7. Kapitel

 

»Und was war dann?«

Jeb Blake sprach mit rauher Stimme und beugte sich über seine Kaffeetasse. Er ging auf die Siebzig zu, sein schütteres Haar war fast weiß und sein Gesicht von tiefen Falten durchzogen. Er war groß und hager - fast zu dünn -, und sein Adamsapfel trat hervor wie eine kleine Pflaume. Seine Arme waren tätowiert und von Narben und Sommersprossen übersät, seine Fingergelenke geschwollen von all den Jahren harter Arbeit als Garnelenfischer. Wären nicht seine Augen gewesen, hätte man ihn für krank und gebrechlich halten können, in Wahrheit aber war er weit davon entfernt. Er arbeitete immer noch, wenn auch nur halbtags, verließ vor dem Morgengrauen das Haus und kehrte gegen Mittag zurück.

»Nichts war dann. Sie ist in ihren Wagen gestiegen und davongefahren.«

Jeb Blake, der gerade die erste der zwölf Zigaretten drehte, die er gewöhnlich pro Tag rauchte, starrte seinen Sohn an. Jahrelang hatte ihn der Arzt gewarnt, das Rauchen werde ihn noch umbringen. Als der Arzt dann aber mit sechzig an einem Herzinfarkt starb, schwand Jebs Vertrauen in seine medizinischen Ratschläge. So wie es aussah, dachte Garrett manchmal, würde der alte Mann auch ihn noch überleben.

»Na, dann war es ja wohl Zeitverschwendung.«

Garrett war verblüfft über die Offenheit seines Vaters. »Nein, Dad, es war keine Zeitverschwendung. Es waren zwei, drei nette Stunden. Sie war so unkompliziert, und ich habe mich gut unterhalten.«

»Aber du siehst sie nicht wieder.«

Garrett trank einen Schluck Kaffee und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Sie macht hier Urlaub.«

»Für wie lange?«

»Ich weiß nicht. Ich habe nicht gefragt.«

»Warum nicht?«

Garrett gab noch etwas Sahne in seinen Kaffee. »Warum interessiert dich das so? Ich bin mit jemandem Segeln gewesen, und es war nett. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«

»Ich denke doch.«

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel, daß dir dein Rendezvous Lust gemacht hat, wieder unter die Leute zu gehen?«

Garrett rührte in seinem Kaffee. Das war es also. Obwohl er sich mit den Jahren an die väterlichen Verhöre zu diesem Thema gewöhnt hatte, stand ihm heute morgen nicht der Sinn danach, wieder davon anzufangen. »Wir haben das doch schon x-mal besprochen, Dad.«

»Ich weiß, Garrett, aber ich mache mir Sorgen um dich. Du bist in letzter Zeit zu viel allein.«

»Bin ich nicht.«

»Doch«, sagte sein Vater unerwartet sanft, »das bist du.«

»Ich habe keine Lust, mit dir darüber zu streiten, Dad.«

»Ich auch nicht. Ich hab’s getan, und es hat nichts genutzt.« Jeb lächelte. Nach einem kurzen Schweigen nahm er einen erneuten Anlauf.

»Wie ist sie denn. Erzähl doch mal.«

Garrett überlegte.

»Theresa? Sie ist attraktiv und intelligent. Und auf ihre Art charmant.«

»Ist sie Single?«

»Ich glaube schon. Sie ist geschieden und wäre wohl nicht mitgefahren, wenn sie einen festen Partner hätte.«

Jeb musterte das Gesicht seines Sohnes. Dann beugte er sich wieder über den Tisch.

»Sie gefällt dir, oder?«

Garrett sah seinem Vater in die Augen und wußte, daß er ihm nichts vormachen konnte.

»Ja, Dad, das tut sie. Aber wie gesagt, ich sehe sie wohl nicht wieder. Ich weiß nicht, in welchem Hotel sie abgestiegen ist und ob sie nicht vielleicht heute schon abreist.«

»Aber wenn sie noch hier wäre und du wüßtest, wo sie wohnt - würdest du sie dann wiedersehen wollen?«

Schweigend blickte Garrett zur Seite, und Jeb langte über den Tisch und legte die Hand auf den Arm seines Sohns. Selbst mit siebzig hatte er noch einen festen Griff.

»Es ist jetzt drei Jahre her, Garrett. Ich weiß, wie sehr du sie geliebt hast, aber du mußt jetzt loslassen. Das weißt du, oder? Du mußt einfach lernen loszulassen.«

»Ich weiß, Dad«, gab Garrett zurück. »Aber es ist nicht so leicht.«

»Nichts, was uns viel bedeutet, ist leicht. Vergiß das nicht.«

Kurz darauf hatten sie ihr Frühstück beendet. Garrett legte ein paar Dollarnoten auf den Tisch, und sie verließen gemeinsam das Cafe.

