8
Eve dachte nicht oft an Tony und diese Zeit in ihrem Leben zurück, in welcher sie sich der dunkleren Seite des Sex verschrieben hatte. Schließlich hatte es sich alles in allem doch nur um fünf Jahre ihres reichen Lebens gehandelt. Sie hatte mit Sicherheit noch mehr Fehler gemacht, andere Dinge getan, andere Vergnügungen genossen. Es war das Buch, das Projekt, das sie gestartet hatte, das ihr die einzelnen Abschnitte ihres Lebens wieder vor Augen führte - wie Filmszenen.
Sie schluckte ihre Tablette mit Mineralwasser hinunter und rieb sich die Stelle in der Mitte der Stirn, wo der Schmerz sich heute wie eine geballte Faust konzentriert hatte. Sie hatte noch Zeit, genügend Zeit. Sie würde sie nutzen. Sie schloss einen Augenblick die Augen und wartete darauf, dass das Medikament seine Wirkung tag und den ärgsten Schmerz besänftigte.
Julia ... Der Gedanke an die andere Frau beruhigte sie ebenso wie das Mittel, das sie heimlich einnahm. Julia war kompetent, integer und von schneller Auffassungsgabe - und mitfühlend. Eve war sich selber nicht über ihre Gefühle hinsichtlich Julias Tränen im klaren. Empathie hatte sie nicht erwartet, nur Schockiertheit und vielleicht Ablehnung. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, dass die andere es sich so zu Herzen nehmen würde.
Das lag einzig und allein an ihrer eigenen Arroganz, dachte sie. Sie war so sicher gewesen, dass sie bestimmen konnte, wie das Buch geschrieben wurde, und allen Personen, die darin vorkamen, ihre Rollen zuweisen konnte. Aber Julia ... Julia und der Junge paßten nicht so recht in die Rollen, die Eve ihnen zugedacht hatte. Wie zum Teufel hätte sie auch voraussehen können, dass sie anfangen würde, sich Sorgen um Menschen zu machen, die sie ursprünglich nur hatte benutzen wollen?
Und dann waren diese anonymen Zettel gekommen. Eve breitete sie auf ihrem Frisiertisch aus, um sie gründlich zu studieren. Zwei für sie und zwei für Julia, bis jetzt. Alle vier in den gleichen Blockbuchstaben geschrieben, alle vier enthielten allgemein bekannte Sprichwörter, die man als Warnungen auffassen konnte, oder als Drohungen.
Die für sie bestimmten hatten sie amüsiert, sogar ermutigt. Sie war weit hinaus über die Zeit, in der irgend jemand sie hätte verletzen können. Aber die Warnungen, die Julia erhalten hatte, änderten die Sachlage. Jetzt musste Eve herausfinden, wer sie geschrieben hatte, und der Sache ein Ende machen. Sie klopfte mit den korallenrot lackierten Fingernägeln auf die Holzplatte. Es gab so viele Leute, die nicht damit einverstanden waren, dass sie ihre Geschichte erzählte. Es müßte doch interessant sein, ein guter Spaß, so viele von ihnen wie nur möglich zur gleichen Zeit unter einem Dach zusammenzubringen.
Als jemand an die Tür klopfte, ließ Eve die vier Zettel schnell in einer Schublade verschwinden. Das sollte vorläufig noch ihr Geheimnis bleiben. Ihres und Julias.
