte das eben? Willst du, dass er dir an Ort und Stelle die Kehle durchschneidet?«
Mit einem Ruck wandte Emily sich ab und wieder Quayle zu, der inzwischen am Tresen lehnte und in ihre Richtung sah. Sie nickte ihm zu, doch sein Blick blieb unbeweglich. Es fühlte sich an, als würde die Angst ganz gemächlich an Emilys Wirbelsäule hochkriechen. Quayle schenkte seine Aufmerksamkeit den Whiskyflaschen hinter der Bar. Offenbar waren noch einige Männer vor ihm an der Reihe, aber allzu lange würde Emily bestimmt nicht auf seine Rückkehr warten müssen.
»Wir haben nicht viel Zeit«, flüsterte sie mit so wenig Lippenbewegung wie möglich, »also spar dir deine Beschimpfungen. Hast du die anderen gefunden? Wo sind sie?«
Sie hörte Matt schnauben. »Merkst du nicht, was hier läuft?«, gab er verärgert zurück. »Er weiß, dass du ihn belogen hast. Er ist vermutlich stinksauer und plant schon deine Sezierung.«
»Shhhh, würdest du bitte aufhören? Du machst noch die ganze Bar auf uns aufmerksam.« Nervös sah Emily sich um. Bislang hatte noch niemand von ihnen Notiz genommen, doch bei Matts wachsender Wut konnte dies nicht mehr allzu lange dauern. »Es ist doch ganz egal, warum er mich umbringen will«, wisperte sie ihm zu. »Ob aus reiner Mordlust oder weil er sich nicht gern täuschen lässt.« Der Gedanke ließ sie erschauern. »Ich kriege ihn auf diesen Parkplatz. Halte du dich einfach bereit, wenn es so weit ist.«
Matt antwortete nicht gleich, und Emily fragte sich schon, ob er gegangen war, da sagte er: »Warte nicht zu lange. Josh und Esther sind hinter der Bühne, aber die Vorbereitungen können nicht ewig dauern. Eve habe ich nicht gesehen, aber ich bin mir fast sicher, dass sie hier irgendwo steckt und Quayle beobachtet. Also, wenn du mit ihm die Bar verlässt und …«
»Matt! Er bezahlt!«
Sie konnte kein weiteres Wort sagen, denn schon kam Quayle auf sie zu, ein Whisky- und ein Cola-Glas in den Händen. Emily presste die Lippen aufeinander und zwang sich zu einem Lächeln, das der Mädchenmörder nicht erwiderte.
Matts Flüstern war nun kaum mehr zu hören. »Wenn du mit ihm die Bar verlässt, wird Eve nicht weit sein. Sobald wir den Kerl unschädlich gemacht haben, müssen wir verschwinden, bevor sie uns folgen kann.«
Statt zu nicken, senkte Emily ihre Lider. Quayle war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt. Er musste an einem der Tische vor ihnen warten, an dem sich eine kleine Menschentraube staute. Durch ihre Wimpern hindurch riskierte Emily einen Blick in Matts Richtung. Sie sah seine Silhouette und dahinter eine Bewegung, die sie geschockt hochfahren ließ.
Eves rote Mähne flatterte durch den Raum, zwischen den Sesseln und Sofas und den übrigen Gästen hindurch direkt auf sie zu. Emily bekam einen Hustenanfall. Sie hatte keine andere Möglichkeit, Matt zu warnen, aber es war ohnehin zu spät.
»Meine Güte, Matt – was machst du hier? Wie bist du hergekommen? Das ist doch völlig unmöglich!« Eves Stimme, hell und aufgeregt. Emily konzentrierte sich auf Quayle, der sie beobachtete. Sie erwiderte seinen Blick, ohne eine Miene zu verziehen. Der Husten war vergessen.
»Ich – Eve!« Matt flüsterte nicht mehr, und der Horror in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Das ist … eine Überraschung.«
»Was tust du hier?«, wiederholte Eve, und das war der Moment, in dem Quayle Emilys Tisch erreichte und das Paar hinter der Säule entdeckte. Er musterte die beiden neugierig, und auch Emily erlaubte sich einen Blick. Eves Augen ruhten auf ihr, tausend Fragen darin. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Matt zu. Sie senkte ihre Stimme und redete leise auf ihn ein, während sie ihn mit sich zog, weg von Quayle, weg von Emily. Den Verlust, den diese verspürte, traf sie augenblicklich und mit Wucht. Das Letzte, das sie von Matt sah, waren sein entsetzter Gesichtsausdruck und seine Lippen, die lautlos drei Worte formten. »Warte auf mich.«
»Wer war das? Kannten Sie die beiden?« Quayle nahm wieder in seinem Sessel Platz, in der einen Hand einen Whisky, Emilys Cola in der anderen. Er sah sie fragend an.
Emily holte Luft. »Wen? Oh, die zwei – nein, keine Ahnung. Hörte sich an wie ein Streit.« Sie spürte, wie sie zitterte. Die Tatsache, dass sie nun mit Quayle alleine war, machte ihr mehr zu schaffen, als gut für sie war.
Quayle betrachtete sie. Es stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass er ihr nicht glaubte, und er machte sich keinerlei Mühe, dies zu verbergen.