Als Garrett schließlich in seinem Laden angelangt war, gingen ihm tausend Dinge durch den Kopf. Außerstande, sich auf die dringend zu erledigende Schreibarbeit zu konzentrieren, beschloß er, zum Hafen zu fahren und die Reparatur am Bootsmotor, die er am Tag zuvor begonnen hatte, zu beenden. Er hatte einfach das Bedürfnis, allein zu sein, und würde später zurückkommen. Die Reparatur des Motors war zeitaufwendig, aber nicht schwierig, und er hatte gestern schon gute Vorarbeit geleistet. Während er die Motorumkleidung entfernte, dachte er über das Gespräch mit seinem Vater nach. Natürlich hatte der alte Jeb recht gehabt. Es gab keinen Grund, weiter an dem Gefühl festzuhalten, wie er es tat, doch er wußte nicht - und Gott war sein Zeuge -, wie er es abstellen sollte. Catherine bedeutete ihm alles. Sie hatte ihn nur ansehen müssen, und schon war ihm, als sei plötzlich alles im Lot. Und wenn sie erst lächelte…

Dieses Lächeln würde er bei keiner anderen wiederfinden. Daß einem so etwas genommen wurde, war einfach nicht fair. Mehr als das, es wirkte so widersinnig. Warum ausgerechnet sie? Und warum er? Wochenlang hatte er nachts wach gelegen und sich gefragt, was gewesen wäre, wenn… Was, wenn sie eine Sekunde gezögert hätte, bevor sie die Straße überquerte? Was, wenn sie sich ein paar Minuten mehr Zeit beim Frühstück gelassen hätten? Was, wenn er sie an jenem Morgen begleitet hätte, statt auf direktem Weg in den Laden zu gehen? Tausend Wenns, die ihn keinen Schritt weitergebracht hatten.

Um diese Gedanken zu verscheuchen, konzentrierte er sich auf seine Arbeit. Er entfernte die Schrauben des Vergasers und zog ihn aus dem Motor. Behutsam begann er ihn zu zerlegen und prüfte, ob keins der Teile verschlissen war. Er glaubte nicht, daß die Schadensursache hier lag, wollte aber sichergehen.

Obwohl die Sonne noch nicht hoch stand, mußte er sich immer wieder den Schweiß von der Stirn wischen. Gestern um diese Zeit hatte er Theresa den Pier hinunter zur Fortuna gehen sehen. Er hatte sie sofort bemerkt, zumal sie allein war. Frauen wie sie kamen fast nie allein her. Gewöhnlich wurden sie von wohlhabenden älteren Herren begleitet, den Besitzern der Yachten, die zu beiden Seiten des Hafens vor Anker lagen. Als sie vor seinem Boot stehengeblieben war, hatte er sich gewundert, jedoch angenommen, daß sie nur einen Augenblick verweilen und dann zu ihrem endgültigen Ziel weitergehen würde. Das war bei den meisten Leuten der Fall. Bald darauf aber konnte er feststellen, daß sie gekommen war, um seine Fortuna zu sehen, und an der Art, wie sie hin- und herlief, glaubte er zu erkennen, daß sie noch aus einem anderen Grund hier war.

Nachdem seine Neugier geweckt war, hatte er sie angesprochen. Es war ihm nicht gleich aufgefallen, doch später am Abend, als er das Boot vertäut hatte, fragte er sich, warum sie ihn zu Anfang so sonderbar angeschaut hatte.

Fast schien es, als hätte sie etwas an ihm erkannt, das er gewöhnlich tief im Innern verborgen hielt. Und mehr noch, es war, als wisse sie mehr über ihn, als sie zuzugeben bereit war.

Er schüttelte den Kopf, denn er wußte, daß das keinen Sinn ergab. Sie hatte gesagt, sie habe die Artikel im Laden gelesen. Vielleicht deshalb der merkwürdige Blick. So mußte es wohl gewesen sein. Er wußte, er war ihr niemals zuvor begegnet - er hätte sich sonst gewiß erinnert -, und außerdem kam sie aus Boston und machte hier Urlaub. Es war die einzige plausible Erklärung, die ihm einfiel, und trotzdem glaubte er zu spüren, daß irgend etwas an der Sache nicht ganz stimmte.

Nicht daß es wichtig gewesen wäre.

Sie waren zusammen segeln gegangen, hatten sich gut verstanden und dann Abschied genommen. Und das war’s gewesen. Wie er seinem Vater erklärt hatte, konnte er sie nicht erreichen, selbst wenn er’s gewollt hätte. Wahrscheinlich war sie jetzt schon - oder jedenfalls in ein paar Tagen - auf dem Weg zurück nach Boston, und er hatte im Laufe der Woche tausend Dinge zu tun. Im Sommer waren seine Tauchkurse ausgebucht. Er hatte weder die Zeit noch die Nerven, jedes Hotel in Wilmington anzurufen, um sie zu suchen. Und selbst wenn er sie finden würde, was sollte er dann sagen? Was konnte er sagen, das nicht lächerlich klang?

All diese Fragen schwirrten ihm im Kopf herum, während er den Motor reparierte. Nachdem er den defekten Bolzen gefunden und ersetzt hatte, baute er den Vergaser wieder ein. Er warf den Motor an, und da er sich jetzt sehr viel besser anhörte, löste er die Leinen, um eine vierzigminütige Probefahrt zu machen. Er ging alle Geschwindigkeiten durch, stoppte mehrmals den Motor, warf ihn wieder an und kehrte dann beruhigt zum Hafen zurück. Zufrieden, daß ihn die Reparatur weniger Zeit als erwartet gekostet hatte, sammelte er sein Werkzeug ein, verstaute es in seinem Lieferwagen und fuhr zum ›Island Diving‹ zurück.

Auf seinem Schreibtisch stapelten sich verschiedene Papiere, vor allem schon ausgefüllte Auftragsformulare für Artikel, die im Laden benötigt wurden, außerdem diverse Rechnungen. Er nahm Platz und arbeitete den Stapel rasch durch.

Kurz vor elf war das Wichtigste erledigt, und er ging zur Theke am Eingang des Ladens. Ian, einer seiner jungen Angestellten, telefonierte gerade, als Garrett erschien, und händigte ihm drei Mitteilungen aus. Die ersten beiden waren von Großhändlern, die Lieferschwierigkeiten hatten. Noch etwas, um das ich mich kümmern muß, dachte er.

