Juli 1311 – Frankreich

 
Yvo de Montfort lehnte sich gelangweilt an die Mauer. Er hasste die Ausflüge des Königs zum Temple von Paris. Hier gab es keine Waffenübungen, keine Spielleute, ja nicht einmal streitende Mägde, einfach nichts, was Zerstreuung bot. Seit Jocelins Tod wusste Yvo nicht mehr so recht, was er mit sich und seinem Leben anfangen sollte. Das Ziel, das er gerade erst geglaubt hatte zu erkennen, hatte sich aufgelöst wie Morgennebel. Umso lastender waren ihm Stunden der Untätigkeit. Aber als erster Schildknappe Seiner Majestät musste er Philipp begleiten.
Mit langsamen Schritten  machte sich Yvo auf den Weg zum südlichen der vier Flankentürme. Bei dem letzten Besuch des Königs im Tempel hatte Yvo mit einem der jungen Söldner Freundschaft geschlossen. Er wollte sehen, ob sein Freund heute Dienst hatte. Tatsächlich, der junge Söldner saß im Wachraum und ritzte zum Zeitvertreib Muster in die Mauer. 
„Yvo, seid gegrüßt!“ rief er. „Wart Ihr letzten Sonntag mit dem König auf der Jagd?”
Yvo bejahte und ließ sich neben seinem Freund auf der Bank nieder.
„Ihr müsst mir von der Jagd erzählen!”
„Fast den ganzen Morgen sind wir einem Eber hinterher.“ berichtete Yvo. „Die Treiber hatten ihn zweimal eingekreist, aber er ist immer wieder durchgebrochen. Vier der besten Jagdhunde hat er getötet! Und Prinz Charles...“ Der junge Graf senkte die Stimme. „Prinz Charles hatte solche Angst, dass er sich hinter einem Baum versteckte!“
„Ja, das ist ein Hasenfuß! Das sagt jeder! Er sorgt sich zu sehr um sein hübsches Gesicht!“
„Nun jedenfalls wollte Seine Majestät die Jagd schon abbrechen. Da stand plötzlich der Eber vor uns! Ich sage Euch, so ein riesiges Tier habt Ihr noch nie gesehen! Er ging auf den König los! Und wisst Ihr, was Sire Philipp tat? Er griff seine Lanze -”
Yvo hielt inne. Ein Geräusch wie ein weit entfernter Schrei war zu ihm gedrungen.
„Habt Ihr das gehört?“
Der Söldner nickte.
„Jetzt wieder! Es klingt, als käme es… von da!“
Ungläubig machte Yvo eine Bewegung über den Steinboden des Hofes.
„Das ist möglich. Hier drunter sind die Kerker, mein‘ ich.“
„Ich wusste nicht, dass der König Gefangene im Tempel hat!”
„Doch, einen. Einige von meinen Kameraden sagen, es sei ein Hexenmeister und der König wolle ihn zwingen, Gold zu machen!”
Das also war der Grund für Philipps Ausflüge zum Tempel!
„Und habt Ihr ihn schon mal gesehen?”
„O nein. Niemand bekommt ihn zu Gesicht außer dem König!  Es heißt, er habe den bösen Blick, und wer ihn ansieht, erstarrt sofort zu Stein! Aber der einarmige Rodolfo, der hatte mal Wachdienst im Kerker, und er sagte, er habe die Engel zu ihm niedersteigen sehen. - Naja, wahrscheinlich war er besoffen.”
Yvos Neugier war geweckt. „Was ist, wetten wir, dass ich herausbekomme, wer der Gefangene ist?”
„Warum nicht. Um was?”
„Meinen Schwertgurt.”
Der junge Söldner schlug ein. „Abgemacht.”
Am Abend, als es dunkel wurde, bezog Yvo in der Nähe des Eckturmes Stellung, wo der Eingang zu den Verliesen lag. Gedeckt von einem großen Holzstapel wartete er ab, dass irgendwer kam, um den Gefangenen herauszuführen. Doch die Stunden verstrichen ereignislos.
Als Regen einsetzte und sich unangenehme Kälte ausbreitete, beschloss Yvo, aufzugeben. Vielleicht ließ König Philipp sich den Gefangenen erst morgen vorführen. Der Junge erhob sich und wollte gerade die Treppe zum Wehrgang hinauf. Da bemerkte er die Gestalten unter den Arkaden des Kreuzgangs. Hastig drückte sich Yvo in eine Wandnische.
Zwei Bewaffnete führten einen dritten Mann, dessen Kopf mit einer Art Maske oder einem Tuch verhüllt war. Ketten klirrten. Yvo kauerte sich ganz klein zusammen, als die drei Männer den Hof überquerten und nahe an ihm vorüber kamen. Sein Blick folgte ihnen bis zum Tor des Hauptturmes.
