35

Es würde ein Massaker.

Louis saß an der Gefechtsstation und ließ wie auf Autopilot eine weitere Gefechtsübung ablaufen. Dieses Mal basierte die Übung auf zweiunddreißig Drohnen. Mittlerweile war ihre Anzahl auf vier geschrumpft. Bei seinen verstohlenen Blicken zum Taktik-Display hinüber sah er, dass der Kurs der Gw’oth-Armada, dort als gestrichelte Linie dargestellt, nur noch zwei Sprünge von dem Punkt entfernt war, an dem die Gw’oth wahrscheinlich die größte Annäherung zu Hearth hätten. Vom Angriffspunkt also.

Und das war allein seine Schuld. Hätte er sich doch nie mit der Pak-Bibliothek befasst! Ohne diesen Fusionssuppressor wäre ein Angriff wie dieser gar nicht möglich.

Aber da gab es ja immer noch genügend andere Waffen, andere Angriffsmöglichkeiten, andere bösartige, unmoralische Pläne, nicht wahr? Schließlich wusste Louis doch nur zu genau, dass Achilles niemals aufgeben würde! Ach, tanj, das war doch nur, wie Louis sich eingestand, ein nutzloser Rationalisierungsversuch, mehr nicht. Dieser Angriff war und blieb seine Schuld. All die, die dieser Angriff das Leben kosten würde, gingen auf sein Konto, und ihr Tod würde auf seinem Gewissen lasten. Louis stand von seiner Konsole auf.

»He da«, rief Enzio, »wohin denn so eilig?«

Louis hielt sich die Hand vor den Mund. »Mir ist schlecht. Muss mich übergeben.«

»Ich übernehme«, sagte Rogers und verließ seine Station.

»Dann los, Wu!«, entschied Walker-Wong.

Louis stürmte von der Brücke, als wollte er zum Recycler laufen. Stattdessen rannte er drei Decks weiter nach achtern und schlich durch einen verlassenen Gang. Abgesehen von der Brücke, dem Maschinenraum und den Mannschaftsquartieren war das riesige Schiff praktisch leer. Die gesamte Besatzung der Remembrance bestand aus vielleicht fünfundzwanzig Bürgern, dazu kamen die Söldner, die völlig mit ihren Einsatzübungen beschäftigt waren.

Unruhig tigerte Louis hin und her, und es drehte ihm tatsächlich den Magen um. Da steckte er wieder in derselben Scheiß-Situation, genau wie auf Wunderland. Nur dass über ihm keine Vögel kreisten, die er zur Warnung hätte abschießen können. Er musste die Gw’oth warnen, musste dafür sorgen, dass sie die Remembrance ohne Zwischenfall passierten! Um eine Nachricht abzusetzen, bräuchte er das Hyperwellen-Funkgerät, und das war unmöglich. Nie hatte er weniger als sechs Puppenspieler gleichzeitig auf der Brücke gesehen, und je näher die Gw’oth kamen, desto häufiger ließ Enzio die New Terrans auf der Brücke trainieren. Die Addison verfügte über ein Hyperwellen-Funkgerät. Aber Achilles hatte seine Ingenieure und Techniker überall auf dem kleinen Schiff. Soweit Louis wusste, installierten sie gerade eine Tarnvorrichtung, statteten eine der Kabinen mit allen einem führenden Puppenspieler würdigen Annehmlichkeiten aus und stellten auf der Brücke eine für Puppenspieler geeignete Pilotenliege und eine dazugehörige Steuerkonsole auf.

Irgendwann innerhalb der nächsten Tage würden die Gw’oth, wenn sie ihr Muster beibehielten, aus dem Hyperraum austreten. Die übernächste Rückkehr in den Normalraum würde sie geradewegs in Achilles’ Falle tappen lassen. Üblicherweise blieben die Gw’oth immer mehrere Stunden im Normalraum. Nur innerhalb dieser wenigen Stunden hatte Louis die Möglichkeit, sie zu warnen. Und er hatte tanj noch mal keinen Zugriff auf ein Hyperwellen-Funkgerät!

Es sei denn ...

Er hörte auf, nervös auf und ab zu tigern. Vielleicht gab es doch eine Möglichkeit, die Gw’oth zu warnen. Dafür wäre allerdings Achilles’ unwissentliche Mithilfe erforderlich.

»Sie sind wirklich hartnäckig, Louis«, sagte Achilles. Gemeint war: Du bist aufdringlich. Trotzdem gestattete er dem Menschen, seine Suite zu betreten. Wu hatte sich schon mehr als einmal als nützlich erwiesen.