Die dritte las er auf dem Rückweg in sein Büro und hielt abrupt inne, als er bemerkte, von wem sie stammte. Rasch trat er in sein Büro, schloß die Tür und versicherte sich, daß er sich nicht getäuscht hatte. Dann griff er zum Telefon, wählte die Nummer.

Theresa Osborne las gerade die Zeitung, als das Telefon klingelte. Beim zweiten Läuten hob sie ab.

»Hallo, Theresa, hier ist Garrett. Ich lese eben, daß ich Sie zurückrufen soll.«

»Hallo, Garrett.« Sie schien erfreut, seine Stimme zu hören. »Danke für Ihren prompten Rückruf. Wie geht’s Ihnen?«

Beim Klang ihrer Stimme wurde ihm ganz warm ums Herz, und er stellte sich vor, wie sie jetzt in ihrem Hotelzimmer saß. »Mir geht’s bestens. Ich habe gerade meine Post erledigt, als Ihre Nachricht kam. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich habe meine Jacke auf Ihrem Boot vergessen und wollte wissen, ob Sie sie gefunden haben.«

»Nein, aber ich habe auch nicht gesucht. Haben Sie sie in der Kabine gelassen?«

»Ich weiß nicht mehr genau.«

Garrett dachte kurz nach. »Wissen Sie was«, sagte er schließlich, »ich sehe schnell nach und rufe Sie dann noch mal an.«

»Macht das nicht zuviel Umstände?«

»Ganz und gar nicht. Der Hafen ist ja nur wenige Minuten entfernt. Bleiben Sie vorerst im Hotel?«

»Die nächste Zeit schon.«

»Okay, dann rufe ich gleich wieder an.«

Garrett verließ den Laden und lief zu Fuß zum Hafen. Er sah sich zunächst in der Kabine um, konnte dort aber nichts finden und kletterte zurück aufs Deck, wo er die Jacke schließlich halb verborgen unter der Sitzbank im hinteren Teil entdeckte. Er hob sie auf, versicherte sich, daß sie sauber war, und kehrte zum Laden zurück.

Wieder in seinem Büro, rief er erneut das Hotel an. Diesmal hob Theresa beim ersten Läuten ab.

»Hier noch mal Garrett. Ich habe Ihre Jacke gefunden.«

»Danke.« Sie klang erleichtert. »Nett von Ihnen, daß Sie nachgeschaut haben.«

»Keine Ursache.«

Sie schwieg einen Augenblick, als dächte sie nach. »Ich bin in zwanzig Minuten bei Ihnen im Laden. Können Sie die Jacke so lange aufbewahren?«

»Natürlich, gerne«, antwortete er. Nachdem er aufgelegt hatte, lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und grübelte über das eben Geschehene nach. Sie war also noch nicht abgereist, dachte er bei sich, und ich werde sie wiedersehen. Obwohl er nicht ganz begriff, wie sie ihre Jacke hatte vergessen können, war ihm eines doch klar: Es freute ihn, daß es so gekommen war.

Was nicht hieß, daß es wichtig gewesen wäre.

 

Etwa zwanzig Minuten später traf Theresa ein, in Shorts und einer tief ausgeschnittenen, ärmellosen Bluse, die ihre Figur aufs Vorteilhafteste zur Geltung brachte. Beide, Ian und Garrett, starrten sie an, als sie den Laden betrat und sich suchend umsah. Schließlich entdeckte sie die beiden Männer und rief ihnen ein ›Hallo‹ zu. Ian hob eine Braue, als wolle er fragen: Na, was hast du mir da weismachen wollen? Garrett aber ging einfach darüber hinweg und steuerte, die Jacke über dem Arm, auf Theresa zu. Er wußte, daß Ian ihn nicht aus den Augen lassen und später mit Fragen bedrängen würde, aber er war fest entschlossen, nichts zu erwidern.

»So gut wie neu«, sagte Garrett und reichte ihr die Jacke. Kurz vorher hatte er sich das Motoröl von den Händen gewaschen und eins von den T-Shirts angezogen, die im Laden verkauft wurden. Es war nichts Besonderes, aber so sah er wenigstens sauber aus.

»Tausend Dank«, sagte sie, und in ihren Augen war wieder das Leuchten, das ihn schon gestern so verwirrt hatte. Geistesabwesend kratzte er sich am Ohr.

»Gern geschehen. Der Wind muß die Jacke unter die Sitzbank geweht haben, so daß sie kaum zu sehen war.«

»Wahrscheinlich«, erwiderte sie mit einem leichten Achselzucken, und Garrett sah, wie sie ihre Bluse an der Schulter zurechtzupfte. Er wußte nicht, ob sie in Eile war - und war sich keineswegs sicher, ob er sie gleich gehen lassen wollte. Und so sagte er, was ihm gerade in den Sinn kam:

»Es war sehr nett gestern abend.«

»Mir hat es auch gut gefallen.«

Ihre Augen begegneten den seinen, und er lächelte scheu. Er wußte nicht recht, was er erwidern sollte - es war so lange her, daß er sich in einer ähnlichen Situation befunden hatte. Mit Kunden oder Fremden hatte er gewöhnlich keine Probleme, doch das war natürlich etwas ganz anderes. Er trat von einem Fuß auf den anderen und fühlte sich plötzlich wie ein sechzehnjähriger Schuljunge. Schließlich war sie es, die das Wort ergriff.

