6. KAPITEL

Nachtfieber

Bailey hatte es sich so gemütlich vorgestellt, wie sie sich mit einem Stapel Bücher und einer Kanne starkem Kaffee wieder an den Küchentisch setzte und den Abend mit Lesen verbrachte. Stattdessen hatte Cade sie aus dem Haus gejagt, bevor sie überhaupt wusste, wie ihr geschah.

Sie bräuchte dringend Ablenkung, behauptete er. Musik. Sie müsse ein paar Erfahrungen machen.

Und was für Erfahrungen.

Noch nie zuvor hatte sie so etwas gesehen. Zumindest glaubte sie das. Der aus allen Nähten platzende Klub im Herzen von Georgetown vibrierte vor Leben. Die Musik war so laut, dass sie ihre eigenen Gedanken nicht mehr verstehen konnte.

Cade ergatterte einen kleinen Tisch in einer der hinteren Ecken des Raumes. Er ging zur Bar, kam mit zwei Gläsern Mineralwasser zurück, setzte sich und beobachtete das Spektakel. Oder vielmehr beobachtete er Bailey, wie sie das Spektakel beobachtete.

Sie traute ihren Augen nicht. Die Gäste schienen sich entweder gar nicht zu kennen oder gut genug, um auf der Tanzfläche quasi Sex miteinander zu haben. Anders konnte man die heißen, wilden Bewegungen im Rhythmus der Musik jedenfalls nicht bezeichnen. Lichter blitzten auf, Stimmen ertönten, und kein Mensch schien irgendwelche Sorgen zu haben.

„So verbringst du also normalerweise deine Wochenenden?“ Sie musste ihm ins Ohr brüllen und war sich trotzdem nicht sicher, ob er sie verstand.

„Ab und zu.“ Eigentlich nie, dachte er, während er die alleinstehenden Frauen an der Bar musterte. Die Idee, sie hierherzubringen, war ihm spontan gekommen. Schließlich konnte nicht einmal sie unter solchen Bedingungen vor sich hin grübeln. „Das ist eine lokale Band.“ Er rutschte näher und legte einen Arm um ihre Schultern. „Purer, ehrlicher Rock. Kein Country, keine Schnulzen, einfach nur Rock. Wie findest du’s?“

Sie versuchte, sich auf den harten, pulsierenden Rhythmus zu konzentrieren. Der Sänger schrie etwas über miese Geschäfte und dunkle Machenschaften ins Mikrofon.

„Ich weiß nicht, aber ganz sicher handelt es sich nicht um die Ode an die Freude.“

Er lachte, dann nahm er ihre Hand. „Los, lass uns tanzen.“

Panik ergriff sie, ihre Hände wurden feucht, ihre Augen riesig. „Ich glaube, ich kann gar nicht …“

„Zum Teufel, Bailey. Auf der Tanzfläche ist gerade genug Platz, um vielleicht ein paar der Zehn Gebote zu brechen. Dafür muss man nicht tanzen können.“

„Ja, aber …“ Doch da zerrte er sie bereits hinter sich her, und sie konnte gar nicht zählen, wie vielen Leuten sie dabei auf die Füße trat. „Cade, ich würde lieber nur zusehen.“

„Du bist hier, um etwas zu erleben!“ Damit riss er sie in seine Arme und umfasste ihre Taille mit einer so besitzergreifenden Geste, dass ihr die Luft wegblieb. „Siehst du? Ein Gebot ist schon gebrochen.“ Er grinste und presste seinen Körper aufreizend an ihren. „Der Rest ist leicht.“

„Ich glaube, ich habe so etwas noch nie gemacht …“ Unter den blitzenden Lichtern wurde ihr ganz schwindlig.

