3. Kapitel

 

Am Samstag kehrte Theresa nach Boston zurück.

Als sie die Wohnungstür öffnete, lief ihr Harvey entgegen und strich ihr schnurrend um die Beine. Theresa nahm ihn hoch und trug ihn zum Kühlschrank. Sie gab ihm ein Stückchen Käse und streichelte seinen Kopf, dankbar, daß ihre Nachbarin Ella bereit gewesen war, sich um ihn zu kümmern, solange sie fort war. Als er den Käse verputzt hatte, sprang er von ihrem Arm und spazierte zur Glasschiebetür, die auf den Hof führte. Es war stickig in der Wohnung, und so schob Theresa die Tür zum Lüften weit auf.

Nachdem sie ihren Koffer ausgepackt hatte, holte Theresa Schlüssel und Post bei Ella ab, schenkte sich ein Glas Wein ein und legte die John-Coltrane-CD auf, die sie in Provincetown gekauft hatte. Während die Jazzklänge den Raum erfüllten, sah sie ihre Post durch. Sie bestand, wie gewöhnlich, vor allem aus Rechnungen, die Theresa beiseite legte.

Auf dem Anrufbeantworter waren acht Nachrichten. Zwei stammten von Männern, mit denen sie unlängst ausgegangen war und die um Rückruf baten. Theresa überlegte einen Augenblick, entschied sich dann aber dagegen. Sie fühlte sich zu keinem hingezogen, und ihr war nicht danach, sich nur um einer Abwechslung willen mit jemandem zu verabreden. Auch ihre Mutter und ihre Schwester hatten mehrmals angerufen, und sie nahm sich vor, sich im Laufe der Woche bei ihnen zu melden. Von Kevin war keine Nachricht dabei. Er mußte inzwischen schon irgendwo auf dem Colorado River sein.

Ohne Kevin war die Wohnung ungewöhnlich still. Gleichzeitig wirkte alles so ordentlich, und das machte es irgendwie leichter. Es war angenehm, nach Hause zu kommen und nur gelegentlich die eigenen Sachen aufräumen zu müssen.

Sie dachte über die beiden Urlaubswochen nach, die ihr dieses Jahr noch blieben. Eine Woche würde sie mit Kevin am Strand verbringen, das hatte sie ihm versprochen. Es blieb ihr also noch eine Woche. Sie konnte sie um die Weihnachtszeit herum nehmen, aber Kevin würde dieses Jahr bei seinem Vater sein, deshalb schien das wenig sinnvoll. Sie haßte es, Weihnachten allein zu verbringen. Möglicherweise konnte sie ja auf die Bermudas, nach Jamaika oder in die Karibik reisen - aber sie wußte nicht, mit wem. Vielleicht hatte Janet Zeit, doch das war eher unwahrscheinlich. Sie war zu beschäftigt mit ihren drei Kindern, und Edward würde sich bestimmt nicht frei nehmen können. Vielleicht sollte sie die Woche nutzen, um die Dinge im Haus zu erledigen, die schon so lange anstanden… Doch das kam ihr wie Zeitvergeudung vor. Wer wollte schon seinen Urlaub mit Tapezieren und Anstreichen zubringen?

Schließlich beschloß sie, die Woche fürs nächste Jahr aufzusparen, falls sich nichts Besseres ergab. Vielleicht konnte sie mit Kevin ein paar Wochen auf Hawaii Ferien machen.

Sie ging ins Bett und nahm einen der Romane zur Hand, die sie mit nach Cape Cod genommen hatte. Sie war eine schnelle und konzentrierte Leserin und hatte fast hundert Seiten gelesen, ehe sie müde wurde. Gegen Mitternacht knipste sie das Licht aus. Und zum zweiten Mal innerhalb von sechs Tagen träumte sie, über einen menschenleeren Strand zu laufen, ohne zu wissen, warum.

