12. KAPITEL

Es war nicht spät, aber im Brunswick Gardens war es still, als der Wagen vor dem Haus hielt. In der Eingangshalle brannten zwei Lampen. Die heiße Sommernacht bei Mondschein hätte romantisch sein können, aber Isabella war beunruhigt, voller Misstrauen und Angst. Marcus saß ihr mit ausdruckslosem Gesicht gegenüber. Er hatte sich seines Gehrocks und seiner Weste entledigt und sein Halstuch gelöst. Isabella hoffte inständig, dass die Hitze der Grund dafür war und nicht die Absicht, sie noch während der Fahrt zu nehmen. Sie war sich nicht sicher. Bei dem Mondlicht sah er sowohl sehr elegant als auch markant männlich aus.

“Warum haben Sie sich nicht an Ihre Freunde gewandt, als Sie verschuldet waren?”, fragte er plötzlich. “Sie hätten Ihnen gern geholfen.”

Isabella straffte sich etwas in ihrem Sitz. “Ich leihe mir kein Geld von meinen Freunden”, antwortete sie ruhig.

“Stolz ist eine teure Handelsware”, sagte er.

“Es ist nicht Stolz, Stockhaven”, antwortete sie leise. “Es ist Selbstachtung.”

Marcus schwieg und half ihr dann aus dem Wagen.

Belton blieb völlig unerschütterlich und behielt seine diskrete Miene, als er Isabella Di Cassilis am Arm ihres Mannes sah.

“Guten Abend, Eure Durchlauchtigste Hoheit, Mylord …”, begrüßte er sie mit tadelloser, sehr förmlicher Verbeugung, obwohl er es nicht gewohnt war, dass seine Herrin Gentlemen mit nach Hause brachte. “Ich hoffe, dass Sie einen schönen Abend hatten. Darf ich Ihnen eine Erfrischung bringen?”

“Ja bitte”, antwortete Isabella leise und streifte ihre Handschuhe ab. “Ich nehme ein Glas Portwein im Arbeitszimmer.” Sie warf einen Blick auf Marcus. “Nein, lieber eine Flasche. Lord Stockhaven?”

Marcus half ihr, den Umhang abzulegen, und kam so dem Butler zuvor, dessen Gesichtsausdruck, wenn überhaupt möglich, noch ausdrucksloser wurde. Isabella spürte Marcus’ Hand auf ihrem Nacken, als das Kleidungsstück von ihren Schultern glitt. Die Berührung schien ihr seltsam vertraulich, und sie entzog sich ihm, so schnell sie konnte.

“Weinbrand bitte”, sagte er.

“Gewiss, Mylord”, sagte Belton steif und ging.

Ein Diener öffnete die Tür zum Arbeitszimmer und schloss sie hinter Isabella und Marcus leise wieder. Schweigen herrschte zwischen ihnen.

Isabella ging zum Fenster und zog die langen Vorhänge zurück. Der kühle Luftzug tat ihrem erhitzten Gesicht gut. Vor Anspannung waren ihre Nerven zum Zerreißen gespannt. Sie wartete darauf, dass er etwas sagte.

Marcus stand mit dem Rücken zum Kamin, hatte die Hände in den Taschen und sah sehr entspannt aus. Er hatte sich völlig in der Gewalt und beherrschte die Situation. Isabella fühlte sich plötzlich sehr müde: zermürbt von der dauernden Verstellung, dem Kleinkrieg – und dem Wissen, sich immer weiter von ihm zu entfernen. Sie wandte sich an Marcus und blickte ihm direkt in die Augen.

“Sie versuchen, mich zu brechen, Stockhaven”, sagte sie, “aber es wird Ihnen nicht gelingen.”

Marcus kam zu ihr herüber und fasste sie bei den Schultern. Er blickte lange in ihre abweisenden Augen.

“Nein”, antwortete er mit einem leichten Lächeln. “Das wird es wohl nicht.”

“Aber dann …” Sie machte eine abwehrende Handbewegung. “Was wollen Sie von mir?”

