Frühjahr 1314 – Frankreich
Der junge Mann mit dem
noch spärlichen Bart richtete sich im Sattel auf und musterte
bewundernd die wehrhafte Anlage, die sich vor ihm
erstreckte.
„Das war also Jocelins
Komturei…“
„Ja“, brummte Jean de
Saint-Florent lediglich. Ihn schmerzte der Anblick der roten
Standarte mit dem weißen Kreuz über den Zinnen von Provins – der
Standarte der Hospitaliter. An vielen alt vertrauten Plätzen hatten
sie sie auf ihrem Weg bereits gesehen, das Zeichen, dass die
frühere Heimat nicht mehr die ihre war und Fremde dort lebten,
beteten und arbeiteten. Den Hospitalitern hatte Papst Clemens die
Güter des aufgelösten Templerordens übertragen.
Natürlich war diese
Entscheidung auf den Widerstand des Königs gestoßen. Er bestand auf
einer Erstattung der Kosten des Prozesses sowie des Unterhaltes der
Gefangenen. Monatelang hatte er an der Kurie gegen die Hospitaliter
geklagt, bis diese sich bereiterklärten, ihm eine Million Livres zu
zahlen. Eine Million! Jean schüttelte den Kopf, als er daran
dachte. Dafür, dass seine Brüder in den Kerkern langsam
verrotteten, eine Million Livres!
„Kommt, Yvo!“ rief er
und lenkte sein Pferd zurück auf den Weg.
Seit vier Wochen waren
sie unterwegs in die Normandie. Zu Erzbischof Gregor von Rouen
einerseits, der seinem Neffen ein nicht unerhebliches Vermögen
übereignen wollte, was er damals an der Einziehung der
Montfortschen Güter vorbei gerettet hatte. Andererseits zu einer
kleinen Gruppe ehemaliger Ordensbrüder, die sich unter Lebensgefahr
im Pariser Umland um Versprengte kümmerte. Denn immer wieder
tauchten umherirrende Rekonziliarisierte auf. Die
Provinzialkommissionen hatten zahllose Templer, die sich geständig
und reumütig gezeigt hatten, in Klöster eingewiesen. Für die
niedrigsten Dienste missbraucht und von allen verachtet
entschlossen sich nicht wenige zur Flucht. Andere wiederum hatten
keine Familie mehr, die sie unterstützen konnte und vagabundierten
durch die Lande.
Wie Donnergrollen
klangen die Schritte durch das Gewölbe des Verlieses, immer näher.
Meister Jacques de Molay erhob sich gefasst. Sie kamen also. Er
erwartete diesen Augenblick, seit König Philipp ihn und seine
Leidensgefährten aus Corbeil in den Louvre gebracht hatte. Es war
ihnen gesagt worden, eine Kommission untersuche ihren Fall. Bisher
hatte niemand sie verhört. Die Riegel der Kerkertür wurden
zurückgerissen. Einen eigentümlichen singenden Ton gab das Eisen
von sich, als sie auf den Anschlag prallten. Dann wurde die Tür
aufgetreten.
„Mitkommen! Los!“
schnauzte ein königlicher Söldner.
„Bei Gott, könnt ihr
uns nicht endlich in Ruhe lassen?!“ brach es verzweifelt aus
Godefrois de Charny hervor. Er kniete am Boden neben Hugo de
Pairaud, der nach Atem rang. „Seht ihr nicht, dass er im Sterben
liegt?“
Ohne ein weiteres Wort
zu verlieren, stieß der Söldner Meister Jacques durch die Tür und
packte Hugo de Pairaud. Ein neuer Hustenanfall schüttelte den
ehemaligen Visitator. Blut quoll aus seinem Mund. Erschrocken ließ
der Söldner ihn los.
„Trag ihn!“ befahl er
Charny. „Und jetzt raus hier!“
Der Weg aus dem
Verlies hinauf in den Hof des Louvre war nicht weit. Aber den
Gefangenen bedeutete jeder Schritt Anstrengung und Schmerz, und nur
mühsam schleppten sie sich vorwärts. Geblendet von der ungewohnten
Helligkeit wurden sie einen Wagen hoch gezerrt.