 

Die Post, die sich am Montagmorgen auf ihrem Schreibtisch stapelte, war überwältigend. Es waren fast zweihundert Briefe, und gegen Mittag kamen noch einmal etwa fünfzig hinzu. Als sie das Büro betrat, wies Deanna stolz auf den Stapel. »Hab ich’s nicht gesagt?« sagte sie schmunzelnd.

Theresa bat, eventuelle Anrufe nicht zu ihr durchzustellen, und machte sich sofort daran, die Post zu öffnen. Es waren ausnahmslos Reaktionen auf den Brief, den sie in ihrer Kolumne veröffentlicht hatte. Die meisten kamen von Frauen, einige aber auch von Männern, und Theresa war überrascht, wie ähnlich sie einander waren. Jeder schrieb, wie sehr ihn dieser anonyme Brief berührt hätte, und manch einer fragte, ob sie, Theresa, wisse, wer der Verfasser sei. Ein paar Frauen wollten den Mann sogar heiraten, falls er noch frei war.

Theresa stellte fest, daß fast jede Sonntagsausgabe im Land die Kolumne gebracht hatte und daß manche Briefe sogar aus Los Angeles kamen. Sechs Männer gaben vor, sie hätten den Brief geschrieben, vier verlangten eine Tantieme, und einer drohte sogar mit gerichtlichen Schritten. Sie verglich die Handschriften, doch keine besaß die entfernteste Ähnlichkeit mit der des Briefes in der Flaschenpost.

Als sie mittags bei ihrem Lieblingsjapaner speiste, wurde sie von mehreren Leuten an den Nachbartischen auf die Kolumne angesprochen. »Meine Frau hat sie an den Kühlschrank geheftet«, sagte ein Mann, und Theresa mußte lachen.

Am späten Nachmittag hatte sie einen Großteil des Stapels durchgearbeitet und war müde, hatte aber noch keine einzige Zeile für ihre nächste Kolumne geschrieben. Sie fühlte, wie sich ihr Nacken versteifte, wie immer, wenn sie in Terminschwierigkeiten kam. Gegen halb sechs begann sie mit einem Artikel über Kevin und ihre Gefühle als Mutter, wenn er fort war. Es lief besser, als sie erwartet hatte, und sie war fast fertig, als das Telefon läutete.

Es war die Telefonistin am Empfang.

»Hallo, Theresa, ich weiß, Sie haben mich gebeten, Ihre Anrufe nicht durchzustellen«, begann sie. »Das war übrigens gar nicht leicht - es waren heute etwa sechzig! Das Telefon hat nicht aufgehört zu klingeln.«

»Und was gibt es jetzt?«

»Da ist eine Frau, die heute schon fünfmal und letzte Woche schon zweimal angerufen hat. Sie will ihren Namen nicht nennen, doch ich kenne ihre Stimme inzwischen. Sie sagt, sie müsse Sie unbedingt sprechen.«

»Können Sie nicht einfach fragen, was denn so wichtig ist? «

»Das habe ich ja versucht, aber sie ist hartnäckig. Sie sagt, sie würde so lange warten, bis Sie eine Minute Zeit für sie hätten. Es sei zwar ein Ferngespräch, aber sie müsse einfach mit Ihnen sprechen.«

Theresa starrte auf den Bildschirm vor sich und dachte einen Augenblick nach. Die Kolumne war fast fertig - nur noch ein oder zwei Absätze.

»Können Sie nicht nach ihrer Telefonnummer fragen, damit ich sie zurückrufen kann?«

»Nein, die Nummer will sie mir auch nicht geben. Sie ist sehr zugeknöpft.«

»Wissen Sie, was sie will?«

»Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber sie klingt vernünftig - anders als die meisten, die heute angerufen haben. Ein Typ hat mir einen Heiratsantrag gemacht.«

Theresa lachte.

»Okay. Bitten Sie sie, sich noch zwei Minuten zu gedulden.«

»Mach ich.«

»Auf welcher Leitung ist sie?«

»Auf der fünf.«

»Danke.«

Theresa schrieb rasch ihre Kolumne zu Ende. Sie würde sie noch einmal überarbeiten, sobald sie den Anruf erledigt hatte. Dann hob sie ab und drückte die Fünf.

