Kapitel 37
Wo warst du?«, fragte Jonah. »Ich hab dich gesucht, aber du warst nicht da.«
»Ich war auf der Veranda«, sagte Miles.
»Was hast du da gemacht?«
»Sarah ist vorbeigekommen.«
Jonahs Gesicht erhellte sich. »Ja? Wo ist sie?«
»Sie ist nicht mehr da. Sie konnte nicht bleiben.«
»Oh…«, maulte Jonah enttäuscht. »Ich wollte ihr doch meinen Legoturm zeigen.«
Miles hockte sich neben ihn, bis er auf Augenhöhe war.
»Du kannst ihn mir zeigen.«
»Du hast ihn doch schon gesehen.«
»Ich weiß. Aber du kannst ihn mir noch mal zeigen.«
»Nicht nötig. Ich wollte, dass Ms. Andrews ihn sieht.«
»Das tut mir Leid. Vielleicht kannst du ihn morgen mit in die Schule nehmen und ihr dann zeigen.«
Jonah zuckte die Schultern. »Ist schon okay.« Miles sah ihn prüfend an. »Was ist los, Chef?«
»Nichts.«
»Sicher?«
Jonah antwortete nicht gleich. »Sie fehlt mir eben, das ist los.«
»Wer? Ms. Andrews?«
»Ja.«
»Aber du siehst sie doch jeden Tag in der Schule!«
»Ich weiß. Aber das ist nicht dasselbe.«
»Als wenn sie hier is t, meinst du?«
Jonah nickte traurig. »Habt ihr euch gestritten?«
»Nein.«
»Aber ihr seid nicht mehr Freunde.«
»Doch, natürlich. Wir sind noch Freunde.«
»Warum kommt sie dann nicht mehr her?«
Miles räusperte sich. »Weißt du, die Sache ist irgendwie kompliziert. Wenn du erwachsen bist, wirst du das verstehen.«
»Ah«, sagte Jonah. Er dachte nach. »Ich will nicht erwachsen sein«, verkündete er schließlich.
»Warum nicht?«
»Weil Erwachsene immer sagen, dass die Dinge kompliziert sind«, erwiderte er.
»Manchmal sind sie es wirklich.«
»Magst du Ms. Andrews noch?«
»Ja«, sagte Miles, »ich mag sie.«
»Und mag sie dich?«
»Ich glaube, ja.«
»Was ist dann so kompliziert?«
Jonah sah Miles flehend an, und Miles wusste, dass sein Sohn Sarah nicht nur vermisste, sondern auch sehr liebte.
»Komm her«, sagte Miles und zog Jonah an sich, weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte.
Zwei Tage später fuhr Charlie in die Einfahrt von Miles' Haus, als dieser gerade ein paar Gepäckstücke ins Auto lud.
»Fahrt ihr schon los?« Miles drehte sich um.
»Oh… hallo, Charlie. Ich dachte, es ist besser, wenn wir ein bisschen früher fahren. Ich will nicht in den Stau kommen.«
Miles schlug den Kofferraumdeckel zu. »Nochmals vielen Dank, dass wir dein Haus benutzen dürfen.«
»Gern geschehen. Brauchst du Hilfe?«
»Nein. Ich bin fast fertig.«
»Wie lange willst du bleiben?«
»Ich weiß noch nicht. Vielleicht zwei Wochen, bis nach Neujahr. Ginge das?«
»Keine Sorge, du hast genug Urlaub, um vier Wochen da oben zu verbringen.«
Miles zuckte die Schultern. »Wer weiß. Vielleicht bleibe ich tatsächlich so lange.«
Charlie zog eine Augenbraue hoch. »Ach, übrigens, ich wollte dir noch erzählen, dass Harvey keine Anklage erheben wird. Anscheinend hat ihm Otis gesagt, er soll darauf verzichten. Deine Suspendierung ist also offiziell aufgehoben, und du kannst wieder arbeiten, wenn du zurückkommst.«
»Gut.«
Jonah stürmte aus der Tür, und die beiden Männer drehten sich zu ihm um. Der Junge begrüßte Charlie, dann rannte er wieder ins Haus, als hätte er etwas vergessen.
