22. KAPITEL
“Wir müssen ihm eine Falle stellen”, sagte Marcus. Er war mit Alistair in der Bibliothek. Es war spät. Eine einzige Lampe verbreitete ihr mildes Licht. “Warwick ist hier in Salterton, aber ohne einen Köder können wir ihn nicht hervorlocken.”
“Wir könnten Standish einsetzen”, erwiderte Alistair. “Warwick vertraut ihm.”
“Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um Isabellas Bruder aus der Sache herauszuhalten.”
“Er ist aber schon bis über beide Ohren darin”, bemerkte Alistair. “Wenn du ihn außen vor hältst, könnte er unsere Pläne zunichte machen.”
Marcus wurde schlagartig ernst. “Isabella und ich haben uns erst kürzlich versöhnt. Ich kann und will das nicht für irgendetwas gefährden, selbst nicht für Edward Warwick.”
Auf Alistairs Gesicht malte sich ein leicht spöttisches Lächeln. “Du willst damit sagen, es gibt nichts Wichtigeres in der Welt als deine Frau.”
Ihre Blicke trafen sich. “Genau das will ich damit sagen”, stimmte Marcus zu. “Ich liebe sie, Alistair.”
Eine kurze Pause trat ein.
“Also”, sagte Alistair dann, “womit lassen wir ihn in die Falle gehen?”
Marcus nahm das silberne Medaillon vom Schreibtisch auf. “Hiermit”, antwortete er.
Isabella war im Bett, umschlungen von Marcus’ Armen, aber sie schlief nicht. Ihre Gedanken waren bei India, aber nicht so verbittert wie früher, sondern voll Mitgefühl und Verständnis und mit Reue darüber, dass ihre Erkenntnis zu spät gekommen war. Am Morgen, noch im Halbschlaf, kuschelte sie sich enger an Marcus’ wärmenden Körper und dachte daran, nach oben auf den Speicher zu gehen, um sich etwas auszusuchen, das sie immer an India erinnern würde. Dann würde sie dafür sorgen, dass alles andere von ihrer Cousine aus dem Haus kam. So konnten Marcus und sie endlich dieses Kapitel abschließen.
Sie war nahe daran einzuschlafen, als sie sich plötzlich fragte, was wohl aus dem Kind geworden war.
Es war ein heißer Morgen, jedenfalls wenn man sich körperlich betätigte. Trotzdem rannte Freddie Standish. Normalerweise tat er das nie, und als er durch die Räume von Salterton Hall hetzte, wurde ihm auch klar, warum. Schnelles Laufen war unangenehm. Es ließ einen schwitzen und keuchen. Aber dies war ein Notfall, und daher war er bereit, es dieses eine Mal zu tun.
Er konnte Marcus Stockhaven nirgends finden. Er war weder in der Bibliothek noch im Salon, obwohl die Wirtschafterin Freddie versichert hatte, dass sowohl Lord Stockhaven als auch Mr Cantrell im Hause waren. Unter normalen Umständen wäre es Freddie nicht im Traum eingefallen, Stockhaven aufzusuchen. Während der letzten drei Wochen hatte er immer versucht, ihm aus dem Weg zu gehen. Es gab etwas an Stockhaven, das Freddie stets das Gefühl gab, ihm nicht gewachsen zu sein. Stockhaven war zäh und setzte sich durch, er war stark und hatte alle die Eigenschaften, die Freddie immer haben wollte, an denen es ihm aber mangelte. Aber das war nun ein Notfall, und Freddie musste seine Vorurteile im Interesse des höheren Gutes hintanstellen.
Er kam schnaubend den Gartenweg entlang und wollte gerade die Außentür aufstoßen, als jemand aus dem Waffenraum heraustrat und ihn so fest am Arm packte, dass er fast aufschrie.
“Ruhig!” Marcus zog ihn förmlich in das Zimmer hinein und schloss die Tür. Alistair Cantrell befand sich ebenfalls dort und wog gerade eine Duellpistole in der Hand. Freddie wurde fast ohnmächtig.
“Warwick!”, keuchte Freddie. “Er ist im Haus!”
Stockhaven sah leicht verärgert aus, sprach aber ganz gelassen zu ihm: “Das wissen wir. Bleiben Sie ruhig … So, jetzt geht es schon besser.”
Nach einem kurzen Blick auf Freddie wandte Alistair sich wieder aufmerksam der Pistole zu.
“Wie lange noch?”, fragte er.
“Drei Minuten”, antwortete Marcus. “Dann gehen wir hinauf.”
Freddie fasste ihn wieder am Arm. “Sie verstehen nicht, Stockhaven! Es ist Bella. Sie ist oben auf dem Speicher.”
Es befriedigte Freddie enorm, dass seine Worte diesmal größere Wirkung zeigten. Marcus drehte sich blitzschnell zu ihm um, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Freddie hatte nun seine ganze Aufmerksamkeit.
“Isabella?”
“Das will ich Ihnen ja gerade sagen”, sprudelte es aus ihm heraus. “Ich hörte, wie Bella Mrs Lawton sagte, dass sie in einen der Bodenräume gehen wollte, um etwas zu holen. Sie bat sie dann, die Truhen der verstorbenen Lady Stockhaven später herunterbringen zu lassen.”
Marcus fluchte. “Wann ist sie hinaufgegangen?”
“Vor fünfzehn … zwanzig Minuten?”, stotterte er, und seine Zähne klapperten, als ob er Fieber hätte. Mit dem Finger fuhr er an der Innenseite seines Kragens entlang. “Warwick wird denken, dass es eine Falle ist.”
“Es ist eine”, antwortete Marcus grimmig, “nur nicht die richtige.”
