11. KAPITEL

Es geht alles durcheinander.“ Bailey presste zwei Finger auf ihre Augenlider. Wirre Bilder schossen durch ihren Kopf, überlagerten sich und verblassten wieder, ehe sie sie zu fassen bekam.

„Erzähl mir von deinem Vater.“

„Mein Vater ist tot.“

„Ich weiß, Liebling. Erzähl mir von ihm.“

„Er … er hat Antiquitäten gekauft. Und verkauft. Es war ein Familienunternehmen. Wir lebten in Connecticut. Dort hat mein Großvater das Unternehmen gegründet, unser Haus war dort. Mein Vater hat expandiert. Eine Filiale in New York, eine in Washington. Sein Name war Matthew.“ Sie presste eine Hand auf ihr Herz, das anschwoll und zu brechen drohte. „Er war der Mittelpunkt unserer Welt, für mich und für Mom. Sie konnte keine weiteren Kinder bekommen. Ich schätze, sie hat mich ziemlich verwöhnt. Und ich habe meine Eltern so wahnsinnig geliebt. Wir hatten einen Weidenbaum im Garten. Da bin ich hingegangen, als meine Mutter mir von dem Flugzeugabsturz erzählt hat. Ich habe mich unter den Weidenbaum gesetzt und versucht, meinen Vater zurückzuholen.“

„Hat deine Mutter dich dort gefunden?“

„Ja, sie kam zu mir, und wir saßen dann nebeneinander unter dem Baum. Die Sonne ging unter, und wir saßen noch immer da. Wir waren ohne ihn total aufgeschmissen. Sie hat es versucht, Cade, sie hat wirklich versucht, das Geschäft weiterzuführen und sich um mich zu kümmern! Aber es war einfach zu viel. Sie wusste nicht, wie es ging. Und dann traf sie … sie lernte Charles Salvini kennen.“

„Dieser Laden hier gehört ihm.“

„Er gehörte ihm.“ Sie fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Er war Juwelier, spezialisiert auf alten Schmuck. Mom hat ihn wegen irgendetwas um Rat gefragt. So fing es an. Sie war einsam, und er hat sie sehr gut behandelt. Und mich auch. Ich habe ihn bewundert. Ich glaube, er hat sie geliebt, das glaube ich wirklich. Ich weiß nicht, ob sie ihn liebte, aber sie brauchte ihn. Und ich wohl auch. Sie verkaufte unseren Laden und heiratete ihn.“

„War er gut zu dir?“

„Ja, das war er. Er war ein netter Mann. Und er war unglaublich ehrlich, genau wie mein Vater. Er wollte meine Mutter, bekam sie aber nur mit mir im Paket, und er war immer gut zu mir.“

„Du hast ihn geliebt.“

„Ja, es war auch leicht, ihn zu lieben und ihm dankbar zu sein für alles, was er für uns getan hat. Er war sehr stolz auf das Unternehmen, das er sich aufgebaut hatte. Als ich ein Interesse für Edelsteine entwickelte, hat er mich gefördert. Ich habe in den Sommerferien und nach der Schule hier gearbeitet. Dann hat er mich aufs College geschickt. In dieser Zeit starb meine Mutter. Ich war nicht da. Ich war nicht hier, als sie starb.“

„Schätzchen …“ Er zog sie fest an sich, versuchte, sie zu trösten. „Das tut mir so leid.“

„Es war ein Unfall, alles geschah sehr schnell. Ein betrunkener Fahrer ist frontal in sie reingerast. Das war’s.“ Wieder überwältigte sie die Trauer. „Charles war am Boden zerstört. Er hat sich nie mehr richtig davon erholt. Er war fünfzehn Jahre älter als sie, und nach ihrem Tod verlor er jeden Lebensmut. Er zog sich von allem zurück und starb kaum ein Jahr später.“

„Und du warst ganz allein?“

„Ich hatte meine Brüder.“ Zitternd griff sie nach Cades Händen. „Timothy und Thomas. Charles’ Söhne. Meine Stiefbrüder.“ Sie schluchzte. „Zwillinge.“ Sie zog an seinen Händen. „Ich möchte jetzt gehen. Bitte.“

„Erzähl mir von deinen Brüdern“, sagte er ruhig. „Sind sie älter als du?“

„Ich möchte gehen. Ich muss hier raus.“

„Sie arbeiten hier“, fuhr Cade fort. „Sie haben das Geschäft deines Stiefvaters übernommen. Du hast hier mit ihnen zusammen gearbeitet.“

„Ja, ja. Sie haben das Geschäft übernommen. Und ich habe hier gearbeitet, nachdem ich das Studium abgeschlossen hatte. Wir sind eine Familie. Sie sind meine Brüder. Sie waren zwanzig, als ihr Vater meine Mutter heiratete. Wir lebten im selben Haus. Wir sind eine Familie.“

„Einer von ihnen wollte dich umbringen.“

„Nein!“ Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen. „Es war ein Irrtum. Ich habe dir doch gesagt: Wir sind eine Familie. Wir haben zusammengelebt. Unsere Eltern sind tot, und nur wir sind noch übrig. Sie sind manchmal ungeduldig und schroff, aber sie würden mir niemals etwas tun. Und sie würden sich niemals gegenseitig etwas tun. Das könnten sie gar nicht.“