Weder das Wetter noch die Müdigkeit brachten den jungen Grafen dazu, seinen Beobachtungsplatz zu verlassen. Die Augen auf das Tor gerichtet wartete er, dass die Männer mit dem Gefangenen wieder auftauchten...
Das Schleifen der Ketten über die Steinfließen riss Yvo aus dem Halbschlaf. Er sah gerade noch, wie die Bewaffneten den Gefangenen durch eine Pforte hinter den Arkaden stießen. Kurz darauf kamen sie allein zurück.
„Allmächtiger!“ hörte Yvo den einen gähnend sagen. „Bin gespannt, wie lange der Kerl noch durchhält!“
„Ich würde das nicht mal meinem ärgsten Feind wünschen! Philipp ist ein Schwein!“ Der andere spuckte aus.
„Na, lass‘ Seine Majestät das nicht hören!- In einer Woche sollen wir ihn wieder vorführen.“
„Dann werden wir ihn wohl auf der Bahre tragen!“ Die Bewaffneten bogen um die Ecke.
Yvo stand auf und reckte die steifen Glieder. In einer Woche... Für ihn stand fest, dass er dabei sein musste, wenn der Gefangene dann vor den König gebracht wurde.
In Unruhe verbrachte Yvo die folgende Woche am Hof des Louvre. Stundenlang grübelte er über eine Möglichkeit, in das Privatgemach des Königs zu gelangen, aber nichts wollte ihm einfallen. Als er am Samstag mit Seiner Majestät zum Temple aufbrach, war er selbst zu nervös, um etwas zu essen. Den ganzen Tag wanderte er durch die Festung, immer wieder seinen Schwertgurt betrachtend. Er wollte das schöne Stück ungern verlieren. Endlich, nach dem Nachtessen, kam ihm die Vorsehung zu Hilfe. Der Page des Königs stolperte und fiel die Treppe hinunter. Während alle liefen, um zu sehen, was passiert war, nutzte Yvo die Gunst des Augenblicks und huschte in das Gemach Seiner Majestät. Dort sah er sich um, fand, dass die prächtigen Vorhänge ein gutes Versteck abgaben und kletterte kurz entschlossen auf den Fenstersims.
Eine knappe Stunde später betrat König Philipp den Raum.
Kurz darauf öffnete sich die Tür, ein Bewaffneter kam herein und flüsterte Seiner Majestät etwas zu. Der König nickte, und der Bewaffnete verschwand wieder. Unerträglich lang erschien es Yvo, bis er erneut das leise Knarren der Tür vernahm.
Mit angehaltenem Atem spähte er am Vorhang vorbei. Ein weiterer Mann in Kettenhemd und Lederwams war hinter seinem Kameraden eingetreten. Und er stieß den geheimnisvollen Gefangenen in den Raum. Nicht mehr in der Lage, allein zu stehen fiel jener auf die Knie. Jetzt sah Yvo, dass es eine lederne Maske war, die man über sein Gesicht gelegt hatte. König Philipp wies die Bewaffneten hinaus und schloss die Tür. Dann trat er auf den Gefangenen zu und riss ihm die Maske herunter.
Yvos Hände umklammerten den Fenstersims.
Das war Sire Jocelin!
„Nun, Templer, habt Ihr es Euch überlegt? Mein Angebot gilt noch! Wer sind Eure Helfer, wo verstecken sie sich? Und wo sind Eure Schätze?“
Philipps stets bedrohlicher werdende Geldnot hatte die Möglichkeit von noch vorhandenen Reichtümern der Templer zum Wunsch und den Wunsch zur festen Überzeugung werden lassen. Mit schmalen Katzenaugen starrte er auf den Gefangenen zu seinen Füßen.
„Antwortet!”
„Ich habe keine Schätze... außer dem Blut und den Tränen meiner Brüder... das... sind unsere Schätze bei Gott...”
Es war die Machtlosigkeit, die Philipps Zorn am meisten anheizte. Der Arzt hatte ihm gesagt, dass der Templer eine weitere Folterung kaum überleben würde. Und noch immer wollte er nicht reden!  Er, König von Frankreich, mit der Macht über Leben und Tod; er, der mit einem Federstrich das Schicksal von hunderten besiegeln konnte – er fand sich plötzlich ohne Gewalt einem halbtoten Gefangenen gegenüber! Unerträglich!
„Ich war lange genug geduldig“, sagte Philipp mit schneidender Stimme. „Wenn Ihr jetzt nicht redet, schicke ich Euch in den Tod!“
Etwas wie ein Lächeln glitt über die ausgemergelten Züge des Ordensbruders.
„Ich sterbe... seit einem Jahr! Ich werde den Tod... willkommen heißen! Möge Gott... Gott Euch vergeben am Tage des Gerichts!“
„Ihr wagt es, zu mir von Vergebung zu sprechen?“
Zum ersten Mal in seinem Leben verlor König Philipp seine Selbstbeherrschung.