Alistair spannte den Hahn der Pistole mit einem lauten Klick. “Los”, sagte er. Weder er noch Marcus sahen sich nach Freddie um, als sie hinausgingen.
Mit Erleichterung lehnte Freddie sich an den Schreibtisch und wischte sich mit seinem großen, bunten, nach Rosen duftenden Taschentuch die Stirn. Er musste schleunigst aus diesem Raum herauskommen. Hier roch es nach Fett und Schießpulver und erinnerte ihn an tote Tiere. Ein Schauder erfasste ihn.
Freddie ging langsam in den Gang hinaus und in die Eingangshalle. Im Haus war es unnatürlich still. Er schlenderte in den Salon und setzte sich. Um sich abzulenken, nahm er die Zeitschrift Gentlemen’s Magazine zur Hand, konnte sich aber nicht konzentrieren. Er würde jetzt Stockhaven alles sagen und um seine Hilfe bitten müssen. Unruhig rückte er hin und her. Sein Schwager konnte kaum eine noch geringere Meinung von ihm haben, als er sie bereits hatte. Es sollte ihm also eigentlich nichts ausmachen. Aber aus irgendeinem Grunde erschien es ihm doch schwierig.
Freddie warf die Zeitschrift angewidert zur Seite. Warum war es hier so still? Hatten sie Warwick schon gefasst? Wenn er nun entkommen war … Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Oberlippe. Es war alles gar nicht gut. Er konnte nicht einfach untätig hier sitzen und abwarten. So oder so, er musste sich seinem Schicksal stellen.
Isabella wusste genau, wonach sie suchte. Während der Nacht waren ihr der zerbeulte Kasten mit Malstiften und das Skizzenbuch eingefallen, und sie hatte sich gefragt, ob India ihre Gefühle nicht vielleicht eher in Bildern als in Worten ausgedrückt hatte. Sie durchsuchte die erste Truhe mit ihrem nun bekannten Duft nach altem Lavendel und Staub und hörte, wie die Malstifte gegen den Metallkasten stießen. Das Skizzenbuch befand sich darunter, und Isabella zog es heraus.
Die Seiten waren leer.
Isabella war halb enttäuscht und halb verblüfft, denn sie war sicher gewesen, dass sie etwas finden würde. Sie kauerte sich nieder auf die Fersen und blätterte die Seiten durch. Nichts außer einer blassen Bleistiftskizze auf der vorletzten Seite. Die Skizze zeigte das engelhafte Gesicht eines kleinen Kindes, war aber jetzt so schwach und verblichen, dass Isabella die Darstellung fast übersehen hätte. Unter dem Bild stand der Name “Edward John”.
Auf dem Holzfußboden hinter ihr erklangen plötzlich Schritte. Isabella hatte niemanden die Treppe heraufkommen hören, und nun wurde ihr schlagartig und mit angstvollem Herzklopfen bewusst, dass diese Person, wer auch immer sie war, schon hier gewesen sein musste, um im zweiten Bodenraum zu warten …
Als ein Schatten auf sie fiel, sah sie auf.
“Guten Tag, Lady Stockhaven”, sagte eine Stimme hinter ihr. “Ich sehe, dass Sie mir einen Schritt voraus sind.”
Mr Owen stand da, auf einen Stock mit Goldknauf gestützt. Er sah genauso kränklich aus wie in dem Ballsaal, jetzt aber war noch etwas anderes an ihm wahrzunehmen. Die schiefergrauen Augen waren kälter und hatten einen härteren Ausdruck als bei dem früheren Zusammentreffen. Isabella überlief ein Schauder.
“Ich glaube wirklich”, fügte Owen gelassen hinzu, “dass Sie mir fast immer einen Schritt voraus waren.”
“Ja, ich denke, das stimmt”, antwortete Isabella. “Mr Warwick?”
Er neigte zustimmend den Kopf. “Genau der. Sie wissen von mir?”
“Ich habe … von Ihnen gehört.”
“Stockhaven hat nach mir gesucht, denke ich”, sagte Warwick. “Ich habe mich gefragt, ob er das Ihnen gegenüber wohl erwähnt hat.”
Isabella stand langsam aus der kauernden Stellung auf. Warwick machte keinen Versuch, sie aufzuhalten. Trotzdem hatte sie Angst. Sie spürte eine gewisse Spannung und eine seltsame Kälte in der Luft. Und sie hatte nichts, womit sie sich verteidigen konnte.
“Warum sind Sie gekommen?”, fragte Isabella.
Warwick lächelte. Er stand gegen die Kante der zweiten Truhe gelehnt und beobachtete sie. “Wegen der Vergangenheit”, antwortete er. “Und wegen meines Sohnes.”
“Wir haben uns schon einmal getroffen”, sagte Isabella vorsichtig. Er hatte die Vergangenheit erwähnt, und sie knüpfte daran an. “Ich glaube, es war 1803, bei dem Ball in Salterton. Sie haben mit meiner Cousine getanzt.”
Ein dünnes Lächeln spielte um Warwicks Mund. “Jeder wollte immer nur mit Ihnen tanzen”, sagte er. “Sie waren die Schönste von allen. Ich aber wollte von Anfang an Miss Southern.”
Er neigte den Kopf nachdenklich zur Seite. “Sie haben mich nicht erkannt, als wir uns vor vierzehn Tagen trafen, nicht wahr?”, sagte er. Dann fuhr er fort: “Das ist auch kaum überraschend, so wie ich mich verändert habe.”