„Bringt man uns... vor
den Papst?“ keuchte Hugo de Pairaud. Die Hoffnung auf den Heiligen
Vater war das einzige, was ihn die letzten Wochen noch am Leben
gehalten hatte.
Er erhielt keine
Antwort. Rumpelnd setzte sich der Wagen in Bewegung. „Papst
Clemens!“ dachte Molay bitter. „Warum sollte er uns jetzt anhören,
jetzt, nachdem wir sieben Jahre um dieses Gehör gebeten
haben?“
Der Wagen ratterte
über die Seinebrücke zur Ile de la Cité. Nein, vor den Papst
schaffte man sie gewiss nicht! Er raffte sein fadenscheiniges
Gewand über der Brust zusammen, im vergeblichen Versuch, etwas
Wärme zu finden.
Philipp de Marigny,
Erzbischof von Sens, sah mit geteilten Gefühlen auf die Menge, die
sich zu beiden Seiten des Platzes vor Notre Dame eingefunden hatte.
Eine stille Urteilsverkündung unter Ausschluss der Öffentlichkeit
wäre ihm lieber gewesen. Aber Seine Majestät hatte ein großes
Schauspiel gewünscht. Aller Welt sollte noch einmal vor Augen
geführt werden, wie berechtigt die Aufhebung des Templerordens vor
zwei Jahren gewesen war. Denn zahllose Stimmen sprachen noch immer
von einem Verbrechen, noch immer verehrten manche die Ermordeten
von Sens als Märtyrer. Und noch immer hielten sich hartnäckige
Gerüchte, der Orden sei nicht wirklich vernichtet, hier und da gäbe
es noch Grüppchen, ehemalige Templer, die sich mit geheimen Zeichen
untereinander verständigten und auf Rache sannen, die wie die
Dämonen im Dunkel lauerten…
Unruhig rückte Philipp
de Marigny mit der behandschuhten Rechten an seinem großen goldenen
Pektorale. Eigentlich war vom Papst Gregor von Rouen das Amt
übertragen worden, über die vier obersten Würdenträger des
aufgelösten Ordens zu richten. Aber als sich der Erzbischof in ein
Kloster zurückgezogen hatte, nötigte Seine Majestät dem Heiligen
Vater die Ernennung Marignys ab.
Die Söldner erschienen
mit den Gefangenen.
„Seht ihn euch an, den
stolzen Orden vom heiligen Tempel!“ hörte Erzbischof Philipp einen
seiner Gardisten flüstern, und erleichtert lehnte er sich in den
gepolsterten Thron zurück. „Ich hatte Angst vor einem
Hirngespinst!“ sagte er zu sich selbst. Diese vier zitternden,
zerlumpten, schon halbtoten Greise, wie könnten sie noch eine
Gefahr darstellen? Wahrscheinlich waren sie zu taub, um überhaupt
das Urteil zu verstehen! Der Gedanke brachte Philipp de Marigny zum
Lächeln. Wie schade, dass der gute Nogaret das nicht mehr erlebte!
Vor einem Jahr war er gestorben, nach dem Verzehr eines wohl schon
leicht verdorbenen Fischgerichts… Was für ein bedauerlicher Unfall
war das doch gewesen… Und das auch noch, bevor Nogaret endlich
seine Exkommunikation loswerden konnte…
Die Eskorte hatte vor
der Tribüne haltgemacht. Hugo de Pairaud krümmte sich hustend
zusammen und presste einen Lumpen gegen den Mund. Nachdem er
gesehen hatte, dass nicht der Papst auf sie wartete, verließ ihn
seine letzte Kraft.
Mit einigen
salbungsvollen Worten wandte sich der Erzbischof von Sens an die
Menge. Im gleichen sanften Tonfall fuhr er dann mit der Verlesung
der päpstlichen Verordnungen und der Geständnisse der vier
Würdenträger fort.
Godefrois de Charny
starrte verzweifelt zu Boden.
Weshalb mussten sie
diese widerlichen Lügen noch einmal hören? Glücklich war der
ehemalige Großkomtur des Poitou zu preisen, der nichts von alldem
mehr wahrzunehmen schien!
