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Die Warterei war das Schlimmste.

Nessus hockte zusammengekauert in seiner Kabine, tief in ein Nest aus weichen Kissen vergraben. Währenddessen hüpfte die Aegis in der zweifelhaften Sicherheit des Hyperraums zwischen den Schiffen der Bibliotheksflotte hin und her. Wieder einmal. Nessus war in seine Kabine gegangen, um zu schlafen. Doch schon seit Tagen war ihm erholsamer Schlaf nicht vergönnt. Mit einem Mund schlürfte er aus einer Quetschflasche warmen Karottensaft, mit dem anderen zupfte und zerrte er an seiner Mähne. Seine Frisur war derart verwüstet, dass der nervöse Tick ihr wirklich nicht mehr schaden konnte.

Fast genauso schlimm wie die Warterei war es, Achilles’ Selbstgefälligkeit zu ertragen. Nachdem seine Anhänger so lautstark nach einer neuen Führungsspitze für die Experimentalisten-Partei verlangten, war es das kleinere Übel, Achilles erst einmal von Hearth fernzuhalten. Zumindest für den Hintersten. Und genau damit dürfte Achilles gerechnet haben, als er diesen wahnsinnigen Plan ersonnen hatte.

Und so hatte auf Achilles’ Drängen hin die Aegis erneut den Kurs geändert. Mittlerweile hätten sie längst wieder auf Hearth sein können. Stattdessen tauchten sie immer wieder in der Nähe der Pak-Schiffe auf, die den äußersten Rand der Bibliotheksflotte sicherten, oder stießen in die Zwischenräume zwischen den Schiffen vor. Es ging darum, Informationen zusammenzutragen.

Von Tag zu Tag wurde Achilles dabei arroganter und somit unerträglicher.

Dass Achilles derart viel Einfluss auf Hearth besaß, hatte Nessus völlig überrascht. Er versuchte sich einzureden, das Blatt würde sich sicherlich zu Achilles’ Ungunsten wenden, sobald die Aegis wieder nach Hearth zurückkehrte und er, Nessus, Beweise für Achilles’ jüngste Verbrechen vorlegen könnte. Allerdings ließ ihn die Sorge nicht los, dass sich Achilles mit seinem Geschick im politischen Intrigenspiel und mit dem richtigen Taktieren ein weiteres Mal die Hälse retten könnte.

Dafür stünden die Chancen um so besser, wenn Achilles mit dem Wissen der Pak zurückkehrte – und genau danach sah es derzeit aus. Hat man Erfolg, wird einem so mancher Fehler verziehen.

»Noch fünf Minuten«, verkündete Louis über Intercom. Er befand sich auf der Brücke.

»Bin unterwegs.« Widerstrebend entrollte sich Nessus und stand auf.

Nur Augenblicke später blickte Louis von seiner Konsole auf, als das Klappern von Hufen auf Deck ihm verriet, dass sich ein Puppenspieler der Brücke näherte. Es war Nessus. »Sie sehen erschöpft aus.«

Den fahrigen, vor Nervosität ganz zappeligen Drogenabhängigen, den Nessus auf Wunderland kennen gelernt hatte, gab es nicht mehr. Louis hatte sich im Verlauf der Fahrt in jemanden verwandelt, auf den sich Nessus zunehmend verließ. Es war kaum noch vorstellbar, dass Louis anzuheuern einst nichts anderes als eine Verzweiflungstat gewesen war. Nicht immer mussten Überraschungen unangenehm sein.

»Ich kann mich auch auf Hearth noch ausruhen«, gab Nessus zurück. Und du, Louis, siehst so abgehärmt aus, wie ich mich fühle.

Louis lächelte. »Noch eine Minute bis zur Rückkehr in den Normalraum.« Lautlos bewegten sich seine Lippen, als er die letzten Sekunden auf der Anzeige des Timers mitzählte, dann griff er nach der Steuerung des Hyperraumantriebs. »Und ... jetzt.«

Hektisch zuckten Nessus’ Köpfe hin und her, als eine ganze Reihe von Instrumenten und Displays wieder zum Leben erwachte. Laut den Magnetfeld-Messungen und dem Flammenschein von Fusionsantriebsdüsen war der nächste Ramjet mindestens zwei Stunden weit entfernt. Laut dem Funkverkehr: keinerlei Verminderung der Nachrichtendichte. Das ließ nicht auf eine Verhaltensänderung der Pak schließen.