„Sind ihre Büros auch hier? In diesem Gebäude, auf diesem Stockwerk?“ Sie schüttelte den Kopf, doch ihr Blick flog gehetzt nach links. „Ich möchte, dass du hierbleibst. Rühr dich nicht vom Fleck, Bailey.“

„Wohin gehst du?“

„Ich will einen Blick hineinwerfen.“ Er nahm ihr Gesicht in beide Hände, sah ihr in die Augen. „Du weißt, dass ich nachsehen muss. Bleib hier.“

Sie atmete tief ein und schloss die Augen. Sie würde hierbleiben. Es gab nichts, was sie sehen musste. Nichts, was sie wissen musste. Sie kannte ihren Namen, ihre Familie. Reichte das nicht?

Doch die Szene spielte sich wieder und wieder in ihrem Kopf ab, egal, wie sehr sie sich bemühte, sie zu verdrängen. Sie hatte sich nicht vom Fleck gerührt, als Cade zurück ins Zimmer kam. Sie öffnete die Augen. Und sah es an seinem Blick.

„Es ist Thomas“, sagte sie tonlos. „Thomas liegt tot in seinem Büro.“

Es wunderte ihn nicht mehr, dass sie alle Erinnerungen an diesen Vorfall ausgelöscht hatte. Der Angriff war bösartig und brutal gewesen. Ihn überhaupt mit ansehen zu müssen, musste grauenvoll gewesen sein. Aber zu wissen, dass hier der eine Bruder den anderen abschlachtete, war einfach unvorstellbar.

„Thomas“, wiederholte sie, während ihr die Tränen über die Wangen strömten. „Armer Thomas. Er wollte immer der Beste sein. Und er war es auch. Sie waren nie unfreundlich zu mir. Meistens haben sie mich ignoriert, wie ältere Brüder das nun mal so tun. Es gefiel ihnen nicht, dass Charles mir einen Teil der Firma vererbt hat, aber sie haben es akzeptiert. Und sie haben mich akzeptiert.“ Sie hielt inne, blickte auf ihre Hände hinab. „Wir können nichts mehr für ihn tun, oder?“

„Nein, Bailey.“ Er nahm sie bei den Händen und zog sie auf die Füße. „Das reicht jetzt. Ich bringe dich hier raus.“

„Sie hatten vor, die drei Sterne von Mithra zu klauen.“ Sie wollte jetzt nicht aufhören, sie wusste, dass sie es ertragen konnte, und sie wollte nicht länger allein sein mit dem, was in ihren Erinnerungen lauerte. „Wir hatten den Auftrag, die drei Diamanten zu schätzen und ihre Echtheit zu prüfen. Eigentlich hatte ich den Auftrag, denn das fiel in meinen Aufgabenbereich. Ich werde regelmäßig vom Smithsonian angerufen und um solche Dinge gebeten. Die drei Sterne sollten Teil einer Sonderausstellung sein. Sie kommen ursprünglich aus Persien. Sie sind sehr alt und waren früher in einem Dreieck aus Gold angeordnet, das in der offenen Hand einer Mithra-Statue lag.“ Sie räusperte sich, sprach jetzt in ruhigem Ton, konzentrierte sich auf die Einzelheiten. „Mithra war eine Gottheit im alten Persien. Im Römischen Reich war der Mithra-Kult weit verbreitet. Mithra soll den göttlichen Stier getötet haben, und aus dem Kadaver entsprangen die Welt und alles Leben.“

„Das kannst du mir im Auto erzählen.“

Er drängte sie zur Tür, doch sie wehrte sich und sprach weiter. „Sehr lange hat man angenommen, dass es sich bei den drei Sternen lediglich um einen Mythos handelt, eine Legende. Aber einige Wissenschaftler haben fest an ihre Existenz geglaubt und sie als Symbole der Liebe, der Weisheit und des Edelmuts beschrieben. Manche Leute glauben, dass derjenige, der alle drei Steine besitzt, unglaubliche Macht hat. Dass er unsterblich ist.“

„Das glaubst du doch nicht etwa?“

„Natürlich nicht. Aber ich glaube, dass diese Steine genug Macht besitzen, um endlose Gier hervorzurufen. Ich kam meinen Brüdern auf die Schliche. Timothy hat im Labor Duplikate hergestellt.“ Sie rieb sich über die Augen. „Vielleicht hätte er diese Tatsache vor mir verheimlichen können, wenn er vorsichtiger gewesen wäre, aber er war schon immer sehr ungeduldig. Er ist risikofreudiger als Thomas. Und rücksichtsloser.“ Sie ließ die Schultern sinken. „Er hat schon ein paarmal in Schwierigkeiten gesteckt … Körperverletzung und so. Er ist ziemlich jährzornig.“

„Aber dir hat er nie etwas getan?“

„Nein, niemals. Hin und wieder hat er meine Gefühle verletzt.“ Sie versuchte zu lächeln. „Er glaubte, dass meine Mutter seinen Vater nur aus Raffgier geheiratet hat. Damit wir versorgt waren. Zum Teil stimmt das ja auch, nicht? Und deswegen war es für mich umso wichtiger, mich zu bewähren.“