“Ich will mit Ihnen ins Reine kommen”, sagte er wieder. “Ich will eine Erklärung, eine Abrechnung, und ich will eine Hochzeitsnacht. Was wollen Sie?”

Sie holte tief Luft. “Ich will, dass Sie mich in Ruhe lassen.”

Seine Augen blitzten auf. “Gut, abgemacht. Wenn Sie mir geben, was ich will, werde ich meinen Teil der Vereinbarung einhalten.”

Isabella musterte ihn gründlich. Der warme, spärlich beleuchtete Raum bot sich für Intimitäten und Vertraulichkeiten geradezu an. Allerdings wollte sie sich Marcus Stockhaven gar nicht anvertrauen. In ihr war es kalt, und sie fühlte sich verraten und unglücklich. Ehe sie das volle Ausmaß seines Misstrauens begriffen hatte, hätte sie ihm die gewünschte Erklärung vielleicht gegeben. Aber jetzt war das nur hoffnungslose Zeitverschwendung. Sie würde ihm ihre Vergangenheit offenlegen und sich so seinem Hohn und Spott noch stärker aussetzen, und sie war nicht sicher, ob sie das aushalten könnte.

Was die Hochzeitsnacht betraf …

Der Gedanke daran ließ ihren ganzen Körper erzittern. Ein Teil von ihr sehnte sich leidenschaftlich und fast verzweifelt danach, aber sie wusste, dass sie sich einem Mann, der sie hasste, nicht hingeben konnte. Sie fühlte sich hoffnungslos zu Marcus hingezogen, und zwar immer schon. Eine hartnäckige innere Stimme sagte ihr, dass es für eine neue Liebe zwischen ihnen noch nicht zu spät war. Aber die kalte Wirklichkeit machte das unmöglich.

Marcus nahm ihren Arm. Sein Griff war nur leicht, aber er hielt sie fest. Eiseskälte durchzog ihren ganzen Körper.

“Ich begleiche meine Schulden nicht auf diese Art”, sagte sie mit Nachdruck. Dabei schob sie stolz das Kinn vor und sah ihm in die Augen. “Machen Sie keinen Fehler, Stockhaven. Ich will mich Ihnen nicht erklären müssen. Das ist schlimm genug. Ich begreife nicht, wozu das nach all dieser Zeit nützen soll, und ich glaube, ich schulde Ihnen nichts. Aber”, sie zuckte leicht die Achseln, “wenn Sie darauf bestehen, dann ist das Gespräch mit Ihnen das geringere Übel, oder?”

Marcus starrte in ihre Augen, und Isabella fürchtete, dass er darin alles sehen könnte, was sie so fest in sich verschlossen hatte – die ganze Not, die lange verborgen gehaltenen Geheimnisse, die Liebe und die Angst. Dann löste er den Griff und trat einen Schritt zurück. Sein Gesichtsausdruck blieb hart.

“Es ist alles oder nichts.”

Alles oder nichts. Die Abrechnung und die Hochzeitsnacht. Aber im Austausch dafür Freiheit …

Sie sehnte sich danach, frei zu sein. Die Freiheit war so nahe und doch auf so quälende Weise außerhalb ihrer Reichweite.

“Ich will Salterton”, sagte sie.

“Es soll Ihnen gehören.”

“Und die Mittel, um das Anwesen zu erhalten.”

“Selbstverständlich.”

“Ich will …”

Eine Nichtigkeitserklärung wäre nach Vollzug der Ehe nicht mehr möglich. Isabella atmete tief und zwang sich, darüber jetzt noch nicht nachzudenken.

“Ich möchte eine gesetzliche Trennung.”

Einen Augenblick lang dachte sie, dass Marcus das ablehnen würde. Ein angespannter Zug trat in sein Gesicht.

“Gut”, sagte er dann, und seine Stimme war rau.

“Ich traue Ihnen nicht”, antwortete Isabella flüsternd.