»Ich bitte um Verzeihung«, tat Louis unterwürfig. Vergeblich suchte er nach einem Stuhl in der Art, wie er sie von New Terra kannte. Dann hockte er sich auf die Kante einer gepolsterten Bank. »Aber bei dem, was ich zu sagen habe, ist Zeit von immenser Bedeutung.«

Achilles ließ sich in einen großen Stapel dicker, weicher Kissen sinken. »Fahren Sie fort!«

»Wenn die Fusionsreaktoren der Gw’oth ausgefallen sind, treiben sie völlig hilflos im Raum. So sieht doch der Plan aus, richtig?«

»Sehen Sie ein Problem?«

»Möglicherweise.« Seine Miene verriet, wie unbehaglich er sich fühlte, und er rutschte auf der Bank hin und her. »Angenommen, die Gw’oth hätten eine Notstromversorgung. Batterien. Brennstoffzellen. Irgendeine unerwartete Energiequelle, die ein Gw’otesht erst kürzlich erfunden hat.«

»Dann werden sie nicht völlig hilflos sein«, griff Achilles den Gedanken auf. »Sie könnten ihre Laser zumindest einige Male zum Einsatz bringen, ehe dann auch ihre Notstromversorgung erschöpft wäre!«

»Ganz genau.« Louis rieb sich das Kinn. »Und wenn dann diese Notstromversorgung auch noch ihre Raketenwerfer speist, könnten sie Lenkflugkörper einsetzen. Es ist anzunehmen, dass sie solche Waffen an Bord haben. Denn sonst hätten sie nicht auf Geschwindigkeiten beschleunigt, bei denen kinetische Waffen erst Sinn ergeben.«

»Und Sie glauben, ich hätte diese Möglichkeit nicht in Erwägung gezogen«, gab Achilles kühl zurück.

»Das haben Sie sogar ganz gewiss getan. Einem Schiff dieser Größe, geschützt durch eine General-Products-Zelle, können die Gw’oth wahrscheinlich keinen ernst zu nehmenden Schaden zufügen, bevor wir sie vernichten.«

Das stimmte sogar höchstwahrscheinlich. Einige der Besatzungsmitglieder an Bord der Remembrance, die sich in den Außenbereichen des Schiffes aufhielten, hätten vielleicht weniger Glück: Die Gw’oth könnten einige gut gezielte Treffer landen, und Laser und Schockwellen konnten auch durch eine unbeschädigte Zelle hindurch töten. »Aber, aber, Louis, sollten Sie tatsächlich noch ängstlicher sein als ein Bürger?«

Louis lachte. »Nein, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher und eliminiere den Feind ganz. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich weiß, wie ich das auf ganz sicherem Weg erreiche.«

»Sicherer« war immer gleichbedeutend mit »besser«. »Wie lautet Ihr Vorschlag?«

»Auf die Idee gebracht hat mich eine Geschichte, die mir einmal Ausfaller, dieser Hundesohn, erzählt hat.« Louis erhob sich, rieb sich das schmerzende Hinterteil und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Das Ding da ist als Sitzmöbel wirklich unbequem.«

Eine Geschichte aus dem Krieg. »Geht es um den Pak-Krieg?«, fragte Achilles.

»Genau. Haben wir einen Planetenbrecher an Bord? So einen wie den, mit dem Ausfaller die Pak-Flotten vernichtet hat?«

Seit dem Pak-Krieg hatte sich die Technologie deutlich weiterentwickelt. Damals hatte es mehrere Tage gedauert, ein solches Gerät aufzubauen und zu kalibrieren. An Bord der Remembrance befand sich ein Gerät der neuesten Baureihe, und dieses Gerät ließ sich in weniger als einem Tag einsatzbereit machen. Die Ironie des Ganzen wäre in der Tat kaum zu überbieten: Um die ersten selbstgebauten Planetenantriebe lang genug zu stabilisieren, um sie als Waffe einsetzen zu können, hatte Baedeker die Hilfe eines Gw’otesht benötigt.

Geistesabwesend zupfte Achilles am Weidegras-Teppich und dachte nach. »Und dieses Gerät müsste man zum Einsatz bringen, solange die Gw’oth-Schiffe noch ohne Energie im All treiben.«

»Genau daran hatte ich gedacht. Vorausgesetzt, wir finden eine Welt in der Nähe, die wir zerstören können.«

Planetenbrecher. Was für eine naive Vereinfachung. Ein destabilisierter Planetenantrieb erschütterte das gesamte Raum-Zeit-Gefüge in der Nähe und schleuderte Wellen aus purem Quanten-Chaos in alle Richtungen.