»Ich glaube, ich bin Ihnen etwas schuldig, für die Mühe, die Sie sich gemacht haben.«

»Unsinn, Sie sind mir gar nichts schuldig.«

»Nicht so sehr dafür, daß Sie mir die Jacke geholt haben, wohl aber wegen gestern abend.«

Er schüttelte den Kopf. »Auch dafür nicht. Ich war froh, Sie dabeizuhaben.«

Ich war froh, Sie dabeizuhaben. Die Worte hallten in seinem Kopf wider, kaum daß er sie ausgesprochen hatte. Noch vor zwei Tagen hätte er sich nicht vorstellen können, sie jemandem zu sagen.

Das Läuten des Telefons im Hintergrund riß ihn aus seinen Gedanken.

»Sind Sie nur hergekommen, um Ihre Jacke zu holen?« fragte er, um Zeit zu gewinnen. »Oder wollten Sie auch ein bißchen Sightseeing machen?«

»Eigentlich habe ich noch nichts geplant. Es ist Mittag, und ich würde gern irgendwo eine Kleinigkeit essen.« Sie sah ihn erwartungsvoll an. »Können Sie mir etwas empfehlen?«

Er dachte nach. »Das ›Hank’s‹ zum Beispiel. Das Essen ist gut, die Aussicht phantastisch.«

»Wo genau ist das?«

Er deutete über die Schulter. »Am Wrightsville Beach. Sie gehen über die Brücke zur Insel und biegen rechts ab. Wenn Sie den Schildern zum Hafen folgen, können Sie es gar nicht verfehlen.«

»Und was gibt es dort?«

»Hauptsächlich Fisch und Meeresfrüchte. Sie haben die besten Austern und Garnelen weit und breit, aber wenn Sie etwas anderes wollen, bekommen Sie auch Steaks oder Burgers.«

Sie wartete, ob er noch etwas hinzufügen wollte, aber als er schwieg, wandte sie den Blick ab und sah aus dem Fenster. Reglos stand sie so da, und zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Minuten fühlte sich Garrett in ihrer Gegenwart verwirrt. Was war es, das dieses Gefühl in ihm auslöste? Schließlich riß er sich zusammen und fand die Sprache wieder.

»Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen das Lokal. Ich kriege selbst allmählich Hunger und würde Sie gern begleiten, wenn Sie Lust auf Gesellschaft haben.«

»Das habe ich, Garrett«, lächelte sie.

Er wirkte erleichtert. »Mein Wagen steht im Hinterhof. Soll ich fahren?«

»Sie kennen den Weg besser als ich«, erwiderte sie, und Garrett führte sie durch den Laden zur Tür. Theresa ging etwas hinter ihm, damit er ihren Gesichtsausdruck nicht sah, denn sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

 

Das ›Hank’s‹ war so alt wie der Hafen selbst und bei Einheimischen und Touristen gleichermaßen beliebt. Ähnlich wie viele Hafenrestaurants in Cape Cod hatte es trotz seiner schlichten Einrichtung - Holzplanken, gescheuert und abgeschabt von Tausenden sandiger Schuhsohlen, robuste Holztische mit Schnitzereien Hunderter früherer Gäste, riesige Fenster mit Blick auf den Atlantik, Fotos von Fischtrophäen an den Wänden - unglaublich viel Atmosphäre. Aus einer Schwingtür, die zur Küche führte, sah Theresa riesige Fischplatten auftauchen, getragen von Kellnern und Kellnerinnen in Shorts und blauen T-Shirts, auf denen der Name des Restaurants prangte. Es war ein Lokal, in dem man mit eleganter Kleidung aufgefallen wäre, und die meisten Gäste sahen so aus, als hätten sie den größten Teil des Morgens am Strand verbracht.

»Glauben Sie mir«, sagte er, als sie auf einen freien Tisch zusteuerten, »das Essen ist hervorragend, auch wenn das Drumherum nicht danach aussieht.«

Als sie Platz genommen hatten, schob Garrett die beiden Bierflaschen beiseite, die noch nicht abgeräumt worden waren. Die Menükarte klemmte in einem Gewürzständer mit Salz- und Pfefferstreuern und Spritzflaschen für Ketchup, Tabasco-, Tartar- und Cocktailsauce und einer weiteren Sauce mit dem simplen Namen ›Hank’s‹. Die Karte selbst steckte in einer billigen Plastikhülle und sah so aus, als wäre sie seit Jahren nicht erneuert worden. Theresa blickte sich um und stellte fest, daß fast alle Tische besetzt waren.

»Ganz schön voll«, sagte sie und machte es sich bequem.

»Ist es immer. Bevor Wrightsville Beach von den Touristen entdeckt wurde, war dieses Lokal bereits eine Art Legende. Freitag oder Samstag abends bekommen Sie hier keinen Platz, es sei denn, Sie sind bereit, Stunden zu warten.«

»Woran liegt das?«

»Am Essen und den Preisen. Hank bekommt jeden Morgen eine riesige Lieferung mit frischem Fisch und Garnelen, und man geht hier selten raus, ohne viel mehr als zehn Dollar auszugeben, einschließlich Trinkgeld. Und ein, zwei Bier.«

»Wie kommt der Wirt auf seine Kosten?«

»Ich denke, die Menge macht’s. Wie gesagt, es ist hier immer voll, und das Lokal ist nicht klein.«

»Dann haben wir ja Glück gehabt, daß wir noch einen Tisch ergattert haben.«

»Ja, das haben wir. Aber wir sind etwas eher dran als die Einheimischen, und die Strandleute bleiben nie lange. Sie kommen nur für einen schnellen Imbiß und sind schon wieder in der Sonne.«

Theresa ließ den Blick noch mal durchs Restaurant schweifen, bevor sie sich der Menükarte widmete. »Was empfehlen Sie?«