Isabella konnte ihm nur zustimmen. Da war nichts mehr von dem flotten Leutnant mit der kecken schrägen Kopfhaltung und dem draufgängerischen Blitzen in den Augen. Nichts mehr von dem rebellischen Geist, der India angezogen hatte wie eine Motte zur tödlichen Flamme. Durch Krankheit war all das ausgelöscht worden. Isabella erkannte das, und in ihr kam Mitgefühl, aber auch Überraschung hoch. Sie hatte nicht erwartet, dass sie für Edward Warwick Mitgefühl empfinden könnte. Langsam öffnete sie das Skizzenbuch und zeigte ihm die Zeichnung.
“Hier ist eine Zeichnung, Mr Warwick”, sagte sie. “Ich glaube, sie stellt Ihren Sohn dar. Er trägt Ihren Namen.”
Die Blässe auf Warwicks Gesicht wurde noch ausgeprägter, und er umfasste fest den Knauf seines Stockes.
“War da nichts anderes?”, fragte er ohne jede Gemütsbewegung, als ob er Bemerkungen über das Wetter machte.
“Bedauerlicherweise nicht”, antwortete Isabella, dachte dabei aber an das Medaillon, das sie auf Marcus’ Schreibtisch gelassen hatte. Es schien ihr, als ob es Warwick zustünde. Sie wollte etwas sagen, schloss den Mund aber wieder.
Warwick seufzte. “Natürlich waren keine Dokumente zu finden. Ich habe überall gesucht, müssen Sie wissen, Lady Stockhaven. Es gibt keine Spur davon.” Dann nahm er das Medaillon aus seiner Jackentasche und zeigte es ihr. Isabella stockte der Atem.
“Sie erkennen es?”, fragte er leise.
Isabella nickte schweigend.
“Ich wusste, dass es eine Falle war”, fuhr Warwick fort. “Ihr Bruder hatte es angeblich gefunden und ließ es mir zukommen.” Dabei schwang er das Medaillon an dem Silberkettchen hin und her. “Lord Standish arbeitet seit sechs Jahren für mich”, fügte er in verbindlichem Ton hinzu. “Und während dieser ganzen Zeit habe ich erfahren, dass er nicht einmal einen Krug in einer Schenke würde finden können. Die Wahrscheinlichkeit, dass er ein Versteck mit wertvollen Dingen von Miss Southern finden würde, war daher äußerst gering.” Sein Lächeln war eiskalt, und Isabella verspürte ein Frösteln. “Trotzdem”, fügte er hinzu, “bin ich gekommen, weil ich verzweifelt war. Das Einzige, womit ich nicht gerechnet habe, waren Sie.”
Höflich neigte sie den Kopf. “Sie sehen mich genauso überrascht, wie Sie selbst es sind, Mr Warwick.”
Er lachte, und sein Lachen brach sich wie ein Echo an den Wänden des fast leeren Raumes. “Vielleicht habe ich Ihren Bruder dann doch unterschätzt, Lady Stockhaven.”
Isabella bezweifelte dies, denn sie hatte das starke Gefühl, dass all das überhaupt nichts mit Freddie zu tun hatte, sondern dass sie unwissend selbst in eine Falle getappt war. Sie wünschte, Marcus hätte sie seine Pläne wissen lassen. Aber er wirkte an diesem Morgen recht beschäftigt, und sie hatte sich nicht wohlgefühlt. Als es ihr dann besser ging, war sie zuerst darauf bedacht, Indias Geist für immer zu bannen …
“Wenigstens ist Ihre Gegenwart ein Trost für mich, Lady Stockhaven”, sagte Warwick. “Denn dadurch sehe ich einen Ausweg.” Er sah sie an. “Sie lassen sich nicht schnell erschrecken, nicht so wie Ihre kleine Cousine. Vielleicht habe ich sie deshalb immer beschützen wollen.”
“Es ist schade, dass man Ihnen nicht erlaubt hat, das zu tun”, sagte Isabella mit ehrlicher Überzeugung in ihrer Stimme. Wenn Lord John Southern diesen Mann nicht daran gehindert hätte, seine Tochter zu sehen, und seinen Antrag nicht so verächtlich abgewiesen hätte, dann hätten sich die Dinge vielleicht ganz anders entwickelt.
Warwick kam jetzt immer näher. Bei der Suche nach seinem Sohn war ihm jedes Mittel recht. Isabella sah es in seinen Augen. Warwick würde jedes noch so tollkühne Risiko eingehen, wenn er glaubte, dadurch seinen Sohn finden zu können.
“Was wissen Sie sonst noch?”, fragte er dann.
“Ich weiß, dass meine Cousine und Lady Jane im Frühjahr 1804 Schottland besucht haben”, antwortete Isabella ruhig. “Es war eine lange Reise zu einem ungastlichen Ort. Jetzt ist mir klar, dass sie einen dringenden Grund dafür hatten. Zu der Zeit aber wusste ich das noch nicht.”
Eine Pause trat ein. Ein Sonnenstrahl streifte Edward Warwicks eingefallene Wange und ließ die tief eingegrabenen Linien stark hervortreten.
“In Schottland war ich auch”, antwortete Warwick ruhig. “Ich war überall und habe mit jedem gesprochen, den ich finden konnte, und doch habe ich keine Spur von meinem Sohn.”
Isabella musste schlucken. Sie war nicht sicher, wie es kam, dass sie und Warwick in so kurzer Zeit fast unwillkürlich zu einer Verständigung gefunden hatten. Trotz seines furchteinflößenden Rufes hatte Isabella Mitgefühl für Edward Warwick. Sie wusste, wie es in ihm aussah.
“Der Gärtner und seine Frau, die ihn adoptierten”, sagte sie, “wohnten in London.”
“Sie sind tot.”
Diese bedeutungsschweren Worte fielen in den Frieden des Raumes hinein und brachten einen eisigen Hauch mit sich.
