„Aber wir brauchen ihn doch nicht unbedingt aufzuhängen“, protestierte Alex, „oder etwa doch?“
„Bei meinen Seemannsgebeinen, Captain Grünbart“, sagte Billy erstaunt. „Er wollte dasselbe doch auch mit Ihnen machen.“
„Iss wüßte nisst, wie du dem entgehe könndes“, sagte Olaf und stülpte seine Schwertscheide um, damit das Meerwasser hinauslaufen konnte. „Chetz ssind wir Piraden.“
„Piraten?“ röchelte Alex.
„Was bleibt uns anderes übrig, Captain?“ fragte Billy. „Wir haben gemeutert, nicht wahr? Die britische Marine wird nicht eher Ruhe geben, bis sie uns das Handwerk gelegt hat.“
„Ach ja“, sagte Alex schwach. Wenn es zu den Spielregeln gehörte, daß Captain Yardly gehenkt wurde, mußte er halt mitspielen. Er wandte sich den beiden Matrosen zu, die ihn festhielten und sagte: „Knüpft ihn auf.“
Sie legten eine Schlinge um Yardlys Hals und traten freundlich zurück. Yardly machte einen Schritt nach vorn, musterte die Mannschaft mit einem finsteren Blick und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
„Verräterisches, undankbares Pack!“ stieß er hervor. „Glaubt bloß nicht, daß man euch für dieses schmutzige Verbrechen nicht zur Rechenschaft ziehen wird! Sowie es eine göttliche und hokaische Gerechtigkeit gibt …“
Alex entdeckte eine Kiste und nahm seufzend darauf Platz. Yardly machte auf ihn ganz den Eindruck, als beabsichtige er, seine letzten Worte auf eine ganze Stunde auszudehnen. Alex entspannte sich. Er hörte der Rede nur mit halbem Ohr zu. Einer der Matrosen war damit beschäftigt, jedes Wort des abgesetzten Captains mitzuschreiben, damit man seine Rede später an Land veröffentlichen konnte.
„… diese sinnlose Meuterei … verschwörerhaft geplant … die Rädelsführer sind meinen Augen nicht entgangen … die Herzen einiger Getreuer vergiftet von ehrlosen Lumpen … vergebe euch persönlich, kann aber nicht … die britische Flagge befleckt … können mir nicht in die Augen sehen … um die Worte eines großen Mannes zu gebrauchen …“
„Oh, nein!“ sagte Alex unwillkürlich, aber Billy gab auf seiner Bootsmannspfeife dem Captain bereits den Ton an.
„Oh, mein Name ist Sam Hall, ist Sam Hall,
Ja, mein Name ist Sam Hall, ist Sam Hall …“
Wie die meisten seiner Artgenossen verfügte auch Captain Yardly über einen recht hübschen Tenor, fand Alex, aber wieso mußten sie ausgerechnet dieses Lied singen, wenn sie einen aufknüpften?
„Und jetzt muß ich ans Seil, ans Seil …“
Alex krümmte sich. Endlich war das Lied beendet. Yardly schritt noch einmal auf und ab, legte sein Gesicht in bekümmerte Falten, erzählte der Mannschaft, welch schönes Zuhause und welch gute Eltern er doch gehabt habe (und sicher hätten sie niemals damit gerechnet, aufweiche Art er einmal enden würde), sprach noch ein paar ergreifende Worte von seiner kleinen, goldbepelzten Tochter und endete schließlich damit, daß er sie alle verdammte, als vaterlandslose Gesellen bezeichnete und aufforderte, doch jetzt, verdammt noch mal, endlich mit ihm Schluß zu machen.
Die Hokas stimmten einen kurzen, rührseligen Choral an, der auf die Melodie „Nun zieh ihn endlich hoch, Joe“ basierte und Yardly kletterte auf die Rahfock. Die Mannschaft erbleichte und verlor vor Grauen beinahe die Besinnung, als er sich hinabstürzte und volle fünf Minuten lang unter entsetzlichem Gestöhne, Gezappel und Geknirsche einen Gehenkten mimte. Die Vorstellung, die er seinen Zuschauern lieferte, war von einer solchen professionellen Größe, daß Alex nicht umhin konnte, wenigstens zeitweise die Farbe seines Bartes anzunehmen. Nach Lage der Dinge war es unmöglich abzuschätzen, ob der Hoka nur ein vortrefflicher Schauspieler war oder tatsächlich einen Erstickungstod starb, und Alex betete, daß man sich bei der Beobachtung ähnlicher Veranstaltungen nicht getäuscht haben möge. Auf alle Fälle wurde Yardly nach einiger Zeit steif. Billy Bosun schnitt ihn ab und brachte ihn in die Kapitänskajüte, wo Alex ihn unter dem Namen Black Tom Yardly anmustern ließ und auf das Vorschiff schickte.
Dermaßen in die Lage versetzt, das Kommando über ein Schiff erhalten zu haben, daß er nicht im mindesten steuern konnte und eine Mannschaft anzuführen, die freudig-erregt einem künftigen Dasein als Freibeuter entgegenblickte, stützte Alex seinen Kopf in beide Hände und versuchte sich über seine Zukunft klar zu werden. Schon jetzt begann er die Meuterei zu bedauern. Wie war er überhaupt auf den Gedanken gekommen, den Captain einer britischen Fregatte einfach über Bord zu werfen? Er hätte wissen müssen, daß ein derartiger Leichtsinn ihm nichts als Ärger einbringen würde. Er zweifelte nun überhaupt nicht mehr daran, daß Yardly nichts anderes im Sinn gehabt hatte, als sich schlitzohrig seinen navigatorischen Pflichten zu entziehen. Aber was hätte er, nachdem er diesem verrückten Impuls gefolgt war und den Captain über die Reling geworfen hatte, überhaupt anderes tun können? Wenn er sich zerknirscht ergeben hätte, hätte Yardly möglicherweise ihn aufknüpfen lassen … Und über die Nackenmuskeln eines Hokas verfügte ein Mensch leider nicht. Der Gedanke ließ Alex schlucken. Er konnte sich die Überraschung der Mannschaft gut vorstellen, wenn sie ihn abschnitten und feststellten, daß er nicht einfach wieder aufstehen und weggehen würde. Aber welchen Nutzen vermochte ein verdutzter Hoka einem toten Botschafter noch bringen? Nicht den geringsten.
Des weiteren steckte er nicht nur in dieser Klemme, sondern inzwischen waren auch noch fünf Tage vergangen. Tanni flog garantiert schon über die Oberfläche des ganzen Planeten und hielt verzweifelt nach ihm Ausschau. Die Möglichkeit, daß sie ausgerechnet über diesen Wasserfleck dahinjagte, war mehr als minimal. Es würde mindestens fünf Tage dauern, um nach Plymouth zurückzukehren – und in der Zwischenzeit konnte im Gebiet der Bermudas die Hölle losbrechen. Genausogut konnte es ihm passieren, daß man ihn – sollte jemand zuviel reden – in irgendeinem Hafen verhaftete und als Meuterer an den Galgen brachte, bevor es ihm gelang, diese grüne Abscheulichkeit von seinem Kinn zu lösen.
Andererseits …
Alex stand langsam auf und begab sich zu der an der Wand befestigten Karte hinüber. Die Hokas waren ziemlich flott damit gewesen, irdische Ortsnamen zu übernehmen – aber gegen die geographischen Differenzen zwischen Original und Imitation hatten sie natürlich nichts auszurichten vermocht. Die Westindischen Inseln waren auf dieser Karte nur fünfhundert Seemeilen von Großbritannien entfernt. Die HMS Aber nicht mit uns war ihnen schon ziemlich nahe gekommen, und die Hauptinsel der Freibeuter, das Eiland Tortuga, konnte kaum mehr als eine Tagesreise entfernt vor ihnen liegen. Tortuga durfte an sich nicht schwer zu finden sein – und die Flotte der Freibeuter würde jeden Neuankömmling sicher herzlich willkommen heißen. Vielleicht ergab sich dort die Chance, ein wenig Salmiak aufzutreiben; wenn nicht, ergab sich vielleicht die Möglichkeit, den geplanten Überfall zu verhindern oder zu sabotieren.
