10. KAPITEL

Lass dir ruhig Zeit.“

Bailey atmete tief durch und versuchte, so präzise wie möglich zu sein. „Ihre Nase ist spitzer als diese hier. Glaube ich.“

Die Phantombildzeichnerin der Polizei, Sara, war eine junge und vor allem geduldige Frau. Sehr qualifiziert sicherlich, sonst hätte Cade sie nicht bestellt. Jetzt saß sie mit ihrem Zeichenblock und einer Menge Stiften am Küchentisch, vor sich eine dampfende Tasse Kaffee.

„Eher so?“ Mit ein paar schnellen Strichen veränderte Sara die Nase in dem gezeichneten Frauengesicht.

„Ja, ich glaube schon. Die Augen sind größer und irgendwie … nach oben gezogen.“

„Mandelförmig?“ Sie fuhr mit dem Radiergummi über die Bleistiftstriche, passte Form und Größe der Augen an.

„Ich schätze schon. Es ist nicht leicht, sich das alles vorzustellen.“

„Geben Sie mir einfach einen ersten Eindruck.“ Sara lächelte freundlich. „Und dann sehen wir weiter.“

„Es kommt mir vor, als ob der Mund größer ist, weicher als der Rest. Alles andere ist ziemlich scharfkantig.“

„Was für ein Gesicht“, bemerkte Cade, während Sara weiterzeichnete. „Interessant. Sexy.“

Er studierte die Zeichnung. Eckiges Gesicht, nachlässig frisiertes kurzes Haar mit langen Ponyfransen, unter denen dunkle, dramatisch geformte Augenbrauen durchblickten. Exotisch und energisch, überlegte er, als er versuchte, dem Gesicht Charakterzüge zu geben.

„Das kommt meinen Erinnerungen ziemlich nahe.“ Bailey nahm die Zeichnung und hielt sie auf Armeslänge von sich. Ich kenne dieses Gesicht, dachte sie, und hätte am liebsten zugleich gelacht und geweint.

M.J. Wer war M.J., und was hatten sie miteinander geteilt?

„Möchtest du eine Pause machen?“, fragte Cade, während er begann, Baileys Schultern zu massieren.

„Nein, ich möchte gerne weitermachen. Wenn es Ihnen nichts ausmacht“, bemerkte sie in Saras Richtung.

„Hey, ich kann das den ganzen Tag lang machen, wenn ihr mich weiter so nett mit Kaffee versorgt.“ Grinsend hielt sie Cade ihre leere Tasse hin. Bailey vermutete, dass die beiden sich gut kannten.

„Sie … Sie haben eine interessante Arbeit“, begann Bailey.

Sara warf ihren langen rotblonden Zopf über die Schulter. Sie war lässig und zugleich sexy gekleidet, trug kurze Shorts und ein weißes Tank-Top.

„Man kann davon leben“, antwortete sie. „Die moderne Technik nimmt mir aber nach und nach die Jobs weg. Es ist erstaunlich, was man am Computerbildschirm so alles machen kann. Aber Gott sei Dank ziehen viele immer noch eine handgemachte Zeichnung vor.“ Sie nahm die Tasse Kaffee entgegen, die Cade ihr hinstreckte. „Unser lieber Mr. Parris zum Beispiel würde so ziemlich alles tun, um die Arbeit mit dem PC zu umgehen.“

„Hey, so langsam habe ich den Dreh raus!“

Sara kicherte. „Sobald das der Fall ist, werde ich mir mein Geld mit Karikaturenzeichnen in Nachtklubs verdienen.“ Sie zuckte mit den Schultern, dann nahm sie einen frischen Bleistift zur Hand. „Sollen wir es mit der anderen versuchen?“

„Gut.“ Bailey schloss die Augen und versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken, wie gut sich Cade und Sara tatsächlich kannten.

Grace. Sie ließ den Namen durch ihre Gedanken kreisen.

„Weich“, sagte sie. „Ihr Gesicht ist weich. Sehr schön, fast überirdisch. Eine ovale, klassische Form. Ihr Haar ist kohlrabenschwarz, sehr lang. Es fließt in sanften Wellen über ihren Rücken. Keine Stufen, einfach nur schwarze glänzende Seide. Ihre Augen sind groß mit schweren Lidern und langen Wimpern. Knallblaue Augen. Kurze gerade Nase. Einfach perfekt.“

„Ich beginne sie zu hassen“, meinte Sara schmunzelnd.

