November 1318 – Portugal
Jocelin blickte aus
dem schmalen Fenster des Turmes hinunter auf die Furt, zu deren
Bewachung dieses Grenzkastell vor einem knappen Jahrhundert erbaut
worden war. Die Berghänge lagen im abendlichen Nebel, und ein
Turmfalkenpaar schwebte über die schroffen Felszinken seinem
abendlichen Ruheplatz zu.
In den Sommermonaten
herrschte hier reges Begängnis. Doch jetzt im Winter kamen kaum
mehr Reiter oder Fuhrwerke; zu schlecht war das Wetter und der
Fluss unberechenbar, sobald der erste Schnee weiter oben in den
Bergen fiel. Nur Schmuggler und einiges andere Gesindel gedachten
dann die Gunst der Stunde zu nutzen. Oder Vertriebene, die keine
Rücksicht auf die Witterung nehmen durften, um ihr Leben zu
retten.
Ein paar mal waren
ganz besondere Flüchtlinge hier aufgetaucht, ehemalige Templer aus
Frankreich, die einer der alten Brüder auf den sicheren Weg in den
Süden gesandt hatte. Doch es waren weniger geworden mit den Jahren.
Im Sommer hatte Jocelin zum letzten Mal drei dieser speziellen
Gäste auf dem Kastell beherbergt. Er erinnerte sich an die
Neuigkeiten, die sie mitgebracht hatten: vom Tod des
Großinquisitors Guillaume Imbert...
Jocelin schloss den
Fensterladen, um die heraufziehende Kühle auszusperren. Imbert...
Der letzte ihrer Verfolger und Folterer, der vor den Richtstuhl
Gottes befohlen worden war! Alle anderen waren sie tot unterdessen:
Papst Clemens und König Philipp, die nur ein paar Wochen nach der
Verurteilung von Meister Jacques in die Ewigkeit abberufen worden
waren. Enguerrand de Marigny, den man der Veruntreuung angeklagt
und gehängt hatte, sein Bruder Philipp, Erzbischof von
Sens...
Ihre Gesichter vor
Augen stieg Jocelin langsam die schmale Treppe hinunter, zuerst in
die obere Wachstube, wo drei Männer seines Kontingents bei einem
Brettspiel saßen, um sich die Abendstunden zu vertreiben, und dann
hinunter in die Räumlichkeiten, die seiner eigenen Familie als Heim
dienten.
Ghislaine war gerade
dabei, Brot zu schneiden. Sein jüngster Sohn, der vierjährige
Jacques, saß ungeduldig mit den Beinen strampelnd am Tisch und
versuchte den großen Suppentopf in dessen Mitte zu erreichen. Sein
älterer Bruder Arnaud stand noch auf Zehenspitzen an einem der
Fenster und spähte hinaus in die aufziehende
Dunkelheit.
„Arnaud, mach die
Läden zu, es wird zu kalt hier drin!“ rief Ghislaine.
Der Junge streckte die
Hände nach den Eisenschlaufen aus. „Da kommt noch jemand durch die
Furt!“ rief er dann. „Ein Engel! Ein weißer Ritter! Sieh mal,
Mama!“
Sie trat zu ihm - und
traute ihren Augen kaum. „Mein Gott... das ist ...
Yvo!“
Jocelin beugte sich
neben ihr aus dem Fenster. Auch sein Blick blieb wie gebannt an der
Gestalt zu Pferde haften, die jetzt auf das Tor zuritt. Yvo trug
einen weißen Waffenrock und einen Mantel, der sich im Abendwind
bauschte, weiß und mit einem roten Tatzenkreuz auf der linken
Seite! Narrten ihn die Sinne oder was bei allen Heiligen sah er
da?!
Ghislaine war bereits
aus der Tür, und Arnaud rannte ihr hinterher. Jocelin folgte ihnen
so rasch er konnte. Merkend, dass der kleine Jacques versuchte,
sich an seinem Umhang festzuklammern, hob er sein Söhnchen auf die
Schultern.
Kurz darauf standen
sie im dämmrigen Burghof einem jungen Mann gegenüber, der aus einer
längst vergangenen Welt zu stammen schien. Und doch machte der
Schweißgeruch seines Pferdes, die Atemwölkchen in der Luft und der
Klang seiner Stimme deutlich, dass es kein Traumbild
war.
Jocelin strich über
den Stoff des Mantels und das aufgenähte Kreuz und sah jetzt auch,
dass es nicht ganz jenes war, das die Ordensgewänder der Templer
einst geziert hatte. In der Mitte des roten Stoffes war ein kleines
weißes Kreuz zu sehen.
„Das Kreuz der
Christusritter!“ rief Yvo, sich aus der Umarmung seiner Mutter
lösend. „König Diniz hat den Orden neu gegründet! Seht, Sire
Jocelin! Das weiße Kreuz als Zeichen unserer Unschuld! Unsere Ehre
ist wieder hergestellt! Überall wird man wieder unser Banner sehen
können! Ich bin sofort los geritten, um Euch die Nachricht zu
bringen!“
Jocelin ergriff seine
Hände und dankte ihm mit einem stummen Nicken, zu bewegt, um Worte
zu finden. Ja, es war gute Botschaft, eine Gnade, ein Geschenk, die
seinen gejagten und entrechteten Brüdern da zuteil geworden
war!
„Aber unsere Ehre“,
dachte der ehemalige Komtur der freien Templer und jetzige
Kastellan von Jordao, während er Ghislaine und ihrem unverhofften
Gast zum Turm nach schritt, „...unsere Ehre kann nur der
wiederherstellen, der sie uns genommen hat. Der Heilige Vater in
Rom. Nur er kann das Unrecht beseitigen, den Makel der
Verleumdungen tilgen...uns den Frieden geben...“
An der Pforte blieb er
noch einen Moment stehen und wandte sich um in die beginnende
Nacht, die die Berghänge einzuhüllen begann und sich über den
Burghof breitete. Auf der Mauer schwang eine Laterne im
Wind.
„Nur der Heilige Vater
in Rom“, wiederholte Jocelin leise, und das Fauchen des Windes trug
seine Stimme mit sich. „Wir werden warten und beten... und unsere
Nachfolger werden warten und beten. Bis der Tag gekommen
ist.“