Alex blieb eine Weile stehen und dachte nach. Ungefährlich würde das Vorhaben sicher nicht sein, aber andererseits waren Kanonen, Pistolen und Enterbeile im Zusammenhang mit den Körperkräften und der unberechenbaren Handlungsweise der Hokas auch nicht gerade das, was ein zivilisierter Mensch gern in seiner Umgebung wußte. Außerdem sah jede andere Möglichkeit noch viel hoffnungsloser aus.
Alex begab sich zur Tür und rief nach Olaf. „Sag mal“, fragte er ihn, „glaubst du, daß du das Schiff steuern kannst?“
„Iss bin sisser, daß iss dass kann“, erwiderte der Wikinger. „Iss bin nämliss ssiemliss altmodiss.“
„Na, prima“, sagte Alex. „Dann ernenne ich dich hiermit zum Ersten Offizier.“
„Iss weiß nisst so rächt“, warf Olaf zweifelnd ein. „Iss weiß nisst, ob iss daför die richtige Mannen bin.“
„Natürlich“, flocht Alex hastig ein, „wirst du kein gewöhnlicher Erster Offizier sein, sondern varangischer Erster Offizier.“
„Oh, dass tut die Ssachlage änderen“, sagte Olaf strahlend. „Daran hatten iss noch gar nisst gedacht. Iss halte Kurs auf Könstantinöpel.“
„Nun … äh … du solltest bedenken, daß wir noch gar nicht wissen, wo Konstantinopel überhaupt liegt“, sagte Alex. „Ich dachte, wir segeln erst einmal nach Tortuga. Die Leute da wissen vielleicht etwas Genaueres.“
Olafs Lachen erstarb. „Oh“, sagte er traurig.
„Später können wir dann nach Konstantinopel Ausschau halten.“
„Dass hoffe iss.“
Nie zuvor war Alex sich dermaßen wie ein Lump vorgekommen.
Gegen Sonnenuntergang des nächsten Tages segelten sie in die Bucht von Tortuga ein. Die Mannschaft der Aber nicht mit uns hatte die Totenkopfflagge gesetzt, die sich für alle Fälle an Bord jedes Schiffes befand. Die Insel war mit tropischen Bäumen bedeckt und erhob sich hinter einem zum Ankern geeigneten Grund, in dem allerlei schwerbewaffnete Schiffe festgemacht hatten. Hinter den Schiffen erstreckte sich ein Strand mit hastig errichteten Hütten, knisternden Lagerfeuern und prahlerisch umherschreitenden Piraten. Als der Befehl zum Ankerwurf ertönte, rief aus dem Krähennest des neben ihnen ankernden Schiffes eine fröhliche Stimme: „Ahoi, Spießgesellen! Ihr kommt gerade zur rechten Zeit! Morgen gehts auf zu den Bermudas!“
Alex fröstelte, aber zum Glück verbarg nicht nur der grüne Bart, sondern auch die einsetzende Dunkelheit seine unpiratenhafte Reaktion. Er wandte sich an seine unruhig umherwimmelnde Mannschaft und sagte: „Bis auf weiteres bleibt ihr an Bord.“
„Was?“ schrie Black Tom Yardly aufgebracht. „Man verwehrt uns, mit unseren Brüdern an der Küste einen zu heben? Man erlaubt uns nicht, ein paar blutige Duelle abzuhalten und – wenn ich mir den Ausdruck gestatten darf – im Blute der Gevierteilten zu waten?“
„Später“, wiegelte Alex ihn ab. „Wie ihr wißt, geht es um eine Geheimmission. Verteilen Sie inzwischen etwas von unseren eigenen Grogvorräten, Mr. Bosun.“ Das befriedigte die Männer, und sie vierten sogar die Kapitänsjolle ab und ließen Alex von Olaf an Land bringen. Während sie auf den Uferrand zuruderten und sich von der Aber nicht mit uns entfernten, hörte er jemanden ein Lied über das herrliche Leben auf dem Meer anstimmen, während anderswo ein Pirat – offenbar wider besseres Wissen um den Rest des Liedtextes – stereotyp „Jo-ho-ho und ’ne Buddel voll Rum!“ schmetterte. Sie sind glücklich, dachte Alex.
„Wass hesst du nun vor?“ fragte Olaf.
„Ich wünschte, ich wüßte es“, murmelte Alex gedankenverloren vor sich hin. Der kleine Wikinger, der das Piratenleben von vornherein stets mit einem kritischen Blick beäugt hatte, war sicher der einzige auf den er sich verlassen konnte – aber nicht einmal ihm gegenüber konnte er seine wirklichen Hoffnungen offenbaren.
Nachdem sie angelegt hatten, schlenderten sie durch eine grölende, betrunkene Hoka-Menge, die sich alle Mühe gab, mit Hilfe von Pistolen, Messern, Enterbeilen, Dolchen sowie Schärpen und Nase- und Ohrringen so schurkisch wie eben möglich auszusehen.
Über einer großen Hütte, in der sich offenbar die Kapitäne der vor Anker gegangenen Schiffe versammelt hatten, wehte die Totenkopfflagge. Vor der Hütte lümmelte sich ein Wächter herum, der sich alle Mühe gab, einen Schluck Rum zu trinken. Es wollte ihm jedoch nicht so recht gelingen, da er nicht auf die Idee kam, das zwischen seinen Zähnen klemmende Messer aus dem Mund zu nehmen.
„Keinen Schritt weiter!“ sagte der Pirat mit schriller Stimme, sprang auf und fuchtelte mit einem langen Enterbeil vor Alex’ Nase herum. „Stehenbleiben, wenn euch euer Leben lieb ist!“
Alex zögerte. Er mußte sich eingestehen, daß weder die von der Meeresluft gebleichte Jacke noch seine Hose einen ausgesprochenen piratenhaften Eindruck hervorriefen. Nicht einmal die ausgelatschten Stiefel oder sein Schwert konnten diesen Eindruck trüben. „Ich bin der Kommandant eines Schiffes“, sagte er, „und möchte mit meinen … äh … Kumpanen zusammensitzen.“
Der Wächter taumelte waffenschwingend auf ihn zu. Alex, der nicht die geringste Ahnung hatte, wie man eine Klinge führt, stolperte zurück. „Soso!“ schnaubte der Hoka. „Du kannst dich also nicht mal wie ’n richtiger Mann verteidigen, wie? Ich hab Befehl, jeden gnadenlos niederzumetzeln, der dieser Hütte auch nur nahekommt – und das werd ich auch tun, verdammt noch mal!“
„Ach, halt doch die Snauze“, sagte Olaf unbeeindruckt. Er riß die eigene Klinge aus der Scheide und schlug dem Piraten die Waffe aus der Hand, was dazu führte, daß der andere nun mit einem Dolch auf ihn eindrang. Olaf verpaßte ihm einen Kinnhaken, der den Angreifer sofort zu Boden gehen ließ und setzte sich kurzerhand auf dessen Bauch. „Alles klar, Ssiffer“, meinte er und fragte dann, hoffnungsvoll seinem Opfer zugewandt: „Weisst du die Wegen nach Könstantinöpel?“
Alex öffnete die Tür und trat schweren Herzens ein. Die Hütte wurde von Kerzen erhellt, die in den Hälsen leerer Flaschen staken und eine Gruppe verwegen aussehender Gesellen beleuchteten, die sich um einen langen Tisch versammelt hatten. Einer der Piraten, ein Hoka der eine Augenklappe trug, sah auf und fragte: „Wer kommt?“
„Captain Grünbart von der Aber nicht mit uns“, sagte Alex steif. „Bin gerade erst angekommen.“
„Ah, gut, nimm Platz, Kumpan“, sagte der andere. „Ich bin Captain Einauge – und die anderen sind Henry Morgan, Flint, Long John Silver, Hook, Anne Bonney, unser aller Admiral La Fontaine, und …“ Irgendjemand legte ihm von hinten eine Hand über den Mund.