Isabella sagte: “Jemand in Salterton muss doch wissen …”
Warwick machte eine plötzliche Bewegung und unterbrach sie erneut. “Ihr Onkel hat sein Geschäft zu gut versehen.” In seiner Stimme lag eine solche Bitterkeit, dass es Isabella kalt über den Rücken lief. “Er konnte schweigen wie ein Grab. Er vernichtete jeden Hinweis, der dem Ruf seiner Tochter hätte schaden können.”
Isabella hob die Hände in einer hilflosen Geste. “Er hat eben getan, was er für richtig hielt.”
Warwick verzog den Mund zu einem spöttischen Lächeln. “Er hat das getan, was seinem guten Namen nützlich war. Indias Gefühle waren ihm völlig gleichgültig. Er trägt die Verantwortung dafür, dass sie unglücklich war.”
“Wieso?”
“Sie haben es selbst gesagt. Dadurch, dass er mir nicht erlaubte, um sie zu werben.” Dann wandte Warwick sich Isabella so plötzlich zu, dass sie unwillkürlich einen Schritt zurücktrat, ehe ihr klar wurde, dass seine Heftigkeit nicht ihr, sondern seinen Erinnerungen galt. “Er erlaubte seiner Tochter – seiner schwangeren Tochter – nicht, den ausschweifenden unehelichen Sohn eines irischen Schmarotzers zu heiraten.” In seinen Augen war eine verzweifelte Belustigung zu sehen. “Ich habe nur zitiert.”
“Und doch sind Sie zurückgekommen und haben es wieder versucht.”
“Ja.” Sein Blick streifte sie kurz, aber Isabella merkte, dass er sie gar nicht ansah. “Ich kam im folgenden Sommer zu diesem verdammten Ball und versuchte noch einmal mein Glück. Lord John drohte, mich auf die Straße werfen zu lassen. Da verlor ich die Beherrschung und schwor, dass ich jedem von der Schande seiner Tochter erzählen würde.”
“Das hätten Sie aber niemals getan”, sagte Isabella.
In Warwicks Augen blitzte es spöttisch auf, als sein Blick auf Isabella ruhte. “Warum denn nicht?”, fragte er.
“Weil Sie India liebten”, erwiderte Isabella. “Und ich bin überzeugt, dass Sie sie immer noch lieben. Sie wollten nicht India selbst, sondern ihren Vater bestrafen.”
Warwick schien in sich zusammenzusinken. “Woher wissen Sie das?”
“Weil Sie keinen Skandal heraufbeschworen haben, solange India lebte”, antwortete Isabella. “Erst nachdem sie gestorben war, versuchten Sie, Ihren Sohn zu finden.”
“Ich wollte India dazu bringen, mit mir zu fliehen, aber sie blieb hart.” Warwick lächelte, aber es war ein trauriges Lächeln. “Es ist schon seltsam, dass sie sich mir in Liebe hingegeben hat, sich mir aber nicht für ein ganzes Leben anvertrauen wollte.”
“Das ist gar nicht so seltsam”, wand Isabella ein, wobei sie daran dachte, dass sie mit ihrer Cousine mehr gemeinsam hatte, als sie sich je hätte vorstellen können. “In der Hitze des Augenblicks überwindet man seine Bedenken schnell. Aber wenn man eine Entscheidung für das ganze Leben treffen muss, kann es leicht sein, dass man sich falsch entscheidet.” Sie sah Warwick an. “Was haben Sie danach getan?”
“Ich ging zurück zur Armee”, antwortete Warwick und zuckte die Achseln. “Aber recht bald wurde ich wegen Insubordination vor ein Kriegsgericht gestellt und ausgestoßen. Dann weilte ich eine Zeit lang in Irland, kam dann aber nach London zurück und geriet in schlechte Gesellschaft.” Er entblößte seine Zähne mit einem Lächeln. “Und in schlechter Gesellschaft befinde ich mich immer noch, man könnte sogar sagen, ich sei nun ihr König.”
“Aber das Wichtigste war für Sie immer noch, Ihren Sohn zu finden”, sagte Isabella, wobei sie vor Anspannung fast zersprang. Sie konnte ihn nicht endlos in ein Gespräch verwickeln, und sie wusste nicht, wo dies enden sollte.
“Ja, da haben Sie recht”, antwortete Warwick. “Ich hörte mich in Salterton, in Schottland und in London um, aber ohne Ergebnis.” Er sprach jetzt in einem leichten Plauderton, so als ob das Thema von nur geringer Bedeutung wäre. “Schließlich kam ich selbst nach Salterton und setzte einen Jungen darauf an, Stockhavens Haus hier zu durchstöbern, während ich nach Salterton Hall ging, um Lady Jane aufzusuchen. Sie war die einzige Person, die mir noch hätte helfen können.”
“Und wieder wurden Sie abgewiesen.”
Die herben Linien um Warwicks Mund traten stärker hervor. “Lady Jane wollte das Andenken ihrer Tochter auf keinen Fall beschmutzen, und wenn es auch nur bedeutet hätte, die Wahrheit anzuerkennen.”
Isabella war nicht überrascht. Wie auch für ihren Mann war es für Lady Jane von allergrößter Wichtigkeit gewesen, das zu schützen, was sie als die Interessen Indias und der gesamten Familie ansah – selbst über das Grab hinaus.
“Lady Jane ist in jener Nacht gestorben”, sagte Isabella.
Warwick wandte den Kopf blitzschnell um. “Damit hatte ich nichts zu tun.”
“Sie haben gestritten.”
“Und?”
“Sie war eine gebrechliche ältere Dame. Den Schock konnte sie nicht verwinden.”
Warwick zuckte wieder die Schultern. “Wie gesagt, damit hatte ich nichts zu tun.”