„Wir wollen sehen, wie weit Eure Großmütigkeit reicht, mir zu vergeben!“ Er stürzte zur Tür und brüllte nach den Bewaffneten.
Yvo war nicht in seine Kammer gegangen. Er saß im Hof unter den Arkaden, den Kopf in die Hände gestützt und starrte in die Dunkelheit. Wie sollte er auch schlafen können nach dem, was er gesehen und gehört hatte! Sire Jocelin war am Leben! Und die ganzen Monate war er schon hier im Kerker. Jedes Mal, wenn König Philipp sich in den Temple begeben hatte, dann um ihn zu verhören. Und jetzt? Nie zuvor hatte Yvo den König so außer sich gesehen. Würde er Jocelin verbrennen lassen wie die anderen Brüder? Der Junge erinnerte sich an das Gesicht seiner Mutter, als sie damals La Blanche verlassen hatte, um sich in das Kloster von Bonlieu zurückzuziehen. Wie jene weiße Frau aus den Legenden hatte sie ausgesehen, ganz durchscheinend und grau, und er hatte sich nicht einmal getraut, ihr einen Abschiedskuss zu geben.
“Jemand hat sie mit ins Grab gezogen“, hatte die Zofe Jeanette damals geflüstert. „So ist es, wenn jemand stirbt, den man sehr lieb hat, Junge.“
Entschlossen stand Yvo auf. Er wusste, was er tun würde. Alles was er noch brauchte, war ein Plan, um das WIE zu bewerkstelligen. 

Der Henkersknecht zog mit einem Haken das glühende Eisen aus dem Feuer und wandte sich der vor ihm ausgespannten menschlichen Gestalt zu. Um den Hals des neben ihm stehenden Wachpostens baumelte ein kleines goldenes Kreuz, das er dem Gefangenen abgenommen hatte, als man ihn das erste Mal vorführte. Was brauchten Ketzer auch ein Kreuz?! Jetzt glänzte das kleine Schmuckstück im Feuerschein auf, als der Wächter sich vorbeugte und dem Henkersknecht die Hand auf den Arm legte.
„Hör‘ auf! Er hat bis jetzt nicht geredet, und er wird auch nicht mehr reden! Er ist ja schon so gut wie tot.”
„Aber König Philipp hat angeordnet-”
„Ach, König Philipp! Seine Majestät sieht ihn alle paar Wochen für einen Moment. Ich sehe diesen Unglücklichen Tag für Tag. Ich TRÄUME davon!“ entgegnete der Wächter. „Es ist genug. ICH hab genug! Binde ihn los und lass‘ ihn in Frieden sterben.“
Er riss mit einer heftigen Bewegung das Kreuz vom Hals, als sei es plötzlich etwas, an dem Unheil haftete, und warf es dem Gefangenen auf die Brust. Reflexartig schloss sich dessen linke Hand um das Schmuckstück, kaum dass die Fesseln gelöst waren. Es schien die letzte Bewegung, der er noch fähig war.
Der Henkersknecht warf das Folterinstrument auf den Rost neben dem Feuer und erstickte mit einer Ladung Dreck die Flammen. Unvermittelt donnerte es gegen die Kerkertür.
„Aufmachen! Im Namen des Königs!”
Hustend kam der Wachposten dem Befehl nach. Hinter den Rauchschwaden gewahrte er einen blutjungen königlichen Gardisten in prächtigem Lilienwams.
„Ich komme, um den Gefangenen abzuholen.“
„So, hat Seine Majestät es sich also anders überlegt!“ schnaufte der Henkersknecht. „Er hat aber noch kein Wörtchen gesagt, wie immer.”
„Seine Majestät will ihn sofort sehen!”
„Ja, ja. Nur keine Ungeduld.” Der Henkersknecht riss Jocelin hoch. Ein Schmerzensschrei gellte durch das Gewölbe. 
„Soll ich mit Euch kommen?“ fragte der Wachposten. Es irritierte ihn, dass König Philipp einen Gardisten geschickt hatte.
„Nein, das ist nicht nötig. Meine Männer warten oben!“
Die Stimme ließ Jocelin den Kopf heben, und durch den milchigen Schleier aus Blut und Tränen vor seinen Augen erkannte er ein Gesicht, das in diese Welt nicht gehörte. Yvo de Montfort? War das das Ende? Zu sehen, zu hören, was nicht sein konnte? Yvo war sich nicht im Klaren, ob Jocelin ihn erkannt hatte. Er wollte keine weitere Zeit verlieren und riskieren, aufzufliegen. So roh er es über sich brachte, griff er den Ordensbruder am Arm und machte kehrt. Während er die Treppe hochstieg, den Gefangenen mit sich zerrend, wurde ihm zum ersten Mal klar, dass er ein todeswürdiges Verbrechen beging. Plötzlich hatte er das Gefühl, der Wächter würde ihm jeden Moment nachstürzen...