„Wer soll das sein?“ quäkte La Fontaine unter seinem Dreispitz hervor. Zwanzig Hoka-Augenpaare richteten sich von ihm auf Alex und wanderten zurück.
„Pest und Hölle!“ wetterte ein anderer, der einen an seine Hand gebundenen Haken trug. „Ihr werdet doch wohl Captain Grünbart kennen!“
„Wie sollten wir das?“ gab La Fontaine zurück. „Wie sollten wir einen Captain Grünbart kennen, wenn er in keinem einzigen Buch erwähnt wird? Einen solchen Mann gibt es doch überhaupt nicht. Wette, er ist niemand anders als John Paul Jones in Verkleidung!“
„Das bestreite ich!“ brüllte nun ein anderer Hoka und sprang auf. „Captain Grünbart ist doch mein Vetter!“ Er kraulte seinen leuchtend schwarzen, nichtsdestotrotz aber angeklebten eigenen Bart.
„Ich will verdammt sein“, sagte die einzige weibliche Piratin in der Runde, „wenn ich einfach hinnehme, wie man über einen alten Freund von Anne Bonney redet!“ Sie war über und über mit glitzernden Juwelen bedeckt, trug langläufige Pistolen und ein bis zum Boden reichendes Gewand, das man mit einem aufreizend tiefen Dekollete versehen hatte. Da eine vierbrüstige Hoka-Dame auch einen doppelten Büstenhalter benötigte, hatte sie sich auch damit ausstaffiert.
„Oh, na gut“, brummelte La Fontaine. „Dann trinken Sie ’n Schluck mit uns, Captain und helfen uns eben bei der Planung unseres Überfalls.“
Alex ließ sich einen Krug des entsetzlichen einheimischen Gebräus geben. Die phantastische Geschwindigkeit, mit der die Hokas ungeheure Mengen dieses Fusels in sich hineinkippen konnten, war ihm wohlbewußt, aber er hoffte, daß man nicht bemerkte, wenn er – im Hinblick auf die zu erwartende Länge der Versammlung – langsam trank und halbwegs nüchtern blieb. Vielleicht gelang es ihm sogar, die Situation irgendwie zu meistern. „Danke“, sagte er. „Ich hoffe, ihr hebt einen mit.“
„Mach dir keine Sorgen deswegen, Kumpan“, sagte La Fontaine gutherzig und stürzte erneut einen halben Liter in seine Kehle. „Hick!“
„Habt ihr vielleicht irgendwo Salmiakgeist rumliegen?“
Einauge schob die schwarze Kappe auf das andere Auge und musterte ihn verstört. „Nicht daß ich wüßte, Kumpan“, sagte er dann. „Es sollte aber auf den Bermudas welchen geben. Willst du deine Beute noch polieren, bevor du sie vergräbst?“
„Laßt uns endlich zur Sache kommen“, piepste Long John Silver und knallte seine Krücke auf den Tisch. Er hatte sich das linke Bein hochgebunden. „Wir haben noch ’n paar Pläne zu schmieden, wenn wir morgen früh losschlagen wollen, verflucht und zugenäht!“
„Ich … äh … glaube … wir sollten lieber nicht so früh aufbrechen“, sagte Alex.
„Aha!“ schrie La Fontaine triumphierend. „Er ist also ein Feigling, wie? Ich will einen Besen fressen, wenn Sie würdig sind, ein Captain der Barbarenküste zu werden. Hick!“
Alex dachte flink nach. „Was hören meine vom Schießpulver verstopften Piratenohren?“ brüllte er zurück. „Ein Feigling soll ich sein? Dafür werde ich Ihre Leber zum Frühstück fressen, La Fontaine! Für was halten Sie mich überhaupt? Für einen elenden Pfeffersack? Lieber will ich madenzerfressenes Pökelfleisch verschlingen, als Ihnen zuzugestehen, der richtige Mann zu sein, der über Leute wie uns gebietet! – Wieso auch“, fügte er listig hinzu, „wo Sie doch nicht mal ’nen Bart haben.“
„Wa-wa-was hat das denn damit zu tun?“ fragte La Fontaine dümmlich und latschte genau in Alex’ Falle.
„Ich frage euch“, sagte Alex und schaute sich um, „was kann das für ’n Admiral sein, dessen Kinn nicht mal ’n einziges Barthaar ziert?“
„Aber Admirale müssen gar nicht unbedingt Bärte tragen“, protestierte La Fontaine.
„Henkt, ersäuft und vierteilt mich!“ warf nun Captain Flint ein. „Natürlich müssen Admirale einen Bart tragen. Ich dachte, das wüßte jeder!“ Am Tisch erhob sich plötzlich aufsässiges Gemurmel.
„Du hast recht“, sagte Anne Bonney. „Sicher weiß das jeder. Es gibt nur zwei unter uns, die fähig sind, die Flotte zu kommandieren: Captain Schwarzbart und Captain Grünbart!“
„Captain Schwarzbart ist genau der richtige Mann für eine solche Aufgabe“, sagte Alex zuvorkommend.
Der kleine Hoka sprang auf. „Ich will auf der Stelle krepieren“, sagte er hastig, „wenn ich jemals in meinem Leben so gerührt gewesen bin wie jetzt! Durchbohren Sie mich mit ’nem Enterhaken, Captain Grünbart, wenn ich nicht wirklich meine, daß ich Ihr Verhalten für ’ne noble Geste halte. Aber unter uns gesagt, ich kann die Ehre nicht annehmen. So stolz ich auch wäre, die Flotte zu befehligen … Ich muß doch sagen: Ehre wem Ehre gebührt, und Ihr Bart ist mindestens um drei Zoll länger als der meinige. Ich trete deswegen zu Ihren Gunsten zurück und wünsche Ihnen viel Erfolg.“
„Aber …“ stammelte Alex, der alles andere erwartet hatte als das.
„Ich werde auf der Stelle wahnsinnig!“ jammerte La Fontaine tränenüberströmt. „Man kann doch einen Mann nicht aufgrund seines Bartes auswählen! Ich meine … das ist doch … Das könnt ihr doch nicht machen!“
„La Fontaine!“ brüllte Captain Hook und schlug auf den Tisch. „Dies hier ist ’ne Ratsversammlung von Piraten und die hat nun mal nach den traditionellen und bewährten Regeln der Küstenräuber-Bruderschaft abzulaufen! Wenn du unbedingt zum Admiral gewählt werden wolltest, hättest du dir eben ’n Bart zulegen sollen bevor du auf die Insel kamst, dich zur Wahl zu stellen! Ich erkläre die Wahl hiermit für beendet.“
Hooks Abschlußworte schienen La Fontaine stark zu beeindrucken, denn er verfiel in dumpfes Schweigen. „Steward!“ rief Henry Morgan. „Die Krüge füllen! Wir wollen auf das Gelingen unseres Unternehmens anstoßen!“
Alex nahm verzagt den Krug an sich, den ihm jemand in die Hand drückte. In seinem Geist formte sich bereits eine vage Idee. Er kannte die Hokas gut genug, um zu wissen, daß er sie mit Argumenten nicht mehr dazu bewegen konnte, den geplanten Überfall zu verschieben. Was aber, fragte er sich, würden sie tun, wenn er sie jeglicher Führerschaft beraubte. Dazu mußte er zunächst einmal sich und La Fontaine außer Gefecht setzen. Er beugte sich vor und knallte dem Ex-Admiral die Hand auf die Schulter. „Na, komm, Kumpan, keine Feindschaft zwischen uns“, sagte er leutselig. „Laß uns zusammen einen heben; beim nächsten Mal kannst du dann wieder Admiral sein.“
La Fontaine nickte. Der Gedanke schien ihn wieder aufzumuntern, denn er kippte gleich noch einen halben Liter. „Ich mag Männer, die nicht nachtragend sind!“ rief Alex laut. „Steward, sofort nochmal nachfüllen, aber fix! Komm, Kumpan, trink aus. Wo das Zeug herkam, gibt es noch mehr davon!“
„Der Blitz soll meinen Besan spalten!“ warf Captain Hook ein. „Das ist aber wirklich ’ne hübsche Redewendung! ‚Wo das Zeug herkam, gibts noch mehr davon’. Klingt fast so hübsch wie das Knattern gesetzter Segel, würd ich sagen.“
„K-klar“, sagte Alex lallend.