Vermutlich hatte sie recht. Viel zu viel Unschuld lag in ihren Bewegungen und in der Art, wie ihre Wangen sich rot färbten. Sanft ließ er eine Hand über ihren Po gleiten. „Wir tanzen doch nur.“

„Ich glaube nicht, dass das Tanzen ist. Ich schätze, daran könnte ich mich erinnern.“

„Leg die Arme um mich.“ Als sie sich nicht rührte, sorgte er selbst dafür, hob ihre Arme und legte sie sich um den Hals. „Und jetzt küss mich.“

„Wie bitte?“

Sein Gesicht war ganz nahe, die Musik erfüllte ihren Kopf, besetzte ihre Gedanken. Sein Körper und all die anderen Körper, die sich von überallher an sie drängten, strahlten eine unglaubliche Hitze aus. Sie konnte nicht atmen, konnte nicht denken, und als er seinen Mund auf ihre Lippen presste, war sie vollkommen einverstanden.

In ihrem Kopf hämmerte der Backbeat. Die Luft war dick und roch nach Rauch und Parfüm und Alkohol. Sie wiegte sich in seinen Armen und öffnete die Lippen.

„Wenn wir zu Hause geblieben wären, lägen wir jetzt im Bett“, murmelte er an ihrem Mund, dann wanderte er mit den Lippen zu ihrem Ohr. Sie trug das Parfüm, das er ihr gekauft hatte. Der Duft kam ihm vertraut vor. „Ich will mit dir schlafen, Bailey. Ich will in dir sein.“

Sie schloss die Augen. Ganz bestimmt hatte niemand zuvor solche Dinge zu ihr gesagt. Diese Wonneschauer, diese wilde Angst hätte sie sicher nicht vergessen. Ihre Finger glitten zitternd in sein dichtes Haar. „Vorhin, zu Hause, da …“

„Ich weiß.“ Er zeichnete mit der Zunge die Konturen ihres Ohrs nach. „Da hätte ich mit dir schlafen können. Meinst du, das habe ich nicht gemerkt?“ Jetzt ließ er die Lippen über ihren Hals wandern. „Deswegen sind wir hier und nicht zu Hause. Du bist noch nicht bereit für das, was wir beide wollen.“

„Das ergibt keinen Sinn.“

„Wer zum Teufel interessiert sich für den Sinn?“ Er legte eine Hand unter ihr Kinn und hob ihren Kopf. „Wir sind zusammen. Hier.“ Und dann küsste er sie, bis das Blut in ihren Adern zu kochen begann. „Es kann wild sein.“ Er knabberte an ihrer Unterlippe, bis sie fast so weit war, vor ihm auf den Boden zu sinken. Dann strich er leicht mit der Zunge darüber. „Oder sanft.“ Er wirbelte sie herum, zog sie wieder in seine Arme. „Es kann einfach Spaß machen. Was immer du willst.“

Sie hatte die Hände auf seine Schultern gelegt. „Ich denke … ich denke, am sichersten ist das mit dem Spaß. Für den Anfang.“

„Dann lass uns Spaß haben.“ Er lächelte und wirbelte sie erneut ein paarmal herum. Seine Augen leuchteten auf, als sie in Lachen ausbrach.

„Du hast Unterricht genommen!“, rief sie atemlos.

„Sweetheart, ich habe öfter Foxtrott getanzt, als mir lieb ist, aber ein paar Schritte sind tatsächlich hängen geblieben.“

„Foxtrott? Mit weißen Handschuhen und Fliege?“

„So in der Art.“ Er strich über ihre Taille, weiter nach oben und berührte kurz ihre Brüste.

Plötzlich prallte sie gegen einen muskulösen Glatzkopf mit Nasenpiercing und aufreizendem Lächeln. „Tut mir leid“, begann sie, brach dann aber ab, als der Fremde sie packte und nach rechts wirbelte, hinein in eine Gruppe Tänzer, die sie für Sekunden aufnahmen in ihren gemeinsamen Rhythmus. Schließlich wurde sie lachend wieder in Cades Arme geschoben.

„Das macht Spaß!“ Es war elementar, befreiend, beinahe heidnisch. „Ich tanze!“

Ihr Gesicht leuchtete.