Aber nichts geschah. Im Freien angelangt peitschte Regen ihnen ins Gesicht. Darum kämpfend, bei Bewusstsein zu bleiben, begriff Jocelin, dass es kein Fiebertraum war, sondern dass die Arme, die ihn aufrecht hielten, tatsächlich Yvo gehörten. Dass es tatsächlich Regen war, der ihm ins Gesicht rann und sie sich tatsächlich auf die Stallungen des Tempels zu bewegten.
„Ihr seid wahnsinnig!” flüsterte Jocelin, als Yvo ihn auf einem Strohballen niederließ. „Wir werden niemals hier herauskommen!“
„Doch, Sire. Vertraut mir!“
Er zog hastig das zweite blaue Gardistenwams, Tunika und Stiefel aus dem Stroh und half Jocelin beim Umkleiden. Zum Glück regnete es jetzt so stark, so dass es nicht auffallen würde, wenn sie die Kapuze tief ins Gesicht zogen. Draußen im Hof begann sich etwas zu regen. Yvo fühlte einmal mehr Angstschweiß den Rücken hinunter rinnen, als er Jocelin auf eines der gesattelten Pferde hob. Hatte der Kerkermeister vielleicht schon Alarm geschlagen?
Wenig später ritten sie auf das Tor zu. Yvos Herz raste. Er hatte diesen Weg dutzende Male zurückgelegt im königlichen Gefolge, ohne auch nur auf ihn zu achten. Aber in diesem Moment schien sich die Entfernung unermesslich zu werden. Er bis die Zähne so fest zusammen, dass es knirschte.
„Wohin wollt ihr?” kam die mürrische Frage der Posten.
„Befehl Seiner Majestät. Geht euch nichts an!”
Der Posten brummelte etwas wie ‚arroganter Kerl’ und sagte dann: „Zeigt euren Geleitbrief!“
„WAS? Glaubst du mir vielleicht nicht, Bauernlümmel? Ich sorge dafür, dass der König dich morgen früh auspeitschen lässt, wenn du nicht gleich aufmachst! Wir haben eine Botschaft! Für… den Erzbischof von Sens!“
Mit einem obszönen Fluch auf den Lippen setzte sich der Wachposten nun in Bewegung und schob die mächtigen Riegel zurück. Die Pforte öffnete sich. Während die beiden Flüchtlinge die Rue du Temple hinaufgaloppierten, schlossen sich die Torflügel wieder.
Jocelin sank erschöpft auf den Hals seines Pferdes. Yvo flößte ihm etwas Wasser ein und lenkte die Tiere in Richtung der Abzweigung nach Fontainebleau. Aber - waren die Templer überhaupt noch dort, fiel dem Jungen in diesem Moment siedendheiß ein. Es war über ein Jahr her seit den letzten Ereignissen in Paris! Womöglich hatten sie sich wo ganz anderes versteckt… und dann? Wie sollte er sie finden? Oder sonst irgendjemanden, der ihnen half? Seine Mutter war im Kloster von Bonlieu… weit weg. Yvo hatte sich überhaupt keine Gedanken darüber gemacht. Aber das war im Augenblick gleichgültig! Sie mussten auf jeden Fall erst einmal aus der Nähe von Paris gelangen! Am Horizont färbte sich der Himmel bereits rosa. Der junge Graf zog Jocelin vor sich in den eigenen Sattel und jagte dann das zweite Pferd mit einem Hieb gegen die Flanken davon. So würden sie schneller vorankommen. Und vielleicht brachte das reiterlose Tier ihre Verfolger auch erst einmal auf eine falsche Fährte!
Als die Flüchtlinge den Wald erreichten, brach das erste Morgenlicht durch die gespenstische Schwärze des Blätterdaches.
„Jocelin? Sire? Ihr müsst mir helfen, den Weg wieder zu finden!“ Yvo rüttelte ihn am Arm.  Der Ordensbruder fuhr sich über die tränenden Augen. Er hatte Mühe, überhaupt irgendetwas zu sehen, geschweige denn, den Weg durch das Dickicht zu erinnern. Der große Fels, der einst als Markierung gedient hatte, war unterdessen schon fast von Gestrüpp überwachsen.
„Ich habe nicht geglaubt, dass ich die Sonne noch einmal sehe”, sagte er leise und ließ die Hand durch die herabhängenden Zweige gleiten. Wassertropfen sprühten, in denen das Licht glitzerte. Es faszinierte ihn, obwohl es seinen Augen Schmerzen bereitete.
„Ich hätte Euch eher befreit, wenn ich gewusst hätte, dass Ihr noch am Leben seid! Aber ich dachte, Ihr wäret tot. Alle haben das gedacht.”
„Ja. So wollte es König Philipp.”
Ein Fieberschauer überfiel Jocelin und er krümmte sich zusammen.
„Wollt Ihr Euch etwas ausruhen? Dort drüben, auf dem Moos?”