„Schütten Sie Captain Grünbart noch einen ein, Steward“, rief Hook. „Ja, so! Und jetzt kippen wir noch einen, mein Lieber! Wo das herkam, gibts noch mehr davon. Har, har!“
„Ulp!“ schluckte Alex und schaffte es irgendwie, das feurige Gesöff an seinem Zäpfchen vorbeizubugsieren. „Oooooh!“
„Hast du Halsschmerzen?“ erkundigte sich Anne Bonney teilnahmsvoll.
„Wo das herkam, gibts noch mehr davon!“ grölte Captain Hook. „Die Krüge füllen, aber dalli!“
Alex drückte La Fontaine seinen Krug in die Hand und sagte: „Trink aus, Kumpan – auf meine Gesundheit!“
„Schnuuurps!“ röchelte der Ex-Admiral, stürzte den Inhalt in seine Kehle und verlor die Besinnung.
„Hochheben“, sagte Billy Bosun. „Na, kommt schon, Kumpane!“
Sie hoben den schwachen Körper La Fontaines über die Reling der Aber nicht mit uns. Alex, der sich schwer auf Olaf stützte, dirigierte das Unternehmen.
„Schl-l-ließt ihn in meine K-k-kabine ein“, sagte er mit schwerer Zunge. „Anker l-l-lich’n und S-s-segel setz’n. Kurs auf d-d-die Bermudas.“ Er warf einen Blick auf den sinkenden Mond. Toka schien sich in den letzten paar Stunden einen zweiten Satelliten zugelegt zu haben. „Geheime K-k-kommandosache, versteht ihr?“ Und er begann zu singen: „Füüünfzehn Mann auf des toten Mannes Kiste …“
„Spannt an Deck eine Hängematte für den Captain auf, Leute“, ordnete Billy an. „Er scheint sich nicht recht wohl zu fühlen.“
„Jo-ho-ho … und ’ne Buddel voll Rum!“
„Aye, Aye, Sir“, sagte Billy und reichte ihm eine Flasche.
„Wuff!“ stöhnte Alex. Dann schwanden ihm die Sinne. Der nächtliche Himmel begann sich majestätisch um ihn zu drehen. Schattenhafte Segel begannen sich in der aufkommenden Küstenbrise zu entfalten. Die Aber nicht mit uns glitt langsam aus dem Hafen. Alex bekam davon jedoch nichts mehr mit.
Helles Sonnenlicht weckte ihn auf. Alex blieb in der Hängematte liegen, bis er der Meinung war, das Schlimmste sei nun überstanden und versuchte dann die Lage zu analysieren. Das Schiff glitt in einem stetigen Wind dahin. Die Geräusche, die ihn umgaben, bestanden aus dem Flattern der Segel, dem Knattern der Takelage, dem Krächzen der Planken und dem Gemurmel der Mannschaft. Als er aufstand, stellte er fest, daß sie sich mutterseelenallein auf dem Meer befanden. Die Steuerbordwachen standen an der Reling und erzählten einander blutrünstige Geschichten bisher nicht erlebter Piratenstückchen. Black Tom Yardly stellte dabei – wie üblich – das Gerede der anderen meilenweit in den Schatten.
Alex ließ sich vom Schiffskoch ein Frühstück bringen, zündete sich anschließend in Ermangelung von Zigaretten die Kapitänspfeife an und dachte über seine Situation nach. Es hätte schlimmer kommen können. Immerhin war es ihm gelungen, La Fontaine zu entführen, und wenn alles klappte, mußten sie kurz nach Sonnenuntergang die Bermudas erreichen. Man hatte also genug Zeit, um die Einheimischen zu warnen und eine Verteidigung zu organisieren. Die Piraten, die sowohl ihren neuen als auch ihren alten Admiral verloren hatten, würden vielleicht sogar ganz auf den Überfall verzichten. Freudig rief er nach dem Ersten Offizier.
„Mr. Stupsnase!“
Olaf tauchte auf. „Iss wünsse eine gute Morge“, sagte er niedergeschlagen.
„Wie? Nun … äh … das wünsche ich dir auch, Olaf,“ erwiderte Alex. Die würdevolle Aura, die den kleinen Wikinger umgab, schien ansteckend zu sein. „Welche Geschwindigkeit haben wir eigentlich?“
„Etwa ssehn Drachessähne“, sagte Olaf.
„Drachenzähne?“ wiederholte Alex baff.
„Du würdess ssisser Knode ssage. Iss mag diese Austruck nisst. Es tut nisst varangiss klinge.“
„Fein, fein“, lächelte Alex. „Dann sollten wir also bald da sein.“
„Nun ja“, sagte Olaf, „aber wir müsste eigentlich jetz ein wenig abbremsse.“
„Abbremsen?“ rief Alex. „Aber warum denn, um alles in der Welt?“
„Damit du kanns mache Konferenss mit die andere Kapiteine“, sagte Olaf und deutete nach achtern. Alex wirbelte auf dem Absatz herum und starrte über die schaumige Heckwelle hinweg, die die Aber nicht mit uns aufwirbelte. Am Horizont waren Segel zu erkennen. Die Piratenflotte!
„Mein Gott!“ stieß er erbleichend hervor. „Alle Segel setzen!“ Olaf sah ihn überrascht an. „Alle Segel setzen!“
Olaf schüttelte den runden Kopf. „Nu, du musst wisse, was du tust“, sagte er und verschwand, um den Befehl weiterzugeben.
Die Aber nicht mit uns machte einen Satz nach vorn, aber die anderen Schiffe ließen sich einfach nicht abschütteln. Alex schluckte. Olaf kam von der Brücke zurück und informierte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, daß man nun mit einer Geschwindigkeit von „sswölff Drachessähne“ davoneile.
Es war kein ausgesprochener Glückstag für Admiral Grünbart. Obwohl er sich alle erdenkliche Mühe gab seine Masten zu verlieren, konnte er den Abstand zwischen sich und den Freibeutern nicht vergrößern. Im Gegenteil: Die Strecke zwischen Verfolgern und Verfolgtem wurde zusehends geringer. Als die Sonne unterging, hatten die anderen Schiffe ihn bereits umzingelt. Die Bermudainseln wurden allmählich sichtbar, und als die Dunkelheit hereinbrach, kreuzte die gesamte Flotte vor der Bucht an der Nordseite von Bermuda City. An der Küste flackerten Lichter auf, und die sich in den Wanten versammelnden Hokas stimmten ein Freudengebrüll an. Frustriert gab Alex Befehl, den Anker herabzulassen. Die Kommandanten der anderen Schiffe taten es ihm gleich. Bald lag die ganze Flotte still.
Fingernägelkauend wartete Alex ab. Nach einer Stunde, während der außer den lauten Begrüßungsrufen der Seeleute nichts zu hören gewesen war, machte er sich auf die Suche nach Olaf. „Was glaubst du, worauf sie warten?“ fragte er nervös.