»Wird Sarah dich für ein paar Tage besuchen? Sie kann das natürlich gern tun.«
»Ich glaube nicht. Ihre Familie ist hier, und in den Ferien wird sie es wohl kaum schaffen.«
»Schade. Du siehst sie aber, wenn ihr wieder da seid?« Miles senkte den Blick, und Charlie ve rstand. »Probleme?«
»Du weißt, wie das ist.«
»Nein, eigentlich nicht. Ich hatte seit vierzig Jahren keine Freundin mehr. Aber es tut mir sehr Leid.«
»Du kennst sie doch gar nicht, Charlie.«
»Muss ich auch nicht. Ich meine, es tut mir Leid für dich.«
Charlie vergrub die Hände in den Hosentaschen. »Ich bin nicht hergekommen, um dich auszuhorchen. Das geht mich nichts an. Ich wollte etwas anderes wissen. Eine Sache verstehe ich nämlich noch nicht ganz.«
»Und zwar?«
»Dieser Telefonanruf… Du weißt schon, als du mich angerufen hast, um zu sagen, dass Otis unschuldig ist und wir die Ermittlungen abbrechen sollen.«
Miles schwieg, und Charlie spähte unter seiner Hutkrempe hervor.
»Ich nehme an, du bleibst bei deiner Meinung?«
Nach einem kurzen Augenblick nickte Miles. »Er ist unschuldig.«
»Trotz allem, was Sims und Earl ausgesagt haben?«
»Ja.«
»Du sagst das nicht nur, damit du auf eigene Faust handeln kannst?«
»Du hast mein Wort, Charlie.«
Charlie sah ihn forschend an und spürte, dass er die Wahrheit sagte. »Also gut«, murmelte er und fuhr sich mit den Händen über die Brust, als wische er etwas von seinem Hemd ab. Dann tippte er sich an den Hut. »Na dann - viel Spaß oben in Nags Head. Angle ein paar Fische für mich mit, okay?«
Miles lächelte. »Klar.«
Charlie machte sich auf den Rückweg, doch dann blieb er plötzlich noch einmal stehen. »Ach so - eins noch.«
»Was denn?«
»Brian Andrews… Mir ist nicht ganz klar, warum du ihn neulich festgenommen hast. Soll ich mich um irgendetwas kümmern, während du weg bist? Oder muss ich über etwas Bescheid wissen?«
»Nein, es war ein Irrtum, Charlie.«
Miles studierte den Kofferraumdeckel. »Einfach nur ein Irrtum.«
Charlie lachte verwundert. »Das ist komisch.«
»Was?«
»Deine Wortwahl. Brian hat genau dasselbe gesagt.«
»Du hast mit Brian gesprochen?«
»Ich musste nach ihm sehen. Er hatte einen Unfall, während er bei einem meiner Deputys in Gewahrsam war. Ich musste überprüfen, ob es ihm gut geht.«
Miles wurde blass.
»Mach dir keine Gedanken - ich habe darauf geachtet, dass sonst niemand zu Hause war.«
Charlie ließ den Satz wirken, dann legte er die Hand ans Kinn und schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Weißt du«, sagte er schließlich, »ich habe über diese beiden Vorfälle nachgedacht, und der Sheriff in mir hat das Gefühl, dass sie irgendwie miteinander verbunden sind.«
»Sind sie nicht«, widersprach Miles sofort.
Charlie nickte mit ernstem Gesicht. »Ich habe schon vermutet, dass du das sagen würdest, aber ich musste mich vergewissern. Noch einmal: Es gibt nichts, was ich über Brian Andrews wissen sollte?«
Miles hätte sich denken können, dass Charlie dahinter kommen würde.
»Nein«, erwiderte er knapp.
»Okay«, sagte Charlie. »Dann will ich dir einen Rat geben.« Miles wartete.
»Wenn du zu mir sagst, dass es vorbei ist, dann nimm dir das auch selbst zu Herzen, in Ordnung?«
Charlie wartete, um sicher zu sein, dass Miles begriff, wie ernst es ihm war.
»Was soll das heißen?«
»Wenn es vorbei ist - wirklich vorbei -, dann lass es nicht dein restliches Leben kaputtmachen.«
»Das kapiere ich nicht.« Charlie seufzte.