„Und das hast du getan.“

„Nicht seiner Meinung nach. Timothy hat sich mir gegenüber niemals anerkennend geäußert. Er war nicht direkt unfreundlich, aber immer sehr kühl. Trotzdem hätte ich niemals gedacht, dass er oder Thomas unehrlich sein würden. Bis zu dem Tag, als wir die drei Steine auf ihre Echtheit prüfen sollten.“

„Dieser Versuchung konnten sie nicht widerstehen.“

„Offenbar nicht. Die Fälschungen hätten niemanden lange hinters Licht geführt, aber meine Brüder hätten genügend Zeit gehabt, mit dem Geld zu verschwinden. Ich weiß nicht, wer sie bezahlt hat, aber sie arbeiteten für irgendjemanden.“ Sie betrachtete die Treppe. „Er ist mir hier nachgelaufen. Ich bin gerannt. Es war stockdunkel. Ich wäre beinahe gestürzt. Ich hörte ihn hinter mir. Ich wusste, dass er mich umbringen würde … Wir haben seit meinem vierzehnten Lebensjahr zusammen Weihnachten gefeiert! Und doch wusste ich, dass er mich töten würde, genauso wie Thomas.“ Sie hielt sich am Geländer fest, während sie vorsichtig eine Stufe nach der anderen hinunterstieg. „Ich habe ihn geliebt, Cade. Ich habe sie beide geliebt.“ Am Fuß der Treppe drehte sie sich um und zeigte auf eine schmale Tür. „Da unten ist ein Keller. Er ist sehr klein und vollgestopft, aber unter der Treppe ist eine Nische. Dort habe ich mich immer versteckt, wenn ich Bücher lesen wollte, die Charles mir geliehen hat. Ich denke, Timothy wusste nichts von diesem Versteck. Sonst wäre ich jetzt bestimmt tot.“

Schweigend verließen sie das Haus. Draußen schien noch immer die Sonne.

„Ich kann mich wirklich nicht erinnern, wie lange ich dort in der Dunkelheit hockte und darauf wartete, dass er mich finden und umbringen würde. Ich weiß nicht, wie ich zum Hotel gekommen bin. Ich muss zumindest einen Teil des Weges zu Fuß gegangen sein. Ich fahre nicht mit dem Auto zur Arbeit, weil ich nur ein paar Häuser weit entfernt wohne.“

Er wollte ihr sagen, dass jetzt alles gut war, er wollte ihren Kopf an seine Schulter betten und sagen, dass nun alles hinter ihr lag. Aber so war es nicht. Er nahm ihre Hände in seine und sah sie an. „Bailey, wo sind die beiden anderen Steine?“

„Die …“ Sie wurde kreidebleich. Für einen Moment befürchtete er, sie würde vor seinen Augen in Ohnmacht fallen. Doch ihr Blick blieb wach, offen und starr vor Schreck.

„Oh Gott … Oh mein Gott. Cade, was habe ich getan? Er weiß, wo sie wohnen. Er weiß es!“

„Du hast sie M.J. und Grace gegeben.“ Er riss die Autotür auf. Die Polizei musste warten. „Sag mir, wohin ich fahren soll.“

„Ich war so wütend“, erklärte sie, während sie durch die Stadt rasten. „Mir wurde mit einem Mal klar, dass sie mich nur benutzten. Meinen Namen, mein Können, meinen Ruf. Alles, was sie wollten, waren die Steine. Sie wären mit ihnen verschwunden, und mich hätten sie allein zurückgelassen. Der Laden wäre ruiniert gewesen, Charles’ ganzes Lebenswerk! Ich schuldete ihm Loyalität. Und verdammt, die beiden doch auch!“

„Also hast du sie ausgetrickst.“

„Das war ein Impuls. Ich wollte sie mit dem, was ich wusste, konfrontieren, aber erst musste ich die drei Steine in Sicherheit bringen. Und ich dachte, dass sie auf keinen Fall am selben Ort sein sollten. Also schickte ich einen zu M.J. und einen zu Grace.“

„Guter Gott, Bailey, du hast unbezahlbare Diamanten einfach so mit der Post verschickt?“

„Wir haben ganz spezielle Kuriere für unsere Edelsteinlieferungen.“ In ihrer Stimme schwang ein leicht beleidigter Unterton mit. „Mein einziger Gedanke war, dass es zwei Menschen auf dieser Welt gibt, denen ich blind vertrauen kann. Ich dachte nicht daran, dass ich sie in Gefahr bringen könnte. Mir war wirklich nicht klar, wie weit meine Brüder gehen würden. Ich dachte, wenn ich ihnen erzähle, dass ich die Diamanten aus Sicherheitsgründen getrennt und Vorkehrungen getroffen habe, sie ans Museum zurückzugeben, wäre die ganze Sache vorbei.“ Sie klammerte sich an der Wagentür fest, als Cade um eine Straßenecke jagte. „Das Haus da vorne. Wir wohnen im dritten Stock. M.J. und ich sind Nachbarn.“

Sie sprang aus dem Auto, noch bevor er richtig abgebremst hatte, und rannte auf den Eingang zu. Fluchend riss Cade den Schlüssel aus dem Zündschloss und sprintete hinter ihr her. Auf der Treppe holte er sie ein. „Bleib hinter mir“, befahl er. „Das meine ich ernst!“

Das Schloss von Apartment 324 war aufgebrochen, vor der Tür hing ein Absperrband der Polizei.