Das kleine Bärengesicht kam aus dem Schatten hervor. „Iss glaube gar nissts“, sagte Olaf, „aber iss weiss. Sie warten auf die Ssignalen, dass die andere Kapiteinen an Bord komme ssolle. Die Frage iss: Auf wass wartess du?“
„Ich?“ fragte Alex verdattert. „Ich soll sie zusammenrufen? Aber sie haben uns doch verfolgt!“
„Iss würde niemals täten es eine Verfolgung nenne“, sagte Olaf. „Da du die Admiralen biss, ssie wollte nur nich diss auss ihre Auge verliere.“
„Nicht doch, Olaf.“ Alex senkte seine Stimme zu einem Wispern herab. „Hör zu, ich habe in Wirklichkeit versucht, ihnen zu entwischen.“
„Tatsässliss? Dass häddes du mir sage müsse“, erklärte Olaf streng. „Iss hadde alle Mühen aufssuwende, ihne nisst ssu entkomme mit alle die gesetzte Segel.“
„Aber warum, glaubst du, sind sie uns überhaupt gefolgt?“
„Was hädde ssie denn ssons tue ssolle?“ verlangte Olaf zu wissen. „Du biss die Admiralen. Wenn wir nach die Bermudas ssegele, müsse ssie dass doch tue.“
Sprachlos ließ Alex sich auf die Kisten niedersinken. Nach einer Weile stand er zitternd auf und sagte mit schwacher Stimme: „Gib allen Kommandanten bekannt, daß sie sich zu einer Konferenz an Bord versammeln sollen.“
„Alle Wetter!“ donnerte Captain Hook, als die Piratenhäuptlinge sich an einem rasch auf der Poop arrangierten Tisch versammelt hatten. „Ich laß mich zu ’nem Hors d’Œuvre verarbeiten, wenn Sie nicht ’n ganz teuflischer Segler sind, Admiral Grünbart. Wir mußten jeden Fetzen aufziehen, um Sie nicht aus den Augen zu verlieren.“
„Kleinigkeit“, sagte Alex bescheiden.
„Ich will mit meinem ganzen Pulvervorrat in die Luft fliegen, wenn ich sowas schon mal gesehen habe. Wie Sie durch die Wellen geschossen sind … das war ungeheuer! Und dabei hatte ich die ganze Zeit den Eindruck, als würden Sie sich alle Mühe geben, die Geschwindigkeit noch zu drosseln!“
„… ’n kleiner Segeltrick …“ murmelte Alex.
„Der Schlag soll mich treffen!“ rief Hook bewundernd aus. „Aber kommen wir jetzt zur Sache. Wer wird den Angriff auf das Fort leiten, Admiral?“
„Auf das Fort?“ echote Alex verständnislos.
„Na, sie wissen doch“, sagte Hook. „Sie haben dort Kanonen aufgebaut, mit denen sie die ganze Bucht unter Feuer nehmen können. Wir müssen irgendwie seitlich daran vorbeikommen und ihnen ’ne Breitseite verpassen, damit wir sie so außer Gefecht setzen können. Dann können wir an Land gehen und alles Wertvolle einsacken, ehe Lord Nelson – verflucht sei seine Asche – hier aufkreuzt.“
„Oh“, sagte Alex, der inzwischen mit der Rasanz eines zu Tode Erschrockenen nachdachte. Wenn es wirklich zu Kämpfen kam, würden Hokas dabei ums Leben kommen; und das bedeutete – abgesehen von den beklagenswerten Opfern – das Ende seiner Karriere als Botschafter auf dieser Welt. Vorausgesetzt, er kam bei den Kampfhandlungen nicht selber um. „Nun …“ begann er langsam. „Ich habe einen anderen, meiner Meinung nach sehr viel besseren Plan.“
„Hagel und Granaten!“ rief Long John Silver aus. „Er hat einen Plan!“
„Ja, einen Plan“, sagte Alex. „Es ist unmöglich, sich dem Fort zu nähern, ohne daß es dabei Verluste gibt. Aber ein kleines Boot könnte sich unbemerkt heranschleichen.“
„Potzblitz!“ murmelte Captain Kidd ehrfürchtig. „Das ist ja genial!“
„Mein Erster und ich werden uns an Land begeben“, fuhr Alex fort. „Ich weiß auch schon, wie wir den Bürgermeister festsetzen und ihn dazu zwingen können, das Fort räumen zu lassen.“ In Wirklichkeit bestand sein Plan einzig und allein darin, die Stadt zu warnen und alles daranzusetzen, endlich das grüne Gemüse an seinem Kinn loszuwerden. „Ihr wartet solange, bis ich euch von der Mole aus mit Laternen ein Signal gebe. Wenn eine aufleuchtet, kommt ihr von der Landseite her, bei zweien greift ihr von der See aus an.“
„Das wird kaum gehen, Admiral“, sagte Anne Bonney und deutete in die Finsternis, aus der das ungeduldige Gemurmel der Mannschaften zu ihnen herüberdrang. „Die Männer werden keinen Aufschub mehr hinnehmen. Wir können sie höchstens noch ein paar Stunden zurückhalten. Dann müssen wir entweder losschlagen oder uns auf eine Meuterei gefaßt machen.“
Alex seufzte. Seine letzte Hoffnung, den Kampf dadurch zu vermeiden, indem er die Piratenflotte durch endlos langes Warten zermürbte, schien sich somit auch in Luft aufzulösen. „Na gut“, verkündete er mit unheildrohender Stimme, „dann nehmt Kurs auf die Küste und geht an Land. Feuert jedoch dann erst auf das Fort, wenn man euch zuvor von dort aus beschossen hat. Vielleicht schaffe ich es irgendwie doch noch, meinen eben geäußerten Plan in die Tat umzusetzen und die Besatzung zur Aufgabe zu bewegen.“
„Ich will in siedendem Öl gebraten werden, wenn Sie nicht ’n verdammt tapferer Mann sind“, sagte Hook. „Und Sie können mich den Haien zum Fraß vorwerfen, wenn ich nicht wirklich glaube, daß wir ohne Sie völlig aufgeschmissen wären.“
„Danke“, versetzte Alex zähneknirschend. Ein größeres Lob war unter Piraten sicher nie ausgesprochen worden.
Die anderen Hokas nickten zustimmend. In ihren schwarzen, runden Augen leuchtete die blanke Heldenverehrung.
„Ich schlage vor, daß wir auf die Gesundheit unseres Admirals noch schnell einen heben“, platzte Flint heraus und schrie: „Steward! Die Krüge füllen, aber fix!“
„Ich mache mich besser schnell auf die Socken“, sagte Alex eilig.
„Unsinn!“ rief Morgan. „Wer hat je von einem Piraten gehört, der sich nüchtern in Gefahr begibt?“
„Pst“, flüsterte Alex, während er verhalten am Fenster der Residenz des Bürgermeisters rappelte. Aus dem Hintergrund des Gartens drangen dumpfe Geräusche an sein Ohr. Olaf war damit beschäftigt, die Wachen zu fesseln, die es einem grünbärtigen Mann sicher niemals gestattet hätten, das Anwesen zu betreten.
Das Fenster wurde geöffnet und der Bürgermeister, ein unglaublich fetter Hoka, der mit einer leuchtenden Pumphose und einem mächtigen Kragen ausgestattet war, schaute hinaus. Seine Frisur hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einem Vogelnest.
„Quiek!“ machte er.
„Hick!“ erwiderte Alex und klammerte sich an den Fenstersims, während die Residenz des Bürgermeisters damit anfing, einen Walzer aufs Parkett zu legen.
„Hilfe!“ schrie der Bürgermeister. „Ein Angriff von Seeungeheuern! Trommelt die Garde herbei! Bemannt die Gefechtsstände! Werft die Belegnägel!“
Er war ganz zweifellos gerade im Begriff, seinen nicht gerade unterernährten Körper auf Alex fallen zu lassen, als hinter ihm ein bekannt aussehender, goldlockiger Kopf auftauchte.
„Alex!“ keuchte Tanni. „Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?“
„Zu den Piraten gepreßt“, sagte Alex schwankend. „Admiral Grünbart. Helft mir hinein. Hick!“
„Er ist schon wieder betrunken“, sagte Tanni resignierend, während sie Alex’ Jackenaufschläge packte, um ihn über den Sims zu ziehen. Sie hatte den ganzen Planeten nach ihm abgesucht und die Bermudas waren ihre letzte Hoffnung gewesen. Dennoch fiel es ihr schwer, angesichts dieses von einem Schluckauf geschüttelten Grünbartwesen, Freudentränen zu vergießen.
„Bürgermeister Bermuda“, brabbelte Alex. „Schie schind ein britischer Schentelmänn. Kümmern Schie schich um die Dame. Gehm schie mir wasch antialko … antialko … alkiho … Jo-ho-ho! Un ’ne Buddl voll Rum!“
Tanni ließ ihn einen Kampf mit seinem eigenen Schwert ausfechten und verschwand, um einer Ernüchterungspille zu besorgen. Alex schluckte sie und schüttelte sich. Schlagartig wurde er wieder normal.