Bei dieser erschreckenden Gleichgültigkeit erschauderte sie. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wenn es um seinen Sohn ging, war Warwick verletzbar. In allen anderen Dingen gab es keine Schwachstelle in seinem Panzer. Der Mann kannte kein Mitleid und hatte keine Gefühle.
“Was werden Sie jetzt tun, Lady Stockhaven?”, fragte er tonlos. Er rührte sich etwas von der Stelle, und Isabella fühlte wieder diese Anspannung. “Was soll ich jetzt tun, nun da Sie mich gesehen haben?”
“Ich denke, Sie sollten gehen”, sagte sie ruhig. “Hier gibt es nichts für Sie zu tun, Mr Warwick. Sowohl India als auch ihre Mutter haben ihre Geheimnisse zu tief vergraben, als dass man sie aufdecken könnte.”
Warwick lächelte spöttisch. “Sie werden mir doch nicht sagen, dass ich meine Suche einstellen soll?”
“Welchen Zweck sollte die Suche haben?”, fragte Isabella. Mit einem Seufzer fügte sie hinzu: “Aber ich weiß auch, dass Sie nicht aufgeben werden.”
Er richtete sich auf und nickte dann kaum wahrnehmbar. “So ist es, obwohl alles dagegenspricht. Ich glaube, dass Sie mich wirklich verstehen.”
“Ja.”
Ihre Blicke trafen sich. Wieder spürte sie diese seltsame Verbundenheit. Sie war ihr zuwider, aber sie konnte sie nicht abschütteln.
“Gehen Sie”, wiederholte sie.
Warwick richtete sich noch mehr auf, und mit der Hand griff er in die Tasche. “Das werde ich”, sagte er. “Aber Sie kommen mit mir, Lady Stockhaven.”
Freddie Standish rannte wieder einmal. Vage begriff er, dass er damit aufhören musste. Schließlich war es gar nicht gut, Dinge übereilt zu tun. Er kam dabei immer doppelt so schnell außer Atem.
Er war die ersten drei Treppen hinaufgekrochen, aber als er merkte, dass weder Marcus noch Alistair auch nur in der Nähe des Dachbodens waren und daher Isabella nicht helfen konnten, wurde er von Panik erfasst. Vielleicht hatte Marcus gar nicht verstanden, was er ihm hatte sagen wollen. Jetzt aber war keine Zeit, das herauszufinden. Er rannte die letzte Treppe nach oben, raste über den Treppenabsatz und stieß die Tür zum Speicher auf.
“Bella!”
Sowohl seine Schwester als auch Warwick schraken zusammen. Ihm erschien Warwick wie eine hoch aufgerichtete Schlange, die jeden Augenblick zuschlagen würde. Und dann geschah es. Plötzlich umfasste Warwick Isabella mit einem Arm und hielt ihr ein Messer an die Kehle. Er hielt sie vor sich wie einen Schild. Beim Glitzern des Stahls fühlte Freddie sich einer Ohnmacht nahe – ein Zustand, dem er durch seine Rennerei ohnehin schon verdammt nahe war.
“Was zum Teufel haben Sie vor, Standish?”, schnarrte Warwick.
Freddie sah abwechselnd Warwick und Isabella an und leckte sich die Lippen wie ein gejagter Fuchs seine Lefzen. Schweißperlen rannen ihm an der Stirn herab. Er nahm sein Seidentaschentuch heraus und wischte sich die Stirn.
“Freddie”, rief Isabella eindringlich. “Ich glaube, du kennst Mr Warwick schon”, sagte sie dann und sah ganz krank aus angesichts seines Verrats.
“Ja”, antwortete er, und sein Blick kehrte zu Warwicks Gesicht zurück. Jetzt war keine Zeit für Erklärungen. Freddie spreizte die Hände. “Lassen Sie sie gehen, Mann. Ich bin’s nur. Keine Gefahr.”
“Sie waren nie eine”, antwortete Warwick spöttisch und nahm das Messer nicht von Isabellas Kehle. Er sah sich in dem leeren Raum um, bevor sein Blick wieder zu Freddie schnellte. “Obwohl ich mich wirklich frage, warum Sie hier sind.” Dann fuhr er fort: “Sie haben niemanden kommen sehen?”
“Niemanden”, antwortete Freddie ruhig. “Lassen Sie sie los und gehen Sie, Warwick.”
In Warwicks Gesicht war ein wütendes Zucken. “Sie treiben ein falsches Spiel, Standish.”
“Keine Ahnung, was Sie meinen, altes Haus”, erwiderte Freddie gelassen, obwohl im Inneren die Angst hochkam und er zu zittern begann. Fast wünschte er, er wäre nicht hergekommen. Seine Schwester hatte immer für sich selbst sorgen können. Zwar sah sie jetzt nicht so aus, als ob sie einen Ausweg wüsste, aber ihr würde sicher etwas einfallen. Er selbst hingegen wusste überhaupt nicht, was er tun sollte. “Habe gar nicht den Mut, Sie zu täuschen, geschweige denn das Köpfchen dazu.”
Isabella bewegte sich ein wenig, und Warwick ließ das Messer an ihrer Kehle hin und her gleiten. Eine dünne rote Linie entstand. Freddie wurde von einem Schauder erfasst. Als Kind hatte er beim Anblick von Blut immer geweint, und jetzt war er auch nicht viel mutiger.
“Lady Stockhaven kommt aber mit mir”, sagte Warwick entschlossen.
“Nein!” Freddie trat einen Schritt auf ihn zu. “Kein Grund, ein Drama daraus zu machen. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, dass Stockhaven und Cantrell auf dem Weg vom Witwenhaus hierher sind. Machen Sie, dass Sie wegkommen, ehe etwas passiert.”