Bailey musste lächeln. „Es ist schwer, so irrsinnig schön zu sein, glauben Sie nicht? Die Menschen sehen immer nur das Äußere.“

„Ich denke, damit könnte ich leben. Was ist mit dem Mund?“

„Üppig. Volle Lippen.“

„War ja klar.“

„Ja, das ist gut.“ Plötzlich wurde Bailey von Aufregung erfasst. Das Bild entstand in rasender Geschwindigkeit vor ihren Augen. „Die Augenbrauen sind etwas dicker, und neben der linken ist ein kleines Muttermal. Genau hier“, sagte sie, während sie auf ihr eigenes Gesicht deutete.

„Jetzt hasse ich sie wirklich“, murrte Sara. „Ich will gar nicht erst wissen, ob sie den passenden Körper zu diesem Gesicht hat. Bitte sagen Sie, dass sie abstehende Ohren hat.“

„Nein, tut mir leid.“ Bailey lächelte die Zeichnung an, wieder fühlte sie Wärme in sich aufsteigen. „Sie ist einfach wunderschön. Man glaubt, seinen Augen nicht zu trauen.“

„Sie kommt mir bekannt vor.“

Bailey versteifte sich. „Ja? Wirklich?“

„Ich könnte schwören, dass ich dieses Gesicht schon einmal gesehen habe.“ Sara klopfte mit dem Stift auf die Zeichnung. „Vielleicht in einer Zeitschrift. Sie sieht wie ein Model aus – für Parfüm oder teure Gesichtscreme. Wenn man so ein Millionen-Dollar-Gesicht hat, wäre man ja irre, das nicht auszunutzen.“

„Ein Model.“ Bailey biss sich auf die Unterlippe, versuchte angestrengt, sich zu erinnern. „Ich weiß es einfach nicht.“

Sara riss das Blatt ab und reichte es Cade. „Was denkst du?“

„Umwerfend“, sagte er nach einem Moment. „Der liebe Gott muss bei ihrer Geburt verdammt gute Laune gehabt haben. Aber ich kenne dieses Gesicht nicht, und kein lebendiger Mann könnte es vergessen, wenn er es einmal vor sich gehabt hätte.“

Ihr Name ist Grace, dachte Bailey. Und sie ist nicht nur schön. Sie ist mehr als nur ein Gesicht.

„Gute Arbeit, Sara.“ Cade legte die beiden Zeichnungen auf die Küchentheke. „Hast du Zeit für ein weiteres Bild?“

Sara schaute kurz auf ihre Uhr. „Ich habe noch ungefähr eine halbe Stunde.“

„Der Mann, Bailey.“ Cade beugte sich vor, bis ihre Augen auf gleicher Höhe waren. „Du weißt, wie er aussieht.“

„Ich weiß nicht …“

„Du weißt es“, sagte er fest, während er ihr beruhigend über die Arme strich. „Es ist wichtig. Erzähl Sara einfach, was du gesehen hast.“

Bailey wusste, dass die Erinnerung schmerzen würde. Ihr Magen verkrampfte sich bei der bloßen Idee, sich sein Gesicht vorzustellen. „Ich möchte ihn nie wieder sehen.“

„Du möchtest aber Antworten finden. Du willst, dass es endlich vorbei ist. Das ist ein Schritt in die richtige Richtung. Und du musst ihn gehen.“

Sie schloss die Augen. In ihrem Kopf begann es zu pochen, als sie sich wieder zurückversetzte in den Raum mit dem grauen Teppich und dem dröhnenden Gewitter.

„Er ist dunkel“, begann sie leise. „Sein Gesicht ist lang, schmal. Er ist ganz starr vor Wut. Sein Mund ist verzerrt. Schmal, stark und eigensinnig. Er hat eine leichte Hakennase, aber keine hässliche. Ein sehr starkes Gesicht. Seine Augen liegen tief. Dunkel. Dunkle Augen.“

Funkelnd vor Zorn. Mordgelüste blitzten darin auf. Sie erschauerte, schlang die Arme um ihren Oberkörper und versuchte, sich weiter zu konzentrieren.

