Kapitel 31
An demselben Vormittag, an dem Sarah weinend auf dem Sofa saß, marschierte Charlie Curtis über die Auffahrt zu Miles' Haus. Er trug Uniform. Es war der erste Sonntag seit Jahren, an dem er und Brenda nicht zusammen zur Kirche gehen konnten, aber wie er ihr am Morgen erklärt hatte, war daran nichts zu ändern. Der Grund waren die beiden Anrufe vom Vortag.
Ihretwegen war er den Großteil der Nacht aufgeblieben und hatte Miles' Haus observieren lassen.
Er klopfte. Miles kam in Jeans, Sweatshirt und Baseballmütze zur Tür. Wenn er überrascht war, Charlie zu sehen, zeigte er es nicht.
»Wir müssen reden«, erklärte Charlie.
Miles stemmte die Hände in die Seiten, immer noch wütend über Charlies Vorgehen und nicht willens, das zu verbergen.
»Dann rede.«
Charlie schob den Hut aus der Stirn.
»Willst du auf der Veranda bleiben, wo Jona h uns hören kann, oder sollen wir in den Garten gehen? Such es dir aus. Mir ist es gleich.«
Eine Minute später lehnte Charlie mit verschränkten Armen an seinem Wagen. Miles stand ihm gegenüber. Die Sonne war noch nicht sehr hoch gewandert und blendete ihn.
»Ich muss wissen, ob du Sims Addison gesucht hast«, sagte Charlie barsch.
»Fragst du, oder weißt du es schon?«
»Ich frage, weil ich wissen will, ob du es schaffst, mir ins Gesicht zu lügen.«
Miles wandte den Kopf zur Seite.
»Ja. Ich habe ihn gesucht.«
»Warum?«
»Weil du gesagt hast, dass du ihn nicht finden konntest.«
»Du bist suspendiert, Miles. Weißt du, was das bedeutet?«
»Es war nichts Offizielles, Charlie.«
»Das ist gleichgültig. Ich habe dir einen Befehl gegeben, und du hast ihn ignoriert. Du hast Glück, dass Harvey Wellman es nicht erfahren hat. Aber ich kann dich nicht ständig decken, und ich bin zu alt und zu müde, um mich mit solchem Mist zu beschäftigen.«
Er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. »Ich brauche den Ordner, Miles.«
»Meinen Ordner?«
»Ich will ihn als Beweisstück registrieren lassen.«
»Als Beweisstück? Wofür?«
»Es geht um den Tod von Missy Ryan, oder? Ich will die Notizen sehen, die du gemacht hast.«
»Charlie…«
»Ich meine es ernst. Entweder gibst du ihn mir, oder ich hole ihn. Das eine oder das andere, aber glaub mir, am Ende bekomme ich ihn.«
»Warum tust du das, Charlie?«
»Ich hoffe, dass dein Verstand demnächst wieder funktioniert. Du hast mir offensichtlich gestern überhaupt nicht zugehört, deshalb wiederhole ich es noch einmal: Halt dich raus. Lass uns das erledigen.«
»Gut.«
»Du musst mir dein Wort geben, dass du nicht weiter nach Sims suchst und dich von Otis Timson fern hältst.«
»Wir leben in einer kleinen Stadt, Charlie. Ich kann nichts dafür, wenn wir uns zufällig über den Weg laufen.«
Charlie kniff die Augen zusammen. »Ich hab keine Lust mehr auf diese Spielchen, Miles, und ich sage dir eins: Wenn du dich Otis auch nur auf dreißig Meter näherst oder seinem Wohnwagen oder wo er sich sonst herumtreibt, bringe ich dich hinter Gitter.«
Miles sah Charlie ungläubig an. »Warum?«
»Wegen Körperverletzung.«
»Was?«
»Dieses Kunststückchen da im Auto…«
Charlie schüttelte den Kopf. »Du scheinst nicht zu begreifen, dass du dir eine Menge Ärger einhandelst. Entweder du hältst dich von ihm fern, oder du landest in der Zelle.«
»Das ist absurd…«
»Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Weißt du, wo ich letzte Nacht war?«
Charlie wartete nicht auf die Antwort. »Ich habe hier in der Straße geparkt und aufgepasst, dass du nicht wegfährst. Weißt du, wie ich mich fühle, wenn ich merke, dass ich dir nach allem, was wir durchgestanden haben, nicht mehr trauen kann? Es ist ein beschissenes Gefühl, und ich kann darauf verzichten. Also, wenn du so freundlich wärst, mir neben dem Ordner auch noch die Waffen auszuhändigen, die du im Haus hast? Du bekommst sie zurück, wenn alles vorbei ist. Wenn du dich weigerst, lasse ich dich überwachen. Das ist kein Witz. Du wirst keinen Kaffee trinken können, ohne dass dir jemand dabei auf die Finger schaut. Und übrigens sind auch draußen bei den Timsons Deputys, die nach dir Ausschau halten.«
Miles verweigerte immer noch beharrlich den Blickkontakt.