»Hallo.«

Es blieb einen Augenblick still in der Leitung. Dann meldete sich eine sanfte, melodische Stimme.

»Spreche ich mit Theresa Osborne?«

»Ja, am Apparat.« Theresa lehnte sich in ihren Stuhl zurück und drehte eine Haarsträhne um den Zeigefinger.

»Haben Sie die Kolumne über die Flaschenpost geschrieben?«

»Ja. Was kann ich für Sie tun?«

Die Anruferin schwieg wieder eine kurze Weile. Theresa hörte, wie sie Luft holte, als dächte sie nach, was sie antworten sollte. Schließlich fragte sie:

»Können Sie mir die Namen sagen, die in dem Brief standen?«

Theresa schloß die Augen und ließ die Strähne los. Wahrscheinlich wieder eine Wichtigtuerin, dachte sie bei sich. Ihre Augen wanderten zum Bildschirm.

»Nein, tut mir leid, das ist nicht möglich. Ich will keine Einzelheiten publik machen.«

Die Anruferin schwieg erneut, und Theresa wurde ungeduldig. Sie hatte sich schon wieder dem ersten Absatz auf dem Bildschirm zugewandt. Doch der nächste Satz der Anruferin ließ sie aufhorchen.

»Bitte, ich muß es wissen.«

Theresa blickte vom Bildschirm auf. In der Stimme der Frau lag ein drängender Ton und noch etwas anderes, das sie eigentümlich berührte.

»Tut mir wirklich leid«, sagte Theresa schließlich. »Aber es geht nicht.«

»Können Sie mir dann eine Frage beantworten?«

»Vielleicht.«

»War der Brief an eine Catherine gerichtet und von einem Mann namens Garrett unterzeichnet?«

 

Theresa, die plötzlich ganz Ohr war, richtete sich kerzengerade in ihrem Sessel auf.

»Wer sind Sie?« fragte sie hastig und begriff im selben Augenblick, daß sie sich verraten hatte.

»Es stimmt, nicht wahr?«

»Wer sind Sie?« fragte Theresa wieder, aber diesmal etwas ruhiger. Sie hörte die Anruferin tief Atem holen, bevor sie antwortete.

»Mein Name ist Michelle Turner, und ich lebe in Norfolk, Virginia.«

»Woher wußten Sie von dem Brief?«

»Mein Mann ist bei der Marine, und er ist hier stationiert. Vor drei Jahren bin ich am Strand spazierengegangen und habe, wie Sie in Ihrem Urlaub, einen ganz ähnlichen Brief gefunden. Nachdem ich Ihre Kolumne gelesen hatte, wußte ich, daß er von derselben Person stammte. Die Initialen waren dieselben.«

Theresa schwieg einen Augenblick. Das konnte doch nicht wahr sein, dachte sie bei sich. Vor drei Jahren?

»Auf was für einem Papier war er geschrieben?«

»Es war beige mit der Zeichnung eines Segelschiffs in der oberen rechten Ecke.«

Theresa spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Es kam ihr immer noch unglaublich vor.

»Auf Ihrem Brief ist auch ein Segelschiff, stimmt’s?«

»Ja«, flüsterte Theresa.

»Ich wußte es sofort, als ich Ihre Kolumne las.« Michelles Stimme klang, als würde eine schwere Last von ihr abfallen.

»Haben Sie den Brief noch?« fragte Theresa.

»Ja. Mein Mann hat ihn nie gesehen, aber wenn er nicht da ist, lese ich ihn heute noch gelegentlich. Er ist etwas anders als der Brief, den Sie abgedruckt haben, aber die Gefühle sind die gleichen.«

»Könnten Sie ihn mir in die Redaktion faxen?«

»Natürlich«, sagte sie, ohne zu zögern. »Es ist unglaublich, nicht wahr? Ich finde einen vor so langer Zeit, und jetzt finden Sie einen zweiten.«

»Ja«, flüsterte Theresa. »wirklich erstaunlich.«

Nachdem sie Michelle die Faxnummer gegeben hatte, konnte sie sich kaum noch auf ihre Arbeit konzentrieren.