Er zuckte die Achseln. “Ich halte mein Wort. Und wenn ich mein Versprechen tatsächlich bräche, dann könnten Sie Ihren Stolz herunterschlucken und den Belsyres über mich sagen, was Sie wollten. Sie wissen, dass Sie so meine Zukunftspläne zehnmal zunichtemachen könnten.”

Isabella schnürte es fast die Kehle zu, und sie war dem Weinen nahe. “Ich will nicht, dass es so kommt.”

“Aber so ist es eben.” Marcus’ Stimme war unerbittlich.

Isabella hatte keine große Wahl. Es gab für sie zwei Möglichkeiten: Entweder lebte sie ein halbes Leben ohne große Hoffnungen für die Zukunft – als eine ihrem Mann entfremdete, ihn aber gleichwohl liebende Frau –, oder sie würde sich ihre Freiheit erkaufen und damit einer unerträglichen Situation entfliehen.

Marcus beobachtete sie die ganze Zeit.

“Also gut.” Sie räusperte sich. “Ich bin einverstanden.”

“Oje, oje”, sagte Penelope Standish unglücklich. Sie saß mit Alistair Cantrell im Kaffeehaus in der Lime Street. Für eine Jungfer war es kaum schicklich, spät am Abend nur in Begleitung eines Gentlemans den Kaffee einzunehmen. Aber Pen machte sich keine Sorgen, von Mr Cantrell ging keine Gefahr aus. Selten hatte sie sich mit irgendjemandem so sicher gefühlt wie jetzt. Sie hatten sich am Eingang zu den Büros des Herausgebers des Gentlemen’s Athenian Mercury getroffen, und Pen wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken. Sie hatte den Abend damit verbracht, einen Skandalartikel über Isabella zu schreiben, der sich auf alten Klatsch und auch auf aktuelle Spekulationen gründete. Nach Fertigstellung war sie zur Redaktion geeilt, so als ob ihre Schuld geringer würde, wenn sie den Artikel so schnell wie möglich aus den Händen gegeben hatte. Morrow, der Herausgeber, war begeistert davon gewesen. Kurz darauf lag Pens Blutgeld, ein Sovereign, gewichtig in ihrem Retikül. Sie hatte auch schon angefangen zu überlegen, wofür sie das Geld ausgeben würde. Und dann war sie im Eingang mit Alistair fast zusammengestoßen, und er hatte sie in der ihm eigenen klugen Art angesehen. In diesem Moment kam es ihr vor, als würde die verwünschte Münze zum Zeichen ihres Verrats in Flammen aufgehen und ihr Retikül hell auflodern lassen. Stotternd hatte sie Alistair gegrüßt – sie wusste gar nicht mehr, was sie gesagt hatte – und versucht vorbeizuhuschen. Dann aber hatte er ihr die Hand auf den Arm gelegt, um sie anzuhalten.

“Miss Standish, erlauben Sie ein Wort?”

Und im gleichen Augenblick wusste Pen auch schon, dass sie verloren hatte.

Sie saßen in einer ruhigen Ecke des Kaffeehauses, während das Nachtleben der Stadt, von ihnen unbeachtet, um sie herum wogte.

“Miss Standish”, wiederholte Alistair Cantrell. “Sie können mir natürlich sagen, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Aber ich frage mich schon, was Sie im Büro des berüchtigtsten Londoner Skandalblatts eigentlich machen.”

“O je”, sagte Pen wieder. In ihrer Aufregung tat sie noch einen Löffel voll Zucker in ihren Kaffee und rührte schnell und verlegen darin herum.

Alistair sah ihr in die Augen. “Sie scheinen Ihre Schwester sehr zu mögen”, sagte er. “Warum verkaufen Sie dann Geschichten über sie an die Presse?”

Pen sank in sich zusammen. Sie könnte natürlich leugnen, aber irgendwie schien es unmöglich zu sein, Alistair zu belügen.

“Woher wussten Sie das?”, fragte sie kleinlaut.