»Herein.«
»Ich bringe Ihnen Tee«, sagte Nina, als sie mit einem Tablett hereinkam. »Und ein paar Briefe zum Unterschreiben.«
»Setzen Sie den Tee einfach neben dem Bett ab. Ich habe ein paar Drehbücher bekommen, die ich heute abend durchsehen möchte.«
Nina stellte die Kanne und die Tasse aus Meißener Porzellan auf den Nachttisch. »Ich dachte, Sie würden sich nach der Miniserie erst mal eine Pause gönnen.«
»Das kommt darauf an.« Eve nahm den Federhalter in die Hand, den Nina mitgebracht hatte, und setzte ihre verschlungene Unterschrift unter die Briefe, ohne sich die Mühe zu geben, sie vorher zu lesen. »Was liegt morgen an?«
Nina öffnete ein in Leder gebundenes Buch. »Um neun Uhr haben Sie eine Verabredung bei Armando wegen der Vorbereitungen für die Dreharbeiten, um ein Uhr sind Sie mit Gloria DuBarry bei Chasen zum Lunch.«
»Ah, ja, nach der Arbeit bei Armando.« Eve grinste und öffnete eine Dose Feuchtigkeitscreme. »Ich will nicht, dass die alte Eule ein neues Fältchen bei mir entdeckt.«
»Sie sind doch sehr angetan von Miss DuBarry.«
»Natürlich. Und weil sie mich über ihren Salatteller hinweg genau in Augenschein nehmen wird, muss ich gut aussehen. Wenn zwei Frauen in einem gewissen Alter miteinander essen, Nina, geht es nicht nur darum, zu vergleichen, sondern auch darum, eine Bestätigung zu bekommen. Je besser ich aussehe, desto erleichterter wird Gloria sein. Weiter?«
»Um vier einen Drink mit Maggie in der Polo Lounge. Für acht Uhr haben Sie Mr. Flannigan zum Dinner eingeladen.«
»Die Köchin soll zum Nachtisch Zabaglione zubereiten.«
»Dafür habe ich schon gesorgt.«
»Sie sind ein Schatz, Nina.« Eve studierte ihr Gesicht im Spiegel, als sie die Creme auf den Hals, die Wangen und die Stirn auftrug. »Sagen Sie mir, wie lange dauert es, bis wir eine Party geben können?«
»Eine Party?« Nina runzelte die Stirn und klappte das Buch wieder auf. »Was für eine?«
»Eine große, sehr extravagante. Sagen wir, für zweihundert Leute. Gesellschaftskleidung. Eine Kapelle auf dem Rasen, Dinner und Tanz unter freiem Himmel. Ströme von Champagner und ein paar gewitzte Leute von der Presse.«
Nina stellte im Kopf schon ihre Berechnungen an, während sie noch in den Buchseiten blätterte. »Ich denke, wenn ich ein paar Monate Zeit hätte ...«
»Schneller.«
Nina stieß einen Seufzer aus, als sie an die verzweifelten Telefonate mit Lieferanten, Blumengeschäften und Musikern dachte. Also gut, wenn sie eine Insel mieten konnte, dann konnte sie so eine Party in weniger als zwei Monaten zustandebringen. »Sechs Wochen.« Eves Blicke sprachen Bände. Wieder seufzte Nina. »In Ordnung, drei. Wir können sie durchführen, kurz bevor Sie zu den lokalen Drehaufnahmen fahren.«
»Gut. An die Gästeliste können wir uns am Sonntag machen.«
»Was ist der Anlaß?«
»Der Anlaß.« Eve lächelte und lehnte sich zurück. Ihr Spiegelbild lächelte zurück, kraftvoll, glatt und schön. »Wir können es eine Gelegenheit nennen, alte Erinnerungen wieder aufleben zu lassen. Eine Eve-Benedict-Retrospektive. Mit alten Freunden, alten Geheimnissen und alten Lügen.«
Entgegen ihrer Gewohnheit schenkte Nina ihr eine Tasse Tee ein. »Eve, warum wollen Sie alte Geschichten wieder aufrühren?«
Mit der sicheren Hand einer Künstlerin verteilte Eve ein wenig Creme um ihre Augen herum. »Das Leben ist so schrecklich langweilig ohne ein bisschen Pfeffer.«
»Ich meine es ernst.« Nina stellte die Tasse auf dem Frisiertisch zwischen all den Fläschchen und Dosen ab. Das Zimmer verströmte einen sehr weiblichen Duft, nicht blumig und verspielt, sondern geheimnisvoll und erotisch. »Sie wissen ja ... Nun, ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht, was ich davon halte. Und jetzt ... Anthony Kincades Reaktion gestern abend hat mir wirklich einen großen Schreck eingejagt.«