»Mögen Sie Fisch?«

»Liebend gern.«

»Dann nehmen Sie Thunfisch oder Delphin. Sie sind beide köstlich.«

»Delphin?«

Er lachte leise. »Nicht Flipper. Es ist ein Speisefisch, den wir hier einfach Delphin nennen.«’

»Ich glaube, ich nehme lieber Thunfisch - vorsichtshalber. «

»Glauben Sie, ich hätte mir das nur ausgedacht?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie verschmitzt. »Ich habe Sie erst gestern kennengelernt und weiß zu wenig über Sie, um einschätzen zu können, wozu Sie alles fähig sind.«

»Ich bin sehr gekränkt«, erwiderte er im gleichen Tonfall, und sie lachte. Er fiel in ihr Lachen ein, und kurz darauf bemerkte er, wie sie ihre Hand über den Tisch schob, um kurz seinen Arm zu berühren. Catherine, so wurde ihm plötzlich bewußt, hatte das gleiche getan, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Sehen Sie dort«, sagte sie, mit dem Kinn zum Fenster deutend, und er folgte ihrem Blick. Draußen ging ein alter Mann mit Anglerausrüstung vorbei. Er sah ganz normal aus - bis auf den Papagei, der auf seiner Schulter saß.

Garrett schüttelte lachend den Kopf und glaubte, noch immer die flüchtige Berührung auf seinem Arm zu spüren.

»Man sieht hier die sonderbarsten Käuze. Es ist noch nicht ganz wie in Kalifornien, aber warten wir noch ein paar Jahre ab.«

Theresa sah dem Mann nach, der langsam die Hafenmauer entlangschlenderte. »Sie sollten sich auch so einen Vogel zulegen, der Ihnen beim Segeln Gesellschaft leistet.«

»Und mir meinen Frieden raubt? Bei meinem Glück würde das Viech nicht sprechen, sondern nur krächzen und mir wahrscheinlich mein Ohrläppchen abreißen, sobald der Wind das erste Mal dreht.«

»Aber Sie würden wie ein Pirat aussehen.«

»Wohl eher wie eine Witzfigur.«

»Ach, Sie sind ein Spielverderber«, sagte sie mit gespieltem Ärger. »Sagen Sie mal«, fügte sie nach einem kurzen Schweigen hinzu, »wird man hier eigentlich bedient, oder muß man seinen Fisch selbst fangen und kochen?«

In diesem Augenblick erschien eine Kellnerin, nahm ihre Bestellung auf und brachte Ihnen umgehend zwei Flaschen Bier.

»Keine Gläser?« fragte Theresa, als die Kellnerin gegangen war.

»Nein. Hier geht es ziemlich rustikal zu.«

»Jetzt weiß ich, warum es Ihnen hier so gut gefällt.«

»Soll das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein, was meinen Geschmack angeht?«

»Nur, wenn Sie selbst daran zweifeln.«

»Jetzt klingen Sie wie eine Psychiaterin.«

»Bin ich nicht, aber als Mutter wird man zu einer Art Expertin in Sachen menschliche Natur.«

»Tatsächlich?«

»Das sag ich jedenfalls immer zu Kevin.«

Garrett nahm einen Schluck aus seiner Flasche. »Haben Sie heute schon mit ihm gesprochen?«

Sie nickte und nahm selbst einen Schluck. »Nur ein paar Minuten. Er war auf dem Weg nach Disneyland, als ich angerufen habe. Er hatte Freikarten für irgendeine Morgenvorstellung und war schon auf dem Sprung.«

»Fühlt er sich wohl bei seinem Vater?«

»Oh, ja, das tut er. David ist immer ein guter Vater gewesen, und ich glaube, er versucht, die Tatsache wettzumachen, daß er Kevin nicht so oft sieht. Wann immer Kevin ihn besucht, erwartet ihn etwas Lustiges und Spannendes.«

Garrett sah sie neugierig an. »Das klingt so, als hätten Sie Bedenken.«

»Ich hoffe nur«, sagte sie nach einem Zögern, »daß es später nicht zu einer Enttäuschung kommt. David und seine neue Frau haben eine Familie gegründet, und wenn das Baby ein bißchen älter wird, können David und Kevin sicher nicht mehr so leicht allein etwas unternehmen.«

Garrett beugte sich über den Tisch. »Man kann seinen Kindern Enttäuschungen im Leben nicht ersparen.«

»Das weiß ich, wirklich. Es ist nur so, daß…«

Sie hielt inne, und Garrett vollendete ihren Satz. »… daß er Ihr Sohn ist und Sie nicht möchten, daß man ihm weh tut.«

»Genau.« Das Bier war so kalt, daß die Flasche beschlug, und Theresa begann, das Etikett abzuziehen. Auch das hatte Catherine immer getan, und Garrett nahm hastig einen weiteren Schluck, bemüht, an etwas anderes zu denken.

»Ich weiß nur eins: Wenn er wie Sie ist, fällt er sicher auf die Füße.«

»Wie meinen Sie das?«

Er zuckte die Achseln. »Kein Leben ist einfach - Ihres eingeschlossen. Sie haben sicher schwere Zeiten durchgemacht. Und da er miterlebt hat, wie Sie Schwierigkeiten überwunden haben, wird er selbst lernen, sie zu bewältigen.«

»Jetzt hören Sie sich aber wie ein Psychiater an.«

»Ich sage Ihnen nur, was ich beim Erwachsenwerden gelernt habe. Als ich so alt wie Ihr Kevin war, ist meine Mutter an Krebs gestorben. Und als ich sah, wie mein Vater seinen Schmerz bewältigte, wußte ich, daß ich mein Leben weiterleben muß, ganz gleich, was geschieht.«

»Hat Ihr Vater wieder geheiratet?«

»Nein«, sagte er mit einem Kopfschütteln. »Ich glaube, es gab Zeiten, da er es sich gewünscht hätte, aber er hat sich nicht dazu durchringen können.«

Daher kommt es also, dachte sie bei sich. Wie der Vater, so der Sohn.