Michelle mußte erst in einen Copy-Shop gehen, um den Brief zu faxen. Theresa lief die ganze Zeit ungeduldig zwischen Schreibtisch und Faxgerät hin und her. Sechsundvierzig Minuten später hörte sie das Faxgerät anspringen. Auf der ersten Seite war nur das Deckblatt des National Copy Service, adressiert an Theresa Osborne von der Boston Times.

Sie sah es in den Korb darunter gleiten und hörte das Surren des Geräts, während es den Brief Zeile für Zeile druckte. Es ging schnell - das Gerät brauchte nur zehn Sekunden, um eine Seite zu kopieren -, doch selbst diese kurze Zeit schien ihr zu lang. Dann wurde eine dritte Seite gedruckt, und sie erkannte, daß dieser Brief, wie der ihre, auf beiden Seiten beschrieben sein mußte.

Als das Faxgerät piepste und das Ende des Vorgangs ankündigte, griff sie nach den Blättern, trug sie, ohne sie zu lesen, zu ihrem Schreibtisch, legte sie, die Beschriftung nach unten, vor sich hin und wartete, daß sich ihr Atem beruhigte. Es ist doch nur ein Brief, sagte sie sich.

Sie holte tief Luft und drehte die erste Seite um. Ein rascher Blick auf die rechte obere Ecke mit dem Segelboot bewies ihr, daß es tatsächlich derselbe Verfasser war. Sie schob das Blatt in den Lichtkegel ihrer Schreibtischlampe und begann zu lesen.

 

6. April 1994

Meine liebste Catherine!

 

Wo bist Du, und warum wurden wir für immer getrennt? Das frage ich mich, während ich allein in meinem dunklen Haus sitze.

Ich weiß keine Antwort auf diese Fragen, wie sehr ich auch bemüht bin, es zu begreifen. Der Grund ist einfach, doch mein Verstand zwingt mich, ihn aus meinen Gedanken zu verbannen, und die Angst martert mich von früh bis spät. Ich bin verloren ohne Dich. Ich bin seelenlos, ziellos, heimatlos, ein einsamer Vogel, der ins Nichts fliegt. All das bin ich und bin doch nichts. So ist mein Leben ohne Dich. Ich sehne mich nach dir, damit Du mich lehrst, wieder zu leben.

Ich versuche mich zu erinnern, wie es war, als wir auf dem windigen Deck der Fortuna waren. Weißt Du noch, wie wir uns gemeinsam abgemüht haben? Wir wurden Teil des Meeres, denn wir wußten beide, daß es das Meer war, das uns zusammengeführt hat. Damals begriff ich, was wahres Glück bedeutet. Nachts segelten wir auf dunklen Wassern, und das Mondlicht zeigte mir Deine Schönheit. Ich betrachtete Dich voller Ehrfurcht und glaubte tief in meinem Herzen, daß wir immer zusammenbleiben würden. Ist es immer so, frage ich mich, wenn zwei Menschen einander lieben? Ich weiß es nicht, aber wenn mein Leben ohne Dich ein Hinweis ist, dann weiß ich wohl die Antwort. Von jetzt an werde ich allein sein.

Ich denke an Dich, ich träume von Dir, ich beschwöre Dein Bild herauf, wenn ich Dich am meisten brauche. Das ist alles, was ich tun kann, doch für mich ist es nicht genug. Es wird nie genug sein, das weiß ich, doch was bleibt mir sonst zu tun? Wenn Du hier wärst, würdest Du es mir sagen. Du wußtest immer die richtigen Worte, um meinen Schmerz zu lindern. Du verstandest es stets, mich glücklich zu machen.

Ist es möglich, daß Du weißt, wie ich mich ohne Dich fühle? In meinen Träumen bilde ich mir ein, daß Du es weißt. Bevor wir zusammenkamen, war mein Leben leer, ohne Sinn. Ich weiß, daß jeder meiner Schritte, seit ich laufen lernte, das Ziel hatte, Dich zu finden. Wir waren füreinander bestimmt.