»Tony ist es nicht wert, dass man einen einzigen Gedanken an ihn verschwendet.« Eve streichelte Ninas Hand, bevor sie ihre Tasse hochnahm. »Er ist ein Stück Dreck.« Sie sog das feine Aroma des Jasmintees ein. »Und es ist an der Zeit, dass endlich jemand laut und deutlich sagt, was für ein perverser Geist sich in diesem monströsen Körper versteckt.«
»Aber es gibt auch noch andere Leute.«
»Ja, natürlich.« Sie lachte. An einige davon dachte sie mit besonderem Vergnügen. »Mein ganzes Leben war eine Kette von verrückten Ereignissen und Menschen. Alle haben ihre Halbwahrheiten und Lügen, die sich oft überschneiden, hinter einer faszinierenden Fassade versteckt. Und wenn man an einem Faden zieht, gerät alles durcheinander. Auch das Gute, das man tut, zieht Folgen nach sich, Nina. Ich bin bereit, diese Folgen auf mich zu nehmen.«
»Aber nicht jeder ist dazu bereit.«
Eve nippte an ihrem Tee und beobachtete Nina über den Tassenrand hinweg. Als sie wieder zu sprechen anfing, klang ihre Stimme sanfter. »Die Wahrheit ist längst nicht so zerstörerisch, wenn sie ans Licht kommt, wie eine Lüge, die verborgen bleibt.« Sie drückte ihr die Hand. »Sie sollten sich wirklich keine Sorgen machen.«
Aber Nina gab immer noch nicht nach. »Manche Dinge läßt man besser auf sich beruhen«, sagte sie.
Eve seufzte und stellte die volle Teetasse ab. »Haben Sie Vertrauen zu mir. Ich habe meine Gründe für das, was ich tue.«
Nina schaffte es, zu nicken und ein dünnes Lächeln auf ihre Lippen zu zaubern. »Ich hoffe es.« Sie nahm ihr Buch an sich und ging. »Lesen Sie nicht zu lange. Sie brauchen Ihre Ruhe.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schaute Eve wieder in den Spiegel. »Ich werde bald viel Ruhe haben. Sehr bald schon.«
Den größten Teil des Samstags verbrachte Julia über ihrer Arbeit. Brandon hatte Gesellschaft. CeeCee war da und hatte ihren Bruder Dustin mitgebracht. Sie stellte ihn als »Weltmeister der Flegel« vor. Er bildete die perfekte Ergänzung zu dem mehr nach innen gekehrten Brandon. Er platzte sofort mit allem heraus, was ihm durch den Kopf ging. Er kannte keinerlei Schüchternheit und stellte laufend Fragen. Während Brandon stundenlang schweigend für sich allein spielen konnte, ging es bei Dustin laut und geräuschvoll vor sich.
Von ihrem Büro aus konnte Julia die beiden oben herumtoben hören. Wenn das Spiel in Streit auszuarten drohte, mischte sich CeeCee sofort mit lauter Stimme ein, egal, in welchem Raum sie gerade beim Putzen war.
Es war für Julia nicht ganz einfach, sich auf die Geschichte zu konzentrieren, die sie vom Band abhörte, während die Kinder Lärm machten, der Staubsauger lief und aus dem Radio Beat ertönte.
Auf so schmutzige Dinge war sie nicht gefaßt gewesen. Wie sollte sie so etwas darstellen? Eve wollte, dass die unverblümte Wahrheit veröffentlicht wurde. Absolute Ehrlichkeit war zugleich ein Markenzeichen ihrer eigenen Arbeit. Aber war es wirklich notwendig und ratsam, so schmerzliche und ekelhafte Dinge wieder aus der Versenkung zu holen?
Zweifellos würde es zum Verkaufserfolg des Buches beitragen, dachte sie seufzend. Aber um welchen Preis? Andererseits war es nicht ihre Aufgabe, das Buch zu zensieren, sondern das Leben dieser Frau zu erzählen, mit allen Höhen und Tiefen, mit den Tragödien und den Triumphen.
Sie ärgerte sich darüber, dass sie so unsicher war. Wen wollte sie schützen? Bestimmt nicht Anthony Kincade. Ihrer Ansicht nach verdiente er eine viel härtere Strafe als nur die Veröffentlichung seiner Schandtaten in diesem Buch.
