23. Kapitel
Friedrich Gottschalk lag mit nacktem Oberkörper auf einem Tisch in der Mitte des kleinen Raumes. Er hatte die Augen geschlossen, sein Gesicht war schmerzverzerrt, und das war kein Wunder, denn der Waldschrat hatte seinen Arm mit beiden Händen gepackt und verbog ihn so brutal, dass mir die Luft wegblieb. Ich drehte mich um und presste mich an die Hauswand. Wieder stieß Tims Opa einen entsetzlichen keuchenden Schrei aus. Was sollte ich bloß tun? Das bärtige Ungeheuer würde ihn töten und dann in der Grube am Waldrand begraben! Mein Handy lag daheim in meiner Schreibtischschublade und bei diesem Wetter war weit und breit keine Menschenseele im Wald unterwegs. Ich konnte nicht zulassen, dass vor meinen Augen ein Mann ermordet wurde, aber wenn der Bärtige mich sah, war ich meines Lebens nicht mehr sicher.
Meine Gedanken rasten.
Aus dem Innern des Hauses drang wieder ein dumpfer Schrei, gefolgt von einem so unmenschlichen Stöhnen, dass es mir eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Wenn es mir gelang, den Waldschrat aus dem Haus zu locken, konnte Friedrich Gottschalk womöglich fliehen. Ich war ziemlich schnell, bei den letzten Bundesjugendspielen im Sommer hatte ich die hundert Meter in 12,8 Sekunden geschafft. Entschlossen ballte ich die Hände zu Fäusten, holte tief Luft und wandte mich wieder dem Fenster zu. Der Waldschrat hatte Gottschalks Kopf ergriffen und drehte ihn ruckartig, erst nach links, dann nach rechts. Er würde ihm das Genick brechen, wenn ich jetzt nicht irgendetwas unternahm.
»Hören Sie auf!«, schrie ich also und hämmerte mit der Faust gegen das Fenster. »Ich hole die Polizei!«
Der Waldschrat ließ von seinem Opfer ab, fuhr herum und starrte mich aus glühenden schwarzen Augen an. Mist, jetzt hatte er mich auch noch gesehen! Ich rannte los, so schnell ich konnte. Hinter mir flog die Haustür auf, krachte gegen die Hauswand und helles Licht überflutete die Veranda.
Und dann ging alles blitzschnell. Ich übersah in meiner Panik die letzte Treppenstufe der Veranda und stolperte. Ein höllischer Schmerz zuckte durch meinen Knöchel. Hinter mir polterten Schritte die Treppe hinunter, riesig und bärtig stand der Waldschrat vor mir. Ich kam auf die Beine, flüchtete hinkend, was natürlich völlig sinnlos war. Mein Herz raste, mir brach der Schweiß aus.
»Du warst doch schon einmal hier«, sagte er und seine tiefe Stimme klang drohend. »Jetzt warte doch!«
Ich dachte nicht daran! Keuchend vor Angst humpelte ich weiter. Wieso packte er mich nicht? Es wäre für ihn doch ein Leichtes, mich einzuholen.
Plötzlich rutschte ich aus und fiel auf den harten Boden. Meine Finger gruben sich in die nasse Erde, und da begriff ich, was er vorhatte. Keine fünf Meter von mir gähnte das frisch ausgehobene Grab. Leichter hatte ich es dem Waldschrat nicht machen können! Er musste mich nur noch hineinstoßen, das Loch zuschaufeln, Fritzi an seine Pferdediebkollegen verschachern und niemals würde jemand erfahren, was mit mir passiert war. Schlagartig liefen mir die heißen Tränen über das Gesicht. Ich dachte an Papa und Mama, die halb verrückt vor Kummer sein würden. Ich dachte an Melike und an… Tim!
»Bitte, bitte töten Sie mich nicht!«, schluchzte ich. Wimmernd krümmte ich mich zusammen und schloss die Augen, als er sich nun über mich beugte.
»Ganz ruhig. Ich tue dir nichts.«
Ich starrte den Waldschrat angsterfüllt an. Das Herz schlug mir bis zum Hals, ich zitterte am ganzen Körper. Der Regen wehte schräg durch das grelle Licht, das der Strahler auf den Hof warf.