„Wuff!“ rief er aus. „Jetzt geht es mir besser … Tanni, wir stecken in einer teuflischen Klemme. Piraten …“
„Die Piraten“, sagte Tanni steif, „sollen gefälligst warten, bis du das Ding da vom Gesicht hast.“ Sie packte ein Fläschchen Salmiakgeist und einen Wattebausch aus.
Dankbar nahm Alex das entsetzliche Ding ab und erzählte seine Geschichte. Er endete mit den Worten: „Sie sind einfach zu aufgedreht, um noch auf mich zu hören. Sie täten es selbst dann nicht mehr, wenn ich jetzt in meiner Eigenschaft als Botschafter vor sie hinträte. Und sie können jede Minute an Land gehen. Wenn wir auf Widerstand verzichten, könnten wir zumindest ein Blutvergießen vermeiden. Lassen wir sie doch einfach mit der Beute abziehen, wenn es keinen anderen Ausweg gibt.“
„Moment mal“, warf nun der Bürgermeister ein. „Das kommt gar nicht in Frage. Das ist völlig unmöglich.“
„Aber sie sind viel stärker als Ihre Garnisonen?“ japste Alex.
„Es sind verdammte Halunken“, sagte der Bürgermeister und zündete sich fröhlich eine Zigarre an.
„Sie haben keine Chance, mit den Piraten fertigzuwerden“, sagte Alex aufgeregt. „Wir haben keine andere Wahl; wir müssen uns ergeben!“
„Ergeben?“ keuchte der Bürgermeister entsetzt. „Aber wir sind doch Briten!“
„Ich befehle Ihnen, sich zu ergeben, verdammt noch mal!“
„Unmöglich“, sagte der Bürgermeister gelassen. „Das ist absolut unmöglich. Es widerspricht außerdem den Vorschriften der Kolonialbehörde.“
„Aber Sie werden auf alle Fälle verlieren!“
„Wie es einem Edelmann gebührt“, sagte der Bürgermeister.
„Aber das ist doch Schwachsinn!“
„Aber natürlich“, erwiderte der Bürgermeister milde gestimmt. „Aber irgendwie werden wir schon durchkommen, wenn ich das mal so sagen darf.“
Alex stöhnte. Tanni ballte die Fäuste. Der Bürgermeister begab sich zur Tür und sagte: „Ich werde wohl besser meine Leute informieren.“
„Nein … warten Sie!“ Alex sprang auf. Ihm war etwas eingefallen. Sie können mich den Haien zum Fraß vorwerfen, wenn ich nicht wirklich glaube, daß wir ohne Sie völlig aufgeschmissen wären. Und die anderen hatten sich damit einverstanden erklärt … Wenn ein Hoka einmal einen Gedanken gefaßt hatte, konnte man ihn nicht mehr davon abbringen. Alex’ Hoffnung bestand zwar aus reinem Wahnwitz, aber er hatte nichts mehr zu verlieren. „Ich habe einen Plan!“
„Einen Plan?“ fragte der Bürgermeister und sah ihn zweifelnd an.
Alex erkannte seinen Fehler sofort. „Nein, nein“, versetzte er hastig. „Ich meine … eine List!“
„Oh, eine List!“ Die Augen des Bürgermeisters strahlten erwartungsvoll. „Ausgezeichnet. Unübertrefflich. Genau das, was wir in dieser Lage brauchen. Was ist es denn für eine List, mein hochgeschätzter Herr Botschafter?“
„Wir lassen sie unbehelligt an Land kommen“, sagte Alex. „Sie werden sich natürlich sofort auf den Weg zu Ihrem Palast machen …“
„Unbehelligt?“ fragte der Bürgermeister verdattert. „Aber ich erklärte Ihnen doch gerade …“
Alex zückte sein Schwert und wirbelte es herum. „Wenn sie hier angekommen sind, werde ich mich ihnen entgegenstellen!“
„Sie wollen es ganz allein mit zwanzig Schiffsladungen voll Piraten aufnehmen?“
Alex reckte aggressiv das Kinn vor. „Wollen Sie damit etwa andeuten, daß ich, der Botschafter, nicht in der Lage sein soll, zwanzig Schiffe aufzuhalten?“
„Oh, nein“, sagte der Bürgermeister. „Überhaupt nicht. Auf keinen Fall, mein werter Herr. Aber wenn Sie mich nun entschuldigen würden? Ich muß den Büttel ausschicken, damit er die Leute in der Stadt informieren kann. Sie würden mir nie verzeihen, wenn ich ihnen ein solches Spektakel vorenthalten würde.“ Er watschelte hinaus.
„Liebling!“ Tanni grabschte nach Alex’ Arm. „Du hast ja den Verstand verloren! Wir haben ja nicht einmal einen Strahler! Sie werden dich umbringen!“
„Ich hoffe nicht“, murmelte Alex wie erschlagen. Dann steckte er den Kopf aus dem Fenster und rief: „He, Olaf! Komm rein, ich brauche deine Hilfe!“
Unterhalb der schweigenden Kanonen des Forts segelte die Korsarenflotte vorbei und ging an der Pier vor Anker. Jubelnd, grölend und waffenschwingend stürmten die Piraten an Land und rannten die Hauptstraße auf die Residenz des Bürgermeisters zu. Sie waren ziemlich verwundert über die Tatsache, daß zahlreiche Zuschauer den Straßenrand umsäumten, den Überfall neugierig begutachteten und bereits Wetten darüber abschlossen, wer den Kampf gewinnen würde, hielten aber keinesfalls inne, sondern stießen blutrünstige Drohungen aus.
Die Residenz des Bürgermeisters lag in einem Garten, den eine hohe Mauer umschloß. Das Tor stand offen. In der Nähe hatte sich eine zur Garnison gehörende Einheit der Rotröcke in Habachtstellung aufgebaut, die Olaf mit mißtrauischen Blicken beäugte. Seine Aufgabe bestand darin, dafür zu sorgen, daß keiner von ihnen auf die Idee kam, einen Schuß abzufeuern. Die ganze Szenerie wurde vom gelblichen Licht einiger Laternen beleuchtet.
„Potzdonner!“ brüllte Captain Hook, als er eine mit gezücktem Schwert und grünem Bart versehene Gestalt durch den Hauseingang auf sich zukommen sah. „Da ist ja unser Admiral! Ein dreifaches Hoch auf Admiral Grünbart!“
„Hip, hip, hurra!“ Das Echo ihrer Rufe drang bis an die Küste hinunter. Die kleinen Piraten schwärmten näher heran, blieben jedoch stehen, als sie ihrem vermeintlichen Oberhäuptling nahe genug gekommen waren.
„Ah, meine Kumpane!“ rief Alex aus. „Das ist fürwahr ein großer Tag für die Bruderschaft der Küstenräuber! Ich habe keinen geringeren in meiner Gewalt als Alexander Jones, den Botschafter der Erde. Und gleich wird er meine Klinge schmecken!“ Er machte eine Pause. „Was denn – kein Beifall brandet auf?“
Die Piraten scharrten verlegen mit den Füßen.
„Was?“ bellte Alex. „Sprecht, ihr Hundesöhne! Was ist los mit euch?“
„Pest und Hölle“, murmelte Captain Hook, „aber irgendwie scheint es mir nicht gerecht zu sein, den Botschafter über die Klinge springen zu lassen … Nach allem, was er für den Planeten getan hat.“
Alex fühlte sich zwar gerührt, aber er sah sich dennoch gezwungen, die Wildheit seines Blicks zu verdoppeln.
„Wenn Sie auf Ruhm aus sind, Admiral“, sagte schließlich Captain Kidd, „würde ich an Ihrer Stelle meine Zeit nicht an dem Botschafter vergeuden. Wer ihn umbringt, kann keinen Ruhm ernten. Man sagt ihm nach, daß er schon so fertig ist, daß man einen Spezialstuhl braucht, um ihn überhaupt transportieren zu können.“
Der Hinweis auf den einzigen Luxus, den Alex sich in den langen Jahren seines Hierseins geleistet hatte – einen Roboterstuhl für die Bürostunden – brachte ihn allerdings dermaßen auf die Palme, daß er die Nerven vollständig verlor.