»Kein Grund zur Sorge, alles im grünen Bereich«, erklärte Louis beruhigend. Eigentlich gab er etwas in dieser Art jedes Mal zum Besten, wenn sie in den Normalraum zurückkehrten. »Wir sind immer noch getarnt, und selbst die nächsten Pak sind zu weit entfernt, um uns mit bloßem Auge zu erkennen.«

»Theoretisch.«

»Reichlich Funkverkehr.« Louis lehnte sich auf seiner Pilotenliege zurück. »Ist auch nicht überraschend. Diese Pak sind Bibliothekare. Natürlich studieren und indizieren sie ihre Archive. Und selbst wenn sie keine Bibliothekare wären: Was sollten sie denn sonst tun?«

Nach Angreifern Ausschau halten, die sich an ihren Flanken herumdrücken, dachte Nessus.

»Sie müssen ständig auf Dateien zugreifen und Hyperlinks hinzufügen, um ihre Archive optimal nutzbar zu machen«, fuhr Louis fort. (Das alles hatte Nessus schon einmal gehört. Beowulf Shaeffer war recht gesprächig gewesen. Wie der (Stief-)Vater, so der (Stief-)Sohn? Aber wahrscheinlicher war, dass Louis angesichts des Ausmaßes von Geistesgestörtheit, das diese Mission voraussetzte, vor allem mit sich selbst sprach. Mit sich selbst zu sprechen hatte schließlich etwas durchaus Beruhigendes.) »Jetzt, wo die Archive über die ganze Flotte verteilt sind, können Hyperlinks nur nachverfolgt werden, indem man von Schiff zu Schiff miteinander kommuniziert. Höchstwahrscheinlich gibt es im Augenblick niemanden, der weiß, auf welchem der nächstgelegenen Ramjets sich gerade eine Kopie der gewünschten Datei befindet. Sie müssen ihre Suchanfragen per Funk übertragen. Deswegen hat die Argo ja auch so viel Funkverkehr zwischen den Ramjets aufgefangen.«

Genau diese Erkenntnis hatte sie dazu gebracht, die Aegis zu wenden. Das und die potenzielle Bedeutung der Hyperlinks. Beides waren Dinge, die auf Louis’ Mist gewachsen waren, kein Verdienst von Achilles.

»Bereit zum Einsatz der Boje«, meldete sich Achilles über Intercom.

»Bestätigt«, erwiderte Nessus.

»Und los geht’s!«

Die Luke des Frachtraums öffnete sich; dank einer Außenkamera konnte Nessus zuschauen, wie die Relais-Boje im All verschwand.

Eigentlich war dieser Anblick, die immer kleiner werdende Boje, eine sehr schöne Metapher für die verschlungenen Wege des Schicksals, das sie alle hierher geführt hatte.

Mit dem Zugriff auf einen Hyperlink forderte man die Übertragung entsprechend zugehöriger Daten an. »Klicks«, so nannte Louis diese Datenanforderungen. Der Ursprung dieses Begriffs war in den Wirrungen der Geschichte menschlicher Computernutzung verloren gegangen. Also vorgehen wie folgt: die abgefangenen Archive durchforsten und die drahtlos übertragenen Datenanforderungen erkennen und aufzeichnen. Die Antworten aufzeichnen. Dann: diese Aufzeichnungen an die Bibliotheksschiffe senden. Die geborgenen Module dazu nutzen, die Komm-Protokolle der Pak anzuwenden, und die Entschlüsselungscodes einsetzen.

Neu aufgefangene Daten nach neuen Hyperlinks durchforsten und von vorn anfangen.

Doch wann immer ein solcher Klick ein Pak-Schiff erreichte, bestand die Gefahr, von besagtem Schiff entdeckt zu werden. So rasch eine Funkübertragung die Aegis erreichen konnte, konnte sie auch ein Laserstrahl treffen, abgefeuert von einem Pak-Schiff, das ihnen auf die Schliche gekommen war. Achilles hatte ja bereits die Erfahrung gemacht, dass ein Pak-Laser die Lichtschutzfilter umgehen oder überlasten konnte.

Daher: Bojen.

»Boje online«, verkündete Louis. »Funk-Tests ... okay. Hyperwellen-Übertragung ... okay. Onboard-Computer ... okay. Ausgangsleistung ... nominal.«

»Hyperwellen-Übertragungen abgeschlossen bei ... zwölf Bojen.« Nessus starrte seine Komm-Konsole an, hoffte darauf, sich verzählt zu haben, und war sich sicher, dass dem nicht so war. Rasch überflog er die Upload-Protokolle. »Boje sechs hat einen aufkommenden Ramjet gemeldet und die Selbstzerstörung aktiviert.« Damit hatten sie schon drei Bojen verloren.

»Frachtraumluke gesichert«, meldete Achilles.

Louis beugte sich über die Steuerung. »Rückkehr in den Hyperraum in drei, zwei, eins.«

Die Bullaugen zeigten nur noch idyllische Landschaften.

Nessus stieß einen erleichterten Trällerton aus. Ein weiterer Vorstoß in die Flotte der Pak, bei dem sie nicht unversehens in einen Hinterhalt geraten waren.

Wie lange würde ihr Glück noch währen?