„...hat bekannt... hat
bekannt...“ Wieder und wieder! Ihre Widerrufe waren nie auf das
Protokollpergament gelangt!
„...und in Anbetracht
der Abscheulichkeit dieser Verbrechen, der Schwere dieser Sünden,
verurteilen Wir, Philipp, durch die Gnade Gottes Erzbischof von
Sens, die oben genannten Brüder Jacques de Molay, Godefrois de
Charny, Godefrois de Gonneville und Hugo de Pairaud zu
lebenslänglicher Kerkerhaft. Im Namen -“
Der Schrei Jacques de
Molays bereitete den Worten des Erzbischofs ein Ende.
Mit der Gewalt eines
Blitzschlages hatte den Meister der Urteilsspruch getroffen. Alle
Hoffnungen, die er bis dahin noch gehegt hatte, verglühten in einem
Augenblick. Nichts blieb mehr zu erwarten!
„Es waren Lügen!“ rief
er, sich dessen bewusst werdend. „Nichts von diesen Verbrechen ist
wahr! Mein einziges Verbrechen ist, dass ich falsche Geständnisse
abgelegt habe!“
Jacques de Molays
Stimme hallte mit einer Kraft über den Platz, die man nicht mehr in
ihm vermutet hätte. Am allerwenigsten der Erzbischof von Sens.
Marigny war vorgeschnellt und stieß einem der Gardisten in den
Rücken. „Stopf ihm doch das Maul! Los!“
Der Bewaffnete sah
sich um, sichtlich in Bedrängnis gebracht von der plötzlichen Wende
des Geschehens und warf einen unschlüssigen Blick auf die
Stadtbüttel. Wenn diese eingriffen...
„Im Angesicht des
Todes bekenne ich, was ich vor dem Inquisitor gestanden und damals
vor der Universität bestätigt habe, ist falsch! Ich habe gelogen,
verlockt von falschen Versprechungen! Der Orden des Tempels ist
ohne Makel!“
Aufs Neue von Marigny
angefaucht, setzte sich der Gardist jetzt in Bewegung, packte
Meister Jacques, wollte ihn am Weitersprechen hindern. Aber schon
hatte sein Mut auch Godefrois de Charny ergriffen, und auch er
widerrief. Und unter dem anwesenden Volk begann sich der Unmut mit
lauten Flüchen gegen den Erzbischof Luft zu machen.
„DAS haben sie
gesagt?!“
König Philipp riss dem
Boten des Erzbischofs von Sens den Brief aus den Händen. Es war
geschehen, was er nie mehr für möglich gehalten hatte. Der Meister
des Tempels und der Großkomtur der Normandie hatten alle
Geständnisse zurückgenommen! Dies stellte in Frage, was er,
Philipp, bisher erreicht hatte, was er mit Zähigkeit sieben Jahre
verfochten hatte! Neben der Wut packte den König mit einem Mal auch
Angst. Er hatte den Sturm auf den Tempel inszeniert, um sich
Reichtum und Macht der Ordensbrüder zu Eigen zu machen, um sie in
den Dienst seines Reiches zu stellen. Aber das Gold war ihm durch
die Finger geronnen wie Sand, und die Güter des Ordens hatte der
Papst den Hospitalbrüdern in ihren gierigen Rachen gestopft! Und
die Macht, die er zu zerbrechen geglaubt hatte? War sie nicht noch
immer lebendig, mächtiger und bedrohlicher als je zuvor? Durch
seine Erinnerung huschte das Bild eines zu allem entschlossenen
jugendlichen Armbrustschützen damals im Wald vor Vienne... Der
junge Montfort hatte zu diesen Verfluchten gehört! All die Monate,
die er an seinem Hof gewesen war, hatte er heimlich hinter seinem
Rücken für sie gearbeitet! Und Ghislaine, Yvos Mutter! Und wer
noch? Und wer gehörte JETZT noch zu ihnen, plante insgeheim sein
Ende? Vielleicht gerade dort draußen, auf dem Platz?!