»Lebt er noch hier?« fragte sie.

»Ja. Ich sehe ihn relativ häufig. Wir treffen uns mindestens einmal die Woche. Er versucht mich zur Vernunft zu bringen.«

Sie lächelte. »Wie die meisten Eltern.«

 

Bald darauf wurde das Essen serviert, und sie setzten ihr Gespräch fort. Jetzt war es Garrett, der mehr erzählte - wie er hier in North Carolina aufgewachsen war und warum er niemals wegziehen würde, wenn er die Wahl hätte. Er erzählte ihr auch von Abenteuern, die er beim Segeln und Tauchen erlebt hatte. Sie lauschte fasziniert. Verglichen mit den Geschichten, die sie von Männern in Boston zu hören bekam - und die sich meist um berufliche Leistungen drehten -, war dies hier völlig neu für sie. Er sprach von den unzähligen Meerestieren, denen er bei seinen Tauchgängen begegnet war, und erzählte, wie er auf einer Segeltour in ein Unwetter geraten war und beinahe gekentert wäre. Einmal war er sogar von einem Hammerhai gejagt worden und hatte in dem Wrack, nach dem er getaucht war, Deckung nehmen müssen. »Mir wäre beinahe die Luft ausgegangen, so lange mußte ich warten, bis ich wieder aufsteigen konnte«, sagte er und schüttelte bei der Erinnerung den Kopf.

Theresa beobachtete ihn, während er sprach, und freute sich, daß er im Vergleich zu gestern abend richtig aufgetaut war und nicht mehr jedes Wort abwog, bevor er es aussprach. Sie fand die Veränderung aufregend und reizvoll.

Sie beendeten ihr Mittagessen - er hatte recht, der Fisch war köstlich - und tranken ein zweites Bier, während die Deckenventilatoren über ihren Köpfen surrten. Trotz der zunehmenden Hitze war das Lokal noch immer bis auf den letzten Platz besetzt. Als die Rechnung kam, legte Garrett das Geld auf den Tisch.

»Gehen wir?«

»Wann immer Sie wollen. Und übrigens, danke für das Essen. Es war großartig.«

Als sie aufbrachen, rechnete sie damit, daß Garrett sofort in seinen Laden zurückfahren würde, und war überrascht, als er etwas anderes vorschlug.

»Wie wär’s mit einem Strandspaziergang? Es ist meist etwas frischer direkt am Wasser.«

Theresa willigte ein und ließ sich von Garrett die Hafenmauer entlang zum Strand führen, der von Familien mit Kindern bevölkert war. Am Wasser angelangt, zogen beide ihre Schuhe aus.

Sie schwiegen eine Weile und sahen dem bunten Treiben zu, während sie Seite an Seite dahinschlenderten.

»Sind Sie oft am Strand gewesen, seitdem Sie hier sind?« fragte Garrett schließlich.

Theresa schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin ja erst vorgestern abend hier angekommen. Dies ist das erste Mal.«

»Wie gefällt es Ihnen?«

»Ich find’s wunderschön.«

»Ist es ähnlich wie an den Stränden im Norden?«

»Stellenweise schon. Aber das Wasser ist hier natürlich viel wärmer. Sind Sie niemals im Norden am Strand gewesen?«

»Ich bin noch kein einziges Mal aus North Carolina herausgekommen, wenn Sie’s genau wissen wollen.«

Sie lächelte. »Dann sind Sie ja ein richtiger Globetrotter, was?«

Er lachte leise. »Nein, aber ich habe nicht das Gefühl, daß mir etwas entgeht. Mir gefällt es hier, und ich kann mir keinen schöneren Ort vorstellen. Ich will nirgendwo anders sein.« Er warf ihr einen Blick von der Seite zu und wechselte das Thema. »Wie lange wollen Sie denn in Wilmington bleiben?«

»Bis Sonntag. Montag fängt meine Arbeit wieder an.«

Noch fünf Tage, dachte er bei sich.

»Kennen Sie niemanden sonst in der Stadt?«

»Nein, ich bin ganz allein hier.«

»Warum?«

»Ich wollte mich einfach mal umsehen. Ich hab viel Gutes über die Gegend gehört und wollte mir selbst einen Eindruck machen.«

Ihre Antwort machte ihn stutzig. »Reisen Sie oft allein?«

»Um ehrlich zu sein - das ist das erste Mal.«

Eine Joggerin kam ihnen entgegen, begleitet von einem schwarzen Labrador. Der Hund schien erschöpft von der Hitze, doch die junge Frau legte noch an Tempo zu. Als sie auf ihrer Höhe angelangt war, öffnete Garrett den Mund, doch dann verkniff er sich seinen Kommentar, weil er fand, daß es ihn nichts anging.

»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Theresa?«

»Das hängt von der Frage ab.«

Er blieb stehen, bückte sich nach einer Muschel, betrachtete sie von allen Seiten und reichte sie Theresa. »Gibt es derzeit einen Mann in Ihrem Leben?«

Sie nahm die Muschel entgegen. »Nein.«

Kleine Wellen umspielten ihre Füße, während sie im seichten Wasser standen. Obwohl er mit der Antwort gerechnet hatte, konnte er nicht verstehen, warum jemand wie sie den Großteil ihrer Abende allein verbrachte.