„M.J.“, stieß Bailey aus, versuchte sich an Cade vorbeizudrücken und streckte die Hand nach dem Türknauf aus.

„Da sind Sie ja, Liebes!“ Eine ältere Frau in rosa Strickpullover, knallengen pinkfarbenen Leggins und Plüschpantoffeln kam eilig über den Flur herbeigeschlurft.

„Mrs. Weathers.“ Baileys Fingerknöchel am Türknauf wurden weiß, sie drehte sich um. „M.J. Was ist mit M.J. passiert?“

„Oh, Sie haben keine Vorstellung. Das war vielleicht ein Tumult.“ Mrs. Weathers griff sich in ihr toupiertes blondes Haar und warf Cade ein Lächeln zu. „So etwas erwartet man ja in dieser Gegend nicht. Die Welt wird immer verrückter, das sage ich Ihnen.“

„Wo ist M.J.?“

„Als ich sie das letzte Mal sah, ist sie wild schimpfend mit einem Mann die Treppe hinuntergerannt. Das war, nachdem in ihrer Wohnung die Hölle ausgebrochen ist. Ich hab gedacht, dass jemand die ganze Bude auseinandernimmt. Dieser Lärm! Und dann die Schüsse … ich will gar nicht daran denken.“ Sie nickte mehrere Male wie ein Vogel, der nach Würmern pickt.

„Schüsse? Ist M.J. angeschossen worden?“

„Nein, jedenfalls sah sie nicht danach aus. Wie gesagt, sie ist wie eine Furie aus dem Haus gerannt.“

„Mein Bruder. War sie mit meinem Bruder zusammen?“

„Nein, das war nicht Ihr Bruder. Ich habe diesen jungen Mann noch nie zuvor gesehen. Und glauben Sie mir, an den hätte ich mich erinnert! Das war ein ganz Hübscher, Augen wie aus Stahl. Und eine Kerbe am Kinn wie ein Filmstar. Ich konnte ihn gut sehen, weil er mich nämlich fast über den Haufen gerannt hat.“

„Und wann war das, Mrs. Weathers?“

Sie ließ den Blick zu Cade wandern, strahlte und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Ich glaube, wir kennen uns noch nicht.“

„Mein Name ist Parris, ich bin ein Freund von Bailey.“ Er schenkte ihr sein unwiderstehlichstes Lächeln. „Wir waren ein paar Tage verreist und wollten M.J. nur einen kurzen Besuch abstatten.“

„Nun, seit Samstag habe ich nichts mehr von ihr gehört. Sie hat die Wohnungstür weit offen gelassen – oder zumindest dachte ich das, bis ich sah, dass jemand das Schloss aufgebrochen hat. Also habe ich einen schnellen Blick hineingeworfen. Totales Chaos. Ich weiß ja, dass M.J. nicht annähernd so ordentlich ist wie Sie, Bailey, aber das war nicht normal. Alles war komplett auf den Kopf gestellt und …“ Sie machte eine dramatische Pause. „Da lag ein Mann auf dem Boden. Ein ziemlich großer Kerl. Ich hab auf dem Absatz kehrtgemacht, bin zurück in meine Wohnung und habe die Polizei gerufen. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich schätze, der Mann kam wieder zu sich und ist abgehauen, bevor die Polizei eintraf. Ich meine, ich hab natürlich keinen Fuß mehr vor die Tür gesetzt, bis die Cops bei mir geklopft haben.“

Cade legte einen Arm um Baileys Taille. „Mrs. Weathers, haben Sie vielleicht einen Schlüssel für Baileys Apartment? Sie hat ihren bei mir vergessen, und wir müssen ein paar Sachen abholen.“

„Oh, so ist das also?“ Mrs. Weathers lächelte verschlagen, fuhr sich mit den Fingern noch einmal durchs Haar und warf Bailey einen bedeutungsschwangeren Blick zu. „Wurde auch höchste Zeit mit Ihnen. So wie Sie sich Abend für Abend in Ihrer Wohnung verschanzen … Nun, wollen wir doch mal sehen. Ich habe gerade Mr. Hollisters Begonien gegossen, daher habe ich alle Schlüssel hier. Bitte sehr.“

„Ich kann mich gar nicht daran erinnern, Ihnen einen Schlüssel gegeben zu haben?“

„Aber natürlich, Liebes. Letztes Jahr, als Sie mit Ihren Freundinnen nach Arizona gefahren sind. Ich habe mir einen nachmachen lassen, nur für den Fall.“ Zufrieden schloss sie Bailey die Tür auf, doch bevor sie neugierig einen Fuß in die Wohnung setzen konnte, schob Cade sie freundlich zur Seite.

„Besten Dank, Mrs. Weathers.“

„Kein Problem. Ich kann mir nicht vorstellen, wo dieses Mädchen hin ist“, murmelte sie, während sie sich den Hals verrenkte, um in die Wohnung zu spähen. „Ich habe der Polizei erzählt, was ich gesehen habe. Oh, wo ich gerade darüber nachdenke … Bailey, Ihren Bruder habe ich auch gesehen.“

„Timothy“, flüsterte sie.