Alistair lächelte. “Das ist nur logisch. Der Verfasser der Artikel kennt Fürstin Isabellas Leben so gut, wie es nur eine Vertrauensperson tun kann. Es musste also jemand sein, der in enger Beziehung zu Isabella stand. Und dann sah ich Sie, wie Sie aus dem Büro herauskamen.” Er zuckte leicht die Achseln. “Nun ja, all das schien recht schlüssig zu sein.”

“Ja”, sagte sie leise. “Ich schreibe diese Artikel. Ich schäme mich sehr.”

Eine Pause trat ein.

“Verzeihen Sie mir, Miss Standish, aber Sie haben Fürstin Isabella doch gern, nicht wahr?”

Pens Gesicht zuckte. “Ja. Oh ja, natürlich! Bella ist das liebste Geschöpf auf der Welt, und ich habe sie sehr gern.” Sie beugte sich nach vorn. Ob er sie wohl jemals verstehen könnte? Er schien sehr loyal zu sein und würde diese Art von Betrug nie stillschweigend gutheißen. Pen wollte seine Meinung wissen.

“Sehen Sie, Mr Cantrell.” Sie sah ihn flehend an. “Ich habe überhaupt kein Geld, und ich muss etwas tun, um zu überleben.” Sie zögerte weiterzusprechen und versuchte seiner nächsten Frage zuvorzukommen. “Der Grund dafür ist unwichtig. Aber als ich über meine finanzielle Situation nachdachte, fiel mir auf, dass das Einzige, was ich verkaufen konnte, Skandalgeschichten über Bella waren. Zumindest”, fügte sie hinzu, während sie nachdenklich eine grell geschminkte Halbweltdame am Arm ihres Galans betrachtete, “war es das Einzige, was ich verkaufen wollte.”

Alistairs Lippen zuckten. “Ich verstehe Sie, Miss Standish. Es ist traurig für eine Dame, mit so großen Einschränkungen zu leben und nach anderen Mitteln suchen zu müssen, um ihren Lebensunterhalt zu gewährleisten. Aber trotzdem …”

“Ich weiß”, antwortete Pen. “Sie können mich nicht noch mehr verachten, als ich das schon selbst tue, Mr Cantrell. Ich habe mir wieder und wieder gesagt, dass ich aufhören müsste, aber ich konnte es nicht. Es war zu verlockend. Und Bella schien es nicht viel auszumachen, wenn sie diese Berichte las.” Sie hielt inne. “Ich weiß, das ist keine Entschuldigung.”

Alistair fasste kurz ihre Hand. Pen fuhr zusammen und war gleichzeitig angenehm berührt.

“Ich mache mir Sorgen um Bella”, sagte sie dann, um ihre Überraschung zu überspielen. “Unter den gegebenen Umständen mag sich das vielleicht unglaubwürdig anhören, aber ich habe sie wirklich sehr gern.”

Er nickte. “Ich verstehe Sie.”

Pen verspürte den starken Drang, Alistair noch mehr anzuvertrauen.

“Obwohl Bella meine ältere Schwester ist und so …”, sie suchte nach Worten, “erfahren ist – nein, so meine ich das nicht, eher dass sie viel von der Welt gesehen hat”, sie blickte mit ihren blauen Augen Alistair kurz an, “also trotz alledem habe ich manchmal das beunruhigende Gefühl, dass sie nicht so richtig weiß, was sie tut.”

Alistair sagte darauf nichts. Er bedeckte ihre Hand wieder in einer tröstenden Geste, und dieses Mal ließ er sie nicht sofort los.

“Bella hat Ernest Di Cassilis überhaupt nur geheiratet, weil unser Vater dem finanziellen Ruin ins Auge blickte”, fuhr Pen fort, “und sie war während all dieser Jahre unglücklich. Als sie zurückkam, entdeckte sie, dass Ernest ihr nichts als Schulden hinterlassen hatte. Aber warum sie nun Cousin Marcus geheiratet hat …” Sie hielt inne, weil sie ganz außer Atem war. Alistair hielt noch immer ihre Hand, es war ein warmes und sehr angenehmes Gefühl.