Doch jetzt, allein in meinem Haus, ist mir bewußt geworden, daß das Schicksal einen Menschen sowohl glücklich als auch unglücklich machen kann, und ich frage mich, warum ausgerechnet ich mich - von allen Menschen in der Welt, die ich hätte lieben können - in jemanden verlieben mußte, der mir genommen werden würde.

Garrett

 

Nachdem sie den Brief gelesen hatte, lehnte sie sich in ihren Stuhl zurück und berührte mit dem Zeigefinger die Lippen. Die Geräusche aus dem Nachrichtenraum schienen von weither zu kommen. Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Brief vom Cape-Cod-Strand und legte ihn neben den anderen auf die Schreibtischplatte. Sie las den ersten Brief, dann den zweiten, las sie dann in umgekehrter Reihenfolge. Sie fühlte sich fast wie ein Voyeur, wie jemand, der ein intimes, geheimnisvolles Ereignis belauscht.

Sie erhob sich von ihrem Schreibtisch und fühlte sich merkwürdig verwirrt. Sie ging zum Getränkeautomaten, holte eine Dose Apfelsaft heraus und versuchte, Ordnung in ihre Gefühle zu bringen. Plötzlich begannen ihre Knie zu zittern, und sie ließ sich in ihren Stuhl fallen. Hätte sie nicht dicht davor gestanden, wäre sie vielleicht zu Boden gesunken.

Um Ordnung in ihre Gedanken zu bringen, begann sie geistesabwesend das Durcheinander auf ihrem Schreibtisch zu beseitigen. Kugelschreiber verschwanden in der Schublade, Artikel für irgendwelche Recherchen wurden abgeheftet, Bleistifte gespitzt und in eine Kaffeetasse gestellt, der Locher wurde geleert, die Heftmaschine aufgefüllt. Als sie fertig war, war alles an seinem Platz, bis auf die beiden Briefe, die sie nicht angerührt hatte.

Vor etwas mehr als einer Woche hatte sie den ersten Brief gefunden, und die Worte hatten einen tiefen Eindruck in ihr hinterlassen, obwohl sie sich gesagt hatte, daß sie sich nicht so hineinsteigern durfte. Inzwischen aber schien das unmöglich, nachdem sie auf einen zweiten Brief von derselben Person gestoßen war. Gab es noch mehr? fragte sie sich. Was war das für ein Mann, der solche Briefe in Flaschen verschickte? Es schien wie ein Wunder, daß eine andere Person drei Jahre zuvor auf einen Brief gestoßen war und ihn in ihrer Schreibtischschublade versteckt hatte, weil er sie ebenso tief angerührt hatte. Und doch war es geschehen. Was aber hatte es zu bedeuten?

Sie wußte, sie sollte das alles nicht so wichtig nehmen, aber sie tat es trotzdem. Sie fuhr sich mit der Hand durchs Haar und sah sich im Raum um. Überall herrschte reges Treiben. Sie öffnete ihre Apfelsaftdose, nahm einen Schluck und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Ihr einziger Wunsch war, daß niemand zu ihr an den Schreibtisch treten würde, bis sie die Dinge besser im Griff hatte. Schon wollte sie die beiden Briefe in ihre Handtasche stecken, als ihr die Anfangsworte des zweiten Briefes in den Sinn kamen.

Wo bist Du?

Sie ging aus dem Programm, mit dem sie ihre Kolumne zu schreiben pflegte, und wählte trotz ihrer Zweifel ein anderes, mit dem sie Zugang zum Internet hatte.

Nach kurzem Zögern tippte sie die Wörter

 

WRIGHTSVILLE BEACH

 

ins Suchprogramm und drückte die Return-Taste. Sie wußte, daß irgend etwas aufgelistet sein würde, und in weniger als fünf Sekunden erhielt sie eine Auflistung mit mehreren Themen, unter denen sie wählen konnte.