»Also«, sagte er, während er das Glas Cola vor Emily abstellte. »Wie haben Sie es geschafft, für diese Tagung zugelassen zu werden?« Er lehnte sich zurück und hielt den Rand seines Glases an seine Lippen, trank aber nicht. »Es hieß, es dürfen nur Ärzte an den Vorlesungen teilnehmen – Ärzte, Stipendiaten und Doktoranden.«
Emily räusperte sich. »Mein Onkel, ähm, hat mir geholfen, er stammt aus England«, antwortete sie. Liebe Güte, hör auf zu stammeln! »Weiß der Himmel, wie er das geschafft hat.«
Sie beugte sich vor, griff sich ihr Glas und nahm einen kräftigen Schluck. Uh! Die Cola schmeckte so widerlich süß, dass sich Emily unwillkürlich fragte, ob das Rezept seit den 80er-Jahren vielleicht geändert worden war.
»Wie heißt Ihr Onkel?«
Emily zögerte keine Sekunde. »Browser«, sagte sie. Noch eine Sekunde später hätte sie sich am liebsten die Zunge abgebissen. Sie hatte das Namensschild absichtlich nicht an ihr Kleid geheftet, aus Angst, Quayle könnte diese Mrs. Browser eventuell kennen und würde sie allein deshalb der Lüge überführen. Wieso hatte sie jetzt diesen Namen ins Spiel gebracht? Das war so ungeheuer dumm von ihr, dass sie sich am liebsten selbst getreten hätte. Zumal Quayles Augenbrauen interessiert in die Höhe schossen.
»Browser?«, fragte er. Nichts weiter. Dann leerte er sein Glas mit einem Zug und stand auf. »Wir sollten langsam aufbrechen.« Er streckte Emily eine Hand entgegen. »In ein paar Minuten ist Einlass.«
Emily starrte auf die langen, dürren Finger, dann in Quayles Gesicht. »Ich weiß nicht«, sagte sie, und ihre Stimme bebte mit einem Mal, »wie spät ist es? Hat das nicht noch etwas Zeit?«
Warte.
Warte auf mich.
Quayle schüttelte den Kopf. »Nicht, wenn wir noch ein Glas Champagner ergattern wollen«, gab er zurück. Er lächelte sie an, aber es sah kein bisschen freundlich aus.
»Kommen Sie, Greta.« Mit diesen Worten ergriff er ihre Hand und zog sie aus dem Sessel, und Emily, die viel lieber geschrien hätte, blieb nichts anderes übrig als sich von Quayle aufhelfen zu lassen.
Ihr war, als würde sich der Boden unter ihr bewegen. Womöglich war sie zu lange in einer Position verharrt.
»Na, dann …«
Quayle ließ ihr den Vortritt, und sie schlängelte sich vorsichtig zwischen den schweren Sesseln hindurch zur Mitte des Raums. Ihr war seltsam zumute, so, als sei ihr Kreislauf binnen fünf Sekunden in den Keller gerauscht und dort in sich zusammengefallen. Das war nicht der richtige Zeitpunkt, um weiche Knie zu bekommen, schalt sie sich. Also strengte sie sich an und steuerte so aufrecht wie möglich auf den Durchgang zur Lobby zu.
»Ist Ihnen nicht gut?« Quayle war plötzlich neben ihr und stützte mit einer seiner widerlichen Hände ihren Rücken. Er klang überhaupt nicht besorgt, und Emily fühlte, wie sich kalter Schweiß auf ihrer Stirn bildete.
Was war los mit ihr?
Wo war Matt?
Sie machte einen Schritt zur Seite, um Quayles Berührung auszuweichen, und taumelte gegen den Türrahmen. Dort hielt sie sich einen Moment fest und atmete tief ein. Die Schattierungen des Marmorbodens flirrten vor ihren Augen. Sie musste sich ungeheuer konzentrieren, um nicht den Fokus zu verlieren.
Als Quayle sie entschlossen am Arm packte und in die Eingangshalle schob, war sie fast dankbar. Er steuerte mit ihr auf den Saal zu, in dem der Empfang stattfinden sollte, und genau da wollte sie doch hin. Sie musste Matt finden, war das nicht der Plan? Schließlich hatte sie Quayle bald so weit, er würde ihr auf den Parkplatz folgen und … Benommen kniff Emily ihre Augen zusammen. Irgendetwas stimmte nicht. Sie war der Köder, sie war diejenige, die Quayle überführen, die ihn unschädlich machen wollte. Wie konnte es geschehen, dass sie sich nun so hilflos fühlte? Wie konnte es sein, dass er sie festhielt und lenkte und zog, als sei sie eine kranke Kuh, die es galt, auf die Schlachtbank zu führen?
Kranke Kuh! Emily kicherte leise. Wie war sie nur darauf gekommen? Wo wollte sie nochmal hin? Ihre Eltern, richtig. Sie wollte ihren Eltern noch etwas sagen …
»Mr. Quayle, darf ich Ihnen behilflich sein? Geht es der jungen Dame nicht gut?« Mit einem schläfrigen Augenaufschlag nahm Emily den Portier wahr, der seinen Kontrollposten neben dem Eingang zum Saal verlassen hatte und auf sie zueilte.