Louis rekelte sich auf der Liege des Kopiloten und gähnte.

Wäre er nicht so müde gewesen, hätte er sich vielleicht gefragt, ob sie mit dieser Aktion überhaupt etwas erreichten. Niemand hatte die Zeit oder die Energie, die hereinströmenden Daten zu begutachten. Vielleicht würden sie damit ja anfangen, sobald sie hier fertig wären und die lange Rückreise zur Weltenflotte anträten.

Den Wissenschaftlern auf Hearth lief das Wasser in den Mündern zusammen angesichts der Vorstellung, einen Blick auf die Pak-Bibliothek werfen zu dürfen. Auch sie würden noch warten müssen. Sogar die höchsten Bitraten, zu denen Hyperwellen-Transmitter über derartige Entfernungen hinweg in der Lage waren, reichten selbst bei maximaler Leistung kaum aus, um kurze Ton- und Textaufzeichnungen zu übertragen.

Trotz hohen Koffein- und Adrenalinspiegels konnte Louis kaum noch die Augen offen halten. Kurz dachte er an Stim-Pillen – und schrak vor dem Gedanken zurück. Diesen Weg würde er nicht noch einmal gehen!

Stattdessen unterdrückte er ein weiteres Gähnen und begutachtete noch einmal den Kurs des Schiffes.

Die Aegis hüpfte zwischen der Pak-Flotte hin und her. Geschwindigkeit bot Sicherheit; die Aegis konnte verschwinden, bevor die Pak sie entdeckten.

Auch der Erfolg hing von der Geschwindigkeit ab. In jeder Sekunde drang der verräterische Gammastrahlen-Impuls, eine Folge des Angriffs der Argo mit Kernwaffen, tiefer in die Bibliotheksflotte vor. Ebenso sicher war es, dass die heimliche Erkundung der Großen Bibliothek den Warnsystemen der Pak auffallen musste. Womöglich anhand ungewöhnlicher Abfragemuster, vermutete Louis. Woran auch immer es liegen mochte: Misstrauen verbreitete sich unter den Pak mit Lichtgeschwindigkeit. Mehr und mehr Ramjets ignorierten die Klicks der Bojen. Mehr und mehr Bojen leiteten die Selbstzerstörung ein, magnetische Sicherungen verhinderten die Signalübertragung an die Ramjets, die herbeigeschossen kamen, um nach der Ursache der Störung zu suchen und diese zu analysieren.

Erneut gähnte Louis und griff nach einer weiteren Quetschflasche mit Kaffee. Hätte die Aegis nicht gewendet, hätten sie die Gelegenheit verloren, die Große Bibliothek zu durchforsten. Achilles hatte recht gehabt damit, nicht gleich nach Hearth zu fahren.

Also sprangen Louis und Nessus unter Hyperraumantrieb vor die warnenden Funksprüche. Aber beizeiten hätte auch der letzte der Ramjets von den Eindringlingen erfahren. Damit hätte die Expedition ein Ende. Denn es bestünde dann keine Möglichkeit mehr, weitere Informationen aufzufangen.

Eventuell hätte das Ganze auch schon früher ein Ende. Nämlich, wenn das Glück sie verließe.

Es gab so viele verschiedene Möglichkeiten, wie das passieren könnte: beispielsweise wenn ein Pak-Kriegsschiff Kurs oder Geschwindigkeit änderte, während sich die Aegis im Hyperraum befände; wenn die Aegis den Hyperraum ein wenig zu früh oder ein wenig zu spät verließe; wenn etwas geschähe, für das Louis’ Fantasie einfach nicht ausreichte ...

Konzentrier dich auf deine Arbeit, tanj noch mal!

Nessus war nur noch ein zerzaustes Nervenbündel, das keinen Schlaf mehr fand und sich von Tag zu Tag mehr anstrengen musste, den aus der Manie geborenen Mut zu bewahren. Bei Achilles hingegen, der ja eine Begegnung mit den Pak überlebt hatte, schien die Geistesgestörtheit so weit fortgeschritten, dass sein Mut offenkundig gar nicht mehr nachließ. Es sei denn, es wäre gar kein Mut, den Achilles zeigte, sondern einfach nur Geistesgestörtheit.

So anstrengend es für Louis auch war, zwischen den Schiffen der Pak-Flotte hin und her zu hüpfen, hatte auch er seinen Stolz. Keinesfalls konnte er den Rückzug empfehlen, solange das nicht schon vor ihm ein Puppenspieler getan hätte.

Es wurde Zeit, wieder aus dem Hyperraum zurückzukehren und sich einer weiteren Gruppe Bibliotheksschiffen zu nähern. »Rückkehr in den Normalraum in fünf Minuten«, verkündete Louis über Intercom. »Eine weitere Boje vorbereiten.«

Er mühte sich redlich zu übersehen, wie sehr seine Hände zitterten.