»Er saß damals am Steuer, Charlie.«
»Glaubst du das wirklich, Miles? Oder willst du nur ein Ergebnis - irgendeines?« Miles sah ruckartig hoch.
»Das ist unfair.«
»Ach ja? Ich hab mit Earl gesprochen, nicht du. Ich habe die Berichte der Verkehrspolizei Wort für Wort gelesen. Und ich sage dir, keine einzige Spur führt zu Otis.«
»Ich finde sie schon…«
»Nein!«, schnauzte Charlie. »Gena u darum geht es! Du wirst nichts finden, weil du dich gefälligst raushältst!«
Miles sagte nichts, und Charlie legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Hör zu - wir kümmern uns darum, darauf hast du mein Wort.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich weiß auch nicht… vielleicht finden wir ja etwas. Und wenn, dann bin ich der Erste, der zugibt, dass ich Unrecht hatte und dass Otis kriegt, was er verdient. Okay?«
Charlie wartete, aber Miles biss die Zähne zusammen. Als er merkte, dass er keine Antwort bekommen würde, fuhr Charlie fort:
»Ich weiß, wie schwer es ist…«
Miles schüttelte Charlies Hand ab und starrte ihn erbittert an.
»Gar nichts weißt du«, fuhr er ihn an, »heute nicht und niemals. Brenda ist noch da, kapierst du? Ihr wacht im selben Bett auf, du kannst sie anrufen, wann immer du willst. Niemand hat sie kaltblütig überfahren, niemand kommt seit Jahren ungestraft davon. Doch jetzt, Charlie, das schwöre ich, jetzt wird niemand mehr davonkommen.«
Trotzdem fuhr Charlie zehn Minuten später mit dem Ordner und den Waffen fort. Die beiden Männer hatten kein Wort mehr gewechselt.
Das war auch nicht nötig. Charlie tat seine Pflicht. Und Miles hatte vor, die seine zu tun.
Als Brian gegangen war, blieb Sarah wie betäubt im Wohnzimmer sitzen. Auch nachdem sie aufgehö rt hatte zu weinen, rührte sie sich nicht, als fürchte sie, auch die geringste Bewegung könne ihr empfindliches Gleichgewicht zerstören.
Einen Sinn konnte sie in alledem nicht erkennen.
Sie hatte nicht die Energie, ihre Gefühle zu sortieren, die völlig ungeordnet durcheinander wirbelten. Sie kam sich vor wie ein überlasteter Stromkreis, in dem es zu einem Kurzschluss gekommen war.
Wie um Himmels willen war es zu der Sache gekommen? Nicht Brians Unfall - den verstand sie, wenigstens halbwegs. Es war ein schreckliches Ereignis, und er hatte sich hinterher falsch verhalten, daran gab es nichts zu rütteln, aber es war ein Unfall gewesen. Dessen war sie sich sicher. Brian hätte ihn nicht vermeiden können, und ihr selbst wäre es ebenso ergangen.
Im Bruchteil einer Sekunde war Missy gestorben. Missy Ryan.
Jonahs Mutter. Miles' Frau.
Das war es, was sie nicht verstand.
Warum hatte Brian ausgerechnet sie überfahren?