Eve? Warum fühlte sie sich verpflichtet, eine Frau zu schützen, die sie kaum kannte und nicht richtig verstand? Wenn die Geschichte so niedergeschrieben würde, wie Eve sie erzählt hatte, würde sie nicht unbehelligt davonkommen. Hatte sie nicht zugegeben, dass der dunkle, würdelose Aspekt des Sex Anziehungskraft auf sie besessen hatte? Dass sie bereitwillig und eifrig dabei mitgemacht hatte bis zu dieser letzten furchtbaren Nacht? Würde das Publikum der Königin der Leinwand diese Beziehung und ihre Versuche mit Drogen verzeihen?
Vielleicht ja. Und Eve schien das sogar völlig gleichgültig zu sein. Sie hatte sich nicht zu entschuldigen versucht, als sie die Geschichte erzählt hatte, nicht um Sympathie gebuhlt. Julia hatte lediglich die Aufgabe, Eves Leben zu schildern. Als Biographin musste sie zudem Einsichten und Erkenntnisse, Meinungen und Gefühle mit einbringen. Und ihr Instinkt sagte ihr, dass die Heirat mit Kincade zu den Erfahrungen gehörte, die Eve zu der Frau gemacht hatten, die sie heute war.
Ohne diese Episode würde das Buch weder vollständig noch ehrlich sein.
Sie zwang sich dazu, das Band noch einmal abzuhören und machte sich Notizen über Eves Stimme, die Pausen, die sie eingelegt hatte und ihr Zögern an manchen Stellen. Sie fügte ihre eigenen Beobachtungen darüber hinzu, wie oft Eve an ihrem Glas genippt, an ihrer Zigarette gezogen hatte. Wie das Licht durch die Fenster eingefallen war, wie der Schweißgeruch in der Luft gehangen hatte.
Dieser Teil musste in Eves eigenen Worten wiedergegeben werden, dachte Julia. In Dialogform, so dass der sachliche Teil erhalten blieb. Für ihre Begriffe klang es herzzerreißend genug. Sie saß fast drei Stunden lang an diesem Kapitel, dann ging sie in die Küche. Sie brauchte Abstand von dieser Szene. Die allzu lebhafte Erinnerung daran war zuviel für sie. In der Küche gab es nicht viel zu tun für sie, alles war sauber geputzt. Deshalb entschied sie sich zu kochen.
Hausarbeit hatte immer eine beruhigende Wirkung auf sie. In den ersten Wochen, nachdem sie entdeckt hatte, dass sie schwanger war, hatte sie sich endlos damit beschäftigt, die Möbel mit Zitronenöl zu polieren. Kleidungsstücke waren achtlos in ihrem Zimmer verstreut gewesen, aber die Möbel hatten geglänzt. Später war ihr klargeworden, dass diese monotone, einfache Arbeit ihr viele hysterische Anfälle erspart hatte.
Bei dieser Beschäftigung hatte sie sich auch gegen eine Abtreibung oder Adoption entschieden. Beides hatte sie zuvor ernsthaft und traurig erwogen. Jetzt, nach zehn Jahren, wusste sie, dass diese Entscheidung für sie die richtige gewesen war.
Sie fing an, eines von Brandons Lieblingsgerichten vorzubereiten: selbstgemachte Pizza. Die Zeit und Mühe, die sie darauf verwenden musste, machte es ihr leichter, mit dem Schuldgefühl fertig zu werden, dass sie ihm in letzter Zeit so oft nur eine Suppe und Sandwiches vorgesetzt hatte, weil die Arbeit an ihrem Buch ihre ganze Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
»Es riecht gut hier.«
Überrascht schaute sie zur Küchentür. Paul war gekommen, ein freundliches Lächeln auf dem Gesicht, die Hände tief in den Taschen seiner ausgebleichten Jeans vergraben, völlig entspannt. Sofort war sie auf der Hut. Vielleicht hatte er die fieberhafte Umarmung von gestern nacht bereits vergessen, an Julia war sie jedenfalls nicht spurlos vorübergegangen.