„Zu gefährlich... Nur etwas Wasser, bitte.”
Yvo griff nach der Feldflasche und merkte, dass sie leer war. Aber nicht weit entfernt schlängelte sich ein Bach durch das Gehölz.
„Ich hole Euch etwas!”
Er glitt aus dem Sattel und stieg die Böschung hinunter. Als er sich über das Wasser beugte, richtete sich eine Schwertspitze auf ihn.
„Schickt Seine Majestät jetzt schon Kinder nach uns? Dann ist es schlecht bestellt um seine Armee!“
Erschrocken wurde Yvo sich bewusst, dass er ja noch immer die Gardistenuniform trug.
„Ich... ich...“ stammelte er und fühlte sich am Kragen gepackt.
„Lasst ihn los, Bruder Jean!“
Yvo sah, wie der dunkeläugige Mann, der ihn festhielt, sich bekreuzigte, mit offenem Mund auf Jocelin starrend. Einen Moment später lockerte sich der Griff. „Heilige Dreifaltigkeit! Wenn ich nicht wüsste, dass ich schon seit Monaten keinen Tropfen Alkohol mehr getrunken habe…! Komtur Jocelin!!! Woher kommt Ihr?“
„Aus dem Verlies des Temple“, antwortete Yvo. „Ich war unterwegs zu euch. Aber ich wusste nicht, ob ich noch jemanden hier antreffen würde.“
„Nun, ich und ein paar andere sind noch hier. Wir haben uns geteilt, um sicherer zu sein.“
Jean brach mit einem Blick auf Jocelin ab. Er wollte nicht einfach so damit herauspoltern, dass er hauptsächlich wegen Bruder Arnaud hier geblieben war, weil er glaubte, der alte Mann würde keine gefährliche Flucht vorbei an all den Spitzeln des Königs und der Inquisition überleben… oder sie vielleicht gar in seinen weniger lichten Momenten in Gefahr bringen.
„Ich bringe euch zur Höhle. Vorsicht mit dem Weg dort drüben, da ist alles sumpfig!“
Jean de Saint-Florent hatte Jocelin in den Schatten des Höhleneingangs getragen und sich dann nach Arnaud umgesehen. Wie jeden Tag fand er den alten Ordensbruder im hinteren Teil der Höhle vor der Felswand kniend, die Arme kreuzförmig ausgestreckt und die Stirn gegen den Stein gelehnt. Seine Lippen bewegten sich in den immer gleichen Worten, aneinandergereiht mit wechselnder Inbrunst: „Herr vergib mir meine Schuld, vergib mir, vergib mir…“
Jean streckte zögernd die Hand nach dem alten Mann aus. „Bruder Arnaud?“
„Bist du der Todesengel? Wenn nicht… geh fort…“
„Bruder Arnaud! Wacht auf!“
„Die Flammen der Hölle... Sie werden mich verschlingen...“
„Bruder Arnaud, Jocelin ist am Leben! Verdammt, Arnaud!“
Jean rüttelte ihn an den Schultern, bis er sich tatsächlich umwandte und die Arme sinken ließ.
„Was… Das ist nicht möglich… Lasst mich…“
„Doch! Er ist hier! Begreift doch! Der junge Graf von Montfort hat ihn aus dem Kerker geholt! Er ist HIER! Und ich bringe Euch zu ihm!“ Kurz entschlossen griff Jean seinen Ordensbruder und zog ihn auf die Füße.
Als sie zum Höhleneingang zurückkehrten, waren Jocelin und Yvo bereits von den anderen umringt.
„Was ist mit der Verteidigung?“ hatte Jocelin eben gefragt. Ranulf antwortete zögernd: „Es gibt keine Verteidigung mehr. Isnard de Montreal legte sein Amt nieder, als uns die Nachricht von Eurem angeblichen Tod erreichte. Dann verschwand Bruder Pietro di Bologna; wahrscheinlich hat Marigny ihn ermorden lassen. Mit Robert von Paris konnten wir auch keinen Kontakt mehr aufnehmen.”
„Robert... Robert war mit mir im Kerker.“ Jocelin bewegte den Kopf, versuchte, des Schwindels Herr zu werden, der ihn erfasst hatte und sich zu konzentrieren, zu sprechen. „Wir müssen… müssen wir ihn befreien!“
Seine Stimme erstarb, als er Jean und Arnaud bemerkte. Sein Pflegevater wirkte wie ein knorriger alter Baum, den ein leichter Windhauch schon zu entwurzeln vermochte. War soviel Zeit vergangen? Dann ging ihm durch den Sinn, wie er selbst aussehen musste...
„Jocelin?“ Arnaud hatte fast Angst, den Namen auszusprechen, Angst vor einer furchtbaren Enttäuschung. Unsicher streckte er die Arme aus. Jocelin ergriff die Hände seines Ordensbruders. Weinend ertastete Arnaud seine Gesichtszüge.