Ein Planetenbrecher, eingesetzt in der Nähe des Hinterhalts, würde die Schiffe der Gw’oth mehr als nur zerstören. Die Störungen im Raum-Zeit-Gefüge würden jede Antenne auf Hearth erzittern lassen. Niemand würde dann noch bestreiten können, dass sich etwas Außergewöhnliches ereignet hatte. Dass jemand Außergewöhnliches die Konkordanz gerettet hatte.

Es war sicher gut, den Gw’oth jede Chance zu nehmen, vielleicht doch noch einen Glückstreffer zu landen. Wus Plan hatte wirklich etwas für sich!

Es wäre nett, einen echten Plan zu haben!, dachte Louis. Stattdessen hatte er nur eine vage Vorstellung und musste wild improvisieren. Doch der Zeitdruck hatte auch sein Gutes: Er lenkte die Puppenspieler von Louis ab. Vielleicht also doch ein echter Vorteil.

Auf jeden Fall stimmte dieser Gedanke Louis ein bisschen optimistischer.

Louis’ Pilotenliege bebte. Einer der Puppenspieler-Techniker auf der Brücke der Addison lag flach auf Deck. Während er beide Hälse tief in einen Schaltkasten hineinreckte, hatte er unwillkürlich gegen die Liege getreten. Aus dem Schaltkasten drang gedämpft eine Melodie – zumindest im weitesten Sinne des Wo rt es.

»Er entschuldigt sich«, bot Metope eine Übersetzung an. Das gelbbraune Fell des Puppenspielers war von cremefarbenen Streifen durchzogen. Wie er da in der Luke zur Brücke stand, wirkte er fast wie ein schüchternes Zebra.

Jeder hier tat so, als sei es Metopes Aufgabe, als Übersetzer zu fungieren, und nicht etwa, Louis zu überwachen.

»Nichts passiert«, antwortete Louis. Stimmte nicht, im Gegenteil: viel passiert. Er hatte jetzt nämlich Zugriff auf ein Hyperwellen-Funkgerät, und hier beobachteten ihn deutlich weniger Augenpaare, als wenn er sich immer noch auf der Brücke der Remembrance befände.

Jede Menge Welten gab es zwischen den Sternen. Aber dass sich auch eine Welt fände, die sich für den Schlag gegen die Gw’oth in der geeigneten Position befände, bleib dennoch fraglich. Der Plan sah immer noch vor, die manövrierunfähige Gw’oth-Armada mit Lasern zu rösten. Weder Achilles noch Clotho würden auf Ressourcen verzichten, die für diesen Angriff unerlässlich wären. Ein solches Verhalten war bei der schon sprichwörtlichen Vorsicht der Puppenspieler zu erwarten gewesen. Die Aufgabe, nach geeigneten Welten zu suchen, hatte man folgerichtig den bisher ungenutzten Instrumenten der Addison übertragen.

Genau wie Louis gehofft hatte.

Er summte vor sich hin, während er das Hyperwellen-Funkgerät der Addison neu konfigurierte. Das Gerät funkte und empfing Nachrichten nur in eine Richtung. Traf der Strahl auf ein ernst zu nehmendes Objekt, lieferte die Stärke des Echos einen Hinweis auf die entsprechende Entfernung – einen sehr unpräzisen Hinweis allerdings.

Um die Position eines Objekts mit Hyperwellen zu ermitteln, war Triangulation erforderlich. Die Unsicherheit hätte sich so auf einen hinreichend kleinen Raumabschnitt beschränken lassen. Selbstredend war Achilles nicht bereit, die Hyperwellenantennen der Weltenflotte neu auszurichten, geschweige denn gewillt, das vorzuschlagen. Denn damit hätte er ja verraten, dass er diese Antennen steuern konnte.

In der Tat war es erschreckend zu wissen, dass Achilles Zugriff auf die Antennen von Hearth hatte. Louis vermutete, das hatte er Verrätern in höchsten Ebenen der planetaren Systemabwehr seiner Heimatwelt zu verdanken.

Und wenn es Louis nicht gelänge, die Gw’oth zu warnen? Und wenn er bei seiner Suche tatsächlich einen geeigneten Wandelstern entdeckte? Er sagte sich, mehr als sterben könnten die Gw’oth in keinem Fall, ganz egal, was passieren würde. Er sagte sich, dass Achilles dann die schlimmste Waffe aus seinem Arsenal bereits eingesetzt hätte.