»CeeCee hat mich eingelassen«, sagte er, während sie schwieg. »Wie ich sehe, haben Sie Dustin kennengelernt, den Kronprinzen des Chaos.«
»Es ist schön, wenn Brandon einen Freund in seinem Alter hat.« Mit steifen Knien ging sie zum Herd.
»Einen Freund braucht jeder«, murmelte Paul. »Sie warten auf eine Entschuldigung für mein Benehmen gestern nacht.« Leicht berührte er ihren Nacken mit seinen Fingerspitzen. Sie hatte das Haar zu einem unordentlichen Knoten hochgenommen. »Aber damit kann ich leider nicht dienen.«
Sie schüttelte seine Hand ab. »Ich verlange keine Entschuldigung von Ihnen.« Mit zusammengezogenen Brauen warf sie ihm einen Blick über die Schulter zu. »Was wollen Sie, Paul?«
»Ein bisschen Gesellschaft, Unterhaltung.« Er sog die Küchendüfte ein. »Vielleicht ein warmes Essen.«
Seine Augen funkelten vor Vergnügen und Herausforderung. »Und alles, was ich vielleicht sonst noch bekommen kann«, fügte er hinzu.
Sie warf den Kopf herum. »Das alles können Sie mit Sicherheit auch irgendwo anders bekommen.«
»Natürlich, aber es gefällt mir hier.« Er legte beide Hände auf die Herdstange, so dass sie ihm nicht davonlaufen konnte. »Es ist gut für mein Ego zu sehen, wie nervös ich Sie mache.«
»Nicht nervös, ärgerlich«, erwiderte sie, ohne sich im geringsten wegen dieser Lüge zu schämen.
»Nun, das ist auch eine Reaktion.« Er lächelte amüsiert bei dem Gedanken, dass sie bis in alle Ewigkeit die Soße umrühren würde, nur um sich nicht umdrehen zu müssen und in seinen Armen zu landen. »Das Problem ist, Jules, dass Sie zu nervös sind, um einen Kuß richtig einschätzen zu können.«
Sie knirschte mit den Zähnen. »Ich bin nicht nervös.«
»Natürlich sind Sie das.« Er schnüffelte an ihrem Haar und stellte fest, dass es ebenso verlockend roch wie die brodelnden Kräuter. »Ich habe Nachforschungen angestellt, erinnern Sie sich? Und ich konnte nicht einen Mann finden, der in den letzten zehn Jahren in Ihrem Leben eine ernsthafte Rolle gespielt hat.«
»Mein Privatleben ist meine Angelegenheit. Es geht Sie gar nichts an, wie viele Männer darin eine Rolle gespielt haben.«
»Genau. Aber es fasziniert mich nun einmal, dass ich auf die Zahl Null gestoßen bin. Meine liebe Julia, können Sie sich nicht vorstellen, dass es für einen Mann nichts Verführerisches gibt als eine Frau, die ihre leidenschaftlichen Gefühle so unter Kontrolle hat? Wir reden uns nun einmal zu gern ein, dass wir derjenige sein werden, der die Barriere durchbricht.« Geschickt drückte er ihr einen kurzen, arroganten Kuß auf den Mund, der sie mehr in Wut versetzte, als dass er ihre Gefühle aufrüttelte. »Ich konnte nicht widerstehen.«
»Geben Sie sich mehr Mühe«, schlug sie vor und stieß ihn beiseite.