„O mein Gott, es ist wahr! Es ist wirklich wahr! So hat der Herr dich mir zurückgebracht!  Er hat  mir vergeben! Endlich hat Er mir vergeben!”
„Allmächtiger!“ dachte Jean de Saint-Florent. „Schon für den Kummer, den er Bruder Arnaud bereitet hat, verdiente König Philipp das Höllenfeuer! Ich wünschte, ich könnte ihn persönlich dort reinstoßen und zusehen, wie er langsam röstet!“
Ein anderer Bruder sprach seine Gedanken aus. „Wir werden Euch rächen, Sire Jocelin! Euch und die anderen! König Philipp wird für alles büßen!”
„Nein!”
Mit zitternder Hand machte Jocelin eine abwehrende Geste. „Wir dürfen uns nicht beflecken. Das Blut… ist an seinen Händen. Nicht an unseren… Der Herr allein wird uns rächen!” Die schwache Stimme duldete keinen Zweifel und keinen Widerspruch.

Der Kerkerwächter hatte bereits ein ungutes Gefühl gehabt, als Seine Majestät ihn zu sich befahl. Nun, da er vor dem Thron niedergekniet war und die Stimme des Königs vernahm, wusste er, dass sein Leben verwirkt war.
„Ist der Templer tot?“ hatte Philipp gefragt.
„Euer Majestät, Ihr habt ihn doch vergangene Nacht holen lassen.“
Was habe ich?“
„Ein Gardist kam und verlangte die Auslieferung des Gefangenen in Eurem Namen, Majestät.”
„Ein Gardist?! Ich weiß nichts davon! - Wo ist der Templer?“
„Euer Majestät, ich...“
„Wo – ist - er?“
„Euer Majestät, es war ein Gardist! Nie hätte ich sonst den Gefangenen übergeben!“
„Er ist also nicht mehr da?! - An den Pranger!“
Zwei Söldner ergriffen den Wachposten.
Der König wandte sich taub für dessen Unschuldbeteuerungen ab. Wer hatte es gewagt, den Templer zu befreien? Ja, wer wusste überhaupt, dass er hier war? Wer hatte ein Interesse an seinem Leben?
Und warum, warum, bei allen Heiligen, hatte er dann solange gewartet, über ein Jahr?
Ähnliches hatte Philipp sich schon einmal gefragt. Damals, als die Kommission überraschend die zweite Vorladung erlassen hatte. Wem von den Männern um ihn lag etwas daran, den Templern zu helfen?  Der Gedanke, dass sich unter seinen Vertrauten offenbar ein Verräter befand, beunruhigte ihn. Er schickte nach dem Kommandanten der Garde, dem Befehlshaber der Söldner und nach seinem Siegelbewahrer. Wer auch immer diesem Bastard zur Flucht verholfen hatte, weit konnten er - oder sie - noch nicht gekommen sein!
Eine Gier loderte in Philipp auf, wie sie ihn vor Jagden zu befallen pflegte.
In kurzer Zeit hatte sich der Tempel in einen aufgescheuchten Bienenschwarm verwandelt. Söldner sammelten sich im Hof, in aller Eile wurden die Pferde gesattelt, um die Verfolgung der Flüchtlinge aufzunehmen. Torwächter, Knappen und Dienstleute wurden befragt, ob sie etwas Verdächtiges bemerkt hätten. So erfuhr Seine Majestät, dass zur zweiten Nachtwache zwei Gardisten - auf königlichen Befehl, wie sie behaupteten - die Festung verlassen hatten.
Von ihrem Wiedereintreffen war hingegen nichts bekannt, und der Gardekommandant schwor, alle seine Männer seien auf ihrem Posten. König Philipp kannte den alten Ritter gut genug, um sicher zu sein, dass er nicht log. Das bedeutete, jemand hatte die Uniformen gestohlen!
Philipps eisiger Blick ruhte auf der Gruppe der Knappen. Einer von ihnen fehlte.
„Wo ist Yvo de Montfort?“
„Ich weiß nicht, Euer Majestät“, antwortete ein zierlicher Rotschopf. „Er war schon die ganze Nacht nicht da. Und sein Pferd ist auch weg.“
Die ganze Nacht? Philipps Gesicht spannte sich. Das hieß, sein Schildträger war seit der gleichen Zeit verschwunden wie der Gefangene! Das konnte kein Zufall sein! ‚Ein bartloser Jüngling‘ hatte der Torwächter gesagt, ‚aber mit der forschen Stimme eines Mannes‘...