»Komm schon, steh auf!« Der Waldschrat hielt mir die Hand hin. »Du holst dir doch den Tod, wenn du hier im Regen auf dem Boden liegen bleibst.«
Ich schob mich Richtung Törchen, aber mein Fuß tat so weh, dass ich aufkeuchte.
»Ich tue dir nichts«, versicherte der Bärtige. »Na, komm schon!«
Zögernd ergriff ich seine ausgestreckte Hand und ließ mir auf die Beine helfen. Mit einem Schmerzensschrei sackte ich wieder zusammen. Bevor ich mich dagegen wehren konnte, hob mich der Waldschrat hoch und trug mich durch den strömenden Regen zum Haus hinüber, als sei ich nicht schwerer als eine Feder. Ich kniff die Augen zusammen und fragte mich, ob ich das vielleicht alles nur wieder einmal träumte. Holz knarrte, ich hörte dumpfe Schritte, und endlich traute ich mich, die Augen aufzumachen. Auf der Veranda vor der geöffneten Tür stand Friedrich Gottschalk. Sein weißes Haar leuchtete im hellen Licht.
»Lassen Sie mich runter«, murmelte ich benommen.
Der Waldschrat blieb stehen und stellte mich auf meine Füße.
»Autsch!« Mit dem rechten Fuß konnte ich nicht auftreten.
»Du hast dir wohl den Knöchel verletzt, als du eben hingefallen bist«, sagte der Waldschrat hinter mir. Ich wagte nicht, ihn anzusehen. Noch immer zitterte ich wie Espenlaub.
»Sag mal, was machst du denn hier allein im Wald?«, fragte nun Friedrich Gottschalk und blickte mich prüfend an. »Und was hast du da eben gerufen? Warum wolltest du die Polizei holen?«
»Ich … ich hab Schreie gehört«, flüsterte ich. »Und … und dann hab ich durchs Fenster geguckt … Ich dachte, er … er wollte Sie umbringen!«
Zu meinem Erstaunen fing er an zu lachen. Ich blinzelte in die Helligkeit und kapierte gar nichts mehr. Wie konnte er so lässig hier herumstehen und lachen, nachdem der Waldschrat eben versucht hatte, ihn zu ermorden? Wusste er gar nichts von dem Grab?
»Na, jetzt komm erst mal rein«, sagte Tims Opa. »Du bist ja völlig durchnässt.«
Ins Haus des Pferdediebes? Auf gar keinen Fall! Flüchten konnte ich aber auch nicht, deshalb musste ich auf Mitleid hoffen.
»Nein«, piepste ich. »Ich muss nach Hause.«
»Wie willst du denn nach Hause kommen? Du kannst ja kaum laufen.«
»Mein … mein Pferd steht da draußen«, hauchte ich und wagte das erste Mal aufzublicken.
»Lajos, was sagst du dazu?« Die ganze Situation schien Friedrich Gottschalk, dem ich heldenhaft das Leben hatte retten wollen, königlich zu amüsieren. Er lachte und lachte, und ich wäre am liebsten vor Scham im Erdboden versunken. Aber mein Mut kehrte zurück, wenigstens ein winziger Teil davon.
»Ich hab dahinten ein ganz frisch ausgehobenes Grab gesehen«, verteidigte ich mich trotzig. »Und Sie haben geschrien wie am Spieß. Ich dachte, wenn er schon gestohlene Pferde hier versteckt, dann bringt er vielleicht auch jemanden um.«
Der Waldschrat, den Gottschalk Lajos genannt hatte, stieß einen tiefen Seufzer aus und schüttelte den Kopf. Er lachte nicht. Im Gegenteil, er sah sogar fast ein bisschen traurig aus.
»Gestohlene Pferde?«, fragte Tims Opa und hob die Augenbrauen. »Das musst du uns aber jetzt mal etwas genauer erklären. Komm rein.«
Da ich keine Chance zur Flucht hatte, gab ich mich geschlagen und humpelte an den beiden Männern vorbei ins Haus.
»Wo steht dein Pferd?«, fragte der Waldschrat, der aus der Nähe und bei hellem Licht betrachtet gar nicht mehr so unheimlich aussah. Er war auch längst nicht so alt, wie ich angenommen hatte.