„Ich bin mir nicht sicher, welcher von beiden es war. Die sehen ja aus wie Klone. Er kam vorbei, warten Sie mal …“ Sie klopfte mit dem Zeigefinger gegen ihr Kinn. „Muss Samstagabend gewesen sein. Ich sagte ihm, dass ich Sie nicht gesehen habe, dass Sie vielleicht im Urlaub sind. Er sah ein wenig beunruhigt aus. Er schloss einfach Ihre Tür auf und ließ mich draußen stehen.“

„Mir war nicht klar, dass er auch einen Schlüssel hat“, bemerkte Bailey, dann fiel ihr wieder ein, dass sie ihre Handtasche auf der Flucht zurückgelassen hatte. „Danke, Mrs. Weathers. Falls ich M.J. nicht finde, würden Sie ihr bitte ausrichten, dass ich nach ihr suche?“

„Aber natürlich, Liebes. Nun, wenn Sie …“ Sie runzelte die Stirn, als Cade ihr zum Abschied zuzwinkerte, Bailey in die Wohnung zog und ihr die Tür vor der Nase zuknallte.

Cade erkannte auf den ersten Blick, dass die ordentliche Bailey ihre Wohnung niemals in einem solchen Zustand verlassen hätte. Kissen waren aufgeschlitzt, Schubladen herausgerissen – offenbar hatte es Salvini nicht gereicht, die Wohnung einfach nur zu durchsuchen. Er hatte sie geradezu verwüstet. „Was für ein Amateur“, murrte er.

Bailey schluckte. Ihr Bruder hatte mit demselben Wahnsinn gehandelt, mit derselben rohen Gewalt, mit der er das Messer gepackt und Thomas attackiert hatte. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, was Timothy einem Menschen antun konnte. „Ich muss Grace anrufen. M.J. würde als Erstes zu Grace gehen.“

„Hast du eine Ahnung, mit wem M.J. zusammen war?“

„Nein. Ich kenne niemanden, auf den die Beschreibung passt, und ich kenne fast alle ihre Freunde.“ Sie stakste durch das Chaos hindurch zum Telefon, ignorierte das Blinken des Anrufbeantworters und begann zu wählen. „Sie ist nicht da“, murmelte sie kurz darauf, richtete sich auf und sagte: „Grace, wenn du zu Hause bist, nimm ab. Es ist wichtig, bitte! Ich stecke in Schwierigkeiten. Und M.J. auch. Ich weiß nicht, wo sie ist. Ich möchte, dass du zur Polizei gehst und dort das Päckchen abgibst, das ich dir geschickt habe. Und ruf mich sofort an.“

„Gib ihr meine Nummer“, sagte Cade.

„Die weiß ich nicht.“

Er nahm ihr den Hörer aus der Hand, sagte seine Telefonnummer, reichte den Hörer an Bailey zurück.

Es war ein kalkuliertes Risiko, Baileys Aufenthaltsort zu verraten. Der Diamant lag in seinem Safe, und es war wichtig, dass Grace sie erreichen konnte.

„Grace, hör zu. Bleib nicht allein im Haus. Geh zur Polizei. Sprich nicht mit meinem Bruder, egal, was geschieht. Lass ihn nicht rein. Ruf mich an, bitte, ruf mich an.“

„Wo wohnt sie?“

„In Potomac“, antwortete Bailey, als er ihr sanft den Hörer abnahm und auflegte. „Vielleicht ist sie gar nicht da. Sie hat ein Haus in den Bergen, im Westen von Maryland. Dorthin habe ich das Päckchen geschickt. Da gibt es kein Telefon. Und manchmal steigt sie auch spontan ins Auto und fährt irgendwohin. Sie könnte überall sein.“

„Wie lange meldet sie sich dann üblicherweise nicht?“

„Höchstens ein paar Tage. Sie würde mich anrufen. Oder M.J.“ Sie drückte auf den Knopf des Anrufbeantworters. Die erste Nachricht war tatsächlich von Grace.

„Bailey, was soll das? Ist das dein Ernst? Fangen wir jetzt mit Schmuggelgeschäften an? Hör mal, du weißt, wie sehr ich die Mailbox hasse, ich ruf dich später wieder an.“

„Sechzehn Uhr. Samstag.“ Bailey blickte Cade an. „Um sechzehn Uhr am Samstag war noch alles in Ordnung.“

„Wir wissen nicht, von wo aus sie angerufen hat.“

„Nein, aber am Samstag ging es ihr noch gut.“ Sie hörte die nächste Nachricht ab. M.J.

„Bailey, hör zu. Ich habe verdammt noch mal keine Ahnung, was los ist, aber wir haben ein Problem. Bleib nicht in deiner Wohnung, er könnte zurückkommen. Ich bin in einer Telefonzelle, vor einer Kneipe in der Nähe von …“ Fluchen, ein Klirren. „Hände weg, du verdammter Mistk…“ Freizeichen.