„Eingefallene Wangen und hohe Stirn. Seine Augenbrauen sind dunkel und gerade. Seine Haare auch. Voll am Oberkopf, an den Seiten sehr akkurat geschnitten. Ein attraktives Gesicht. Der Kiefer verdirbt das gute Aussehen etwas, er ist weich, ein wenig schwach.“

„Ist er das, Bailey?“ Cade legte wieder eine Hand auf ihre Schulter und drückte sanft zu.

Sie öffnete die Augen. Es war nicht ganz richtig, nicht perfekt. Die Augen hätten etwas weiter auseinander stehen müssen, der Mund etwas voller sein können. Aber die Ähnlichkeit war groß genug, um sie erzittern zu lassen.

„Ja, fast.“ Sie nahm all ihre Kraft zusammen, um sich zu erheben. „Entschuldigt mich bitte“, murmelte sie dann und verließ ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

„Die Kleine ist ziemlich verängstigt“, bemerkte Sara, während sie die Bleistifte in ihren Koffer legte.

„Ich weiß.“

„Erzählst du mir, in was für Schwierigkeiten sie steckt?“

„Ich bin mir nicht sicher.“ Cade vergrub die Hände in seinen Hosentaschen. „Aber ich werde es bald herausfinden. Das war sehr gute Arbeit, Sara. Ich schulde dir was.“

„Ich schreibe dir eine Rechnung.“ Sie ergriff ihren Koffer, stand auf und küsste ihn leicht auf die Wange. „Ich schätze, du wirst mich nicht mehr anrufen, um mit mir um die Häuser zu ziehen?“

„Ich habe mich in sie verliebt“, sagte er nur.

„Ich weiß.“ Sie berührte seine Wange. „Ich werde dich vermissen, Cade.“

„Ich bin nicht außer Landes.“

„Das stimmt. Aber unsere wilden Zeiten sind vorüber. Trotzdem, ich mag sie. Hoffentlich funktioniert das mit euch beiden.“ Mit einem letzten wehmütigen Lächeln wandte sie sich ab. „Ich finde allein raus.“

Er brachte sie trotzdem hinaus, und als er die Tür hinter ihr schloss, erkannte er, dass er in diesem Moment auch mit einem Teil seiner Vergangenheit abschloss. Mit der Freiheit, zu kommen und zu gehen, wie es ihm passte. Lange Nächte in Klubs zu verbringen und netten, bedeutungslosen Sex zu haben. Ohne Verpflichtungen. Ohne Verantwortung für irgendjemanden außer für sich selbst.

Er blickte die Treppe hinauf. Dort oben war sie. Dort oben war Verpflichtung, war Verantwortung. Sicherheit. Eine einzige Frau von jetzt bis ans Ende seines Lebens – eine Frau, die erst noch die Worte sagen musste, die er hören wollte, die erst noch versprechen musste, was er brauchte.

Noch konnte er gehen, sie würde ihm keine Vorwürfe machen. Genau genommen war es wohl sogar das, was sie von ihm erwartete. Er fragte sich, von wem sie zuvor verlassen worden war.

Mit einem Kopfschütteln, aber ohne das geringste Bedauern, stieg er die Treppe zu ihr hinauf.

Sie stand im Schlafzimmer, die Arme vor der Brust verschränkt, und sah aus dem Fenster.

„Bist du in Ordnung?“

„Ja. Entschuldige, ich war unhöflich zu deiner Freundin. Ich habe mich nicht einmal bedankt.“

„Sara versteht das schon.“

„Du kennst sie lange, oder?“

„Ja, ein paar Jahre.“

Bailey schluckte. „Ihr wart zusammen.“

Cade hob eine Augenbraue, beschloss, lieber nicht näher zu kommen. „Ja, wir waren zusammen. Ich habe andere Frauen gehabt, Bailey. Frauen, die ich mochte, die mir wichtig waren.“

Endlich drehte sie sich zu ihm um. „Es passt einfach nicht. Du und ich, Cade, wir passen nicht zusammen. Es hätte niemals passieren dürfen.“