“Ich weiß wohl, dass sie sich einst sehr nah standen”, vollendete sie. “Zu der Zeit war ich fast noch ein Kind, aber Kinder bemerken solche Dinge, nicht wahr? Ich bin fast ganz sicher, dass sie sich über alle Maßen liebten. Es sollte die vollkommene Hochzeit werden. Aber etwas ging schief, und Bella heiratete Ernest, und Marcus heiratete India, und nun …” Sie schüttelte den Kopf.

Er fasste ihre Hand fester. Pen fühlte sich dadurch getröstet, entzog sich ihm aber. Alistair beobachtete sie mit seinen klugen braunen Augen über den Tisch hinweg.

“Miss Standish, wollen Sie versprechen, dass Sie keine weiteren Geschichten an die Presse verkaufen?”

Pen sank noch mehr in sich zusammen. Sie wusste ja selbst, dass sie damit aufhören musste. Gleichzeitig erschrak sie bei dem Gedanken, kein Geld zu haben.

“Natürlich, ich könnte nicht …” Ihre Stimme klang zittrig. “O je …”

“Es geht um Ihren Bruder, nehme ich an”, sagte Alistair mit einer Spur Härte in seinem Ton.

Pen fühlte sich in die Enge getrieben. “Bitte, bedrängen Sie mich nicht. Freddie tut sein Bestes, aber mit Geld konnte er noch nie umgehen.”

Pen spürte, dass Alistair noch etwas sagen wollte, etwas Verletzendes, und dass ihn nur seine Höflichkeit davon abhielt. Nach einer Weile meinte er: “Wenn Sie in einer finanziellen Notlage sind, kommen wir sicher zu einer Regelung.”

“Mr Cantrell!” Pen war so entsetzt, dass sie den Bodensatz ihres ohnehin viel zu süßen Kaffees verschüttete.

“Ich meinte”, fügte er mit einem Augenzwinkern hinzu, “natürlich ein Darlehen.”

“Oh, natürlich.” Mit Mühe wandte Pen ihren Blick von einem Paar, das eng umschlungen am Erkerfenster saß und die Welt um sich vergessen hatte. Es war zweifellos die freizügige Atmosphäre des Ortes, die ihre Gedanken in solche Bahnen lenkte; dazu kam das aufregende Erlebnis, am Abend mit einem Gentleman auszugehen.

“Das ist sehr freundlich von Ihnen”, fügte sie hinzu.

Alistair stand auf. “Ich glaube, ich sollte Sie jetzt nach Hause begleiten, Miss Standish”, sagte er. “Ich werde uns eine Droschke rufen. Auf den Straßen kann es jetzt etwas unangenehm werden, aber mit mir sind Sie absolut sicher.”

“Ja, das denke ich auch”, antwortete Pen mit einem Seufzer.

Sie sah, wie Alistair bezahlte, dann zum Eingang ging und mit seinem gewohnt selbstsicheren Auftreten eine Droschke bestellte. Ihr fiel die Linie seiner Schultern auf, bevor sie bemerkte, wie geschmeidig er sich in seiner zurückhaltend adretten Garderobe bewegte. Bisher hatte stets das geschriebene Wort allein ihre Fantasie beflügelt, nun aber stellte sie fest, dass sie bei Alistairs Anblick eine fast unanständige Hitze in sich fühlte. Wie unglaublich enttäuschend. Mr Cantrell bot ihr in der unverfänglichsten Art, die man sich vorstellen konnte, seinen Schutz an – und ihr wurde plötzlich klar, dass Sicherheit das Letzte war, was sie von ihm wollte.

“Sollen wir gehen?” Er bot ihr den Arm.

“Danke”, sagte sie und blickte verschämt nach unten, verlegen angesichts ihrer schamlosen Gedanken. “Sie sind der vollendete Gentleman, Mr Cantrell.”

