Kapitel 19
Wenig später schoss Miles mit heulenden Sirenen und blinkendem Blaulicht um die Ecke, wobei er fast die Kontrolle über den Wagen verloren hätte. Das Gaspedal war bis zum Boden durchgedrückt.
Er hatte Sims aus der Zelle und die Treppen hoch geschleift und ihn, ohne auf die erstaunten Blicke seiner Kollegen zu achten, zwischen den Schreibtischen hindurch geschleust. Charlie, der gerade in seinem Büro telefonierte, legte beim Anblick von Miles' kalkweißem Gesicht auf, aber nicht schnell genug, um ihm und Sims den Weg zur Tür zu versperren. Sie verließen das Gebäude, und als Charlie den Gehweg erreichte, verschwanden Miles und Sims bereits in entgegengesetzte Richtungen. Charlie entschloss sich in Sekundenschnelle, Miles zu folgen. Er rief ihm nach, er solle stehen bleiben, doch Miles ignorierte ihn und warf sich in einen Dienstwagen.
Charlie erreichte ihn gerade noch, bevor er auf die Straße einbog. Er klopfte ans Fenster des rollenden Wagens.
»Was ist los?«, rief er.
Miles machte eine abwehrende Handbewegung, und Charlie blieb mit verwirrtem, ungläubigem Gesichtsausdruck stehen. Anstatt das Fenster hinunterzukurbeln, stellte Miles die Sirene an, gab Gas und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz.
Als Charlie ihn kurz darauf über Funk rief, machte Miles sich gar nicht erst die Mühe zu antworten.
Vom Büro des Sheriffs aus waren es normalerweise knapp fünfzehn Minuten bis zum Wohnwagen der Timsons. Miles brauchte mit jaulenden Sirenen und überhöhter Geschwindigkeit nur acht Minuten - er hatte die Hälfte des Weges schon hinter sich, als Charlie ihn anfunkte. Mit hundertvierzig Stundenkilometern jagte er über den Highway, und an der Abfahrt zum Wohnwagenpark stand er unter Hochspannung. Er umklammerte das Steuerrad so fest, dass Teile seiner Hand taub wurden, aber in seinem Zustand merkte er das nicht. Wut schüttelte ihn und hielt jede andere Regung von ihm fern.
Otis Timson hatte seinen Sohn mit einem Ziegelstein verletzt. Otis Timson hatte seine Frau umgebracht.
Otis Timson wäre ihm fast entwischt.
Auf der ungepflasterten Zufahrt schlitterte Miles' Auto durch die erneute Beschleunigung von rechts nach links. Die Bäume am Rand verschwammen zu Farbflecken, er sah nichts als die Straße direkt vor ihm, und als sie einen Bogen nach rechts beschrieb, nahm Miles endlich den Fuß vom Gaspedal und bremste ab. Er war fast da.
Zwei Jahre hatte er auf diesen Augenblick gewartet.
Zwei Jahre hatte er sich gequält, hatte mit dem Versagen gelebt.
Otis.
Miles brachte den Wagen in der Mitte des Trailer-Parks zum Stehen und sprang hinaus. Von der offenen Fahrertür aus sah er sich um, angespannt, jede Bewegung registrierend. Mit zusammengebissenen Zähnen rang er um Selbstbeherrschung.
Er riss sein Halfter auf und griff nach der Pistole.
Otis Timson hatte seine Frau ermordet. Er hatte sie kaltblütig überfahren.
Ringsum herrschte eine unheimliche Ruhe. Außer dem Knacken des Motors war nichts zu hören. Die Bä ume standen reglos da, kein Blatt raschelte. Kein Vogel zwitscherte auf dem Zaunpfosten. Die einzigen Geräusche, die Miles wahrnahm, waren seine eigenen: das Schaben der Pistole, als sie aus dem Halfter glitt, der keuchende Atem.
Es war kalt, die Luft klar und frisch - ein Frühlingshimmel an einem Wintertag.
Miles wartete. Nach einer Weile öffnete sich krächzend wie ein verstimmtes Akkordeon eine Fliegengittertür.
»Was wollen Sie?«, ließ sich eine heisere Stimme vernehmen. Clyde Timson.
Miles ging vorsichtshalber hinter der Wagentür in Deckung.
»Ich bin wegen Otis hier. Holen Sie ihn raus.« Die Tür knallte zu.