„Wo sind die Templer
jetzt?“
„Seine Ehrwürden hat
sie in der Kapelle des Bischofspalais eingesperrt. Das war der
nächste Ort, und er meinte, wegen des Volks...“
„Ja, gut. Sollen sie
dort bleiben! - Sire Enguerrand“, wandte sich der König hastig an
seinen Finanzminister, das einzige gerade anwesende Mitglied des
Kronrats, „...benachrichtigt den Prévot! Er soll mit seinen Männern
und dem Henker kommen! Die beiden rückfälligen Ketzer werden
verbrannt!“
Enguerrand de Marigny
eilte an Seiner Majestät vorbei. Natürlich, er wusste, dass dem
König ein solcher Urteilsspruch nicht zukam. Doch es wäre unklug
gewesen, diese Bedenken zu äußern!
Es dunkelte bereits,
als Jean de Saint-Florent und Yvo in Paris einritten. Doch die
Straßen waren noch voller Menschen. Sie standen in Gruppen
beieinander, sich aufgeregt unterhaltend, schienen auf etwas zu
warten. Plötzlich kam eine Frau gelaufen, schrie, gestikulierte
wild. Ein paar Leute rannten ihr nach zum Fluss.
„He!“ Jean hielt einen
jungen Mann an. „Gab es ein Unglück?“
„Der König schickt
zwei Templer ins Feuer!“
„Den Meister und noch
einen!“ fügte ein anderer Bursche hinzu. „Heut’ morgen haben sie
widerrufen!“
„Bei allen Heiligen
Gottes…“ entfuhr es Jean. Die Flammen der Scheiterhaufen zeichneten
noch seine letzte, im Grunde seine einzige, Erinnerung an
Paris.
„Wo?“ schrie er den
Leuten nach.
„Vor Notre Dame, hab’
ich gehört!“
„Nein, nein“, bestritt
eine Frau kopfschüttelnd. „Auf der Ile des Juifs! Ich habe gerade
das Boot gesehen, das sie hinbrachte!“
Jean stieß seinem
Pferd die Sporen in die Seite. Gefolgt von Yvo jagte er die enge
Gasse hinab.
König Philipp hatte
keine Zuschauer gewollt bei diesem letzten Akt seines Schauspiels,
diesmal nicht. In aller Eile war der Scheiterhaufen auf der kleinen
Seineinsel aufgeschichtet worden. Ein doppelter Reigen königlicher
Gardisten umschloss ihn. Die Fackeln der Henkersknechte warfen
goldene Reflexe auf ihre Rüstungen. Unter dem unnahbaren Blick des
Königs führte der Henker die beiden Verurteilten die Stufen zum
Scheiterhaufen hoch.
Jacques de Molays
Gesicht war friedlich. Er hatte abgeschlossen mit der Welt. Und
endlich schwieg auch sein eigenes anklagendes Gewissen. Jetzt würde
er die Schande tilgen, die er auf sich und seinen Orden gehäuft
hatte! Der Henker stieß die Männer gegen den Pfahl und warf einen
Strick um ihre Schultern.
„Ich bitte, binde mich
so, dass ich hinauf sehen kann zu Notre Dame! Die Heilige Jungfrau
stand am Beginn unseres Ordens, und so Gott es gefällt, soll sie
auch an seinem Ende stehen.“
Der Henker zuckte mit
den Schultern und schob ihn ein Stück nach rechts, ehe er die
Fesseln festzurrte. Dann kletterte er hinunter und winkte den
Knechten mit den Fackeln.
Schon senkten sich die
Flammen an die Reisigbündel, da gebot die Stimme des Inquisitors
Imbert Einhalt. Ein Kreuz in der erhobenen Hand schritt er auf den
Scheiterhaufen zu.
Nichts durfte er
unversucht lassen! Das Seelenheil zweier Menschen wog mehr als der
Wille des Königs! Vielleicht widerriefen sie ja noch
einmal!
„Ich bezeuge, dass der
Orden des Tempels immer rechtgläubig und rein war!“ antwortete
Jacques de Molay der Aufforderung des Inquisitors. „Und ich weiß,
dass jene, die uns zu diesem ungerechten Tod verdammt haben, dafür
leiden müssen!“
„Gott erbarme sich
Eurer!“ Abrupt drehte Imbert sich um.
„Eurer möge er sich
erbarmen! Und Eurer, Philipp, König von Frankreich!“ schrie
Godefrois de Charny.