»Danke, Carl, aber ich komme schon zurecht«, hörte sie Quayle antworten. »Ich war gerade dabei, diese kleine Schwindlerin nach draußen zu befördern.« Irrte sie sich, oder klang Quayle undeutlicher als noch vor wenigen Minuten? Und was redete er da? Schwindlerin. Schwindlerin.
»Schwindlerin?« Der Portier war um sie herumgegangen und griff nach Emilys anderem Arm, um sie zu stützen. Gemeinsam mit Quayle lenkte er sie in Richtung Ausgang, auf die ausladende Drehtür zu.
Aber sie wollte doch gar nicht nach draußen.
STOP!!! hallte es in Emilys Kopf. Doch das Wort schaffte es nicht über ihre Lippen.
»Sie gibt vor, die Nichte von Stephen Browser zu sein«, antwortete Quayle, und Emily entkam ein überraschter Laut, der beinahe wie ein Röcheln klang. »Ich schätze, sie wollte sich beim Empfang einschleichen – die Auswahl an gut situierten Männern muss für eine wie sie einfach zu verlockend gewesen sein.«
»Eine wie sie? Sie meinen, sie ist …« Der Pförtner vollendete den Satz nicht, doch seine Bedeutung drang zu Emily durch, vorbei an all den Nebelschichten in ihrem Kopf. Sie versuchte zu sprechen, aber sie schaffte es nicht.
»Ganz sicher ist sie das, sehen Sie sie doch an«, hörte sie Quayles abfällige Antwort, und Carl schnappte nach Luft. »Sie saß heute Mittag schon in meiner Vorlesung – da waren die Haare noch violett.« Er blieb abrupt stehen und Emilys Kopf schleuderte hart gegen seine Brust. Er roch nach kaltem Zigarettenrauch und einem süßen Aftershave, das in ihr einen Würgereiz auslöste.
Carl, der Portier, schien es zu bemerken. »Was ist mit ihr?«, fragte er besorgt. »Sie sieht grauenvoll aus.«
Emilys Kopf wippte, als Quayle mit den Schultern zuckte. »Ein Schnaps zu viel, würde ich schätzen«, antwortete er. »Sie hat mich in der Bar aufgerissen und dann ordentlich zugelangt.« Er schob Emily ein Stück von sich weg und riss ihr dann die Tasche aus der Hand, die sie nach wie vor umklammert hielt.
»Hier, sehen Sie nach«, forderte Quayle den Portier auf. »Ich wette, sie hat sich das Namensschild von Mrs. Browser unter den Nagel gerissen. Stephen hat vorhin danach gesucht, Sie erinnern sich?«
Abermals schnappte Carl geräuschvoll nach Luft. »Ich habe beiden ein neues ausstellen müssen«, erklärte er empört. Er ließ Emilys Arm los und kramte das Namensetikett aus ihrer ansonsten leeren Clutch. »Nicht zu glauben«, murmelte er. »Ich informiere den Geschäftsführer.«
Auch Quayle ließ nun Emilys Arm los, legte seinen aber stattdessen um ihre Taille, um sie besser stützen zu können.
Ich bin ein Fisch, schoss es Emily durch den Kopf. Wabbelig. Wabbelwabbel.
»Meinen Sie wirklich, das ist notwendig?«, fragte Quayle. »Sehen Sie sie doch an – heute wird sie nichts mehr ausrichten können.« Er musste die beinahe leblose Emily fest an sich drücken, um sie weiter zur Ausgangstür bewegen zu können. »Ich bringe sie nach draußen«, erklärte er bestimmt. »Ein paar Meter die Straße hinunter ist so ein Rocker-Schuppen. Ich wette, irgendjemand dort kennt die Kleine.«
Emily reagierte nicht.
Der Portier sagte: »Also gut, kommen Sie, Mr. Quayle, ich helfe Ihnen.«
Wahwah, machte es in Emilys Hirn.
Dann klackte und surrte es, und plötzlich spürte sie Wind auf ihrem Gesicht und Quayles Atem an ihrem Hals. Er sagte etwas zu ihr, doch die Worte ergaben überhaupt keinen Sinn. Seine Stimme waberte wie Brei in ihren Ohren. Eine Böe liftete Emilys Pony und kühlte den Schweiß auf ihrer Stirn.
»Keine Sorge«, flüsterte Quayle. »Du wirst jetzt nicht sterben. Noch nicht.«
Quayle zog Emily nicht gerade sanft neben sich her, doch von außen betrachtet konnten sie genauso gut ein Liebespaar darstellen: Mit beiden Armen hielt er sie umschlungen, eine Hand berührte ihren Nacken, und so taumelten die zwei wie im Rausch die Straße hinunter. Es war erst kurz nach halb sechs, der Abend noch hellgrau, doch das wankende Paar bewegte sich unbemerkt in den Schatten der Häuser. Lautlos, so weit es Quayle betraf, schleppend in Emilys Fall. Sie bemühte sich, die Augen offen zu halten, aber sie fielen ihr immer wieder zu. Sie strengte sich an, Quayles Arme von ihrem Körper zu schieben, doch alle Versuche blieben erfolglos.
Vor ihnen, vielleicht zehn, zwölf Meter entfernt, flimmerte das Schild der Punk-Kneipe gegen den Himmel. »Wasted« sollte darauf zu lesen sein, das wusste Emily von ihrer Ankunft am Nachmittag. Nun aber konnte sie lediglich WWWAAASSS entziffern, dann flatterten ihre Lider wieder zu.