„Es ist aber passiert.“ Er steckte die Hände in die Hosentaschen, weil er sie am liebsten zu Fäusten geballt hätte. „Willst du mir jetzt im Ernst erzählen, dass du sauer bist, weil du eine Frau getroffen hast, mit der ich zusammen war? Weil ich nicht genauso unerfahren bin wie du?“

„Nicht so leer wie ich“, zischte sie. „Du bist nicht so leer wie ich. Du hast eine Familie, du hast Freunde, du hattest Freundinnen. Ein Leben. Ich habe nichts als Puzzleteile, die nicht zusammenpassen. Es interessiert mich nicht, ob du mit zwanzig oder mit zweihundert Frauen geschlafen hast.“ Ihre Stimme überschlug sich. „Es geht darum, dass du dich an sie erinnerst!“

„Du willst hören, dass sie mir nichts bedeutet haben?“ Er wusste, dass er aus Furcht laut wurde. Furcht, weil sie dabei war, einen Rückzieher zu machen. „Natürlich haben sie mir etwas bedeutet! Ich kann meine Vergangenheit für dich nicht auslöschen, Bailey.“

„Das will ich auch nicht.“ Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, rang um Fassung. Sie hatte einen Entschluss gefasst, nun musste sie stark genug sein, ihn durchzuziehen. „Es tut mir leid. Es geht mich nichts an, wie dein Leben war, bevor du mich kanntest. Das ist auch nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass du eines hattest.“

„So wie du.“

„So wie ich.“ Sie nickte. Genau das war es, was ihr Angst machte. „Ohne dich wäre ich der Wahrheit niemals so nahgekommen. Aber jetzt ist mir klar, dass ich gleich zur Polizei hätte gehen sollen. Es nicht zu tun, hat die ganze Sache nur noch komplizierter gemacht. Und deswegen werde ich es jetzt tun.“

„Traust du mir etwa nicht zu, den Fall zu Ende zu bringen?“

„Darum geht es nicht …“

„Verdammt richtig!“, rief er. „Hier geht es nicht um die Polizei. Hier geht es um dich und mich. Du denkst, du kannst das, was zwischen uns ist, einfach ausradieren.“ Er trat auf sie zu und packte sie am Arm. „Überleg es dir!“

„Jemand wurde umgebracht. Und ich bin irgendwie darin verstrickt.“ Sie zwang sich, seinem Blick standzuhalten. „Es geht hier nicht um dich, Cade. Es geht nur um mich. Ich hätte dich niemals hineinziehen dürfen.“

„Dafür ist es jetzt zu spät. Es war in der Sekunde zu spät, in der du in mein Büro gekommen bist.“ Als er sich auf ihre Lippen stürzte, schmeckte sein Kuss nach Wut und Enttäuschung. Er hielt sie fest an sich gedrückt, ließ ihr keine Wahl, küsste sie so lange, bis sie die Hände an seine Brust stemmte.

„Nicht“, stammelte sie, als er sie hochhob. Aber auch dafür war es jetzt zu spät. Von seinem Gewicht wurde sie aufs Bett gedrückt, all ihre Nerven spannten sich an, als er sie verzweifelt zu streicheln begann.

„Es ist mir scheißegal, was du alles vergessen hast.“ Mit dunklem Blick zerrte er an ihren Kleidern. „An das hier wirst du dich erinnern.“

Er schleuderte sie aus der Gegenwart hinaus, aus Zeit und Ort, mit einer Wildheit, die ihr den Atem raubte. Seine Lippen schlossen sich um ihre Brustspitzen, jagten Schauer durch ihren Körper, mit den Händen trieb er sie erbarmungslos auf den Höhepunkt zu. Sie schrie auf, vergrub die Finger in seinem Haar, ihr Körper zuckte unter seinem. Sie öffnete sich ihm ganz und gar, nur ein Gedanke füllte sie aus: Jetzt, jetzt, jetzt.

Er stieß hart und tief in sie, spürte, wie sich ihre Muskeln verkrampften, er stieß verzweifelt zu, griff nach ihren Händen, hielt sie über ihrem Kopf zusammen, blickte ihr ins Gesicht, das Tier in ihm war ausgebrochen und riss an ihnen beiden. Er kam in sie, immer und immer wieder, bis sie seinen Namen ausstieß und ihn der letzte Rest Verstand verließ.