Und warum war, von all den vielen Menschen auf dieser Erde, gerade Miles in ihr Leben getreten? Es war so ein unglaubliches Zusammentreffen! Was sie gerade erfahren hatte, war wie ein Puzzle, das nicht zusammenpasste - ihr Entsetzen über Brians Beichte, seine offenkundigen Schuldgefühle… ihr Abscheu vor der Tatsache, dass er die Wahrheit verheimlicht hatte, und zugleich das unabänderliche Wissen, dass sie ihren Bruder liebte…
Und Miles…
O Gott, Miles…
Was sollte sie nur tun? Ihn anrufen und es ihm sagen? Oder eine Weile warten, bis sie sich gefasst und überlegt hatte, wie sie es ihm schonend beibringen konnte?
So, wie Brian gewartet hatte?
O Gott…
Wie sah Brian's Zukunft aus?
Er würde ins Gefängnis kommen.
Sarah wurde übel.
Aber das hatte er verdient, auch wenn er ihr Bruder war. Er hatte das Gesetz gebrochen und musste dafür bezahlen…
Oder nicht? Er war ihr kleiner Bruder, noch ein halbes Kind, als es passierte, und er hatte es nicht verschuldet…
Sarah schüttelte den Kopf und wünschte sich plötzlich, Brian hätte ihr nichts gebeichtet.
Aber tief im Inneren wusste sie, warum er damit zu ihr gekommen war. Seit zwei Jahren zahlte Miles den Preis für Brians Schweigen.
Und jetzt sollte Otis bezahlen.
Sie holte tief Luft und legte die Fingerspitzen an die Schläfen. Nein - Miles würde nicht so weit gehen. Oder doch?
Vielleicht nicht jetzt, aber es würde an ihm nagen, solange er glaubte, dass Otis der Täter war, und eines Tages…
Sie versuchte, den Gedanken zu verscheuchen. Und war nach wie vor ratlos.
Das war sie auch noch einige Minuten später, als Miles vor ihrer Tür stand.
»Hallo«, sagte er nur.
Sarah sah ihn erschrocken an und hielt sich am Türknauf fest. Sie wurde starr vor Anspannung, und ihre Gedanken stoben in alle Richtungen.
Sag's ihm, bring es hinter dich…
Warte, bis du weißt, wie du es am besten anfängst…
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Oh… doch… ja…«, stammelte sie. »Komm rein.«
Sie trat zurück, und Miles zog die Tür hinter sich zu. Er blieb kurz stehen, dann ging er zum Fenster, um einen Blick auf die Straße zu werfen. Danach zog er die Vorhänge zu und wanderte ziellos durch das Wohnzimmer. Am Kaminsims blieb er stehen und rückte ein Bild von Sarah und ihrer Familie gerade. Sarah verharrte reglos in der Mitte des Zimmers. Die ganze Sache kam ihr unwirklich vor. Alles, woran sie denken konnte, war, dass sie wusste, wer Miles' Frau überfahren hatte.
»Charlie war heute früh bei mir«, sagte er unvermittelt, und der Klang seiner Stimme rüttelte sie wach. »Er hat den Ordner über Missy mitgenommen.«
»Das tut mir Leid.«
Es klang unpassend, aber etwas anderes fiel ihr nicht ein. Miles schien es nicht zu merken.
»Er hat gesagt, dass er mich verhaften lässt, wenn ich Otis Timson auch nur ansehe.«
Diesmal erwiderte Sarah nichts. Miles wollte sich Luft machen, seine defensive Haltung ließ das deutlich erkennen. Er wandte sich ihr zu.
»Ist das zu fassen? Ich habe nichts weiter getan als den Kerl verhaftet, der meine Frau auf dem Gewissen hat - und jetzt das!«
Sarah musste all ihre Selbstbeherrschung aufbieten, um nicht in Tränen auszubrechen.
»Es tut mir Leid«, flüsterte sie ein zweites Mal.