Miles entsicherte die Waffe und legte den Finger an den Abzug. Sein Herz klopfte zum Zerbersten. Nach der längsten Minute seines Lebens sah er, wie die Tür wieder aufgedrückt wurde.
»Was wird ihm vorgeworfen?«, verlangte die Stimme zu wissen.
»Holen Sie ihn raus. SOFORT!«
»Weshalb?«
»Er ist verhaftet! Heraus mit ihm! Hände über dem Kopf!« Wieder knallte die Tür zu, und Miles kam zu Bewusstsein, wie heikel seine Position war. In der Eile hatte er sich in Gefahr gebracht. Um ihn herum standen vier Wohnwagen - zwei vorn, zwei an der Seite, und obwohl sich in den anderen niemand gezeigt hatte, wusste er, dass sie bewohnt waren. Außerdem standen zahllose Schrottwagen auf dem Gelände, manche aufgebockt, und Miles fragte sich plötzlich, ob die Timsons ihn womöglich gerade heimlich umstellten.
Natürlich hätte er nicht allein kommen dürfen, das wusste er genau, und er konnte immer noch Verstärkung anfordern. Aber er tat es nicht.
Auf keinen Fall. Jetzt nicht.
Die Tür öffnete sich noch einmal, und Clyde erschien auf der Treppe. In einer Hand hielt er eine Tasse Kaffee, und er wirkte ganz entspannt, als ob so etwas jeden Tag passieren würde. Als er die Mündung von Miles' Pistole auf sich gerichtet sah, wich er einen Schritt zurück.
»Was zum Teufel wollen Sie, Ryan? Otis hat nichts angestellt.«
»Ich muss ihn mitnehmen, Clyde.«
»Sie haben noch nicht gesagt, weshalb.«
»Das erfährt er auf dem Revier.«
»Wo ist der Haftbefehl?«
»Ich brauche dafür keinen Haftbefehl! Er ist festgenommen.«
»Aber der Mensch hat doch Rechte! Sie kommen hier angerauscht und stellen Forderungen. Wenn Sie keinen Haftbefehl haben, verschwinden Sie! Wir haben genug von Ihnen und Ihren Beschuldigungen!«
»Ich meine es ernst, Clyde. Her mit ihm, oder ich fordere sämtliche Sheriffs im County an und lasse Sie einsperren, weil Sie einen Kriminellen decken.«
Es war ein Bluff, aber er funktionierte. Minuten später kam Otis heraus und schob seinen Vater zur Seite. Miles richtete die Pistole auf ihn. Ebenso wie sein Vater wirkte Otis nicht besonders beunruhigt.
»Geh zur Seite, Daddy«, sagte Otis ruhig. Als Miles sein selbstzufriedenes Gesicht sah, hätte er am liebsten abgedrückt. Er umrundete den Wagen und zeigte sich.
»Raus mit Ihnen. Legen Sie sich auf den Boden!«
Otis stellte sich vor seinen Vater, blieb aber auf. der Veranda. Er verschränkte die Arme.
»Wie lautet die Anklage, Deputy Ryan?«
»Sie wissen verdammt genau, wie die Anklage lautet. Jetzt nehmen Sie die Hände hoch.«
»Das möchte ich lieber nicht tun.«
Trotz der potenziellen Gefahr ging Miles mit der Pistole im Anschlag auf den Wohnwagen zu. Er spürte, wie unverrückbar fest sein Finger auf dem Abzug lag.
Los, beweg dich. Nur eine kleine Bewegung…
»Runter von der Veranda!«
Otis schaute seinen Vater an, der vor Wut kochte, aber als er sich danach wieder Miles zuwandte, entdeckte er in dessen Blick einen unkontrollierbaren Hass, der ihm neu war und ihn erschreckte. Er kam die Treppenstufen herunter.
»Schon gut, schon gut, ich komme.«
»Hände hoch! Ich will, dass Sie die Hände hoch nehmen!« Inzwischen steckten andere Leute die Köpfe aus ihren Wohnwagen und beobachteten die Szene. Obwohl sie alles andere als gesetzestreue Bürger waren, holte niemand eine Waffe. Auch sie sahen den Ausdruck auf Miles' Gesicht, der ihnen verriet, dass er bei dem geringsten Anlass schießen würde.