Allmählich wuchs die Verzweiflung in ihrem Inneren zu brennender Panik heran.
Sie wollte doch um Hilfe rufen, aber sie konnte es nicht.
Wohin brachte er sie?
Die frische Luft hatte ihren Geist geschärft, ihr Körper aber bewegte sich wie ein Sandsack im Meer.
So hatte sie Quayle nichts entgegenzusetzen, als er kurz vor dem Lokal bei einem Wagen stehen blieb, die Beifahrertür öffnete und sie in den Sitz drückte. Sie ließ ihren Kopf nach hinten an die Nackenstütze rollen und schloss die Augen.
O Gott, das war schiefgelaufen. Sie hatte geglaubt, das Richtige zu tun, allein in dieser Bar, aber mit dem sicheren Gefühl, dass Matt über sie wachte. Womöglich war es naiv gewesen, Quayle so zu provozieren – ihn ahnen zu lassen, dass sie wusste, und dann … von der Cola zu trinken, die er ihr serviert hatte. Ein verzweifelter Laut entwich Emilys Kehle. Aus dieser Nummer würde sie nicht mehr herauskommen, so viel stand fest.
Quayle startete den Motor, und der Wagen setzte sich in Bewegung. Emily drehte ihr Gesicht in seine Richtung und stöhnte. Wo bringst du mich hin?, wollte sie fragen, aber ihre Zunge bewegte sich so träge, und ihre Lippen öffneten sich so schwer. »Brings«, brachte sie schließlich hervor, und Quayle lachte leise.
Sie fuhren nur ein kurzes Stück, und nach einer scharfen Linkskurve hielt Quayle so abrupt an, dass der Motor abstarb. Sie waren keine Minute unterwegs gewesen. Es gelang Emily, ihre schweren Lider zu öffnen, und sie blinzelte aus dem Fenster. Da standen Autos um sie herum, viele Autos, und weiter hinten, die Mülltonnen … Für eine Sekunde rauschte das Adrenalin durch Emilys Adern und sie nutzte die Gelegenheit, um sich ein Stück in ihrem Sitz aufzurichten. Sie waren auf dem Parkplatz, dem Parkplatz! Emily konnte ihr Glück kaum fassen. Es wäre ganz leicht, sie hier zu finden. Matt würde auf jeden Fall nach ihr suchen, wenn sie nicht mehr in der Bar war und auch nicht bei dem Empfang, dann würde er doch ganz sicher als Nächstes hier nachsehen, oder etwa nicht?
Quayle öffnete seine Tür. »Jetzt wird es leider ein wenig unbequem für dich«, erklärte er ohne jedes Mitleid und stieg aus. Emilys Herz sank. Sie folgte Quayle mit schläfrigem Blick, wie er mit den Augen den Parkplatz absuchte und dann vorn ums Auto herumlief, ihre Tür öffnete und sie am Arm herauszog. »Mpf«, machte sie, denn er tat ihr weh, aber er beachtete sie nicht.
Grob zerrte er sie hinter sich her zum Kofferraum und machte sich an dessen Schloss zu schaffen. Als es sich nicht sofort öffnen ließ, lehnte er Emily wie eine Puppe an das Auto und rüttelte mit beiden Händen daran.
»Sag mir nur eines«, presste er zwischen zusammengekniffenen Zähnen hervor. »Wusstest du über mich Bescheid oder hast du einfach nur mehr Pech als Verstand?«
Emily antwortete nicht. Sie hielt sich mit Mühe aufrecht im Kampf gegen die überwältigende Müdigkeit, die sie weiter und weiter in die Dunkelheit zog.
»Du siehst ihr ähnlich, weißt du.« Auch Quayles Stimme verschwamm mit jedem Wort mehr. »Meiner Mutter. Wie konntest du das wissen?«
»Ich hab’ sie!« Mit einem Ruck wurde Emily von den Füßen gerissen und fort von Quayle und seinem Wagen. Die Überraschung war so groß, dass sich ihre Augen vor Schreck weiteten, doch was sie dann sah, schockierte sie noch mehr. Ihre Mutter hielt sie im Arm und zog sie zur Rampe, die ins Hotel führte. »Hilft mir bitte jemand?«, rief Esther, und Emily sackte in sich zusammen, als habe sie nur auf diesen Moment gewartet.
»Matt.« Emily öffnete die Augen. Ihr Herz klopfte und sie war sich sicher, dass der Gedanke an ihn sie geweckt hatte. Dabei hatte sie gar nicht geschlafen. Sie lag auf dem Asphalt und aus den Augenwinkeln erkannte sie Quayles Wagen und daneben stand eine Gestalt. Beziehungsweise zwei Gestalten standen da, die in einer grotesken Umarmung zu einer verschmolzen. Matt hatte beide Hände um Quayles Gesicht gelegt, das plötzlich von innen heraus zu leuchten schien. Die Muskeln seiner Arme vibrierten unter dem Druck, und mit jeder Sekunde verformten sich Quayles Züge mehr. Emily blinzelte: Es sah aus als würde er schmelzen! Quayle gab keinen Laut von sich, aber es war deutlich zu erkennen, dass seine Kräfte nachließen. Seine Hände schwangen unkoordiniert durch die Luft, so als wolle er abheben, doch schließlich gelang es ihm, sie in Richtung seiner Gesäßtaschen zu lenken und etwas daraus hervorzuziehen. Er schnaubte jetzt, beide Wangen zu Ballonen aufgeplustert. Schritte näherten sich, dann rief jemand etwas. Matt drehte den Kopf in die Richtung, und eine Klinge blitzte zwischen Quayles Fingern auf.