Cade grinste. „Sieht so aus.“

Sie wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum, in dem aussichtslosen Versuch, sich etwas Luft zuzufächeln. „Es gefällt mir.“

„Dann war das nicht dein letztes Mal.“ Die Lautstärke der Musik wurde ein wenig gedämpft, der Rhythmus verlangsamte sich zu einem gleichmäßig dröhnenden Beat.

„Na also, hier haben wir was Langsames. Jetzt kannst du dich unauffällig an mich ranmachen.“

„Ich glaube, das habe ich bereits getan.“

„Komm schon, komm näher …“ Er schob ein Bein zwischen ihre Schenkel, während er eine Hand über ihre Hüfte gleiten ließ.

„Oh Gott.“ Ihr Bauch füllte sich mit wild flatternden Schmetterlingen. „Wir müssen ein weiteres Gebot gebrochen haben.“

„Ja, mein Lieblingsgebot.“

Die Melodie war zugleich verführerisch und sentimental, ihre Stimmung veränderte sich gleichsam mit der Musik. Aus Unbeschwertheit wurde Sehnsucht. „Cade, was tun wir hier? Es ist nicht vernünftig.“ Und doch stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um seinem Gesicht näher zu sein.

„Lass uns unvernünftig sein. Nur für diesen einen Tanz.“

„Es kann nicht funktionieren“, murmelte sie an seinen Hals.

„Psst. Es funktioniert, solange wir es wollen.“

Für immer, dachte sie, und klammerte sich an ihn. „Ich bin kein unbeschriebenes Blatt, weißt du. Das Blatt ist nur vorübergehend verschwunden. Und vielleicht gefällt keinem von uns, was wir zu lesen bekommen, wenn wir es finden.“

Er konnte sie riechen, fühlen, schmecken. „Ich weiß alles, was ich wissen muss.“

Sie rückte ein wenig von ihm ab. „Aber ich nicht. Ich nicht.“ Und als sie sich ganz aus seinen Armen löste und durch die Menschenmenge von der Tanzfläche verschwand, versuchte er nicht, sie aufzuhalten.

Sie rannte auf die Toilette, wollte einfach nur kurz allein sein und wieder zu Atem kommen. Sie durfte nicht vergessen, dass ihr Leben – sosehr sie es sich auch wünschte – nicht eben erst begonnen hatte. Dass sie mehr war als die Frau, die in ein unordentliches kleines Büro geplatzt war und sich Hals über Kopf verliebt hatte.

Die Toilette war fast genauso überfüllt wie die Tanzfläche. Fremde Frauen brachten vor den Spiegeln ihr Make-up in Ordnung, sprachen über Männer, beschwerten sich über andere Frauen. Es roch nach Haarspray, Parfüm und Schweiß.

Bailey beugte sich über eines der kleinen Waschbecken und spritzte sich Wasser ins Gesicht. Da hatte sie also in einem überfüllten Nachtklub getanzt und vor Vergnügen gekreischt. Sie hatte zugelassen, dass der Mann, in den sie verliebt war, sie überall berührte, ohne darüber nachzudenken, wer sie dabei beobachten konnte.

Und als sie das Gesicht hob und ihr Spiegelbild betrachtete, wusste sie, dass nichts von all dem typisch für sie war.

So etwas zu tun war neu. So wie Cade Parris neu war. Und sie wusste nicht, ob irgendetwas davon in ihr wirkliches Leben passte. Alles geschah so schnell. Sie wühlte in ihrer Handtasche nach der Haarbürste – in der Tasche, die er ihr gekauft hatte. Alles, was sie momentan besaß, verdankte sie diesem Mann.

Was genau empfand sie ihm gegenüber? Schuld? Dankbarkeit? Lust?