»Auf die Knie! SOFORT!«
Otis gehorchte, aber Miles steckte die Pistole nicht weg. Er richtete sie immer noch auf Otis. Nach rechts und links blickend, vergewisserte er sich, dass ihn niemand von seinem Vorhaben abhalten würde, und trat noch näher an Otis heran.
Otis hatte seine Frau ermordet.
Die Welt um ihn her verschwamm. Nur noch sie beide waren da. Otis hatte jetzt wirklich Angst, aber er sagte nichts. Miles starrte ihn schweigend an, dann ging er um ihn herum, bis er in seinem Rücken stand.
Er legte die Waffe an Otis' Hinterkopf. Wie ein Henker.
Der Finger lag am Abzug. Ein kräftiger Druck, und es wäre vorbei.
Otis erschießen - bei Gott, das wäre eine Erleichterung. Es hinter sich bringen. Er war es Missy schuldig, er war es Jonah schuldig.
Jonah…
Die Erinnerung an seinen Sohn brachte ihn zur Besinnung. Nein…
Dennoch dauerte es noch einige Atemzüge, bis er sich entspannen und ausatmen konnte. Er zog die Handschellen vom Gürtel. Mit einer geübten Bewegung streifte er sie über eine von Otis' erhobenen Händen, dann steckte er die Waffe weg, streifte ihm die andere Handschelle über, zog sie straff um die Handgelenke, bis Otis sich wand, und zerrte ihn hoch.
»Sie haben das Recht zu schweigen…«, setzte er an, doch Clyde, der wie eine Statue daneben gestanden hatte, brach plötzlich in hektische Aktivität aus, wie eine Ameise, der man den Hügel zerstört hat.
»Das ist eine Schikane! Ich rufe meinen Anwalt an! Sie haben kein Recht, hier aufzukreuzen und mit der Pistole rumzufuchteln!«
Sein Geschrei hielt noch an, nachdem Miles Otis seine Rechte erläutert, ihn auf den Rücksitz des Dienstwagens gestoßen und den Rückweg zum Highway angetreten hatte.
Weder Miles noch Otis sagten ein Wort, ehe sie den Highway erreichten. Miles blickte unverwandt auf die Straße.
Er hatte Otis erschießen wollen.
Gott war sein Zeuge, dass er es vorgehabt hatte.
Eine falsche Bewegung, von irgendjemanden, und er hätte es getan.
Aber das wäre Unrecht gewesen.
Und du hast dich da draußen falsch verhalten.
Wie viele Vorschriften hatte er übertreten? Ein halbes Dutzend? Sims laufen lassen, sich keinen Haftbefehl geholt, Charlie ignoriert, keine Hilfe angefordert, ohne Grund die Pistole gezogen, sie Otis an den Kopf gehalten… Es würde ihm einen Höllenärger einbringen, und zwar nicht nur von Charlie. Von Harvey Wellman auch. Die durchbrochenen gelben Linien glitten rhythmisch auf ihn zu und verschwanden wieder.
Na und? Hauptsache, Otis kommt ins Gefängnis. Was mit mir passiert, ist zweitrangig. Otis verfault im Gefängnis, wie er mich zwei Jahre lang verfaulen ließ.
»Also, wofür wollen Sie mich diesmal einlochen?«, fragte Otis gelangweilt.
»Halt die Fresse«, fuhr ihn Miles an.
»Ich habe ein Recht zu wissen, wie die Anklage lautet.«
Miles drehte den Kopf weg und schluckte den Hass hinunter, der beim Klang von Otis' Stimme in ihm aufstieg. Als er keine Antwort bekam, fuhr Otis betont ruhig fort:
»Ich verrate Ihnen ein kleines Geheimnis. Ich wusste, dass Sie nicht schießen. Das bringen Sie nämlich nicht fertig.«
Miles biss sich auf die Lippe, und das Blut stieg ihm in den Kopf. Bleib ruhig, beschwor er sich. Bleib ruhig…
Aber Otis ließ nicht locker.
»Sagen Sie mal… treffen Sie sich immer noch mit diesem Mädchen aus der Taverne? Ich hätte es nur gern gewusst, weil…«
Miles stieg auf die Bremse. Die Räder kreischten und hinterließen schwarze Narben auf dem Highway. Weil er nicht angeschnallt war, knallte Otis mit voller Wucht gegen das Absperrgitter. Miles drückte abrupt aufs Gas, und Otis schnellte wie ein Jo-Jo auf den Sitz zurück.
Von da an sprach er kein Wort mehr.