Warwick bewegte sich ungerührt auf die Tür zu und hielt Isabella immer noch vor sich wie einen Schild.
Freddie zögerte, schalt sich selbst einen Narren – dann aber bückte er sich und schoss nach vorn auf Warwicks Beine zu. Warwick ließ Isabella los und stürzte sich mit einem Grunzen und einem dumpfen Aufprall auf Freddie.
Drei Dinge geschahen gleichzeitig. Aus den Augenwinkeln sah Freddie, wie Isabella herumfuhr und sie mit dem Arm einen kräftigen Schlag gegen die Seite von Warwicks Kopf ausführte. Gleichzeitig krachte ein Schuss, und eine Kugel streifte Warwick an der Schulter und wurde an die Wand abgelenkt, wo sie ein großes Stück Putz herausschlug.
Und Freddie spürte, wie das Messer seine Seite aufschlitzte. Er drückte seine Hand auf die Rippen und sah, wie das Blut durch die Finger rann. Warwick war bewusstlos, aber Freddie war kaum besser dran. So ein verdammter Schlamassel! Er war einfach nicht zum Helden bestimmt.
“Freddie!” Isabella war neben ihm, und in ihrer Stimme schwang Angst mit. Freddie sah, wie Marcus Stockhaven sich durch das Fenster hinunter auf den Fußboden schwang. Das Dach! Natürlich! Wenn ihm das nur eingefallen wäre …
Isabella drückte einen improvisierten Verband an seine Seite. Sicher hatte sie ihren Unterrock genommen, dachte Freddie. Er wollte ihr sagen, dass sie damit aufhören sollte, weil gutes Leinen zu kostbar war, um es so zu vergeuden – aber auch, weil seine Seite sehr schmerzte.
Langsam ließ er sich gegen die Wand gleiten und stöhnte. Isabella bettete seinen Kopf in ihrem Schoß. “Bald kommt Hilfe, Freddie”, sagte sie tröstend. “Mr Cantrell holt einen Arzt. Es wird dir bald besser gehen.”
Freddie wusste ihre Worte zu würdigen, obwohl er ihnen nicht einen Augenblick lang Glauben schenkte.
“Wollte dir immer helfen, Bella”, sagte er mit offensichtlich großer Mühe. “Konnte es nicht, als wir jünger waren. Bin froh, dass ich dir jetzt endlich einmal einen Dienst erweisen konnte.” Er zuckte zusammen, weil Marcus den Verband stärker andrückte.
“Die ganzen Jahre habe ich nicht gewusst, dass er derjenige ist”, flüsterte Freddie. “Wir hatten uns nie gesehen. Wenn ich gewusst hätte, dass er Indias Verehrer war …” Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Isabella drückte ihm die Hand.
“Freddie …”
“Er hat meinen Lieblingsmantel ruiniert”, sagte Freddie. Und dann wurde es dunkel um ihn, wofür er zutiefst dankbar war.
“Er wird durchkommen”, sagte Marcus später. Er hatte die halbe Stunde zuvor an Freddie Standishs Bett zugebracht, während sich der unglückliche Lord die traurige Geschichte seiner Beziehung zu Edward Warwick von der Seele redete. Schließlich war Freddie dann, erschöpft von dem Geständnis und dem Blutverlust, eingeschlafen. Danach war Marcus zu Isabellas Schlafgemach gegangen. Er hatte sie überredet, sich auszuruhen, denn sie war von der Anspannung blass wie Kalk an der Wand gewesen. Marcus wusste, dass Isabella sich Sorgen machte. Obwohl die Verletzung ihres Bruders geringfügig war – Warwicks Messer hatte keinen tiefen Einschnitt hinterlassen –, hatte er stark geblutet. Es sah alles schlimmer aus, als es wirklich war.
Marcus ging hinüber zum Bett. Isabella saß gegen die Kissen gelehnt und hatte ein Buch in der Hand. Neben ihr stand ein Tablett mit Tee. Es war offensichtlich, dass ihre Gedanken nicht beim Lesen waren, denn sie hielt das Buch verkehrt herum.
Marcus nahm ihre Hände, um ihr ein Gefühl von Sicherheit zu geben. “Freddie wird sich noch eine Weile schwach fühlen, aber er müsste sich recht bald erholen, wenn er sich nicht überanstrengt.”
“Dann wird sich mit ihm kaum viel ändern”, sagte Isabella, und der alte Unternehmungsgeist blitzte in ihren Augen auf. “Trotzdem bin ich froh. Ich habe zu viele Menschen verloren, um meinen Bruder auch noch verlieren zu wollen.” Dann zeigten sich Falten auf ihrer Stirn. “Aber was wirst du mit ihm machen, Marcus? Er hat für Warwick gearbeitet, und das bringt dich in eine schwierige Situation.”
Er lächelte. “Armer Freddie. Er hat mir gesagt, dass Warwick ihn und auch vorher euren Vater jahrelang beherrscht hat. Er war aber immer das kleinste Rädchen in Warwicks Getriebe und versorgte ihn lediglich mit Informationen, sonst war nichts.”
Auf Isabellas Gesicht malte sich eine Mischung aus Erleichterung und Sorge. “Ich hatte keine Ahnung von alledem”, sagte sie. “Oh ja, Pen sprach von seinen Schulden, aber …” Sie rieb sich erschöpft die Stirn.
“Wirf ihm das nicht vor”, sagte Marcus ermutigend. “Er war in einer verzweifelten Lage.”
Sie lächelte müde. “Ich könnte ihm auch nichts vorwerfen, wenn ich daran denke, wie man sich dabei fühlt.” Sie sah Marcus wehmütig an. “Wenn ich an all das denke, was ich getan habe, als ich verzweifelt und allein war. Meine Vergehen waren schlimmer, denke ich.”
Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. “Das waren keine Vergehen, Bella.” Wenn alles so ging, wie er es sich wünschte, dann würde sie sich nie wieder irgendetwas vorwerfen müssen. Sie war unbezähmbar und mutig, und er liebte sie.
Eine nachdenkliche Falte erschien auf seiner Stirn, als er an all das dachte, was sie hatte durchleben müssen.
“Was hat Freddie damit gemeint, dass er dir nicht helfen konnte, als ihr jünger wart?”, fragte er.
Einen Augenblick lang schwieg Isabella, und ihr Gesicht war regungslos. Schließlich sagte sie: “Ich glaube, dass Freddie immer glaubte, dass er etwas für mich hätte tun sollen, um mir zu helfen, als ich … gezwungen wurde, Ernest zu heiraten. Er sprach nie direkt mit mir darüber, aber manchmal hat er etwas angedeutet, und ich denke, dass er immer unter einem Schuldgefühl litt.”
Marcus nickte nachdenklich. “Er war aber zu der Zeit nur wenig älter als du.”
“Er war achtzehn”, sage sie. “Er denkt jetzt, dass er sich bei unserem Vater hätte durchsetzen sollen.”
Einen Augenblick lang antwortete Marcus nicht. Schließlich sagte er: “Dein Bruder lehnte sich nicht gegen die willkürliche Entscheidung eures Vaters auf, dir diese Ehe aufzudrängen. Vermutlich bekam er so das Gefühl, seine Ehre verloren zu haben. Aber wenigstens hat er heute seine Selbstachtung wiedergewonnen.”
“Und was wird aus Edward Warwick?”, fragte sie.
Marcus seufzte. “Er wird auch durchkommen.”
Er glaubte in Isabellas Augen ein Aufflackern von Schmerz zu erkennen. “Du könntest ihn ja einfach gehen lassen”, sagte sie.
Er sah sie erstaunt an. “Bella, der Mann hat versucht, dich umzubringen!”
“Nun, so war es wohl nicht”, korrigierte sie ihn. “Er hat mich nur als Geisel benutzt, um damit seine Freiheit zu erkaufen.”
Marcus presste die Lippen aufeinander. Er würde niemals vergessen, was er empfunden hatte, als Warwick das Messer an ihre Kehle hielt. Er war drauf und dran gewesen, den Mann niederzuschießen. Nur Alistair, der ihn eindringlich an der Jacke festhielt, hatte ihn wieder zur Vernunft gebracht mit den geflüsterten Worten, dass er Isabella töten würde, wenn er nicht aufpasste und abwartete. Blinde Wut hatte von Marcus Besitz ergriffen, als er die dünne rote Linie an Isabellas Kehle sah, wo das Messer ihre Haut geritzt hatte. Aber die Wut wurde durch Angst gedämpft, eine Angst, die größer war als alles, was er zuvor empfunden hatte. Sie hätte verletzt oder gar getötet werden können. Seine Isabella …
“Der Mann ist ein gefährlicher Verbrecher”, sagte er mit heiserer Stimme. “Er hätte dich nie losgelassen, Bella. Er ist ein Mörder und Schwerverbrecher. Er muss hängen.”
Isabellas Wimpern zuckten. Er blickte in ihre ehrlichen blauen Augen und auf ihren verführerischen Mund und wollte sie an sich drücken.
“Ich verstehe ja”, sagte sie. Marcus merkte, wie ein Zittern durch ihren Körper ging. “Hast du gehört, worüber wir gesprochen haben?”
“Nein”, antwortete er. “Wir konnten nichts hören. Ich hatte immer die Hoffnung, dass du es mir sagen würdest. Und”, fügte er hinzu, “sag mir, was du überhaupt auf dem Dachboden gemacht hast.”
Er sah, wie sie die Decke um sich herum glatt strich und ihre Lippen zusammenpresste, als ob sie eine schwierige Aufgabe vor sich hätte.
“Ich ging hinauf, um mir ein Andenken an India auszusuchen”, sagte sie dann. Offenbar hatte er bei diesen Worten sehr erstaunt ausgesehen, denn sie fügte hinzu: “Ich habe Mitleid mit ihr. Wir haben uns nie nahegestanden, und ich bezweifle, dass wir das je hätten erreichen können, aber ich habe trotzdem Mitleid mit ihr.” Isabella hielt inne. Dann sagte sie: “Ich denke aber, dass wir einander Verständnis hätten entgegenbringen können.”
Marcus nickte. “Und Warwick?”
Sie seufzte. “Wir sprachen über seinen Sohn.” Sie presste die Hände aufeinander. “Ich weiß, dass du ihn nicht einfach gehen lassen kannst, Marcus. Aber der Mann hat jeden Tag gelitten. Er wird weiterhin leiden, weil er sein Kind nicht wird finden können, weil er nicht einmal weiß, ob es noch lebt. Ich verstehe ein wenig davon, was er empfinden muss.” Sie brach ab und senkte den Kopf.
Marcus spannte sich an. Aus ihrer Stimme war ein schmerzliches Mitleid herauszuhören, das durchaus eine Saite des Mitgefühls in ihm zum Klingen brachte, obwohl er dies gar nicht wollte.
“Was du dabei empfindest, kann ich teilweise verstehen”, sagte er langsam.
Ihre Augen hingen erwartungsvoll an seinem Gesicht.
“Wirklich?”
“Ja. Das heißt, als du mir von Indias Kind erzähltest, hatte ich ein gewisses Mitgefühl für Warwicks traurige Lage. Aber für den Mann selbst …” Er schüttelte den Kopf.