„Ist das so?“ schrie er. „Na, jedenfalls hat er mich zu einem Duell auf Leben und Tod herausgefordert – und ich habe nicht die Absicht, ihn davon abzuhalten. Und was euch lahme Enten angeht: Ihr werdet solange hier draußen bleiben und abwarten, bis ich ihn erschlagen habe!“
„Nein“, rief einer der Rotröcke aus und riß seine Muskete hoch, „das kann ich nicht dulden!“ Olaf riß ihm das Schießeisen aus der Hand, machte einen Knoten in den Lauf und gab es dem Hoka zurück.
Alex verschwand durch das Portal, hinter dem Tanni und der Bürgermeister warteten und murmelte zusammenhanglos vor sich hin.
„Stimmt etwas nicht, Schatz?“ fragte Tanni mit blassem Gesicht.
„Jetzt gehts ums Ganze“, schnaubte Alex. „Ich bin bereits soweit, daß ich mich für zwei Cents selbst umbringen würde – nur um zu sehen, wie sie darauf reagieren!“ Er stolperte über einen großen Zinksarg, den man schon für ihn bereitgestellt hatte.
„En garde!“ brüllte er und ließ die Klinge gegen den Deckel knallen. „Nimm das!“
Die versammelten Piraten traten aufgeregt von einem Fuß auf den anderen. Billy Bosun, der den Versuch unternahm, sich dem Portal zu nähern um herauszufinden was sich dahinter abspielte, wurde von Olaf abgefangen und über die Köpfe von Captain Einauge und Henry Morgan geworfen. „Privatsache“, sagte der Wikinger lässig.
Alex, der inzwischen weiter auf den wehrlosen Sarg einprügelte, stieß teuflische Verwünschungen aus. „Versuch nicht, mir auszuweichen! Bleib hier und schlag dich wie ein Mann! Aha! Nimm das, mein Bester!“
Während er mit der einen Hand fieberhaft auf den Sarg einhämmerte, schob er die andere geschickt in die Tasche und zog den ammoniakgetränkten Wattebausch, hervor. Der Bart löste sich. Alex überreichte ihn Tanni, die ihn schnell mit einigen Ketchup-Flecken bekleckerte. Dann stieß Alex einen spitzen Schrei aus, der den Eindruck erwecken sollte, jemand sei verwundet worden.
„Wie gefällt dir das? Und jetzt nimm dies! Und das, Grünbart! Du wußtest wohl nicht …“ Er schob sein glattrasiertes Kinn um die Ecke des Portals herum. „… daß ich als Junge in einem Fechtverein aktiv war, wie?“
Impulsiv begannen die Piraten zu applaudieren.
„Ebenso“, tönte Alex großspurig und ließ die Zuschauer nun seinen ganzen Körper sehen, „habe ich meinen Frei- und Fahrtenschwimmer gemacht und war bei den Pfadfindern! Ich hätte sogar in der Bundesliga spielen können, wenn ich nur gewollt hätte. Nimm das!“
Eilig pappte er den Bart wieder an und verlangte nach mehr Ketchup.
„Das geht mit dem Teufel zu“, fluchte er und machte einen kurzen Ausfall, der ihn ein Stück aus dem Portal herausführte und ihm die Möglichkeit gab, die Piraten sein sorgenzerfurchtes Gesicht sehen zu lassen. „Sie führen eine übernatürliche Klinge, Jones. Aber das wird Sie auch nicht retten. In einer Minute habe ich Sie in der Ecke – und dann werden Sie den Stahl meiner Klinge schmecken. Da!“ Alex verschwand erneut aus dem Blickfeld der Piraten und schrie mit schwacher Stimme: „Autsch!“
Die Piraten sahen einander traurig an. „Es kommt mir irgendwie nicht richtig vor“, murmelte Long John Silver. „Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, daß das wirklich weh tut.“
Captain Hook zuckte zusammen und sagte mit zitternder Stimme: „Auf was haben wir uns da nur eingelassen, Kumpane?“
„Nur nicht frech werden, Grünbart!“ schrie Alex, tauchte erneut mit glattrasiertem Kinn auf und fuchtelte mit dem Schwert herum, während Tanni gegen den Sarg schlug. „Ich habe wahrlich stählerne Muskeln. Nehmen Sie das! Und das! Und das!“
Er verschwand erneut, versetzte dem Sarg drei dröhnende Schläge, warf das Schwert zu Boden, pappte den Bart wieder an das Kinn und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
„Mich hats erwischt!“ jammerte er. Die ketchupverklebten Hände auf die Herzgegend gepreßt, taumelte er auf das Portal zu und blieb vor den entsetzten versteinerten Gesichtern der Piraten stehen.
„Oh“, stöhnte er. „Ich muß den Löffel abgeben, Kumpane. Er hat mich in Ehren geschlagen. Wer hätte je gedacht, daß der Botschafter ein solcher Kämpfer ist? Lebt wohl, meine Freunde. Klar zum Auslaufen. Zieht die Anker hoch. Sucht nicht nach meinem Leichnam. Ich will mich nun von dannen schleppen und irgendwo einsam sterben.“
„Leb wohl“, schluchzte Anne Bonney und winkte ihm mit einem Taschentuch nach. Die ganze Piratenbande brach in Tränen aus.
Alex taumelte außer Sicht, legte den Bart ab und schnappte eine ganze Weile heftig nach Luft. Dann nahm er das Schwert wieder an sich und schlenderte langsam, einen prüfenden Blick auf seine einstigen Getreuen werfend, durch das Portal.
„Oha“, sagte er unheildrohend. „Was haben wir denn hier? Etwa Piraten?“
Es herrschte absolute Stille.
„Gnade, Sir!“ jammerte Captain Hook und warf sich vor dem Bezwinger des schrecklichen, unbesiegbaren und unentbehrlichen Grünbart in den Staub. „Es war alles nur ein Scherz, Sir.“
„Wir haben uns nichts dabei gedacht“, warf Flint ein.
„Und ganz besonders wollten wir niemandem zu nahe treten“, fügte Billy Bosun hinzu.
„Ruhe!“ donnerte Alex. „Ihr gebt also auf?“ Er hatte keinen Grund, auf eine Antwort zu warten. „Na gut. Herr Bürgermeister, Sie werden diese Lumpen morgen bei Sonnenaufgang hängen lassen. Dann schicken Sie sie auf ihre Schiffe zurück und lassen sie gehen. Und …“ Er warf den Piraten einen finsteren Blick zu, „und ihr seht zu, daß ihr in Zukunft gutes Benehmen lernt!“
„J-j-ja, Sir“, sagte Black Tom Yardly.
Alex spürte plötzlich, daß jemand zögernd an seinem Ärmel zupfte. Als er sich herumdrehte, stellte er fest, daß es der Bürgermeister war.
„Ich … äh … weiß nicht so recht“, sagte er und sah zu Alex auf. Aus seiner Stimme war deutliches Mitleid herauszuhören. „Sooo schlecht haben sie sich doch auch wieder nicht benommen, oder, Sir? Ich glaube sogar, wir sollten ihnen irgendwie dankbar sein. Diese kolonialen Außenposten sind nämlich ganz schön langweilig –“
„Vielen Dank, Herr Bürgermeister“, sagte Anne Bonney. „Wenn Sie noch mal ausgeplündert werden wollen, lassen Sie uns nur eine Nachricht zukommen.“
Hastig schaltete Alex sich in das anbahnende Gespräch ein. Die Piraterie schien sich ja zu einer unheilbaren Krankheit zu entwickeln. Aber wenn man die Vorlieben der Hokas schon nicht ändern konnte, sollte er doch zumindest darauf hinwirken, daß sie sie mit Vernunft betrieben – und zwar ihrer eigenen.
„Hört mir zu“, gab er mit lauter Stimme bekannt. „Ich bin bereit, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Die Bruderschaft der Küstenräuber darf die Bermudas einmal im Jahr ausplündern, aber es darf dabei zu keinerlei Blutvergießen kommen …“
„Wieso sollte es das?“ fragte der Bürgermeister überrascht.