»Matt.« Emily hauchte seinen Namen und schloss die Augen. Sie hörte Matts Stöhnen nur noch wie durch Glas.
»Hallo? Kannst du mich hören? Öffne deine Augen!« Von weit her drangen Stimmen an Emilys Ohr und jemand rüttelte an ihr, immer und immer wieder. Sie wollte ja so gern aufwachen, aber sie konnte nicht, denn die Finsternis, die sie umhüllte, wog so schwer wie Blei.
»Emily?« Etwas schimmerte durch die Dunkelheit. Als es ganz auftauchte, erkannte sie das Gesicht ihres Vaters, das sich über sie beugte, die Augen voller Sorge. Er strich ihr Haare aus der Stirn und tätschelte ihre Wange. Und dahinter, ihre Mutter, aufgelöst und ängstlich rief sie jemandem etwas zu, dann kniete sie neben Emily nieder.
Mama.
Papa.
Emily spürte, wie Tränen in ihr brannten, doch dann verschluckte sie erneut die Nacht.
Sie schreckte hoch, als ihr ein grässlicher Geruch in die Nase stieg. Ihre Lider flatterten, und durch sie hindurch erkannte sie Matt. Er hielt ihren Kopf in seinem Schoß. Als Emily die Augen endlich aufschlug, reckte er ein kleines Fläschchen in die Luft. Ihr Blick folgte seiner Hand. Es war ihr Vater, der die Flasche entgegennahm. Ihre Mutter stand dicht hinter ihm. Von irgendwoher drangen dumpfe Geräusche an ihr Ohr, doch ihr Blick wanderte zurück. »Matt«, wisperte sie.
Sein Anblick erschreckte sie. Sein Gesicht wirkte fahl, beinahe so wie der Himmel hinter ihm, und an seinem Haaransatz klebte Blut. Das Schlimmste aber waren seine Augen: Sie waren schwarz schattiert und ohne jeden Glanz und sie blickten so besorgt auf Emily nieder, dass sich ihr Herz schmerzhaft zusammenzog.
»Wie geht es dir?«, flüsterte er. »Kannst du dich bewegen?« Angst schwang in seiner Stimme mit, und Emily streckte spontan eine Hand nach ihm aus, wie um ihn zu trösten. Zu ihrem großen Erstaunen ergriff er sie und legte sie an seine Wange. Dann neigte er den Kopf, um sich in die Bewegung einzuschmiegen. Emilys Augen weiteten sich. Matt schloss für einen Moment die Lider.
»Matt!« Joshs verzweifelter Ruf ließ Emily zusammenzucken, und Matts Kopf schnellte nach oben. »Ich kann ihn nicht mehr lange halten. Der verdammte Mistkerl ist zäh!« Matt löste Emilys Hand von seiner Wange und drückte wie selbstverständlich einen Kuss in deren Innenseite. Dann nahm er ihr Gesicht in beide Hände und berührte mit den Lippen ihre Stirn. »Ich bin sofort wieder da«, flüsterte er.
Emily nickte, aber in ihrem Inneren tobte es. Was hatte er gesagt? Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
Er sprach jetzt mit ihrem Vater. »Können Sie herausfinden, was er ihr gegeben hat? Wir müssen sie hier wegbringen.«
Matt ließ Emily nicht aus den Augen, als er seine Jacke auszog und sanft unter ihren Kopf schob. Sie hörte Josh rufen: »Du verfluchter Scheiß …«, und Matt sprang auf und rannte davon.
Und dann knieten ihre Eltern neben ihr. »Dein Name ist Emily, richtig?« Wieder strich ihr Vater mit seiner Hand über ihre Stirn, dann hob er sachte eines ihrer Lider an. »Ich heiße Richard«, fuhr er fort, »ich bin Arzt. Kannst du dich erinnern, was du zu dir genommen hast? Hat er dir irgendetwas gegeben?«
Emily sah ihren Vater an, dann in das Gesicht ihrer Mutter. Noch immer drehte sich alles in ihrem Kopf, doch allmählich fühlte es sich so an, als würden die einzelnen Teilchen ihres Gehirns wieder an ihre entsprechenden Positionen fallen. Langsam, wie unter Wasser. Aber immerhin. Das Riechsalz schien seine Wirkung nicht verfehlt zu haben.
Sie starrte weiter ihren Vater an, doch ihre Aufmerksamkeit galt den Kampfgeräuschen hinter ihr.
Matt.
Würde er Quayle besiegen können? Was, wenn es umgekehrt war? Wenn Quayle Matt etwas antat?
Ihre Mutter räusperte sich. »Matt ist ein sehr erfahrener Kämpfer«, erklärte sie sanft. »Sorge dich bitte nicht um ihn.«
Emily blinzelte.