Und vor allem sagte Louis sich, dass er hier auf keinen Fall scheitern dürfe.

»Warum dauert das so lange?«, fragte Metope.

»Wir können ja die Plätze tauschen!«, blaffte Louis. Er wusste, dass Metope auf diesen Vorschlag keinesfalls eingehen würde: Immer noch hingen Kabel von der Puppenspieler-Konsole herunter. Sie musste erst noch angeschlossen werden. »Hören Sie, das ist ganz schön kompliziert. Das hier ist ein Hyperwellen-Funkgerät, nicht Teil eines Radarsystems. Das schwache Echo, das ein Objekt in der Ferne zurückwirft, wird fast im Grundrauschen untergehen. Also muss ich erst die Rauschfilter umprogrammieren. Und weil das hier ein Funkgerät ist, ist es darauf ausgerichtet, fest in eine Richtung zu senden und nicht ganze Raumabschnitte zu bestreichen.«

Wenn sich die Gw’oth doch nur im Normalraum befänden! Dann hätte einfach ein »fehlgeleiteter« Scan sie zu verscheuchen vermocht. Aber Achilles hatte, entweder aus Misstrauen oder aus der üblichen Puppenspieler-Vorsicht heraus, die Suche auf ein schmales Zeitfenster eingeengt. Man würde Louis von der Addison geleiten, lange bevor die Gw’oth das nächste Mal in den Normalraum eintauchten. Nett wäre auch gewesen, fand Louis, wenn er noch seinen alten Taschencomp gehabt hätte, mit dessen verborgenen Codes er Sigmund hätte erreichen können. Wenn, wenn, wenn!

Du hast nur diese eine Chance, ermahnte Louis sich selbst, vergeig das jetzt bloß nicht!

»Dann programmieren Sie also gerade einen Suchalgorithmus, nach dem die Scans ablaufen sollen, ja?«, fragte Metope.

»Genau.« Louis redete noch eine Weile über Suchparameter und Suchmuster. Er schwafelte über Rotationsachsen der nächstgelegenen Sterne und was das über die planetaren Bahnebenen aussagte – und was das wiederum darüber aussagte, wo man am besten nach Planeten suchte, die aus ihrem eigentlichen Sonnensystem hinausgeschleudert worden waren. Alles bloß Gerede, um Metope abzulenken. Glücklicherweise war Louis’ Babysitter kein Ingenieur.

Das alles tat Louis, während er eigentlich die Notfallcodes einstellte, die Nessus ihn auswendig zu lernen genötigt hatte. Nessus hatte Achilles also schon immer alles Mögliche, und vor allem Schlimmes, zugetraut. Louis konnte jetzt nur noch hoffen, dass derjenige, der im Geheimen Direktorat das Notfall-Kommunikationssystem überwachte, nicht mit Achilles gut Freund war.

Raumkoordinaten, vermutlich die Position einer Hyperwellen-Funkboje auf einem abgesicherten Kanal. Louis sorgte dafür, dass der Suchalgorithmus auch diese Koordinaten erfasste. Um Metope auch weiterhin zu beschäftigten, ließ er sich darüber aus, wie schwierig es sei, eine Hyperwellen-Gruppenantenne neu auszurichten, und dass es nötig wäre, eine ganz spezifische Impulsfolge zu übertragen, damit jedes Hyperwellenecho einzigartig sei, und dass es darüber hinaus nötig sei, mit den Parametern dafür richtigzuliegen. Währenddessen aber gab Louis die auswendig gelernten Kontrollsequenzen ein.

»Diese Herangehensweise scheint nicht sonderlich geeignet, Erfolge zu zeitigen«, nörgelte Metope, »sofern Sie überhaupt je fertig werden!«

»Bin schon so gut wie fertig!« Louis versenkte eine Stiefelspitze tief in der weichen Flanke des Puppenspieler-Technikers, der immer noch auf Deck herumkroch, um die letzten Kabel zu verbinden. Der Techniker stieß ein atonales Geheul aus, Metopes Köpfe fuhren zu ihm herum ...

 ... und Louis tippte ein Kürzel ein, um den Abtasterstrahl zu modulieren. Mit dem letzten Tastaturbefehl löschte er gleich darauf den Vorgang vom Display.

»Hach, tanj! Mir ist der Fuß ausgerutscht! Bitte sagen Sie Ihrem Freund, dass es mir leidtut!«, entschuldigte sich Louis an Metope gewandt. »Die gute Nachricht: ich habe die Konfiguration abgeschlossen. Wir können endlich mit den Scans beginnen!«