„Samstag. Vierzehn Uhr. Was habe ich nur angerichtet, Cade?“

Schweigend drückte er erneut den Knopf. Diesmal erklang eine Männerstimme. „Du kleine Schlampe, sobald du das hörst, habe ich dich schon gefunden. Ich will zurück, was mir gehört!“ Unterdrücktes Schluchzen. „Er hat mir das Gesicht aufschlitzen lassen, verdammt! Ich werde genau dasselbe mit dir tun.“

„Das ist Timothy“, flüsterte sie.

„Hab ich mir fast gedacht.“

„Er hat den Verstand verloren, Cade. Das habe ich in jener Nacht gesehen. Bei ihm ist eine Sicherung durchgebrannt.“

Das bezweifelte er nicht, nicht nach allem, was er in Thomas Salvinis Büro gesehen hatte. „Brauchst du noch irgendwas von hier?“ Als sie sich mit leerem Blick umsah, nahm er ihre Hand. „Darum kümmern wir uns später. Lass uns gehen.“

„Wohin?“

„An einen ruhigen Ort, wo du mir alles erzählen kannst. Und außerdem müssen wir telefonieren.“

Der Park war schattig und grün. Seit Tagen hatte es nicht geregnet, schwüle Feuchtigkeit hing in der Luft. Sie setzten sich auf eine kleine Bank.

„Du musst vollkommen gefasst sein, wenn wir zur Polizei gehen“, sagte Cade. „Du brauchst einen klaren Verstand.“

„Ja, du hast recht. Aber vorher muss ich dir alles noch einmal in Ruhe erklären.“

„Ich glaube, das meiste habe ich bereits verstanden. Ist schließlich mein Job.“

„Ja.“ Sie sah hinab auf ihre Hände. „Das ist dein Job.“

„Du hast deinen Vater verloren, als du zehn Jahre alt warst. Deine Mutter tat ihr Bestes, hatte aber kein Händchen fürs Geschäftliche. Sie versuchte, das Haus zu halten, ihre Tochter großzuziehen und einen Antiquitätenladen zu führen. Dann traf sie einen Mann, einen älteren Mann, erfolgreich, kompetent und finanziell unabhängig. Einen Mann, der sie wollte.“

Unsicher atmete sie aus. „Ich schätze, unterm Strich war es so.“

„Das Mädchen sehnte sich nach einer Familie, akzeptierte also bereitwillig ihren Stiefvater und ihre Stiefbrüder. So war es doch, oder?“

„Ja. Ich habe meinen Vater vermisst. Charles konnte ihn nicht ersetzen, aber er stillte ein Bedürfnis. Er war sehr gut zu mir, Cade.“

„Nur die Stiefbrüder waren nicht sonderlich glücklich über ihre neue kleine Schwester. Eine hübsche, kluge, freundliche kleine Schwester.“

Sie öffnete den Mund, wollte protestieren, schloss ihn wieder. Es war an der Zeit, sich mit dem auseinanderzusetzen, was sie so viele Jahre über ignoriert hatte. „Ja, wahrscheinlich. Ich bin ihnen aus dem Weg gegangen. Sie waren schon auf dem College, als unsere Eltern heirateten, und als sie zurückkamen und wieder zu Hause wohnten, war ich ausgezogen. Ich kann nicht behaupten, dass wir uns nahestanden, aber es kam mir immer so vor – ich hatte das Gefühl, dass wir eine Familie wären. Sie haben mich nie geärgert oder schlecht behandelt, sie gaben mir nie das Gefühl, nicht willkommen zu sein.“

„Aber auch nicht, willkommen zu sein?“

Sie schüttelte den Kopf. „Es gab keine Auseinandersetzungen, bis meine Mutter starb. Als Charles sich dann vollkommen zurückzog, haben sie die Firma übernommen. Das fand ich nur normal. Die Firma gehörte ihnen doch. Ich hatte das Gefühl, dass ich dort immer arbeiten könnte, dass mir aber kein Anteil daran zustand. Es gab eine Szene, als Charles verkündete, dass ich zwanzig Prozent des Unternehmens bekommen sollte. Sie haben jeweils vierzig Prozent bekommen, aber das schien ihnen nicht zu reichen.“

„Und dann haben sie angefangen, dich zu schikanieren.“

„Ein bisschen.“ Sie seufzte. „Na gut, sie waren wirklich wütend“, gestand sie. „Wütend auf Charles und auf mich. Thomas hat sich aber ziemlich schnell wieder eingekriegt. Er interessierte sich mehr für die Umsätze als für den kreativen Bereich, und er wusste, dass ich gut war. Wir sind miteinander klargekommen. Timothy war weniger zufrieden mit dem Arrangement, aber er meinte, dass ich mich sowieso irgendwann langweilen und mir einen reichen Ehemann suchen würde.“ Es tat noch immer weh, daran zu denken, wie ihr Bruder sie verspottet hatte. „Das Geld, das Charles mir hinterlassen hat, bekomme ich mit dreißig ausbezahlt. Es ist nicht wahnsinnig viel, aber mehr als nötig. Er hat mir mein Studium finanziert, hat mir ein Zuhause gegeben und einen Job, den ich liebe. Und nur weil er mich aufs College geschickt hat, habe ich Grace und M.J. kennengelernt. Wir haben uns damals eine Wohnung geteilt. Es war, als ob wir uns schon ewig kennen würden. Sie sind die besten Freundinnen, die man sich vorstellen kann. Oh Gott, was habe ich nur getan?“