»Hinten, an dem kleinen Törchen.«
»Ich bringe es in den Stall, dann schaue ich mir deinen Fuß an.« Er wandte sich zur Tür.
»Nein!«, rief ich. »Fritzi lässt sich nicht von Fremden anfassen, und von Männern schon gar nicht!«
»Lass Lajos mal machen«, sagte Friedrich Gottschalk. »Komm, setz dich her und zieh deinen Stiefel aus.«
Unsicher setzte ich mich auf einen Stuhl, öffnete den Klettverschluss des Chaps und zog meinen Schuh aus. Es tat tierisch weh. Der Waldschrat war hinausgegangen und ich wartete ängstlich auf einen Schrei und wildes Gewieher von Fritzi, aber es blieb ruhig.
»Weißt du«, Friedrich Gottschalk ließ sich mit einem Ächzen auf dem anderen Stuhl nieder, »du hast wohl etwas missverstanden. Lajos besitzt ein sehr ungewöhnliches Talent: Er kann Pferde und Menschen einrenken und heilen, wenn sie Schmerzen haben. Und das hat er eben mit mir gemacht. Bei diesem Wetter macht mir mein Ischias schlimm zu schaffen und Lajos hilft mir immer. Besser als jeder Arzt mit Spritzen und Tabletten.«
Ich saß da wie ein begossener Pudel und senkte beschämt den Kopf. Melike und ich hatten wohl wirklich alles gründlich falsch verstanden. Friedrich Gottschalk erzählte, dass von überall her Leute mit ihren Pferden zu Lajos kamen, denen die Schulmedizin nicht mehr helfen konnte. Lajos mit den goldenen Händen war ihre letzte Hoffnung und ein Geheimtipp.
»Aber warum versteckt er sich hier im Wald?«, wagte ich zu fragen.
»Er versteckt sich doch nicht.« Friedrich Gottschalk schüttelte den Kopf. »Ich kenne ihn von früher, als er noch hier gewohnt hat. Das Forsthaus gehört mir und ich habe es ihm vermietet, damit er hier wohnen und arbeiten kann, bis er etwas Besseres findet.«
Das wurde ja alles immer peinlicher.
Die Tür ging auf, der Waldschrat kehrte zurück. Seine wilde dunkle Haarmähne war klatschnass.
»Was ist mit Fritzi?«, fragte ich. »Hat er sich von Ihnen anfassen lassen?«
»Jedes Pferd lässt sich von mir anfassen«, erwiderte der Waldschrat und lächelte kurz. »Ich habe ihn in eine der Boxen gestellt. Und jetzt zeig mir mal deinen Fuß.«
Er kniete sich vor mir hin, nahm meinen rechten Fuß in die Hand. »Nur ausgerenkt«, sagte er leise und blickte hoch.
Ich hatte ihm Unrecht getan. Er hatte aus der Nähe betrachtet überhaupt nichts Finsteres an sich, seine dunklen Augen waren sogar richtig freundlich.
»Wenn du kurz die Zähne zusammenbeißt, renke ich ihn dir wieder ein.«
Ich schloss die Augen. Es machte »Knack!« in meinem Knöchel, und bevor ich »Aua« schreien konnte, war der Schmerz weg.
»Danke«, flüsterte ich und bewegte den Fuß probehalber hin und her.
»Gern geschehen.« Der Waldschrat erhob sich.
»Es tut mir leid, dass ich dachte, Sie wären … ein Pferdedieb. Und dass Sie den Herrn Gottschalk umbringen und beerdigen wollten.«
Da zuckte ein kurzes Lächeln über das Gesicht des Waldschrats. »Wenn ich’s recht überlege, macht das alles schon einen ziemlich verdächtigen Eindruck.« Er betrachtete mich nachdenklich und legte den Kopf schief. »Du warst neulich schon mal hier, nicht wahr? Mit einem anderen Mädchen auf einem weißen Pony, stimmt’s?«
»Ja.«
»Woher kennst du mich eigentlich?«, mischte sich Friedrich Gottschalk ein. »Du hast uns deinen Namen noch gar nicht verraten.«
»Ich heiße Elena. Elena-Marie Weiland.«
Der Waldschrat erstarrte und schaute mich ganz komisch an.