„… und die Beute muß unbeschädigt wieder zurückgegeben werden.“
„Ich will tot umfallen, wenn wir das nicht tun, Sir!“ rief Captain Hook empört aus. „Glauben Sie etwa, wir wären Diebe?“
Die Festivitäten nahmen den ganzen folgenden Tag in Anspruch und wurden gegen Abend abgebrochen, da die Piraten natürlich dazu gezwungen waren, in den Sonnenuntergang hineinzusegeln. Als er auf der Terrasse des bürgermeisterlichen Residenzgartens stand, den Arm um Tannis Schulter gelegt hatte und der Hausherr sich in ihrer Nähe aufhielt, warf Alex der am Horizont entlanggleitenden Flotte einen letzten Blick nach.
„Jetzt habe ich nur noch ein Problem“, sagte er. „Und das besteht aus Olaf. Der arme Kerl hängt immer noch hier herum und sucht nach jemandem, der ihm den Weg nach Konstantinopel zeigen kann. Könnte ich ihm doch nur helfen.“
„Aber nichts leichter als das, Sir“, sagte der Bürgermeister. „Konstantinopel liegt doch nur knapp fünfzig Meilen südlich von hier.“
„Was?“ stieß Alex hervor. „Sie sind doch wohl von allen guten Geistern verlassen! Dort liegt doch das Königreich von Natchalu.“
„Das war einmal“, nickte der Bürgermeister. „Bis zum letzten Monat hieß es auch noch so. Aber die Königin – ein ziemlich lüsternes Weib, wenn Madame den Ausdruck bitte gütigst überhören wollen – fand das Leben ziemlich langweilig, bis ihr ein Kaufmann ein paar Bücher hinterließ, die … ähm …“ Der Bürgermeister hüstelte verlegen. „… das Leben einer gewissen Theodora beschrieben. Sie sind zwar noch damit beschäftigt, die Stadt neu zu gestalten, aber sie machen gute Fortschritte, und …“
Alex nahm die Beine in die Hand. Er rannte um das Haus herum und mitten in die Strahlen der untergehenden Sonne hinein, die vom Helm und dem Kettenhemd Olaf Stupsnases zurückgeworfen wurden. Olaf stützte sich aufsein Schwert und starrte auf das Meer hinaus.
„Olaf!“ schrie Alex.
Der Hoka-Wikinger wandte sich langsam um und sah den Menschen an. Im Schein der untergehenden Sonne sah er mit seinem langen blonden Schnauzbart schon jetzt wie ein nicht unterzukriegender Varangianer aus.
DER BOTSCHAFTER DER INTERKOSMISCHEN
ENTITÄTENLIGA
AUF DEM PLANETEN TOKA
PLANETARES HAUPTQUARTIER
STADT MIXUMAXU
6/7/86
Mr. Adalbert Parr
Chef der Kulturkommission
EHQ des KED
Liga City, Neuseeland, Sol III
Sehr geehrter Mr. Parr,
vielen Dank für Ihr persönliches Schreiben vom 10. d. M., in dem Sie sich nach dem Wahrheitsgehalt der Gerüchte erkundigen, laut denen ich planen soll, meinen Rücktritt von diesem Amt vorzubereiten. Ich werde Ihre Fragen frei heraus und außerhalb des Dienstweges beantworten, da ich noch keine feste Entscheidung getroffen habe.
Ich bin mir darüber im klaren, daß das, was Sie als mein „unerreichbares Wissen bezüglich dieser Rasse, das auf jahrelanger Erfahrung beruht“ bezeichnen, schwerlich von jemandem übertroffen werden könnte; ebenso bin ich mir bewußt, daß der Hoka-Zivilisation unschätzbarer Schaden zugefügt werden könnte, sollte jemand meinen Posten übernehmen, ohne die dazu erforderlichen Qualifikationen zu besitzen. Wenn die Sache so einfach wäre wie diese Schlußfolgerungen, würde ich ganz sicher auf meinem Posten verbleiben; ich liebe diese kleinen Burschen wirklich so, als wären sie meine eigenen Kinder.
Dennoch fühle ich mich seit einiger Zeit von einigen grundsätzlich Zweifeln geplagt: Ich bezweifle den Wert und sogar die Rechtmäßigkeit der Vorgehensweise unserer Organisation. Halten Sie es für möglich, daß unsere problematische Tätigkeit als „Entwicklungshelfer rückständiger Planeten“ in Wirklichkeit nichts anderes darstellt, als der alte, längst diskreditierte Imperialismus der brutalen irdischen Vergangenheit? Besteht meine Aufgabe darin, meine Schützlinge zu rechtlosen Untertanen zu erziehen anstatt zu Intelligenzen, die mit allen Rechten ausgestattet sind? Ich weiß es nicht, und angesichts unserer prätentiösen psychokulturellen Untersuchungen bezweifle ich, daß es überhaupt jemand weiß.
Aber abgesehen davon hat das Problem auch noch eine persönliche Seite. Der nervlichen und körperlichen Beschaffenheit eines Menschen sind bestimmte Grenzen gesetzt. Ich bin es einfach satt, von der einen Minute zur anderen von einem gewissen Ede Wolf in Tarzan verwandelt zu werden, und es gibt Momente in meinem Leben, in denen ich mich ein riesiges Feuer entzünden sehe, in das ich alle auf diesem Planeten existierenden Bücher werfe und dabei einen wilden Freudentanz aufführe. Und dennoch stelle ich anderweitig fest – es ist paradox, ich weiß –, daß ich allmählich dazu übergehe, hokaide Züge anzunehmen; was vielleicht meine Art der Unterwerfung unter dieses kindische Heroentum darstellt.
Muß ich mich mit dem Gedanken anfreunden, meine Menschlichkeit zu verlieren? Mir ist, bis ich während eines Urlaubs den Planeten Gelkar aufsuchte, nicht einmal aufgefallen, was die tokanischen Schnäpse inzwischen mit mir angestellt haben. Ich habe dort gedankenlos eine ganze Flasche Martini in mich hineingekippt und es wohl für ein einheimisches Sprudelwasser gehalten. Obwohl ich mich jedesmal dazu zwinge – jedenfalls meistens, glaube ich –, dies nicht zu vergessen, gelingt mir das nicht immer und ich frage mich, ob möglicherweise mein Unterbewußtsein schon zum Alkoholiker geworden ist. Auf der gleichen Reise machte ich übrigens auch eine Rundfahrt durch die Stadt Callipygia. Ein ebenfalls zu Besuch verweilender Klkr’n-Arachnoid, der mich mit einem gelkanischen Polizisten verwechselte, fragte mich nach einem bestimmten Platz, und da ich nun einmal wie kein anderer daran gewöhnt bin, andere Rollen bereitwillig zu akzeptieren, wies ich ihm den Weg und ließ ihn in eine Gegend gehen, die mir selbst gar nicht bekannt war. Als ich den Planeten zwei Tage später verließ, wurde er noch immer vermißt.
Wie Sie wissen, hat es einmal Zeiten gegeben, in denen ich der Meinung war, es würde mir ganz allein gelingen, die Hokas in einen gesunden, nüchternen und zivilisierten Zustand zu versetzen, in dem ihre Fähigkeiten der Interkosmischen Entitätenliga großen Nutzen bringen könnten. Ich sehe jetzt ein, daß diese Aufgabe – von den bereits oben erwähnten Schwierigkeiten abgesehen – für einen einzelnen Mann zu groß ist. Des weiteren habe ich natürlich noch meine Familie und meine Gesundheit zu berücksichtigen.
Ich begrüße deshalb wärmstens die Ankunft von Inspektor Brassard, dessen Erscheinen mir bereits angekündigt wurde. Sollte er der momentanen Situation Tokas eine Gesundheitsbescheinigung ausstellen können, ist es sehr gut möglich, daß ich bereit wäre, einem neuen Mann mit neuen Ideen Platz zu machen.
Mit vorzüglicher Hochachtung,
Alexander Jones