»Daran habe ich schon gedacht.« Auf dem Küchenbüfett stand eine Schale mit großen grünen Weintrauben. Er pflückte sich eine ab und steckte sie in den Mund. Es war nicht unbedingt das, was er sich gewünscht hatte, aber für den Augenblick musste es genügen. »Leider folge ich so gern meinen Impulsen. Sie haben so hübsche Füße.«
Mit einem Küchenhandtuch in der Hand drehte sie sich um und starrte ihn an. »Was?«
»Wann immer ich hier unangemeldet aufkreuze, sind Sie barfuß.« Er schaute auf ihre Füße. »Ich hatte bisher keine Ahnung davon, dass bloße Zehen erregend sein können.«
Sie wollte nicht lachen, bestimmt nicht, aber sie konnte nicht an sich halten. »Wenn es die Dinge vereinfacht, fange ich gern an, dicke Socken und schwere Schuhe zu tragen.«
»Dazu ist es zu spät. Ich würde nur davon träumen, was sich darunter verbirgt. Wollen Sie mir erzählen, was Sie kochen wollen?«
»Pizza.«
»Ich dachte, die kauft man tiefgefroren in einem Karton.«
»Nicht unbedingt.«
»Wenn ich Ihnen verspreche, Ihre reizenden Zehen nicht anzuknabbern, laden Sie mich dann zum Mittagessen ein?«
Sie überlegte, wog das Für und Wider ab. Dann sagte sie: »Ich lade Sie zum Essen ein, wenn Sie mir ehrlich ein paar Fragen beantworten.«
Wieder roch er an der Soße und gab dann der Versuchung nach, mit dem Holzlöffel ein wenig zu kosten. »In Ordnung. Bekommen wir auch Peperoni?«
»Selbstverständlich. Und nicht nur das.«
»Ich darf nicht annehmen, dass Sie auch Bier haben?«
Sie fing an, den Teig zu kneten, und er vergaß seine Frage. Obwohl ihre Finger ebenso geschickt waren wie die einer Großmutter, erinnerten sie ihn nicht an eine resolute alte Frau, sondern an eine kluge junge Frau, die wusste, wo sie hinfassen musste und wie. Sie sagte irgend etwas, aber er hörte es nicht. Es hatte angefangen als ein Scherz, aber jetzt war es soweit, dass er sich fragte, wieso er einen trockenen Mund bekam, wenn er sie dabei beobachtete, wie sie ein uraltes weibliches Ritual ausführte.
»Haben Sie Ihre Meinung geändert?«
Er löste mit Mühe seinen Blick von ihren Händen und schaute ihr ins Gesicht. »Was?«
»Ich habe gesagt, dass CeeCee eine Menge von kalten Drinks in den Kühlschrank gepackt hat. Wahrscheinlich ist auch Bier dabei.«
»Richtig.« Er räusperte sich und machte den Kühlschrank auf.
»Möchten Sie eins?«
»Nein. Vielleicht etwas Alkoholfreies.«
Er nahm eine Flasche Coors heraus und eine Flasche Pepsi. »Haben Sie schon ein paar Interviews bekommen?«
»Ja, einige. Ich unterhalte mich regelmäßig mit Eve, natürlich. Ich habe mit Nina gesprochen und ein paar Fragen an Fritz gestellt.«
Paul trank einen Schluck. »Der Wikinger-Gott der Gesundheit. Was halten Sie von ihm?«
»Ich glaube, er ist reizend, hingebungsvoll und bildschön.«
»Bildschön?« Er zog die Brauen zusammen und nahm noch einen Schluck aus der Flasche. »Du lieber Himmel, er ist gebaut wie ein Lastwagen. Finden Frauen all diese Muskelpakete wirklich aufregend?«
Sie konnte nicht widerstehen. Sie drehte sich zu ihm um und lächelte. »Schatz, wir lieben es, von einem starken Mann genommen zu werden.«
Er zog ein mürrisches Gesicht, widerstand aber dem Drang, nach seinem Bizeps zu fassen. »Mit wem noch?«
»Was - mit wem noch?«
»Mit wem haben Sie noch gesprochen?«
Zufrieden mit seiner Reaktion, wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu. »Für die nächste Woche habe ich ein paar Verabredungen. Die meisten Leute, die ich erreichen konnte, sind sehr hilfsbereit.« Sie lächelte, als sie den Teig ausrollte. »Ich glaube allerdings, dass sie darauf setzen, mehr Informationen aus mir herauszuholen, als sie mir geben wollen.«