Keine der Frauen, die mit ihr diesen kleinen Raum teilten, musste sich über so etwas Gedanken machen. Keine von ihnen stellte sich solche Fragen über den Mann, mit dem sie gerade getanzt hatte. Sie alle gingen einfach wieder hinaus und tanzten weiter. Oder fuhren nach Hause. Hatten Sex, wenn sie in der Stimmung dazu waren.

Reiß dich zusammen, schalt sie sich und begann, mechanisch ihr Haar zu bürsten. Es wird höchste Zeit, wieder Vernunft anzunehmen und logisch zu denken! Ruhig. Gerade als sie die Bürste in die Tasche zurückstecken wollte, spazierte eine langbeinige Frau mit kurzen roten Haaren und Sonnenbrille herein. „Dieser Vollidiot hat tatsächlich meinen Hintern getätschelt!“, erzählte sie niemand Bestimmtem, betrat eine Kabine und knallte die Tür hinter sich zu.

Plötzlich verschwamm alles um Bailey herum. Ihr wurde so schwindlig, dass sie sich am Waschbecken festhalten musste. Sie beugte sich vor und rang verzweifelt nach Luft.

„Hey, alles klar?“ Jemand klopfte ihr auf den Rücken.

„Ja, mir ist nur etwas schwindlig. Mir geht’s gut.“ Mit beiden Händen spritzte sie sich wieder und wieder kaltes Wasser ins Gesicht.

Als sie den Eindruck hatte, dass ihre Beine sie wieder tragen würden, schnappte sie sich ein paar Papierhandtücher und trocknete sich das Gesicht. Dann stakste sie unsicher wie eine Betrunkene aus der Toilette und hinein in den brüllenden Lärm des Klubs.

Sie wurde angerempelt und gestoßen, irgendjemand bot ihr einen Drink an. Sie lief weiter, ohne irgendetwas wahrzunehmen außer blendendes Licht und gesichtslose Körper. Als sie Cade erreichte, war sie weiß wie ein Leinentuch. Er stellte keine Fragen, hob sie unter Beifallklatschen einiger Gäste auf seine Arme und trug sie nach draußen.

„Tut mir leid. Mir ist schwindlig geworden.“

„Es war eine blöde Idee.“ Er ärgerte sich über seinen Einfall, sie in einen zweitklassigen Nachtklub zu schleppen. „Ich hätte dich niemals herbringen dürfen.“

„Nein, das war eine fantastische Idee! Ich bin froh, dass wir hier waren. Ich brauche nur etwas frische Luft.“ Erst jetzt bemerkte sie, dass er sie auf den Armen trug, wofür sie ihm dankbar war und sich zugleich schämte. „Lass mich runter, Cade. Mir geht es gut.“

„Ich bringe dich nach Hause.“

„Nein, können wir uns nicht einfach irgendwo hinsetzen? Einfach nur hinsetzen und etwas ausruhen?“

„Klar.“ Er stellte sie auf die Füße. „Weiter unten ist ein Café. Wir können uns nach draußen setzen und einen Kaffee trinken.“

„Gut.“ Sie hielt sich an seiner Hand fest. Der tiefe Bass aus dem Nachtklub dröhnte auf die Straße.

Das Café war fast genauso gut besucht wie der Klub. Die Kellner rasten nur so durch die Gegend, um Espresso, Weißwein oder geeiste Fruchtsäfte zu servieren.

„Ich habe dich ziemlich heftig angegraben“, begann er, während er zwei Stühle für sie zurechtrückte.

„Ja, allerdings. Ich fühle mich geschmeichelt.“

Er setzte sich ihr gegenüber. „Du fühlst dich geschmeichelt?“

„Ja. Ich habe vielleicht meine Erinnerung verloren, aber deswegen bin ich noch lange nicht bescheuert.“ Die Luft, so warm und feucht sie auch sein mochte, war herrlich. „Du bist ein unglaublich attraktiver Mann. Und wenn ich mich hier so umsehe …“ Genau das tat sie jetzt, ließ den Blick über die kleinen Tische unter der grünen Markise wandern. „… überall schöne Frauen, egal ob hier draußen oder vorhin im Klub. Aber du hast mich gewollt, und das finde ich schmeichelhaft.“

„Das ist nicht gerade die Reaktion, die ich mir erhofft habe“, bemerkte er lächelnd. „Aber ich schätze, für’s Erste ist es genug.“ Er sah zu dem Kellner auf, der an ihren Tisch getreten war. „Cappuccino?“, fragte er in Baileys Richtung.