Jean de Saint-Florent
sprang aus dem Sattel und bahnte sich einen Weg durch die Menschen,
die sich auf der Seinebrücke drängten. Verzweifelte, wahnsinnige
Gedanken an Rettungsversuche schossen ihm durch den Kopf. Er
erreichte die Brüstung, klammerte sich an das Geländer, sah, dass
es zu spät war. Als eine übergroße Fackel erleuchtete der
Scheiterhaufen die Nacht. Er merkte, dass Yvo das Gesicht in seinen
Mantel presste. Hart fasste er ihn an den
Schultern.
„Nein, Yvo! Seht es
Euch an!“ flüsterte er, selbst mit den Tränen kämpfend. „Seht es
Euch an, denn vielleicht müssen wir einmal das gleiche
erdulden!“
Der junge Mann starrte
mit zusammengepressten Lippen in die Flammen und den Rauch, der
sich für ihn zum Bild des Königs zu formen schien, damals... Er
glaubte, die eisigen Augen aus dem Feuer auf sich gerichtet zu
sehen und selbst das Scharren der Hufe seines Reittiers zu hören...
und dessen entsetztes, qualvolles Wiehern, als der Pfeil der
Armbrust seinen Hals durchbohrte und es straucheln ließ, König
Philipp mit sich zu Boden reißend...
„Ich hätte IHN töten
sollen!“ dachte Yvo. „IHN, nicht sein Pferd!“
Betroffen schauten die
Pariser dieser Hinrichtung zu. Ohne allen Spott, der sonst so
leicht über ihre Lippen kam. Ohne alle Freude an der Sensation, der
sie sonst so gern nachjagten. Bis nur noch ein Häuflein Asche in
die Nacht glühte.
Sich bückend, um nicht
an den Türsturz zu stoßen, traten Jean und Yvo in die ärmliche
Kammer in der Pariser Judenvorstadt. Ranulf lief ihnen entgegen.
„Gelobt sei Jesus Christus!“
„In Ewigkeit Amen. -
Ihr wisst es schon?“ fragte Jean.
Bruder Ranulf nickte.
„Ich war dabei. Auch heute morgen, als Meister Jacques und der
Provinzmeister widerrufen haben. - Kommt, setzt Euch! - Der König
hat sie verurteilt“, fuhr er fort, „Ohne die Entscheidung der
Kirche abzuwarten!“
„Nun, das Urteil
Philipp de Marignys wäre kaum anders ausgefallen.“
Ranulf füllte einen
Becher mit Wein und reichte ihn Yvo, dem der Schrecken noch immer
im Gesicht geschrieben stand.
„Es ist wohl nicht zu
erwarten, dass Papst Clemens dagegen protestiert“, sagte Jean.
„Nach allem, was man hört, rechnen die Kardinäle täglich mit seinem
Tod.“
„So hat der Tempel
zwei neue Märtyrer!“
Eine Weile saßen sie
einander stumm gegenüber. Nur das leise Knistern der brennenden
Kerze war zu hören, und das Pfeifen der Ratten draußen auf der
Strasse.
„Ich soll Euch grüßen
von allen Brüdern in Spanien und Portugal“, ergriff Jean dann
wieder das Wort.
„Ich danke Euch!
Erzählt, wie geht es Sire Jocelin? Er ist doch am Leben,
oder?“
„Oh ja.“ Für einen
kurzen Augenblick waren Jean de Saint-Florents Erinnerungen
angenehmerer Natur, aber das Lächeln misslang ihm. „Er ist
Kastellan an der Grenze, an der Pilgerstrasse des Heiligen Jakob.