Genau das machte er auch, vielmehr er hatte es tun wollen, bevor sie ihn beunruhigt hatte. »Und wieviel sind Sie bereit, ihnen mitzuteilen?«
»Nichts, was sie nicht bereits wissen. Ich schreibe Eve Benedicts autorisierte Biographie.« Die Atmosphäre hatte sich entspannt, stellte Julia fest, und sie spürte, wie bei ihrer Arbeit und die Kinder eine Treppe höher wissend, ihr altes Selbstbewußtsein zurückkam. »Vielleicht können Sie mir ein bisschen über die Leute erzählen, die ich treffen werde.«
»Zum Beispiel?«
»Drake Morrison steht als erster auf meiner Liste am Montag.«
Paul nahm wieder einen Schluck Bier. »Eves Neffe, ihr einziger Neffe. Nach diesem Sohn bekam ihre ältere Schwester noch zwei totgeborene Kinder, dann wandte sie sich ganz der Religion zu. Eves jüngere Schwester war nie verheiratet.«
Diese Informationen waren unbefriedigend. »Drake ist ihr einziger Blutsverwandter. Das ist was fürs Publikum.«
Er wartete, bis sie mit dem Teig fertig war. »Auf sympathische Weise ehrgeizig. Fasziniert von eleganter Kleidung, tollen Autos und Frauen. In dieser Reihenfolge, würde ich sagen.«
Sie hob die Brauen. »Sie mögen ihn nicht besonders.«
»Ich habe nichts gegen ihn.« Er zog eine seiner schlanken
Zigarren heraus, während sie im Kühlschrank herumwühlte. Er entspannte sich wieder und genoß den Anblick ihrer langen Beine, die in kurzen Shorts steckten. »Ich denke, er macht seinen Job recht gut. Andererseits ist Eve seine wichtigste Klientin, und es ist nicht schwer, sie zu verkaufen. Er hat einen Hang zum Luxus und gerät manchmal in Schwierigkeiten wegen seiner Schwäche für Glücksspiele.« Er fing Julias Blick auf und zuckte mit den Schultern. »Es handelt sich wohl kaum um ein Geheimnis, wenn er auch Diskretion walten läßt. Außerdem bevorzugt er denselben Buchmacher wie mein Vater, wenn er in den Staaten ist.«
Julia nahm sich vor, das vorerst auf sich beruhen zu lassen, bis sie mehr Zeit hatte und mit ihren eigenen Recherchen weiter vorangekommen war. »Ich hoffe, ich bekomme ein Interview mit Ihrem Vater. Eve hängt immer noch an ihm, glaube ich.«
»Es war keine Kampfscheidung. Mein Vater bezeichnet ihre Ehe oft als einen kurzen Auftritt in einem verdammt guten Stück. Ich weiß allerdings nicht, wie er darüber denkt, die Aufführung mit Ihnen zu diskutieren.«
Sie würfelte grünen Pfeffer. »Ich kann sehr hartnäckig sein. Er ist noch in London?«
»Ja, er spielt dort King Lear.« Er nahm sich schnell ein Stückchen Peperoni, bevor sie es auf die Pizza legen konnte.
Sie nickte und hoffte nur, dass sie keinen Flug über den Atlantik würde machen müssen. »Anthony Kincade?«
»An Ihrer Stelle würde ich ihm lieber nicht zu nahe kommen.« Paul blies eine Rauchwolke aus. »Er ist eine Schlange, die beißt. Und es ist ein allgemein bekanntes Geheimnis, dass er auf junge Frauen aus ist.« Er prostete ihr mit der Flasche zu. »Passen Sie gut auf sich auf.«
Sie probierte auch ein Stück Peperoni. »Was glauben Sie, wie weit er gehen würde, um zu verhindern, dass Dinge aus seinem Privatleben veröffentlicht werden?«
»Warum?«
Sie wählte ihre Worte sehr sorgfältig, als sie Mozzarella auf den Teig legte. »Er wirkte gestern abend sehr beunruhigt, sogar bedrohlich.«
Er wartete einen Herzschlag lang. »Es ist schwer, eine halbe Frage zu beantworten.«
»Versuchen Sie es.« Sie schob die Pizza in den Herd und stellte die Zeituhr ein.