„Yvo de Montfort“, murmelte der König, „Eine Schlange habe ich an meiner Brust genährt! Eine Schlange!“ 

Die Mittagssonne kämpfte sich mühsam durch die Wolkendecke und warf einen gelblichen Schein auf die grauen Mauern des Cistercienserklosters von Bonlieu. Der raue Stoff des Schleiers kratzte über ihre Wangen, als Ghislaine sich bückte, um das Unkraut in einem weiteren Kräuterbeet auszujäten.  Die Äbtissin hatte sich anfangs dagegen verwehrt, dass eine Dame von Adel wie die Gräfin von Montfort derlei niedere Arbeiten verrichten wollte. Irgendwann vor einem halben Jahr hatte sie zugestimmt, was den Kräutergarten im Kreuzgang anbelangte, nachdem ein ‚Rat’ des Erzbischofs von Rouen bei ihr eingetroffen war, der ein guter Bekannter ihres Generalabts war.
Noch hatte Ghislaine die Gelübde nicht abgelegt, noch war sie nur eine ‚Donata’ – eine Frau, die sich mit ihrem Leben dem Orden geschenkt hatte und dafür die Wohltaten dessen Gebete erhoffte, so lautete der Text in der Urkunde, die sie vor einem Jahr ausgefertigt hatte. La Blanche und ihren Landbesitz ließ sie seither durch ihren Onkel verwalten, bis zur Volljährigkeit ihres Sohnes. Ghislaine verrichtete jeden Dienst klag- aber auch freudlos, aber es war ihr lieber, dass es sich um schwerere körperliche Arbeiten handelte. Welchen Sinn sollte es noch haben, ihre Kräfte zu schonen? Je eher der Lebensatem sie verließ und ihr Leib seine Ruhestätte in diesen Mauern fand, desto besser! Sie hielt kurz inne in ihrer Arbeit und blickte auf das Holzkreuz, das an der Wand gegenüber im Kreuzgang hing. Es zeigte einen anderen Christus als den, den sie aus ihrer heimatlichen Kapelle kannte, einen gequälten, sich vor Schmerzen windenden Menschen, der das ganze Leid der Welt auf sich vereint zu haben schien.
Bald würde sie die Braut dieses Schmerzenskönigs werden. Sie fand einen bitteren Trost bei dem Gedanken, dass sie ihre Gelübde Jocelin ein wenig näher bringen würden, ehe sie der Tod endgültig vereinigte.
Hastige Schritte ließen sie sich umwenden. Eine junge Nonne lief mit gerade noch schicklicher Eile durch den Kreuzgang auf sie zu. „Madame“, berichtete sie dann mit gedämpfter Stimme, „Euer Sohn ist hier!“
Ghislaine sprang auf. Yvo in Bonlieu? Was hatte das zu bedeuten? Gott im Himmel! Hoffentlich war es dem König nicht eingefallen, sie an irgendwen zu vermählen! Sie lief in das Sprechzimmer, das die Nonne ihr wies. Die Begrüßung erstarb Ghislaine auf den Lippen, als sie ihren Sohn gewahrte. Er war in einen armseligen Bauernkittel gekleidet.
„Was hat das zu bedeuten, Yvo?“
Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr die Nachricht ins Ohr. Ghislaine stieß einen leisen Schrei aus und schlug die Hände vor den Mund. Ihr wurde schwindlig vor Glück und sie lehnte sich Halt suchend an die Mauer. „Er lebt, er lebt, er lebt!” flüsterte sie immer wieder, dann schloss sie ihren Sohn in die Arme und küsste ihn.
„Yvo, ich muss zu ihm!”
„Wir müssen vorsichtig sein, Mutter. Der König lässt schon nach mir suchen.”
Ihre Gedanken überschlugen sich, erst jetzt wurde ihr wirklich klar, was Yvo getan hatte. „König Philipp wird deine öffentliche Exkommunikation fordern!“
„Das kann doch vor Gott nicht gültig sein! Ich habe gegen kein Gebot der Kirche verstoßen! Sire Jocelin ist kein Ketzer! Denkt Ihr nicht ebenso, Mutter? Ihr habt den Templern auch geholfen, obwohl der Bann angedroht war!“
„Yvo…Yvo, du weißt ja gar nicht, was du sagst…“ Trotzdem war sie so stolz auf ihn, so glücklich über das eben Gehörte, dass sie Yvo am liebsten nie mehr losgelassen hätte. Doch hatten sie keine Zeit! Jeder Moment, den sie länger hier blieb, gab ihren Verfolgern Zeit, die Schlinge zuzuziehen! Irgendwann so eng, dass sie nicht mehr entkommen konnte!
„Nun sind wir also Ausgestoßene wie Jocelin und seine Brüder“, sagte sie leise.
„Lieber bin ich ein Geächteter als ein Ritter dieses Königs!“ entgegnete der Junge entschlossen. „Ich hab gesehen, wie Philipp wirklich ist, hinter seiner frommen Fassade! Er ist ein gemeiner Mörder!“
Wenig später waren Ghislaine und Yvo auf dem Weg nach Fontainebleau. Am Abend erbaten sie Obdach in einer Burg und erfuhren bestürzende Neuigkeiten.