Schließlich brach er stöhnend über ihr zusammen. Ihr Körper erschauerte unter seinem, ein leises Wimmern drang aus ihrer Kehle. Ihre Hände lagen geöffnet und bewegungslos auf dem zerwühlten Laken. In diesem Moment setzte sein Verstand wieder ein, unbarmherzig und mit voller Wucht.

Nie zuvor hatte er eine Frau so grob angefasst. Nie einer Frau so wenig Wahl gelassen. Er machte sich von ihr los, blieb regungslos neben ihr liegen und starrte an die Decke. Angewidert von sich selbst.

„Entschuldige“, brachte er heraus. Welch erbärmliches Wort. Er setzte sich auf, rieb sich übers Gesicht. „Ich habe dir wehgetan. Dafür gibt es keine Entschuldigung.“ Und nachdem es die nicht gab, stand er auf und ließ sie allein.

Vorsichtig setzte sie sich auf, presste eine Hand auf ihr wild hämmerndes Herz. Sie fühlte sich schwach, schwindlig, konnte nicht richtig denken, sie wusste nur eines mit Sicherheit: Dass sie überwältigt war. Überwältigt von Gefühlen, von Lust, von ihm.

Und dass es fantastisch gewesen war.

Cade gab ihr Zeit, sich zu sammeln. Und nutzte diese Zeit, um seine nächsten Schritte zu überlegen. Allerdings war es nicht leicht, mit solcher Wut im Bauch zu denken. Er war schon öfter wütend gewesen. Verletzt. Beschämt. Aber als er sie jetzt die Treppe herunterkommen sah, ordentlich angekleidet und nervös, glaubte er, von seinen Emotionen zerrissen zu werden. „Bist du okay?“

„Ja, Cade, ich …“

„Du kannst tun und lassen, was du willst“, unterbrach er sie kühl. „Genau wie ich. Allerdings muss ich mich für mein Verhalten entschuldigen.“

Ihre Knie wurden weich. „Du bist böse auf mich.“

„Nein, ich bin böse auf uns beide. Aber hier geht es nicht um mich, sondern um dich. Und du willst gehen.“

„Cade, ich will nicht gehen.“ Flehend sah sie ihn an. „Aber es ist der einzige Weg. Durch mich bist du zum Komplizen geworden, und wir wissen noch nicht mal, wobei.“

„Du hast mich engagiert.“

Ungeduldig stieß sie die Luft aus. Wie konnte er nur so blind sein? „Das zwischen uns ist keine berufliche Beziehung mehr, Cade. Es war von Anfang an keine.“

„Das stimmt. Es ist viel mehr, und du wirst mich nicht aus irgendeinem falschen Schuldgefühl heraus verlassen! Wenn du aus einem anderen Grund gehen willst, dann kümmern wir uns später um diesen Grund. Später, wenn alles geklärt ist. Ich liebe dich, Bailey.“ Seine Stimme wurde noch eisiger. „Aber wenn du mich nicht liebst, wenn du mich nicht lieben kannst oder nicht lieben willst, dann muss ich damit leben. Ich werde es akzeptieren. Aber jetzt zu gehen ist nicht drin.“

„Ich will doch nur …“

„Du willst zur Polizei.“ Er schwieg einen Moment, hakte die Daumen in seine Hosentaschen, um nicht die Hände nach ihr auszustrecken. „Schön, das ist deine Entscheidung. Aber in der Zwischenzeit hast du mich engagiert, und mein Job ist noch nicht erledigt. Ganz egal, was du fühlst oder was ich fühle, ich habe vor, meine Arbeit zu beenden. Hol deine Tasche.“

Sie wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Andererseits – hatte sie es jemals gewusst? Und doch war ihr dieser kalte, zornige Mann so viel fremder als der, den sie erst vor ein paar Tagen in seinem unordentlichen Büro angetroffen hatte.

„Die Verabredung im Smithsonian“, murmelte sie.