„Ja, gerne.“

„Mit oder ohne Koffein?“, erkundigte sich der Kellner.

„Zweimal mit.“ Cade beugte sich zu Bailey vor. „So langsam kommt wieder etwas Farbe in dein Gesicht.“

„Ich fühle mich schon viel besser. Da kam so eine Frau in die Damentoilette …“

„Hat sie dir Ärger gemacht?“

„Nein!“ Gerührt von seinem offensichtlichen Bedürfnis, sie zu beschützen, legte sie ihre Hand auf seine. „Mir war nicht so gut, und in diesem Moment kam sie herein. Oder besser gesagt: Sie marschierte herein.“ Sie verzog die Lippen zu einem Lächeln. „Eine Sekunde lang dachte ich, ich würde sie kennen.“

„Du hast sie wiedererkannt?“

„Nein, nicht direkt, obwohl ich dachte … nein, es geht wohl eher um ihren Typ. Groß, arrogant, auffallend. Eine große Rothaarige in knallengen Jeans.“ Sie schloss kurz die Augen, atmete tief ein und öffnete sie wieder. „M.J.“

„Das war die Abkürzung auf dem Zettel in deiner Tasche, erinnerst du dich?“

„Es ist irgendwo da drinnen.“ Bailey massierte sich die Schläfen. „Hier in meinem Kopf. Es ist wichtig, aber ich kann mich einfach nicht darauf konzentrieren. Da gibt es diese Frau, und sie ist ein Teil meines Lebens. Und, Cade, irgendwas stimmt nicht mit ihr.“

„Du meinst, sie steckt in Schwierigkeiten?“

„Ich weiß es nicht. Wenn ich an sie denke, wird mir ganz warm ums Herz. Vollkommenes Vertrauen. Und trotzdem spüre ich, dass etwas nicht stimmt. Und dass es meine Schuld ist. Es muss meine Schuld sein.“

Er schüttelte den Kopf. „Sag mir, was du siehst, wenn du an sie denkst. Versuch dich zu entspannen und sag es mir.“

„Kurzes dunkelrotes Haar, scharfe Gesichtszüge. Grüne Augen. Oder vielleicht verwechsle ich das jetzt mit dir? Nein, ich denke, sie hat grüne Augen, dunkler als deine. Ich könnte ihr Gesicht fast malen. Wenn ich malen könnte.“

„Vielleicht kannst du das.“ Er zog Block und Stift aus seiner Tasche. „Versuch’s mal.“

Sie biss sich auf die Lippen und versuchte, dieses dreieckige, scharfe Gesicht zu zeichnen. Als der Kaffee kam, legte sie den Stift beiseite und seufzte. „Wir können wohl feststellen, dass ich keine Künstlerin bin.“

„Dann suchen wir uns eine.“ Schmunzelnd betrachtete er das armselige kleine Kunstwerk. „Das hätte selbst ich noch besser hinbekommen. Denkst du, du könntest ihr Gesicht beschreiben?“

„Vielleicht. Ich sehe ihr Bild allerdings nicht ganz klar. Es ist, als ob man versucht, das Objektiv einer Kamera scharf zu stellen, aber es funktioniert nicht.“

„Phantombildzeichner bei der Polizei können die Einzelheiten ziemlich gut zusammensetzen.“

Kaffee schwappte über den Rand ihrer Tasse. „Polizei? Müssen wir zur Polizei gehen?“