»Ich kenne ihn nicht gut genug, um etwas dazu sagen zu können.« Er beobachtete sie genau, während er seine Zigarre ausdrückte. »Hat er Ihnen gedroht, Julia?«
»Nein.«
Er kniff die Augen zusammen und ging auf sie zu. »Hat irgend jemand von den anderen es getan?«
»Warum sollten sie?«
Er schüttelte den Kopf. »Warum kauen Sie an den Nägeln?«
Schuldbewußt versteckte sie ihre Hände. Bevor sie ihm ausweichen konnte, faßte er nach ihren Schultern. »Worüber redet Eve mit Ihnen? Wen will sie mit diesen Memoiren treffen? Nein, Sie werden es mir nicht sagen«, fügte er sanfter hinzu. »Und ich bezweifle, dass Eve dazu bereit ist.« Aber ich werde es herausbekommen, dachte er. Auf die eine oder andere Weise.
»Werden Sie zu mir kommen, wenn es Ärger gibt?«
Das war wirklich das letzte, was sie vorhatte. »Ich erwarte keinen Ärger, mit dem ich nicht selber fertig werden kann.«
»Ich muss einen anderen Weg einschlagen.« Seine Finger glitten leicht über ihre Arme. Dann verstärkte er den Griff und zog sie an sich, so dass ihre Lippen sich trafen.
Er hielt sie fest und küsste sie so inbrünstig, dass sie nicht die Kraft hatte, sich ihm zu entziehen. Sie ballte die Hände zu Fäusten, nur um der Versuchung zu widerstehen, ihn zu umarmen, sich an ihm festzuklammern. Aber ihr Mund gab ihm die Antwort, die er ersehnt hatte.
Er spürte ihre Glut und ihren Hunger, ihre Leidenschaft und so etwas wie ein Versprechen. Sie taumelte leicht, als sie ihren Gefühlen endlich freien Lauf ließ. Gott, wie sehr sie sich danach gesehnt hatte, so dringend gebraucht zu werden. Wie konnte sie das nur vergessen haben?
Auch er war mehr aus dem Gleichgewicht geraten, als er je zugegeben hätte. Liebkosend glitt er mit den Lippen über ihren Hals. Unglaublich sanft. Sehr verführerisch.
Er war in Gedanken viel zu oft mit ihr beschäftigt. Seit dem ersten Geplänkel hatte er sich nach ihr gesehnt. Zum ersten Mal in seinem Leben war er einer Frau begegnet, die er sogar darum bitten würde nachzugeben. Er fürchtete sich davor.
»Julia.« Er flüsterte ihren Namen, bevor er wieder ihre Lippen suchte. Sanfter diesmal, überredend. »Ich möchte, dass du mit zu mir kommst, ich möchte dir zeigen, wie wunderbar es sein kann.«
Sie wusste, wie wunderbar es sein konnte. Sie würde alles geben. Und er würde, zufrieden mit seinem Sieg, pfeifend davongehen und sie völlig verstört zurücklassen. Nie wieder. Nie. Aber da war sein Körper, verlockend nah dem ihren. Wenn sie es schaffen konnte, ebenso immun zu werden gegen Verletzungen und Enttäuschungen wie er, dann konnte sie vielleicht diese Erfahrung genießen, ohne Schaden zu nehmen.
»Es ist noch zu früh.« Es machte ihr nichts mehr aus, dass ihre Stimme zitterte. Es wäre kindisch gewesen, sich den Anschein zu geben, als hätte er sie nicht erregt. »Zu früh.«
»Nicht früh genug«, murmelte er, trat aber einen Schritt zurück. Er war froh, dass er nicht hatte bitten müssen, er wollte niemanden bitten, um nichts. »In Ordnung. Warten wir noch eine Weile. Es gehört eh' nicht zu meinen Gewohnheiten, eine Frau in der Küche zu verführen, während oben drei Kinder herumtoben.« Er kehrte zu seinem Bier zurück. »Die Dinge haben sich verändert, Julia. Ich glaube, ich sollte besser gehen und alles genauso sorgfältig durchdenken, wie du es tust.« Er nahm einen Schluck und stieß die Flasche dann fort. »Zur Hölle damit.«
Bevor er einen Schritt auf sie zu machen konnte, hörten sie schwere, stampfende Kinderschritte auf der Treppe.