„Erzähl mir von ihnen.“

„M.J. ist rastlos. Sie hat ihr Hauptfach öfter gewechselt als manche Frauen ihre Frisur. Hat alle möglichen komischen Kurse besucht. An einem Tag versaute sie ihre Klausuren völlig, am anderen bekam sie Bestnoten. Je nachdem, in welcher Stimmung sie gerade war. Sie ist sportlich, ungeduldig, großzügig, lustig, kompromisslos. Aus Spaß hat sie im letzten Jahr auf dem College in einer Bar gearbeitet und behauptet, so gut zu sein, dass sie schon bald ihre eigene haben würde. Und die hat sie mittlerweile auch. Das M.J.’s in der Georgia Avenue.“

„Kenne ich nicht.“

„Ist eine nette kleine Kneipe, viele Stammkunden, an den Wochenenden irische Musik. Wenn es mal zu einer Rangelei kommt, kümmert sich M.J. persönlich darum. Und falls es ihr nicht gelingt, den Störenfried mit Worten einzuschüchtern, dann greift sie zu anderen Mitteln. Sie hat den schwarzen Gürtel.“

„Erinnere mich daran, falls ich sie mal treffen sollte.“

„Sie würde dich mögen. Sie kann auf sich selbst aufpassen, und das ist es, was ich mir immer wieder sage. Niemand kann besser auf M.J. O’Leary aufpassen als sie selbst.“

„Und Grace?“

„Grace ist atemberaubend schön. Das ist es, was einem als Erstes ins Auge springt, wenn man sie sieht. Manche Menschen bemerken leider nur diese äußere Schönheit, und nicht, was für ein Mensch sie ist. Grace benutzt ihr Aussehen, wenn es ihr weiterhilft – dabei findet sie sich gar nicht besonders hübsch.“ Bailey verfolgte mit dem Blick ein paar Vögel am Himmel. „Sie hat sehr jung ihre Eltern verloren und wurde von einer Tante in Virginia großgezogen. Man hat von Grace immer erwartet, dass sie sich gut benimmt, dass sie bestimmte Dinge tut und sagt. Wie es sich für eine echte Fontaine gehört.“

„Fontaine? Die Kaufhäuser?“

„Ja, jede Menge altes Geld. Und weil sie so schön und reich war und aus einer guten Familie stammt, erwartete man von ihr, dass sie sich mit den richtigen Leuten abgab. Dass sie die richtigen Freunde hatte und den richtigen Mann heiratete. Aber Grace hatte da andere Vorstellungen.“

„Hat sie nicht mal Fotos gemacht für … für …“ Er räusperte sich.

Bailey hob eine Augenbraue. „Den Playboy, ja, als sie noch aufs College ging. Sie war die Ivy League Miss April. Das hat sie ohne mit der Wimper zu zucken gemacht, weil sie ihre Familie schockieren wollte und, wie sie es ausdrückte, um die Ausbeuter auszubeuten. Um das Geld ging es ihr nicht, davon hatte sie immer genug.“

„Ich habe die Fotos nie gesehen.“ Cade war sich nicht sicher, ob er unter diesen speziellen Umständen Freude oder Bedauern empfinden sollte. „Aber es hat bestimmt für eine Menge Aufregung gesorgt.“

„Genau deshalb hat sie es ja getan.“ Bailey lächelte. „Grace sorgt gern für Aufregung. Sie hat eine Weile gemodelt, nur so zum Spaß. Aber irgendwann hat ihr das nicht mehr gereicht. Ich glaube, sie ist noch immer auf der Suche. Sie arbeitet ziemlich viel für Wohltätigkeitsorganisationen und reist durch die Weltgeschichte. Sie nennt sich selbst eine der letzten Dilettantinnen, aber das stimmt nicht. Sie tut eine Menge für unterprivilegierte Kinder, sie ist ungemein mitfühlend und großzügig.“

„Die Barbesitzerin, die Dame der feinen Gesellschaft mit sozialer Ader und die Edelsteinexpertin. Ein ziemlich ungewöhnliches Trio.“

„Das wirkt nur so. Wir … das klingt jetzt wahrscheinlich komisch, aber wir haben uns sofort gegenseitig erkannt. So einfach war das. Ich erwarte nicht, dass du das verstehst.“

„Wer könnte das besser verstehen als ich?“, murmelte er. „Ich habe dich auch erkannt.“

Sie schaute auf, begegnete seinem Blick. „Zu wissen, wer ich bin, hat das Problem noch nicht gelöst. Mein Leben ist ein einziges Chaos. Ich habe meine Freundinnen in große Gefahr gebracht, und ich weiß nicht, wie ich ihnen helfen kann. Ich weiß nicht, wie ich das, was ich in Bewegung gesetzt habe, stoppen kann.“

„Indem du den nächsten Schritt tust.“ Er nahm ihre Hand, küsste sanft ihre Fingerknöchel. „Wir gehen zu mir nach Hause, holen die Stofftasche und sprechen mit einem Freund von mir. Er ist bei der Polizei. Wir werden deine Freundinnen finden, Bailey.“ Er blickte gen Himmel. „Scheint, als ob es gleich regnen würde.“

Timothy Salvini schluckte eine weitere Schmerztablette. Sein Gesicht schmerzte so heftig, dass es ihm schwerfiel zu denken. Doch genau das musste er jetzt tun. Er musste nachdenken. Der Mann, der angeordnet hatte, dass ihm das Gesicht zerschnitten und dann von irgendeinem Quacksalber verbunden wurde, hatte ihm eine letzte Chance gegeben.