„Nicht offiziell, keine Sorge. Vertrau mir.“

„Das tue ich.“ Das Wort Polizei schrillte noch immer alarmierend in ihren Ohren. „Das werde ich.“

„Wir haben etwas, womit wir arbeiten können. Wir wissen, dass M.J. eine Frau ist, eine große Rothaarige. Mary Jane, Martha June, Melissa Jo. Mit ihr warst du in der Wüste.“

„Sie war in meinem Traum.“ Sonne und Himmel und Steine. Zufriedenheit. Angst. „Wir waren zu dritt in dem Traum, aber das Bild wird einfach nicht klar.“

„Nun, mal sehen, ob wir eine Zeichnung zustande bringen. Damit könnten wir was anfangen.“

Sie starrte in ihren Kaffee. „Bei dir klingt das alles so einfach.“

„Es sind nur einzelne Schritte, Bailey. Wir nehmen einen nach dem anderen und sehen, wohin der Weg uns führt.“

Sie nickte, ohne aufzusehen. „Warum hast du eine Frau geheiratet, die du nicht liebst?“

Er zuckte leicht zusammen, verschränkte die Arme vor der Brust und stieß den Atem aus. „Nun, das nenne ich mal einen Themenwechsel.“

„Entschuldige. Ich weiß nicht, warum ich gefragt habe. Es geht mich nichts an.“

„Ich weiß nicht. Unter den gegebenen Umständen scheint mir die Frage berechtigt.“ Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. „Ich könnte behaupten, dass ich einfach keine Lust mehr hatte, mich dem Druck meiner Familie auszusetzen. Aber das wäre gelogen. Niemand hat mir die Pistole auf die Brust gesetzt, und ich war alt genug.“

Dieses Geständnis war ihm unangenehm. Aber um Bailey gegenüber ehrlich zu sein, musste er der Wahrheit ins Gesicht blicken. „Wir haben uns hinreichend gemocht.“

„Tut mir leid, Cade.“ Sie spürte, wie unbehaglich ihm zumute war. „Du musst nicht darüber reden.“

„Im Bett hat es gut geklappt“, fuhr er fort. Er ließ sie nicht aus den Augen, als sie in sich zusammensank. „Bis zum Schluss war der Sex gut. Das Problem war, dass nach fast zwei Jahren nur noch die Lust eine Rolle spielte und nicht mehr das Herz.“ Sie waren zwei gelangweilte Menschen gewesen, die zufällig unter demselben Dach wohnten. „Darauf lief es letztendlich hinaus. Es gab keinen anderen Mann, keine andere Frau. Keine leidenschaftliche Auseinandersetzung über Geld, Karriere, Kinder, den Abwasch. Und als uns schließlich alles egal war, wurde es unschön. Als die Anwälte ins Spiel kamen, sogar richtig unschön. Und dann war es vorbei.“

„Hat sie dich geliebt?“

„Nein.“ Er runzelte die Stirn, starrte ins Leere und zwang sich, weiterhin ehrlich zu sein. Die Antwort war traurig und beschämend. „Nein, sie hat mich genauso wenig geliebt wie ich sie. Und keiner von uns hat sich die Mühe gemacht, daran etwas zu ändern.“

Er zog ein paar Scheine aus seiner Geldbörse, legte sie auf den Tisch und stand auf. „Lass uns nach Hause gehen.“

„Cade.“ Sie berührte ihn am Arm. „Du hast etwas Besseres verdient.“

„Klar.“ Er blickte hinunter auf ihre Hand. „Und sie hat auch etwas Besseres verdient. Aber dafür ist es jetzt zu spät.“ Er hob ihre Hand, der Ring an ihrem Finger funkelte. „Man kann eine Menge Dinge vergessen, Bailey. Aber kann man auch vergessen, dass man jemanden geliebt hat?“

„Bitte nicht …“

Nein, er konnte jetzt keinen Rückzieher machen! „Wenn dir ein Mann diesen Ring angesteckt hat, ein Mann, den du geliebt hast, könntest du das vergessen? Könntest du?“