»Und warum nicht? Einer Frau wie Ihnen müßten die Männer doch zu Füßen liegen.«

»Danke für das Kompliment«, sagte sie lächelnd, während sie ihren Weg fortsetzten. »Aber das ist gar nicht so leicht, vor allem mit einem Kind. Es gibt viele Dinge zu bedenken, wenn ich jemanden kennenlerne.« Sie hielt inne. »Und was ist mit Ihnen? Gibt es in Ihrem Leben zur Zeit eine Frau?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Dann ist es jetzt an mir zu fragen: ›Warum?‹«

Garrett zuckte die Achseln. »Wohl, weil ich keiner begegnet bin, die ich ständig um mich haben möchte.«

»Ist das alles?«

Es war der Augenblick der Wahrheit, und Garrett wußte es. Eigentlich hätte er ihre Frage nur bejahen müssen, und das Thema wäre abgeschlossen gewesen, doch er zögerte.

Je weiter sie sich vom Hafen entfernten, desto weniger Menschen sahen sie am Strand, und das einzige Geräusch, das sie jetzt hörten, kam von der Brandung. Einige Seeschwalben flogen auf, als sie näherkamen. Das Sonnenlicht, das vom Sand reflektiert wurde, war so grell, daß sie mit den Augen blinzeln mußten. Garrett sah Theresa nicht an, als er jetzt zu sprechen begann, und sie kam etwas näher, um ihn durch das Tosen des Meers verstehen zu können.

»Nein, das ist nicht alles. Es ist mehr eine Ausrede. Um ehrlich zu sein, habe ich mich gar nicht bemüht, eine Frau kennenzulernen.«

Theresa beobachtete ihn von der Seite. Er blickte starr nach vorn, wie um seine Gedanken zu sammeln, doch sie spürte seinen Widerwillen, als er fortfuhr.

»Es gibt etwas, das ich Ihnen gestern abend verschwiegen habe.«

Sie spürte, wie sich ihr die Kehle zusammenschnürte, denn sie wußte genau, was kommen würde. Um eine unbefangene Miene bemüht, sagte sie nur:

»So?«

»Ich war verheiratet«, fuhr er schließlich fort. »Sechs Jahre.« Er wandte ihr jetzt das Gesicht zu, und der Ausdruck in seinen Augen ließ sie zusammenzucken. »Aber sie ist gestorben.«

»Das tut mir leid.«

Wieder blieb er stehen, um eine Muschel aufzuheben, aber diesmal reichte er sie ihr nicht, sondern warf sie, nachdem er sie begutachtet hatte, ins Meer zurück. Theresa sah sie im Wasser versinken.

»Das war vor drei Jahren. Seither habe ich mich um keine Frau mehr bemüht, nicht einmal einer nachgeschaut.«

»Sie müssen manchmal sehr einsam sein.«

»Das bin ich, aber ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Ich bin sehr beschäftigt, wissen Sie - im Laden und mit meinen Tauchkursen -, das lenkt mich ab. Und ehe ich mich versehe, ist es Zeit zum Schlafen, und das Ganze fängt am nächsten Tag von vorne an.«

Als er zu Ende gesprochen hatte, sah er sie mit einem schwachen Lächeln an. Jetzt war es ausgesprochen. Er hatte es seit Jahren einem anderen Menschen außer seinem Vater sagen wollen, und jetzt hatte er es einer Frau aus Boston erzählt, die er kaum kannte. Einer Frau, der es gelungen war, Türen zu öffnen, die er selbst verriegelt hatte…

Sie sagte nichts, doch als er weiter schwieg, fragte sie schließlich:

»Und wie war sie?«

»Catherine?« Garretts Kehle war ganz trocken. »Wollen Sie das wirklich wissen?«

»Ja, das möchte ich«, antwortete sie mit sanfter Stimme. Er warf eine weitere Muschel in die Brandung und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Wie sollte er Catherine mit Worten beschreiben? Ohne daß er es wollte, zog ihn die Vergangenheit wieder einmal in ihren Bann…

 

»Hallo, Liebster«, sagte Catherine und blickte von ihrer Gartenarbeit auf. »Ich hatte gar nicht so früh mit dir gerechnet. «

»Es gab heute morgen nicht viel zu tun, und da dachte ich mir, ich schau schnell vorbei, um zu sehen, wie es dir geht.«

»Ach, es geht schon viel besser.«

»Glaubst du, es war eine Grippe?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht habe ich nur etwas Falsches gegessen. Kurz nachdem du gegangen bist, habe ich mich wieder stark genug gefühlt, um etwas im Garten zu arbeiten.«

»Das sehe ich.«

»Gefallen dir die Blumen?« Sie deutete auf ein frisch angelegtes Beet mit Stiefmütterchen.

Er lächelte. »Sehr schön, aber hättest du nicht etwas Erde im Beet lassen sollen?«

Sie wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und blinzelte zu ihm hinauf ins grelle Sonnenlicht.

»Sehe ich so schlimm aus?«

Ihre Knie waren schwarz, und ein dunkler Streifen verlief quer über ihre Wange. Ihr Haar war zu einem unordentlichen Pferdeschwanz gebunden, aus dem sich einzelne Strähnen gelöst hatten, und ihr Gesicht war rot und schweißbedeckt von der Anstrengung.

»Du siehst perfekt aus.«

Catherine zog ihre Handschuhe aus und legte sie über das Verandageländer. »Ich bin nicht perfekt, Garrett, aber trotzdem danke. Komm, laß uns rasch essen. Du mußt bald wieder im Laden sein.«

 

Mit einem Seufzer wandte er sich ihr wieder zu. Theresa sah ihn an und wartete.