»Weiland?«, vergewisserte er sich. »Vom Amselhof in Steinau?«
»Dann bist du die kleine Enkelin vom Ludwig«, sagte Friedrich Gottschalk.
Ich nickte und bemerkte den raschen Blick, den Gottschalk und der Waldschrat wechselten.
»Wieso?«, fragte ich.
»Ach, nur so.« Der Waldschrat lächelte wieder.
»Allmählich wird mir so einiges klar. Dann verdankst du wohl auch den Besuch von der Polizei den beiden jungen Damen«, sagte Tims Opa zum Waldschrat. Nein, zu Lajos, verbesserte ich mich in Gedanken.
Peinlich, peinlich die ganze Geschichte! Hätte ich mich irgendwie in Luft auflösen können, dann hätte ich es spätestens jetzt getan, aber ich gestand alles und ließ eine langatmige, leicht verworrene Erklärung folgen.
»… und deshalb waren meine Freundin und ich sicher, dass Sie mit dem Waldschrat unter einer Decke stecken«, schloss ich schließlich.
»Mit wem?«, fragte Lajos irritiert nach.
»Äh, Entschuldigung«, murmelte ich und wurde knallrot. »Aber mit dem Bart … und weil Sie hier mitten im Wald wohnen …«
»Da hast du’s!« Friedrich Gottschalk lachte. »Du solltest dich wirklich mal wieder rasieren.« Er schien das alles rasend komisch zu finden, selbst den Polizeieinsatz.
Lajos sah allerdings eher traurig aus. »Auf jeden Fall habt ihr Mädchen Mumm«, sagte er. »Aber warum habt ihr die Polizei angerufen und nicht einfach euren Eltern Bescheid gesagt?«
»Weil die nicht wissen dürfen, dass wir allein in den Wald reiten«, gab ich zu und stand auf. »Ich muss jetzt auch nach Hause. Sonst krieg ich einen Riesenärger.«
»Es ist wohl das Beste, wenn dein Pferd heute Nacht hier bei Lajos bleibt«, sagte Friedrich Gottschalk und blickte auf seine Uhr. »Ich fahre dich zum Amselhof, bevor sich deine Eltern Sorgen machen.«
Erst da fiel mir wieder ein, dass meine Vorsicht unnötig war. Mama war ganz sicher noch nicht zu Hause, mittwochs wurde es bei ihr immer später, und Papa war mit Christian unterwegs. Wahrscheinlich hatte überhaupt noch niemand gemerkt, dass ich nicht daheim war.
»Nein, nein«, lehnte ich ab. »Ich kann schon wieder reiten.«
»Aber es ist bereits dunkel«, wandte Lajos besorgt ein. »Lass doch dein Pferd bei mir im Stall und hol es morgen ab.«
Unmöglich. Wie sollte ich erklären, dass Fritzi nicht in seiner Box stand?
Ich quetschte meinen Fuß wieder in den Schuh und schnallte mir den Chap um die Wade. Nachdem ich Friedrich Gottschalk das Versprechen abgenommen hatte, meinem Opa kein Sterbenswörtchen zu verraten, ging Lajos mit mir in den Stall. Fritzi wieherte fröhlich, als er mich kommen sah.
Lajos sah mir zu, wie ich trenste und sattelte, und als ich aufsitzen wollte, hielt er mein Pferd, das sich normalerweise von keinem Fremden anfassen ließ, am Zügel fest.
»Sind Sie ein Zauberer?«, fragte ich Lajos überrascht.
Da lächelte er. »Das nicht. Aber ich kann ganz gut mit Pferden«, sagte er. »Besser als mit den meisten Menschen auf jeden Fall. Wenn du magst, kannst du mich mal mit deiner Freundin besuchen. Tagsüber.«
Er zwinkerte mir zu, und ich fragte mich, wie ich vor ihm hatte Angst haben können.
»Ja, gern«, erwiderte ich. »Und danke, dass Sie nicht sauer sind.«
»Ist schon okay. Jetzt reite los. Sei vorsichtig!«