„Ich weiß es nicht.“ Sie riss sich los, sprang auf und lief die Straße hinunter. Als er sie einholte und herumwirbelte, blitzte es in ihren Augen zugleich wütend und unsicher. „Ich weiß es nicht, Cade!“

„Du könntest es nicht vergessen. Nicht, wenn es dir wichtig wäre. So wichtig wie das hier!“

Er presste sie gegen ein parkendes Auto, stürzte sich auf ihre Lippen und küsste sie voller Zorn und Leidenschaft. Er hatte keine Geduld mehr, spürte nur noch rohes Verlangen. Er wollte sie schwach sehen, genauso verzweifelt, wie er selbst sich in diesem Moment fühlte.

Panik stieg in ihr auf, ihre Kehle schnürte sich zu. Sie konnte sich gegen seine hitzige Leidenschaft nicht wehren, war aber auch nicht in der Lage, sie zu erwidern. Schließlich gab sie sich geschlagen, ohne nachzudenken und doch sicher, dass er ihr nicht wehtun würde.

Sie zitterte, was ihn noch mehr aufbrachte, was ihn beschämte. Bestimmt tat er ihr weh. Fast war es das, was er wollte, denn dann würde sie sich wenigstens an ihn erinnern. An Schmerz erinnert man sich.

Und er wusste, es würde ihn umbringen, wenn sie ihn vergäße.

Plötzlich ließ er sie abrupt los, trat einen Schritt zurück und starrte sie an. Schutzsuchend verschränkte sie die Arme vor der Brust. Musik und Stimmengewirr drangen auf die Straße, während sie bewegungslos vor ihm stand wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

„Es tut mir leid.“

„Cade, ich …“

Abwehrend hob er die Hände. Er verlor nur selten die Fassung, doch er wusste, dass es jetzt keinen Sinn hatte, darüber nachzudenken. „Entschuldige“, wiederholte er. „Ist mein Problem. Ich bringe dich nach Hause.“

Nachdem sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen und das Licht ausgeknipst hatte, ging er hinaus in den Garten, legte sich in die Hängematte und sah zu ihrem Fenster hinauf. Nicht die Wahrheit über seine Vergangenheit hatte ihn so zornig gemacht – er kannte die Höhen und Tiefen, all die Fehltritte und Dummheiten, die er sich geleistet hatte. Nein, es lag an den Ringen an ihren Fingern und an der Vorstellung, dass ein Mann sie ihr angesteckt hatte. Ein Mann, der nur darauf wartete, dass sie sich wieder erinnerte.

Es ging nicht um Sex. Sex war leicht. Sie hätte an diesem Abend mit ihm geschlafen, das wusste er. Er spürte, dass sie sich mittlerweile genauso zu ihm hingezogen fühlte, wie er sich zu ihr. Im Nachhinein betrachtet war er ein Idiot, dass er das nicht einfach ausnutzte.

Aber er wollte mehr. Viel mehr.

Er wollte Liebe, und das war vollkommen unvernünftig. Bailey war entwurzelt, verängstigt und steckte ganz offenbar in Schwierigkeiten, von denen er keinen blassen Schimmer hatte. Und doch wollte er, dass sie sich in ihn verliebte, genauso schnell und umfassend wie er sich in sie.

Ganz und gar nicht vernünftig.

Aber hier ging es nicht um Vernunft!

Er würde ihren Drachen erschlagen, koste es, was es wolle. Und danach würde er gegen alles kämpfen, was sich ihm in den Weg stellte. Auch wenn es sich dabei um Bailey selbst handelte.

Er schlief ein und träumte von Drachen und schwarzen Rittern und einer Jungfrau mit goldenem Haar, die in einem hohen Turm saß und blaue Diamanten aus Stroh spann.

Bailey träumte ebenfalls. Sie träumte von Gewitter und Terror und wie sie durch die Dunkelheit rannte, die Macht der Götter fest in Händen.