“Zu Ihren Diensten, Miss Standish.” In seinem Ton war nichts als Aufrichtigkeit.

Pen seufzte. Sie wusste, wie hübsch sie war, und dass auch Alistair Cantrell diese Tatsache nicht entgangen war. Gleichzeitig aber wusste sie auch, dass er sich niemals zu dementsprechenden Schritten hinreißen lassen würde. Sie könnte in einem geschlossenen Wagen mit ihm von London nach Canterbury reisen, und er würde vermutlich nichts anderes tun als auf interessante Orte hinzuweisen und im Voraus Erfrischungen zu bestellen. Er würde sich nicht auf sie stürzen oder sonst wie versuchen, sie sich gefügig zu machen: nicht einmal einen keuschen Kuss auf die Hand würde er wagen. Sie fühlte sich geradezu lächerlich verunsichert – gänzlich unbefriedigt auf eine Art und Weise, die sie nie vorher verspürt hatte und die, wie ihre Mutter ihr vermutlich gesagt hätte, eine Dame niemals verspüren sollte.

Absolut enttäuschend! Alistair Cantrell stand vor dem kleinen Haus in Pimlico und schaute hinauf auf das erleuchtete Fenster im ersten Stock. Er war sicher, dass Penelope Standish gerade jetzt ihr Kleid ablegte, die Nadeln aus ihrem goldenen Haar nahm und das Zugband ihres Unterhemdes löste, um sich für die Nachtruhe vorzubereiten. Natürlich konnte er keine dieser reizvollen Tätigkeiten sehen, denn die dicken Vorhänge waren fest zugezogen. Bloß musste er nicht etwas sehen, um es sich vorstellen zu können. Er hatte Penelopes dichtes, lose herabfallendes goldblondes Haar vor Augen, auch ihre kleinen, aber vollkommen geformten Brüste und ihren schlanken Körper unter dem verlockend durchscheinenden Stoff ihres Unterhemdes. Natürlich konnte es auch durchaus sein, dass hinter dem Fenster, auf das er die ganze Zeit starrte, Freddie Standish mit einer Flasche Weinbrand im Arm schnarchte. Aber das war eigentlich nicht von Belang. Wichtig war nur, dass Pen im Haus war und dass er sie begehrte: er war ihr so nahe, aber in Wirklichkeit so unaussprechlich weit weg von ihr.

Pen vertraute Alistair. Sie war eine Dame in einer Notlage, und sie hatte sich ihm anvertraut. Er sollte sich eigentlich geehrt fühlen, dieses Vertrauen zu genießen, und nicht daran denken, es auf unendlich schockierende Weise zu missbrauchen. Er konnte sie einfach nicht dazu ermuntern, ihm zu vertrauen, um sie dann schamlos zu verführen. Aber welch ein Verlangen hatte er danach! Maßlos. Unendlich. Es tat beinah körperlich weh.

Alistair wusste, dass Miss Standish in dem Ruf eines Blaustrumpfs mit scharfer Zunge stand. Bestimmt würde sie jeden zurechtweisen, den sie für einen Narren hielt – und es gab viele, auf die diese Bezeichnung zutraf. Aber er hatte auch ihre Zartheit und Verletzbarkeit gesehen und bemerkt, wie sehr sie ihrer Schwester zugetan war und wie sie von der Schuld, Isabellas Vertrauen zu missbrauchen, geplagt wurde. Alistair wusste, wie schwer es schon für einen Mann war, mit finanziellen Schwierigkeiten zurechtzukommen. Daher konnte er sich vorstellen, wie entmutigt erst eine Frau in dieser Situation sein musste. Und er sollte versuchen, ihr zu helfen, und nicht, sie zu verführen.

Unter den gegebenen Umständen war es ein Glück, dass es angefangen hatte zu regnen. Der Regen dämpfte sein leidenschaftliches Gefühl etwas. Dennocht starrte er weiter auf das erleuchtete Fenster, bis das Licht gelöscht wurde.