„Die habe ich verschoben. Wir müssen zuerst woandershin.“

„Wohin?“

„Hol deine Tasche“, wiederholte er. „Ab jetzt machen wir es auf meine Weise.“

Während der Fahrt sprach er kein Wort mit ihr. Sie erkannte einige der Gebäude am Straßenrand wieder, sie waren schon einmal hier vorbeigefahren. Doch als sie aus Washington hinaus nach Maryland fuhren, begannen ihre Nerven zu flattern.

„Ich würde wirklich gerne wissen, wohin wir fahren.“ Die Bäume standen viel zu nah an der Straße. Sie waren zu grün und zu groß.

„Zurück“, sagte er nur. „Manchmal muss man einfach eine Tür aufstoßen und sehen, was sich dahinter befindet.“

„Wir sollten mit dem Kurator des Museums sprechen.“ Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie hätte ihr Leben für ein Glas Wasser gegeben. „Wir könnten umdrehen und wieder in die Stadt fahren.“

„Du weißt also, wo wir hinfahren?“

„Nein“, behauptete sie scharf. „Nein, das weiß ich nicht.“

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Die Puzzleteile sind da, Bailey.“

Er bog nach links von der Hauptstraße ab, lauschte ihrem angestrengten Atem. Er zwang sich, nicht besänftigend die Hand nach ihr auszustrecken. Sie war viel stärker, als er es sich bislang eingestanden hatte. Und sie war in der Lage, es durchzustehen. Sie konnte nicht länger in der sicheren kleinen Welt leben, die er für sie erschaffen hatte. Es war für sie beide an der Zeit, den letzten Schritt zu gehen.

Mit zusammengebissenen Zähnen bog er auf den Parkplatz der Firma Salvini ein.

„Du weißt, wo wir sind, Bailey.“

Ihre Hände waren schweißnass. Mit schnellen, rastlosen Bewegungen wischte sie sie an ihrer Hose ab. „Nein, weiß ich nicht.“

Es handelte sich um ein zweistöckiges Backsteingebäude. Alt, ziemlich hübsch, das Eingangsportal flankiert von großen, üppigen Azaleen. Das Haus war viel zu friedlich und gediegen, als dass sein Anblick Bailey Schauer über den Rücken jagen musste.

„Ich will weg hier.“ Sie wandte den Kopf und weigerte sich, auf das Schild zu sehen, auf dem in großen fetten Lettern „SALVINI“ geschrieben stand.

„Sie haben sowieso geschlossen“, fuhr sie fort. „Es ist Feiertag. Wir sollten gehen.“

„Aber auf dem Parkplatz steht ein Auto“, wandte Cade ein. „Kann doch nicht schaden, mal nachzusehen.“

„Nein!“ Sie entriss ihm ihre Hand und sank tief in ihren Sitz. „Ich gehe da nicht rein.“

„Was ist da drin, Bailey?“

„Ich weiß es nicht.“ Terror. Blanker Terror. „Ich gehe nicht rein.“

Lieber hätte er sich das Herz herausgerissen, als sie zu zwingen, diesen Schritt zu gehen. Aber sie hatten keine Wahl. Er stieg aus, ging um das Auto herum und öffnete ihr die Tür. „Ich bin bei dir. Lass uns reingehen.“

„Ich sagte bereits, dass ich da nicht reingehe.“

„Feigling.“ In seiner Stimme lag leiser Spott. „Willst du dich bis ans Ende deiner Tage verstecken?“

Wut blitzte in ihren tränenfeuchten Augen, als sie den Sicherheitsgurt aus der Verankerung riss. „Dafür hasse ich dich.“

„Ich weiß“, murmelte er, hakte sie unter und lenkte sie zum Eingang.

Drinnen war es dunkel. Durch die vergitterte Schaufensterscheibe konnte er kaum mehr erkennen als einen dicken Teppich und Glasvitrinen, in denen Gold und Edelsteine schimmerten. Es war ein kleiner, eleganter Verkaufsraum mit einigen Sesseln und Spiegeln, in denen sich die Kunden mit ihren Schätzen bewundern konnten.

Bailey stand zitternd wie Espenlaub neben ihm und sagte kein Wort.

„Versuchen wir es mit dem Hintereingang.“

Wie er es erwartet hatte, befand sich am hinteren Teil des Gebäudes der Lieferanteneingang. Cade studierte die Schlösser und befand, dass sie zu knacken waren. Aus seiner Tasche holte er ein kleines Lederetui mit Werkzeug.