Als ich ihn zuletzt besuchte, erwartete Ghislaine gerade ihr
zweites Kind. Jocelin hat begonnen, die Geschichte unserer
Verfolgung zu schreiben. Sollte Gott es zulassen, dass der Orden
des Tempels nicht überlebt, dann wird man vielleicht wenigstens aus
dieser Schrift die Wahrheit erfahren.“
„Ja, da habt Ihr
recht. Wir werden Euch gern dabei helfen! Zwei von uns hier
arbeiten als Notariatsschreiber. Sie haben Zugang zu Pergament und
könnten Euch in ihrer freien Zeit einige Berichte
abfassen!“
„Dann habt Ihr genug
zum Leben?“
„Ja, es geht so. Ich
verdinge mich auf Baustellen, wenn gerade ein Ingenieur gesucht
wird. Aber wir müssen noch immer sehr vorsichtig sein. Die meisten
Leute mögen nicht mehr an eine Schuld des Templerordens glauben;
manche brüsten sich insgeheim, wie gern sie den Brüdern geholfen
hätten. Doch wenn es darauf ankommt...“ Ranulf seufzte. „Vor etwa
einem halben Jahr stieß ein Rekonziliarisierter zu uns. Isnard...
Isnard de Montreal nannte er sich. Er sagte, er habe mit Sire
Jocelin zusammen den Orden vor der Großen Kommission
verteidigt.“
„Ich erinnere mich an
ihn.“
„Ich habe ihn weiter
nach Spanien geschickt, auf sicheres Terrain.“
Einer der Pariser
Brüder hatte ein kleines Brot gebracht und Käse. Während er den
Besuchern etwas davon abschnitt, berichtete Ranulf
weiter.
„Wir versuchen, den
Kontakt zu den Brüdern aufrechtzuerhalten, die noch in der Stadt
gefangen sind. An die zwanzig hat die Kommission des Bischofs von
Paris zu lebenslänglichem Kerker verurteilt.“
Der Morgen graute. Yvo
lehnte sich an die unverputzte Lehmwand der kleinen Kammer, in die
er und Bruder Jean sich zur Ruhe zurückgezogen hatten. Ruhe - die
fand der junge Mann nicht.
„Ich hätte Philipp
damals umbringen sollen... verdammt!“ murmelte er, mit seinem Dolch
zornige Muster in den Lehm stochernd. „Ich hatte es in der Hand,
ich hätte nur...“
Seit Stunden raubte
ihm dieser Gedanke den Schlaf. Noch immer war das Pfeifen der
Ratten unten von der Strasse zu hören, und das Kreischen der sie
verfolgenden Katzen. Durch den halb geöffneten Fensterverschlag sah
er bereits den Morgen heraufziehen.
„Nein, was hätte uns
das gebracht?“ erwiderte Jean de Saint-Florent und drehte sich in
seine Richtung. „Denkt an Sire Jocelins Worte: Das Blut wird an
IHREN Händen sein! An den Händen unserer Henker, nicht an unseren,
am Tage des Gerichts. Ihr habt getan, was nötig war und das Leben
Jocelins und Eurer Mutter gerettet.“
Yvo antwortete nichts.
Er hob den Blick wieder zu dem heller werdenden Stück Himmel
jenseits ihres ärmlichen Quartiers. „Messire?“
„Ja?“
„Werdet Ihr mich in
den Orden aufnehmen?“ fragte er dann.
Der Angesprochene
setzte sich auf. „Wollt Ihr das noch, nach allem, wovon Ihr Gestern
Zeuge wart?“
„Ich will“, erwiderte
Yvo, „mehr denn je!“
„Ihr werdet
ausgestoßen sein und von der Welt verachtet.
Ihr werdet verfolgt
sein bis in den Tod. Ihr werdet gekreuzigt sein jeden Tag Eures
Lebens... Seid Ihr entschlossen, dies alles zu
erleiden?“
„So Gott will!“ Yvo
blickte ihm fest ins Gesicht. Alles Jungenhafte war plötzlich aus
seiner Mimik verschwunden.
Jean de Saint-Florent
war sich noch immer nicht völlig sicher, ob es richtig war, seinem
Wunsch nachzugeben. Andererseits... war Yvo die vergangenen zwei
Jahre treu in ihrer Mitte geblieben. Und gestern hatten sie zwei
Brüder verloren – wie viele würden noch folgen in nächster Zeit, im
Kerker und auf den Scheiterhaufen? Vielleicht war es Gottes Wille,
dass sie wenigstens diesen einen neuen Bruder
gewannen...
Er streckte die Hand
aus und legte sie auf Yvos Arm.
„Gut. Wenn wir zurück
sind in Spanien!“ versprach er. „Nicht hier, auf diesem verfluchten
Land!“