Während sie auf den Bildschirm starrte, kam sie sich plötzlich lächerlich vor. Selbst wenn Deanna recht hatte und er irgendwo im Bereich von Wrightsville Beach lebte, war es immer noch fast unmöglich, ihn ausfindig zu machen. Warum versuchte sie es trotzdem?

Sie kannte natürlich den Grund. Die Briefe waren von einem Mann geschrieben worden, der innige Liebe für eine Frau empfand, von einem Mann, der jetzt allein war. Als kleines Mädchen hatte sie an den idealen Mann geglaubt - an den Prinzen oder Ritter ihrer Kindergeschichten. Im wirklichen Leben aber existierten solche Männer nicht. Wirkliche Menschen hatten wirkliche Anforderungen, wirkliche Erwartungen, wie andere Leute sich verhalten sollten. Zugegeben, es gab auch gute Männer in der realen Welt - Männer, die von ganzem Herzen liebten und in jeder Lebenslage treu blieben - die Art von Mann, den sie suchte, seit sie von David geschieden war. Aber wie konnte man einen solchen Mann finden?

Im Hier und Jetzt gab es jedoch einen Mann wie diesen - einen Mann, der jetzt allein war -, und dieses Wissen erregte sie zutiefst. Allem Anschein nach war Catherine, wer immer sie auch sein mochte, entweder tot oder ohne Erklärung verschwunden. Trotzdem liebte Garrett sie noch so sehr, daß er ihr seit mindestens drei Jahren Liebesbriefe schickte. Auf jeden Fall hatte er dadurch bewiesen, daß er fähig war, innig zu lieben und, wichtiger noch, seine Liebe zu bewahren, selbst nachdem die Geliebte schon lange fort war.

Wo bist Du?

Die Worte gingen ihr immer wieder durch den Kopf wie ein Lied, das sie morgens im Radio gehört und ständig im Sinn behalten hatte.

Wo bist Du?

Sie wußte es nicht genau, doch er existierte. Aber wenn es etwas gab, das einem das Herz bewegte, sollte man versuchen, mehr darüber in Erfahrung zu bringen - das war eines der Dinge, die sie früh im Leben gelernt hatte. Wenn man das Gefühl einfach ignorierte, würde man nie erfahren, was hätte geschehen können, und in vielerlei Hinsicht war das schlimmer als herauszufinden, daß man sich getäuscht hatte. Denn wenn man sich getäuscht hatte, konnte man weiterleben, ohne zurückzuschauen und sich zu fragen, was hätte sein können.

Aber wohin würde all das führen? Und was bedeutete es? War die Entdeckung des Briefes etwas Schicksalhaftes oder nur ein Zufall? Oder, so dachte sie, sollte es sie nur an das erinnern, was ihr fehlte? Gedankenverloren spielte sie mit einer Haarsträhne, während sie sich diese letzte Frage stellte. Okay, beschloß sie. Ich kann damit leben.

Aber sie war neugierig, was den geheimnisvollen Schreiber betraf, und es war sinnlos, das zu leugnen - wenigstens vor sich selbst. Und weil niemand sonst es verstehen würde (wie auch, wenn sie es selbst nicht einmal verstand?), beschloß sie, niemandem jemals von ihren Gefühlen zu erzählen.

Wo bist du?

Tief in ihrem Innern wußte sie, daß die Computersuche und ihre Schwärmerei für Garrett zu nichts führen würden. Die ganze Sache würde nach und nach zu einer ungewöhnlichen Geschichte werden, die sie immer wieder erzählen würde. Sie würde ihr Leben weiterführen - ihre Kolumne schreiben, Zeit mit Kevin verbringen, all die Dinge tun, die eine alleinerziehende Mutter zu tun hatte.

Und fast hätte sie recht damit gehabt. Drei Tage später aber geschah etwas, das sie veranlaßte, mit einem Koffer voll Kleidern und einem Stapel Papier, der vielleicht nichts bedeutete, ins Ungewisse aufzubrechen.

Sie fand einen dritten Brief von Garrett.