Hatte sie laut gesprochen? Sie war so furchtbar verwirrt. Mama. Sie streckte ihre Hand nach ihrer Mutter aus, und diese ergriff sie. So nah. Sie war so nah dran. Ein Wort nur, und sie könnte alles verändern. Ein Satz von ihr, und ihre Eltern würden vielleicht weiterleben.
»Ich bin Emily«, flüsterte sie. Sie drückte die schmale Hand ihrer Mutter, die ihr zunickte und sie mit großen, runden, flussgrünen Augen ansah. Emily hielt die Luft an bei dem Bemühen, sich aufzurichten. Ihr Kopf fühlte sich nach wie vor wie eine Luftblase an.
»Er muss dir ein ziemlich starkes Beruhigungsmittel verabreicht haben, vielleicht sogar ein Narkotikum«, erklärte ihr Vater, während er Emily dabei half, sich aufzusetzen. Sie konnte sich unmöglich alleine halten, er musste sie stützen.
»Gut möglich, dass dein Zustand noch eine Weile andauert«, erklärte er. Er musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. »Kannst du dich an das erinnern, was passiert ist? Du machst einen ziemlich verwirrten Eindruck.« Er lächelte Emily an. »Du hast mich ›Papa‹ genannt.«
Emilys Augen weiteten sich. Gleichzeitig zog sich ihr Herz zusammen, als habe jemand eine eisige Hand darum gelegt. Sie konnte es nicht. Sie konnte es nicht tun. Was sollte sie ihm sagen? Wie?
»Eve, kümmere dich um Josh!« Matts Stimme. Wieder donnernde Tritte auf dem Asphalt, dann wurde ein Motor gestartet. »Quayle versucht abzuhauen, schnell!«
»Emily.« Matt kniete neben ihr. »Ich muss hinter ihm her.« Er legte eine Hand an ihre Wange, doch sein Blick war gehetzt. Er sah von ihr zu ihrem Vater, zu ihrer Mutter, wieder zu Emily. Das Motorengeräusch entfernte sich. »Ich komme wieder zurück«, flüsterte er, dann war er verschwunden.
Emily lauschte seinen Schritten. Er rannte. Gleich würde eine Autotür knallen, ein Motor heulen, und Matt wäre fort.
Und plötzlich sah sie es so deutlich vor sich, als hätte sie eben erst davon geträumt. Quayle am Steuer seines Wagens, um ihn herum Nebel und Wald. Der Blick in den Rückspiegel, und das teuflische, widerwärtige Lachen.
Der Knall. Der Unfall.
»Nein.« Zuerst hauchte sie das Wort nur, doch dann atmete sie die vermutlich letzte Kraft aus ihrem Inneren und schrie es hinaus. »NEIN!« Sie drückte die Hand ihrer Mutter und suchte hektisch ihren Blick. »Bitte«, flüsterte sie, »ich muss zu ihm.«
Esther zögerte keine Sekunde. »Schnell, gehen Sie, halten Sie ihn auf!«, befahl sie Richard und zog Emily gleichzeitig auf ihre Füße. Sie legte einen Arm um ihre Taille und drängte sie in die Richtung, in der Matt gerade in einen Wagen stieg. »Warte!«, rief sie ihm zu, und das Wort vibrierte in Emilys Kopf. Sie konnte kaum ein Bein vor das andere setzen, es war, als seien ihre Muskeln abhandengekommen.
»Ich muss dir etwas sagen«, flüsterte sie, und der Griff um ihre Taille verstärkte sich. Ihr Vater lief ihnen entgegen, Matt ebenso. »Beeilt euch«, rief er, »er ist vermutlich schon über alle Berge.«
Hände packten sie, und ihre Füße hoben ein Stück vom Boden ab. Sie waren gleich beim Auto, und Emily spürte, wie Panik in ihr aufstieg. Sie verlor ihre Mutter aus den Augen. Doch dann, als Matt sie auf den Beifahrersitz des Wagens geschoben und angeschnallt hatte, kniete sie plötzlich vor ihr nieder.
»Shhh«, machte sie und strich ihr mit einem Daumen über die Stirn. »Weine nicht.«
Emily blinzelte. Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie weinte, aber nun fühlte sie die Tränen auf ihrer Wange. Sie trockneten. Und alles um sie herum war so still. Wie in Watte gepackt. Still und warm. Es war, als sei die Zeit stehengeblieben. Als habe die Zukunft für einen Augenblick den Atem angehalten.
Ihre Mutter weinte nun ebenfalls. »Ich weiß, wer du bist«, flüsterte sie. »Ich habe von dir geträumt.«
Emily schluchzte auf.
»Shhh, alles ist gut.« Sie beugte sich vor und nahm Emily in die Arme. »Wie hübsch du bist.« Sie vergrub ihre Wange in Emilys Haar und wiegte sie wie ein Kleinkind hin und her. »Und so gut.« Sie seufzte. »Ich habe es nicht gleich erkannt«, fuhr sie fort, »erst, als ich dich auf dem Parkplatz sah.« Sie drückte Emily einen Kuss auf die Stirn und hielt sie dann ein Stück von sich weg.