Wenn er nicht Bailey oder wenigstens einen der Steine bis Einbruch der Dunkelheit beschaffte, gab es keinen Ort auf der Welt mehr, wo er in Sicherheit war.

Und diese Angst pulsierte heftiger in ihm als der Schmerz in seinem Gesicht.

Ihm war nicht klar, wie er sich so schrecklich hatte irren können. Er hatte schließlich alles genau geplant. Hatte sich um alle Details gekümmert. Er war kontaktiert worden, weil er klüger war als sein Bruder, weil er wusste, wie dieses Spiel lief.

Anfangs war Thomas noch Feuer und Flamme gewesen. Fünf Millionen Dollar für jeden von ihnen, bar auf die Hand. Aber dann hatte er kalte Füße bekommen, hatte bis fünf vor zwölf gewartet, um dann seinem eigenen Bruder in den Rücken zu fallen.

Mein Gott, wie war er wütend gewesen, als er merkte, was Thomas vorhatte! Dass er das Geld einstecken und das Land verlassen wollte, weil er es mit der Angst zu tun bekommen hatte. Weil er sich Sorgen um Bailey machte. Diese kleine Schlampe war ihnen schon immer im Weg gewesen, aber wenn sie wirklich Probleme gemacht hätte, wären sie spielend mit ihr fertig geworden! Wenn Thomas nicht alles ruiniert hätte.

Ihr Streit war außer Kontrolle geraten. Timothy fuhr sich mit einer Hand über den Mund. Alles war außer Kontrolle geraten. Das Geschrei, die Wut, das Gewitter. Und dann hatte er auf einmal das Messer in der Hand gehabt. Einen Moment lang, das musste er zugeben, hatte er wohl den Verstand verloren. Aber das hatte nur am Stress gelegen, daran, dass er hintergangen worden war, und daran, dass sein eigener Bruder ihn betrogen hatte!

Und dann hatte plötzlich sie da gestanden und ihn mit ihren riesigen Augen angestarrt. Hätte es kein Gewitter gegeben, wäre der Strom nicht ausgefallen – sie wäre ihm niemals entkommen. Sie hatte Glück gehabt, das war alles, einfach nur Glück. Er war derjenige mit Köpfchen.

Es war nicht sein Fehler. Nichts von alledem war sein Fehler.

Er wusste, dass sie zumindest einen der Diamanten irgendwohin verschickt hatte. Er hatte den Beleg des Kurierdienstes in ihrer Handtasche gefunden. Sie hielt sich wohl für besonders schlau.

Sie hatte sich immer für besonders schlau gehalten. Die kleine Miss Perfekt, die sich bei seinem Vater einschmeichelte und das College mit Auszeichnung abschloss. Dabei konnte man mit Auszeichnungen im Geschäftsleben rein gar nichts anfangen. Nur mit Scharfsinn. Mumm in den Knochen. Gerissenheit.

Und Timothy Salvini besaß alles drei.

Wenn sein Bruder nicht den Schwanz eingezogen hätte, würden die fünf Millionen längst ihm gehören. Aber er würde das Geld schon noch bekommen, und er würde alle drei Steine finden. Und dann würde er verschwinden, so weit es nur ging. Denn Timothy Salvini hatte dem Teufel ins Gesicht geblickt. Und er war klug genug, zu wissen, dass sein Leben keinen Pfifferling mehr wert war, sobald die Steine einmal dem Teufel gehörten.

Dann war er ein toter Mann.

Es sei denn, er ging klug vor. Sehr klug.

Bisher war er so klug gewesen zu warten. Stundenlang hatte er vor Baileys Haus gewartet. Er wusste, dass sie irgendwann zurückkommen würde. Sie war ein Mensch der Gewohnheit, vollkommen vorhersehbar. Und sie hatte ihn nicht enttäuscht.

Wer hätte ahnen können, dass eine so … gewöhnliche Frau ein solches Ärgernis bedeuten würde?

Seine Geduld hatte sich ausgezahlt: Irgendwann kam ein schickes Auto vorgefahren, Bailey war herausgesprungen, und der Typ, der hinterm Steuer saß, war ihr so hastig gefolgt, dass er vergessen hatte, seinen Wagen abzuschließen.

Die Fahrzeugpapiere hatten im Handschuhfach gelegen, er musste die Adresse nur noch abschreiben. Und jetzt würde er seiner kleinen Schwester einen Besuch abstatten. Das Messer, mit dem er seinen Bruder getötet hatte, steckte in der Scheide an seinem Gürtel. Ein Messer war viel leiser als eine Pistole, aber genauso wirkungsvoll. Das wusste er aus Erfahrung.