„Was hast du vor?“ Erschrocken trat Bailey einen Schritt zurück. „Willst du etwa einbrechen? Das kannst du nicht machen!“

„Und ob ich das kann. Ich übe mich mindestens vier Stunden pro Woche im professionellen Schlösserknacken. Warte einen Moment.“

Es erforderte höchste Konzentration, Fingerspitzengefühl und ein paar schweißtreibende Minuten. Falls die Alarmanlage aktiviert war, würde sie losgehen, sobald er das erste Schloss geöffnet hatte. Als das nicht geschah, wechselte er das Werkzeug und widmete sich dem zweiten Schloss.

Natürlich war es denkbar, dass ein stummer Alarm ausgelöst worden war. In diesem Fall würde er der Polizei eine Menge zu erklären haben.

„Das ist verrückt.“ Bailey wich einen weiteren Schritt zurück. „Du willst am helllichten Tag in ein Juweliergeschäft einbrechen.“

„Schon passiert“, verkündete er nicht ohne Stolz. Sorgfältig verstaute er das Werkzeug wieder in seiner Tasche. „Ein solcher Laden sollte eigentlich einen Bewegungsmelder haben. Also Vorsicht.“

Er trat durch die Tür. In der Dämmerung entdeckte er die Alarmanlage. Sie war nicht aktiviert. Fast konnte er hören, wie ein weiteres Puzzleteilchen an seinen Platz fiel.

„Wie leichtsinnig“, murmelte er. „Und das bei der Einbruchsrate.“ Er nahm Bailey bei der Hand und zog sie hinein. „Niemand wird dir etwas tun, solange ich bei dir bin. Das schwöre ich dir.“

„Ich kann das nicht.“

„Und ob.“ Er hielt ihre Hand fest und schaltete das Licht an.

Vor ihnen erstreckte sich ein schmaler Raum mit abgenutztem Holzboden und schmucklosen weißen Wänden. Links standen ein Wasserspender und ein Garderobenständer aus Messing. An einem der Haken hing der graue Regenmantel einer Frau.

Letzten Donnerstag waren Gewitter vorhergesagt worden. Eine praktische Frau wie Bailey wäre niemals ohne ihren Regenmantel zur Arbeit gegangen. „Der gehört dir, nicht wahr?“

„Ich weiß nicht.“

„Er würde zu dir passen. Gute Qualität, teuer, schlicht.“ Er durchsuchte die Taschen, fand eine Rolle Pfefferminz, eine kurze Einkaufsliste und ein Päckchen Taschentücher. „Das ist deine Handschrift.“ Er hielt ihr die Liste hin.

„Ich weiß nicht.“ Sie weigerte sich, die Liste zu betrachten. „Ich kann mich nicht erinnern.“

Er steckte die Liste ein, dann schob er sie in den angrenzenden Raum.

Unverkennbar war dies das Atelier, auch wenn es etwas kleiner war als das bei Westlake. Cade erkannte die Geräte und Instrumente wieder und war überzeugt davon, dass sich in den Schränken lose Edelsteine befanden. All die vielen bunten Steine, die Bailey in ihren Träumen gesehen hatte. Steine, die sie glücklich machten, die ihre Kreativität beflügelten, die ihr Herz besänftigten.

Der Arbeitstisch war mustergültig aufgeräumt. Nichts, nicht einmal ein wenig Staub oder das winzige Glied einer Kette lagen hier herum. Dieser Raum war genau wie sie.

„Irgendjemand sorgt hier für Ordnung“, bemerkte Cade. Baileys Hand fühlte sich eiskalt an. Er drehte sich zu ihr um. „Lass uns nach oben gehen und sehen, was uns erwartet.“

Diesmal protestierte sie nicht. Sie war so starr vor Angst, dass sie kein Wort herausbrachte. Als er die Wendeltreppe mit seiner Taschenlampe anleuchtete, zuckte sie zusammen, doch er zog sie unerbittlich mit sich.