»Du sollst wissen, dass ich dich liebe«, wisperte sie. »Wir lieben dich. Vergiss das nicht. Nie. Was auch immer passiert.«
»Mama.« Emily brachte kaum einen Ton heraus. »Der Wagen, ich …«
»Ich weiß«, unterbrach sie. »Ich kann die Zukunft sehen. Ich kann sie nur nicht ändern.« Sie neigte ihren Kopf ein Stück und sah Emily fest in die Augen. »Aber du kannst es«, sagte sie. Es lag so viel Wärme in ihrem Blick. So viel Liebe. Ihre Augen wanderten zu Emilys Handgelenk, und ihre Finger strichen über den Verschluss des Armbands. Sie schloss die Augen.
»Du träumst doch, habe ich recht?«, flüsterte sie.
Emily schluckte. Der Schmerz, der in ihr aufstieg, zerriss ihr fast das Herz. Schließlich nickte sie.
Ihre Mutter lächelte, doch es sah traurig aus.
Sie zog Emily ein letztes Mal zu sich heran und küsste sie. Sie sagte: »Geh und rette ihn, Emily.« Dann stand sie auf und schlug die Autotür hinter sich zu.
Im selben Augenblick ließ sich Matt neben ihr in den Sitz fallen, und Emilys Vakuum zerplatzte wie eine Seifenblase. Die Geräusche ihrer Umgebung drangen wieder zu ihr vor, Matts schneller Atem, das Fauchen des Motors, die Reifen, die unter ihnen quietschten, als Matt das Gaspedal durchtrat. Emilys Tränen flossen unaufhaltsam, während sie sich die Hände vor das Gesicht presste und den Kopf nach vorn sinken ließ.
Es war ihr unmöglich zu erfassen, was gerade geschehen war. Allein der Gedanke daran überstieg ihren Verstand und all ihre Fantasie.
Ich kann die Zukunft nicht ändern, aber du kannst es.
Geh und rette ihn.
Mit einem Ruck löste Emily die Hände von ihrem Gesicht und ließ sie in ihren Schoß fallen. Sie drehte ihren Kopf zu Matt, der sich ihr sofort zuwandte, die Augen dunkel und voller Mitgefühl.
Emily räusperte sich. »Er fährt Landstraße«, krächzte sie kaum hörbar, »zum Cottage« seiner Eltern, wollte sie hinzufügen, doch das Sprechen fiel ihr immer noch schwer. Sie schloss die Augen und strengte sich an, sich den Traum in Erinnerung zu rufen. Die Schilder – was stand auf den Schildern am Straßenrand?
»Dunsford. Er nimmt den Weg in Richtung Dunsford.« Emily blinzelte. Sie sah, wie Matt die Stirn runzelte, für den Bruchteil einer Sekunde, dann widmete er seine Aufmerksamkeit der Straße und trat aufs Gas.
Er fuhr viel zu schnell. Die Geschwindigkeit schleuderte Emily in ihren Sitz und gegen die Beifahrertür, aber sie gab keinen Laut von sich. Sie wusste, Quayle hatte einen immensen Vorsprung und ohne ihre Erinnerung würden sie ihn nicht mehr einholen können.
Ohne ihre Erinnerung würden sie bald tot sein.
Der Nebel jagte ihr Angst ein. Er war so undurchdringlich wie Stoff und legte sich wie ein Vorhang über alles. Es war noch nicht Nacht, doch schon so finster. Im Kegel der Scheinwerfer waberte feuchte, milchige Luft, die die Bäume auf beiden Seiten der Fahrbahn wie einen Weichzeichner umhüllte. Hier und da markierte ein Hinweisschild den Weg.
Quayles Blick flackerte zwischen Straße und Rückspiegel, in dem ein einzelnes Licht auf und nieder hüpfte. Er war konzentriert und wirkte gehetzt, doch plötzlich änderte sich sein Gesichtsausdruck. Das diabolische Grinsen ließ Emily vor Angst erstarren. Als Quayle laut loslachte, steuerte der Wagen wie von allein immer weiter auf die Gegenfahrbahn. Zu weit. Zu WEIT. Als aus dem Nebel ein schwarzer Baum auftauchte und alles um sie herum in grellen Lichtblitzen explodierte, riss sie vor Schreck die Augen auf.
»Eine Falle. Etwas auf der Straße.« Emily schluckte und drehte Matt schwerfällig ihr Gesicht zu. »Der Scheinwerfer.«
Matt warf einen Blick durch die Windschutzscheibe und dann wieder auf Emily. »Das rechte Licht ist kaputt«, stellte er fest. »Meinst du das?«
Sie nickte. »Motorrad«, hauchte sie.
Matt überlegte einen Moment. Draußen rauschte die Dunkelheit an ihnen vorbei.
»Er denkt, wir sitzen auf einem Motorrad?«, fragte er. Emily nickte.
»Und es gibt ein Hindernis auf der Straße. Er will, dass wir dagegenfahren?«
Wieder nickte Emily.
»Wo?«
»Im Wald«, murmelte sie. »Nach einer Brücke, über einem Bach.« Sie kniff die Augen zusammen. Wenn der Nebel in ihrem Kopf nur nicht so dicht wäre. Sie sah das Hinweisschild auf sich zukommen, aber was stand darauf?