Im Kerzenlicht leuchteten Isabellas Augen sehr hell und blau. “Denkst du, dass wir das Kind jemals finden können?”
Marcus zögerte. Er wollte Isabella nicht weiter leiden sehen, aber wenn sie die Wahrheit jetzt nicht erfuhr, konnte er sich vorstellen, dass sie gleichsam einen Kreuzzug in Bewegung setzen würde, um den verlorenen Sohn ihrer Cousine zu finden und ihm zu helfen.
“Man hat ihn schon gefunden”, sagte er deswegen ernst.
Isabellas Augen leuchteten auf, aber als sie seinen Gesichtsausdruck sah, verschwand die Freude sofort.
“Ist er …” Sie hielt inne. “Ist er tot, Marcus?”
Er nickte. Sein Gesicht war immer noch ernst. “Er war nie weit weg von zu Hause. Indias Sohn war der Junge, den Warwick zu meinem Haus geschickt hatte, um dort nach Beweismaterial zu suchen. Edward Channing.”
Isabella stockte der Atem. “Aber Warwick hat doch überall nach dem Jungen gesucht! Wie kam es, dass er nicht wusste, dass Edward sein Sohn war?”
Marcus machte eine leicht abwehrende Geste. “Ganz sicher kann ich nicht sein. Wir wissen, dass der Junge in Schottland geboren und später von dem Gärtnerehepaar der Southerns aufgenommen wurde. Sie sind dann nach London gezogen, aber nach dem Tod des Gärtners kam Edward nach Salterton zurück und lebte bei den Channings. Channings Frau war entfernt verwandt mit Edwards Eltern und hat auch viele Jahre für Lord John gearbeitet. Vielleicht hatte dein Onkel sogar den Wunsch, den Jungen in der Nähe zu haben, wo er auf ihn aufpassen konnte.”
Isabella runzelte die Stirn. “Und doch konnte Warwick die Wahrheit nie herausfinden!”
Marcus schüttelte den Kopf. “Lord John hatte mit Channing eine gute Wahl getroffen. Er ist ein schweigsamer Mann. Aber der Junge war wild – zweifellos wie Edward Warwick in seiner Jugend. Er geriet in schlechte Gesellschaft.”
“Er geriet in Warwicks Gesellschaft”, sagte Isabella nachdenklich. “Oh, diese Ironie! Warwick wusste nicht, dass er genau der Junge war, nach dem er immer gesucht hatte!”
Marcus’ Gesicht wurde hart. “Es kommt noch schlimmer, Bella. Edward Channing lief fort, um sich Warwick in London anzuschließen. Aber er wurde krank, und Warwick überließ ihn seinem Schicksal. Der Junge starb im Armenhaus. Ich entdeckte die Wahrheit über Edwards Herkunft, als ich den Channings die Nachricht von seinem Tod überbrachte.”
Isabella presste die Hand auf ihren Mund. “Warwick hat seinen eigenen Sohn auf dem Gewissen?”
“Er hat den kranken Jungen sich selbst überlassen, und so starb er. So viel ist sicher.”
Ein Seufzer kummervollen Mitleids entrang sich Isabellas Kehle. “Marcus, ich kann das nicht ertragen. Weiß Warwick es schon?”
“Noch nicht”, antwortete er. Er sprach ganz langsam. “Allerdings erscheint es angebracht, dass man es ihm sagt. Die letzte Ironie zu erfahren, nämlich dass Edward durch seine Schuld starb … Das wäre wirklich Strafe.”
“Das wäre zu grausam”, flüsterte Isabella.
Er schüttelte den Kopf. “Das Leben kann nicht immer nett und einfach sein”, sagte er.
Sie schloss kurz die Augen, und dann suchte sie wieder seinen Blick. “Niemand weiß das so gut wie ich”, sagte sie leise.
Er nahm ihre Hände. “Du sollst nie wieder so etwas durchleben”, antwortete er. “Ich schwöre es.”
Isabella beobachtete vom Fenster aus, wie Edward Warwick abgeholt wurde. Eine Abteilung Marinesoldaten der HMS Sapphire führte ihn in Ketten den Kai entlang ab. Sie sollten ihn auf dem Seeweg zu seinem Prozess nach London bringen. Es schien nicht einfach zu sein mit einem Mann, der offenbar so krank war, dass er kaum laufen konnte. Sie beobachtete die traurige Prozession, bis sie bei der Kurve der Strandpromenade außer Sichtweite geriet. Bei dem Anblick fühlte sie sich elend. Viele der Einwohner und Besucher von Salterton betrachteten den Zug jedoch als ein lustiges Schauspiel. Isabella ging hinüber zu dem Spiegel, der auf der Frisierkommode stand. Dann stützte sie die Hände oben auf den robusten Holzrahmen und betrachtete sich lange und prüfend darin.
Das Leben kann nicht immer nett und einfach sein, hatte Marcus gesagt, und Isabella wusste, wie viel Wahrheit darin lag, denn jetzt sah sie sich dem größten Problem von allen gegenüber. Sie war sich nun sicher, dass sie nicht empfangen hatte. Bestürzt und erschrocken hatte sie geweint, als sie es feststellte, so als ob sie insgeheim immer Marcus’ Kind hatte bekommen wollen. Jetzt gab es nichts, was sie zusammenhielt, es sei denn, die Liebe und das Vertrauen, die sie während der vergangenen Wochen aufzubauen versucht hatten, waren stark genug – das aber wusste sie eben nicht. Was sie wohl wusste, war, dass sie Marcus so sehr achtete, um ihm die Wahrheit über Emmas Eltern zu sagen; und dann kam es darauf an, wie er sich verhielt.
Sie hatte große Angst.