Im ersten Stock waren die Böden mit dickem grauen Teppich belegt. Bailey wurde augenblicklich übel. Auf Hochglanz polierte antike Tische standen an gut ausgewählten Plätzen. Rote Rosen verblühten in einer Silbervase. Es war, als würde der Geruch des Todes über allem schweben.

Cade stieß eine Tür auf und wusste auf den ersten Blick, dass es sich um Baileys Büro handelte. Ein hübscher, femininer Queen-Anne-Schreibtisch, darauf ein langer milchiger Kristall, an einer Seite gezackt wie die abgebrochene Klinge eines Schwertes. Er erinnerte sich daran, dass sie von einem Saphirin gesprochen hatte. Und der glatte Stein daneben musste der von Silberfäden durchzogene Quarz sein.

An den Wänden hingen einzelne Aquarellbilder in schmalen Holzrahmen. Neben einer kleinen Couch mit blassgrünem Bezug und roséfarbenen Kissen stand ein zierliches Tischchen mit einer Vase und gerahmten Fotografien darauf.

Cade nahm das erste Foto zur Hand. Sie musste ungefähr zehn Jahre alt sein, ein bisschen mager und unfertig noch, aber es waren zweifelsfrei ihre Augen, die ihn anblickten. Neben ihr lächelte eine Frau in die Kamera. Der Ähnlichkeit nach musste es sich um ihre Mutter handeln.

„Deine Vergangenheit, Bailey.“ Er griff nach einem anderen Foto. Drei junge Frauen, die Arme untergehakt, lachend. „Du, M.J. und Grace. Deine Gegenwart.“ Er stellte das Bild wieder hin, wählte ein weiteres. Ein blonder Mann, attraktiv, das Lächeln warm und selbstsicher.

Ihre Zukunft?

„Er ist tot“, stieß sie hervor. Die Worte zerrissen ihr auf dem Weg über ihre Lippen das Herz. „Mein Vater. Er ist tot. Sein Flugzeug stürzte über Dorset ab. Er ist tot.“

„Das tut mir leid.“

„Er kam eines Tages einfach nicht mehr nach Hause.“ Mit zitternden Beinen lehnte sie sich an den Schreibtisch, ihr Herz raste in ihrer Brust, als sie von den Erinnerungen überschwemmt wurde. „Er war auf Geschäftsreise und ist einfach nicht mehr zurückgekommen. Wir haben zusammen Eiscreme auf der Veranda gegessen. Er hat mir all seine Schätze gezeigt. Ich wollte so viel wie möglich lernen. Wunderschöne alte Dinge. Er roch nach Holz, Seife und Bienenwachs. Es machte ihm Spaß, die Möbel selbst aufzuarbeiten.“

„Antiquitäten“, sagte Cade leise.

„Er hat das Geschäft von seinem Vater übernommen, und ich sollte es von ihm übernehmen. Lauter wunderschöne Dinge. Er starb in England, tausende Meilen weit weg. Meine Mutter musste den Laden verkaufen. Sie musste ihn verkaufen, als …“

„Nicht so schnell. Lass es einfach kommen.“

„Sie hat wieder geheiratet. Ich war vierzehn. Sie war noch immer jung, und sie war schön. Sie wusste nicht, wie man ein Geschäft führt. Sie wollte es nicht wissen. Also kümmerte er sich drum.“

Sie taumelte leicht, fing sich wieder. Ihr Blick fiel auf den juwelenbesetzten Elefanten auf ihrem Schreibtisch. „M.J. Sie hat ihn mir zum Geburtstag geschenkt. Ist das nicht merkwürdig? Auf dem Jahrmarkt hast du mir einen Elefanten ausgesucht, und ich sammle Elefanten.“ Sie legte eine Hand über ihre Augen. „Wir haben gelacht, als ich das Geschenk aufmachte. Wir drei. M.J. und Grace und ich, vor ein paar Wochen erst. Ich habe im Juni Geburtstag. Am neunzehnten Juni. Ich bin fünfundzwanzig geworden.“

Sie warf den Kopf herum, starrte Cade in die Augen. „Ich bin fünfundzwanzig. Ich heiße Bailey James. Mein Name ist Bailey Anne James.“

Sanft drückte Cade sie aufs Sofa und nahm ihre Hand. „Freut mich, dich endlich kennenzulernen.“