»O doch«, sagte er.
Epilog Die Morgendämmerung steht kurz bevor, und meine Geschichte ist fast fertig. Es ist an der Zeit, den Rest zu erzählen.
Ich bin jetzt einunddreißig Jahre alt und seit drei Jahren mit einer Frau namens Janice verheiratet, die ich in einer Bäckerei kennen lernte. Sie ist Lehrerin, wie Sarah, aber sie unterrichtet Englisch an der Highschool. Wir leben in Kalifornien, wo ich Medizin studiert und mein praktisches Jahr absolviert habe. Ich arbeite jetzt seit einem Jahr in der Notaufnahme und habe in den vergangenen drei Wochen mit vielen anderen Helfern zusammen sechs Menschen das Leben retten können. Ich sage das nicht, um anzugeben, sondern weil ich damit erklären will, das ich mein Bestes getan habe, um Miles' Mahnung auf dem Friedhof gerecht zu werden.
Ich habe mein Wort gehalten und es niemandem erzählt.
Miles hat mir nicht um meinetwillen dieses Versprechen abgenommen, wissen Sie. Mein Schweigen diente seinem eigenen Schutz.
Ob Sie es glauben oder nicht - dass er mich damals laufen ließ, war eine Straftat. Ein Sheriff, der von einem Verbrechen erfährt, muss den Täter anzeigen. Auch wenn unsere beiden Taten ganz unterschiedlich gewichtet waren, ist die Rechtslage in diesem Punkt unumstritten, und Miles hat das Gesetz gebrochen.
Das wenigstens glaubte ich damals. Jetzt, nach Jahren des Nachdenkens, weiß ich, dass es so nicht stimmt.
Ich weiß jetzt, dass er mich wegen Jonah schweigen ließ.
Wenn es bekannt geworden wäre, dass ich der Fahrer des Unfallwagens war, hätten die Leute in der Stadt endlos über Miles' Vergangenheit geredet. Immer, wenn von ihm die Rede gewesen wäre, hätte man gesagt: »Stell dir vor, was ihm Schreckliches passiert ist«, und Jonah hätte mit dieser Belastung aufwachsen müssen. Er hätte mit dem Wissen leben müssen, dass er und sein Vater die Frau geliebt hatten, deren Bruder den wichtigsten Menschen in ihrem Leben getötet hatte. Wie hätte sich dieses Wissen auf ein Kind ausgewirkt? Ich weiß es nicht, und Miles wusste es auch nicht. Aber er wollte kein Risiko eingehen.
Und ich will das auch heute noch nicht. Wenn ich fertig bin, werde ich diese Seiten im Kamin verbrennen. Es musste nur einmal aus mir heraus.
Es ist immer noch schwierig für uns alle. Ich telefoniere ab und zu mit meiner Schwester, meistens zu ungewöhnlichen Zeiten, und besuche sie nur selten. Ich nenne die räumliche Distanz als Entschuldigung - sie wohnt auf der anderen Seite des Kontinents -, aber wir beide kennen den wahren Grund, aus dem wir uns kaum sehen. Manchmal jedoch kommt sie mich besuchen. Dann ist sie immer allein.
Was Miles und Sarah betrifft, können Sie sich bestimmt schon denken, wie es weiterging…
Es geschah am Weihnachtsabend, sechs Tage, nachdem Miles und Sarah sich auf der Veranda Lebewohl gesagt hatten. Inzwischen hatte Sarah sich widerstrebend damit abgefunden, dass ihre Beziehung vorbei war. Sie hatte nichts mehr von Miles gehört und erwartete nichts mehr.
An jenem Abend parkte Sarah nach dem Besuch bei ihren Eltern ihren Wagen am Straßenrand. Sie blickte flüchtig zu ihrer Wohnung hoch - und traute ihren Augen nicht. Sie schloss die Augen und öffnete sie langsam wieder, hoffend und betend, dass das, was sie gesehen hatte, keine Täuschung war.
Es war keine.
Ein glückliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus.
Wie winzige Sterne flackerten zwei Kerzen im Fenster. Miles und Jonah warteten drinnen auf sie.