»Da war ein Haus«, seufzte sie schließlich. »Blei … Bleiweth …«
»Blytheswood?« Sie spürte, wie Matt den Druck auf das Gaspedal weiter verstärkte. »Meinst du das ›Blytheswood Hostel‹?« Das Rauschen des Motors, der Straße, des Windes, all der Lärm schien Emily wach zu halten. Bei diesem Tempo konnte Quayles Vorsprung nicht mehr allzu groß sein. Bei diesem Tempo würden sie auf keinen Fall mehr bremsen können. Sie waren bereits eine Weile unterwegs. Sicher würde es bald passieren.
Sie nickte. Matts Stimme erhob sich über das Brausen des Wagens. »Erinnerst du dich sonst noch an etwas?«
Ja, dachte Emily. Wir haben uns überschlagen. Es sprühten Funken, und der Lärm war ohrenbetäubend. Und du …
Sie schüttelte den Kopf. Sie hob das Kinn ein Stück und spähte durch die Windschutzscheibe. Sie waren inzwischen von Wald umgeben. Die Bäume flogen nur so an ihnen vorbei. Vor ihnen wölbte sich die Steinbrücke über den Bach, und als der Hinweis auf das ›Blytheswood Hostel‹ an ihr vorbeijagte, formte sich ein Klumpen in Emilys Magen. Sie waren so nah dran.
»Da ist er!«, rief Matt.
Ein paar hundert Meter vor ihnen machte Emily zwei verschwommene rote Punkte aus, die die Rücklichter von Quayles Auto sein mussten. Beide Fahrzeuge fegten in enormem Tempo dahin, doch Matt drückte das Gaspedal weiter in Richtung Bodenblech. Ganz langsam kamen die roten Lichter näher.
»Jetzt!«, schrie Matt, und Emily drückte sich instinktiv tiefer in ihren Sitz, selbst einen Schrei auf den Lippen. Der Wagen vor ihnen sprang zur Seite, dann holperten sie über die Mittelstreifen auf die Gegenfahrbahn, Quayle nach und vorbei an einem riesigen Haufen Fell, der mindestens ein Hirsch sein musste, wenn nicht sogar eine Kuh. Ein totes Tier dieser Größe hätte jedes Fahrzeug ins Schleudern gebracht, soviel stand fest, und obwohl Emily Quayle nicht sehen konnte, wusste sie, dass er sie anstarrte, jetzt, gerade in diesem Augenblick, in seinem Rückspiegel, dass er darauf wartete, dass sie sich überschlugen, nachdem er ausgewichen war, und dass er deshalb nicht nach vorn sah und seinen eigenen Wagen zu weit in Richtung Wald verzog.
Der Knall war überwältigend. Emily kreischte, als der Nebel vor ihr plötzlich aufriss, zerfetzt von Lichtblitzen und fliegendem Metall, verursacht von Quayles Auto, das wie ein Pingpong-Ball von den Bäumen prallte. Der Lärm war markerschütternd.
War er über sie hinweggeflogen? Sie konnte es nicht genau sagen. Ihr Herz raste wie verrückt, als Matt versuchte, den schlitternden, ächzenden Ford unter Kontrolle zu bringen. Sie schleuderten über die Fahrbahn, drehten sich dabei mehrmals, und Emily schmeckte Blut in ihrem Mund, so fest bissen ihre Zähne aufeinander. Als der Wagen endlich zum Stehen kam, schloss sich eine Stille an, die in ihren Ohren pulsierte.
Matt schnallte sich ab und beugte sich zu ihr.
»Es geht mir gut«, murmelte Emily, doch ihre Stimme bebte. Sie verschränkte die Hände in ihrem Schoß.
»Warte hier«, bat Matt, während er die Fahrertür öffnete. Er stieg aus, und kühle Luft strömte ins Innere des Wagens.
Emily nahm einen zittrigen Atemzug.
Ihr Herz klopfte hart in ihrer Brust und sie spürte immer noch die bleierne Müdigkeit, für den Moment aber war sie zu geschockt, um sich ihr hinzugeben. Sie starrte durch die Windschutzscheibe nach draußen. Sie konnte nicht mehr nachvollziehen, in welche Richtung das Auto nun stand, doch vor ihr war nichts als Asphalt. Unsicher öffnete sie ihre Tür. Sie schnallte sich ab und fiel mehr aus dem Wagen als dass sie ausstieg, sie musste sich am Rahmen festhalten, um das Gleichgewicht zu halten.
Als sie den Blick hob, erkannte sie Quayles Auto nicht gleich. Halb von Bäumen verdeckt, klemmte es zwischen zwei Stämmen, gut zwanzig Meter von Emily entfernt. Die Scheinwerfer glommen gespenstisch durch Nebel und Zweige. Ein Wunder, dass sie heil geblieben waren, denn um sie herum bog und faltete sich verschobenes Blech.
Emily fröstelte. Es war so ruhig hier draußen. Keine Menschenseele war zu sehen, kein Vogel durchbrach die Stille. Sie fragte sich gerade, wo Matt war, als er sich aus dem Dickicht löste und auf sie zulief. Wie seltsam, dass sie genau in diesem Augenblick beschloss, sich nicht mehr länger halten zu können. Er erreichte sie in dem Moment, in dem sie Richtung Boden sackte. Emily spürte nicht mehr, wie sich Matts Arme um ihre Taille schlossen und sie an sich drückten, um sie vor dem Fall zu bewahren.