»Mir auch.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich kann Sims nicht suchen, ich kann keine Beweise suchen, ich kann überhaupt nichts tun. Außer zu Hause sitzen und Charlie alles überlassen.«
Sie räusperte sich unsicher. »Und… meinst du nicht, das wäre eine gute Idee? Wenigstens vorläufig?«
»Nein - ganz und gar nicht. Verdammt noch mal, ich bin der Einzige, der nicht aufgegeben hat, nachdem die offiziellen Ermittlungen im Sande verlaufen sind! Ich weiß mehr über den Fall als sonst jemand.«
Nein, Miles, das stimmt nicht.
»Und was hast du vor?«
»Ich weiß nicht.«
»Du wirst aber auf Charlie hören, oder?«
Miles verweigerte die Antwort, und Sarah spürte, wie sich ihr Magen verkrampfte.
»Hör mir zu, Miles«, begann sie. »Ich weiß, dass es dir nicht gefällt, aber ich finde, dass Charlie Recht hat. Überlass Otis den anderen.«
»Warum? Damit sie es ein zweites Mal verpfuschen können?«
»Niemand hat es verpfuscht.« Miles' Augen blitzten.
»Nein? Warum läuft dann Otis frei herum? Warum musste ich Leute finden, die gegen ihn aussagen? Warum haben sie damals nicht genauer nach Beweismitteln gesucht?«
»Vielleicht gab es keine«, antwortete sie ruhig.
»Warum musst du unbedingt den Advocatus Diaboli spielen? Diesen Unfug hast du gestern auch schon verzapft.«
»Nein, das stimmt nicht.«
»Doch. Du hast mir überhaupt nicht zugehört.«
»Ich wollte nur nicht, dass du irgendetwas unternimmst, das…«
Er hob abwehrend die Hände. »Ja, ich weiß schon. Du und Charlie. Ihr habt beide keine Ahnung, worum zum Teufel es hier geht.«
»O doch«, sagte Sarah und versuchte, gleichmütig zu klingen.
»Du glaubst, Otis ist schuld, und willst Rache. Aber was ist, wenn du später herausfindest, dass Sims und Earl sich getäuscht haben?«
»Getäuscht?«
»Bei dem, was sie gehört haben, meine ich…«
»Du glaubst, sie lügen? Alle beide?«
»Nein. Ich sage nur, sie haben sich vielleicht verhört. Vielleicht hat Otis es gesagt, aber nicht so gemeint. Vielleicht hat er es nicht getan.«
Miles war wie vom Donner gerührt. Sarah sprach weiter, ohne den Kloß in ihrer Kehle zu beachten.
»Ich meine - was ist, wenn du merkst, dass Otis unschuldig ist? Ich weiß, ihr beide habt Probleme miteinander…«
»Probleme?«, unterbrach er sie. Den Blick unverwandt auf sie gerichtet, trat er näher. »Wovon redest du, zum Teufel? Er hat meine Frau umgebracht, Sarah!«
»Das weißt du doch nicht…«
»Doch, das weiß ich.«
Er kam noch näher. »Was ich nicht weiß, ist, warum du so davon überzeugt bist, dass er unschuldig ist.«
Sie schluckte. »Das sage ich gar nicht. Ich sage nur, du solltest die Sache Charlie überlassen, damit du nichts tust, was…«
»Was zum Beispiel? Ihn umbringen?«
Sarah antwortete nicht. Miles stand dicht vor ihr. Seine Stimme war seltsam tonlos. »So wie er meine Frau umgebracht hat, meinst du?«
Sie wurde blass. »Miles - bitte sag so etwas nicht. Du musst an Jonah denken.«
»Lass Jonah aus dem Spiel.«
»Es ist aber wahr. Er ist alles, was du hast.«
»Glaubst du, das weiß ich nicht? Was meinst du, warum ich nicht gleich abgedrückt habe? Ich hatte die Gelegenheit, aber ich habe es nicht getan.«
Miles schnaubte und wandte sich von ihr ab. »Ja, ich wo llte ihn erschießen. Ich finde, das verdient er für seine Tat - Aug um Auge, richtig?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich will, dass er bezahlt. Und das wird er. So oder so.«
Damit ging er abrupt zur Tür und knallte sie hinter sich zu.