»Sie war alles, was ich mir jemals gewünscht habe. Sie war hübsch, sie war charmant, sie war schlagfertig, und sie hat mich in allen wichtigen Dingen unterstützt. Ich habe sie praktisch mein ganzes Leben lang gekannt - wir sind zusammen zur Schule gegangen. Nach meiner Abschlußprüfung am UNC haben wir dann geheiratet. Wir waren sechs Jahre verheiratet, bis es zu dem Unfall kam, und es waren die schönsten sechs Jahre meines Lebens. Als sie mir genommen wurde…« Er hielt inne, als suche er nach Worten. »Ich weiß nicht, ob ich mich jemals an ein Leben ohne sie gewöhnen kann.«

So wie er über Catherine sprach, konnte sie seinen Schmerz noch besser nachempfinden, als sie erwartet hatte. Es war nicht nur seine Stimme, sondern auch der Ausdruck seines Gesichts, bevor er mit seiner Schilderung begann - als wäre er zerrissen zwischen der Schönheit der Erinnerungen und ihrer Qual. Wie anrührend seine Briefe auch gewesen waren - auf eine Situation wie diese hatten sie sie nicht vorbereitet. Ich hätte es nicht zur Sprache bringen sollen, dachte sie. Ich wußte ja längst, was er für sie empfindet. Es gab keinen Grund, ihn darüber sprechen zu lassen.

Doch, es gab einen Grund, meldete sich plötzlich eine andere Stimme in ihrem Innern zu Wort. Du mußtest seine Reaktion selbst sehen. Du mußtest herausfinden, ob er bereit ist, das Vergangene hinter sich zu lassen.

»Tut mir leid«, sagte Garrett nach einer Weile.

»Was?«

»Ich hätte Ihnen nicht von ihr erzählen sollen. Oder so viel über mich.«

»Ist schon gut, Garrett. Ich hatte Sie ja drum gebeten.«

»Ich wollte mich nicht so gehenlassen.« Er sprach, als hätte er etwas Unrechtes getan.

Instinktiv trat sie zu ihm heran, nahm seine Hand und drückte sie sanft. Als sie ihn ansah, gewahrte sie Erstaunen in seinen Augen, auch wenn er seine Hand nicht zurückzog.

»Sie haben Ihre Frau verloren - das ist etwas, das sich die meisten Menschen in Ihrem Alter gar nicht vorstellen können.« Sie senkte den Blick, während sie nach den richtigen Worten suchte. »Ihre Gefühle sagen viel über Sie aus. Sie gehören zu den Menschen, die einen anderen für immer lieben… Das ist nichts, wofür man sich schämen muß.«

»Ich weiß. Es ist nur, daß es schon drei Jahre her ist…«

»Eines Tages werden Sie wieder einen anderen Menschen lieben können.«

Noch einmal drückte sie seine Hand, und Garrett spürte, wie die Berührung ihn wärmte. Aus einem unerfindlichen Grund wollte er die Hand nicht loslassen.

»Ich hoffe, Sie verstehen mich«, sagte er schließlich.

»Natürlich tue ich das. Sie wissen doch, ich bin Mutter, oder haben Sie das vergessen?«

Er lachte leise und versuchte, die innere Anspannung zu verscheuchen. »Ich weiß. Und Sie sind bestimmt eine gute.«

Sie machten kehrt und schlenderten - noch immer Hand in Hand - zum Hafen zurück. Als sie seinen Wagen erreicht hatten und zu seinem Laden fuhren, war Garrett verwirrter denn je. Die Ereignisse der letzten beiden Tage waren so unerwartet gewesen. Theresa war nicht länger eine Fremde oder ›nur‹ eine Freundin. Kein Zweifel, daß er sich zu ihr hingezogen fühlte. Doch in wenigen Tagen würde sie fort sein, und das war sicher auch gut so.

»Woran denken Sie?« fragte sie. Garrett schaltete in einen höheren Gang, während sie über die Brücke nach Wilmington zurückfuhren. Los, dachte er bei sich, sag ihr, was dir wirklich durch den Kopf geht.

»Ich dachte«, sagte er schließlich zu seiner eigenen Überraschung, »daß ich Sie gerne zu mir zum Abendessen einladen würde - vorausgesetzt natürlich, Sie haben nichts anderes vor.«

»Ich hatte auf diese Frage gehofft«, lächelte sie.

Er war noch immer erstaunt über seinen eigenen Mut, als er in die Straße zu seinem Laden einbog.

»Können Sie gegen acht bei mir sein? Ich habe noch einiges im Laden zu tun, aber bis dahin dürfte ich fertig sein.«

»Gern. Wo wohnen Sie?«

»Am Carolina Beach. Ich erkläre Ihnen den Weg, wenn wir im Laden sind.«

Er fuhr in den Hinterhof, und Theresa folgte Garrett in sein Büro. Er kritzelte ihr die Beschreibung auf ein Stück Papier und versuchte, sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen.

»Es ist nicht schwer zu finden. Außerdem brauchen Sie nur nach meinem Lieferwagen Ausschau zu halten. Aber für den Fall, daß Sie sich verfahren, steht hier unten meine Telefonnummer.«

Als sie gegangen war, setzte Garrett sich an seinen Schreibtisch und dachte an den bevorstehenden Abend. Dabei quälten ihn zwei Fragen, auf die er keine Antwort fand. Die erste war, warum er sich so zu Theresa hingezogen fühlte, und die zweite, warum er plötzlich das Gefühl hatte, Catherine zu betrügen.