„Der ganze Hof in Paris zittert vor Angst!“ sagte der Burgherr, ohne zu wissen, wen er vor sich hatte. „Irgendjemand muss Montfort ja geholfen haben, den Gefangenen zu befreien, und Seine Majestät wird nicht aufgeben, bis er ihn hat! Ah, ich bin froh, dass ich hier war und kein Verdacht auf mich fallen kann! Nein, in Paris möchte ich jetzt um keinen Preis der Welt sein! Den Kerkerwächter hat man schon gehängt!“
Ghislaine hatte Mühe, ihr Entsetzen zu verbergen. Keinen Bissen der aufgetragenen Speisen konnte sie essen. Sie war froh, als sie endlich mit ihrem Sohn allein in einer Kammer war.
Als sie am nächsten Morgen weiter zogen mahnten sie die große Anzahl umherschweifender Söldner, die Straßen zu meiden. Auf Umwegen setzten sie ihre Reise fort, und erst nach drei Tagen erreichten sie den Wald von Fontainebleau.
Erleichtert wurde sie begrüßt.
„Gelobt sei Gott, dass Euch nichts geschehen ist, Yvo, Madame Ghislaine!  Nach dem Aufmarsch der Söldner in den letzten Tagen hatten wir das Gefühl, dass keine Maus mehr dem König durch die Finger schlüpfen kann!“
„Oh, so schnell kriegen die uns nicht!“ antwortete Yvo an ihrer Stelle.
Aus dem Halbdunkel des Höhleninneren sah die Gräfin Bruder Jean auftauchen; wie viel hagerer war er geworden, seit sie ihn das letzte Mal gesehen hatte!
„Willkommen, Ghislaine“, sagte er. „Ich hatte Eurem Sohn befohlen, er soll wie der Teufel persönlich reiten und Euch holen! Also hat er meine Order befolgt! Aber ich wusste nicht, dass Ihr in den Heiligen Stand getreten seid.“
„Ich habe noch keine Gelübde abgelegt. Aber ich glaubte, mit diesem Gewand sei es sicherer unterwegs.” Sie schob den Schleier in den Nacken. „Wo ist Jocelin?”
„Ich bringe Euch zu ihm, Madame. Aber -  erschreckt nicht. Die Leute des Königs haben ihn übel zugerichtet, und er ist sehr krank.”
„Ich werde ihn gesund pflegen. Ich habe in Bonlieu einige Zeit in der Krankenabteilung gearbeitet. Und auch einige Medikamente mitgenommen.” Sie versuchte sich selbst Mut zu machen mit diesen Worten, denn plötzlich hatte sie Furcht vor dem, was sie erwartete.
Jean führte sie tiefer in die Höhle, zu einer Feuerstelle, bei der man Jocelin eine Lagerstatt hergerichtet hatte. Neben jener saß Arnaud, und Jean fand, dass der alte Ordensbruder kräftiger wirkte als in all den Monaten zuvor, obwohl er seit Tagen fast ohne Pause neben Jocelin ausharrte. Gerade so, als hätte die Rückkehr des Totgeglaubten seine verlöschende Lebensflamme neu angefacht. Gab es noch Wunder in dieser Endzeit? Wenn ja, dann wollte Jean de Saint-Florent dies dazu zählen.
„Bruder Arnaud?” fragte er flüsternd, sich zu ihm beugend. „Gräfin Ghislaine ist hier.”
„Ghislaine de Montfort…“ Seine Stimme ließ keinen Rückschluss darauf zu, was er von ihrer Anwesenheit hielt, aber er erhob sich langsam.
Ghislaine kniete neben Jocelin nieder, betrachtete erschüttert sein blasses, mageres Gesicht, in das sich die Spuren des monatelangen Leidens gegraben hatten. Sanft strich sie über die grauen Strähnen, die sich unter sein dunkles Haar gemischt hatten. Dann erkannte sie das kleine Reliquienkreuz um seinen Hals. Ihr Kreuz... Damals in der bischöflichen Kapelle in Paris hatte sie sich geschworen, Jocelin niemals mit ihren Gefühlen in Bedrängnis zu bringen. Jetzt musste sie die Kraft aufbringen, mehr denn je, dieses Versprechen zu halten.
Langsam hatte er die Augen geöffnet.
„Ghislaine?“
„Ja. Ich -“
Die Stimme versagte ihr, während sie gegen aufsteigende Tränen kämpfte. Sie hatte von schrecklichen Verstümmelungen gehört, die von den Folterknechten begangen wurden. Wenigstens, so schien es, war Jocelin davon verschont geblieben… Doch sonst ähnelte die Gestalt vor ihr nicht mehr sehr dem Bild in ihrer Erinnerung.
„Ich habe oft an Euch gedacht im Kerker...” Er musste die Augen schließen, die noch immer das Licht nicht ertrugen.
„...Philipp wollte die Namen … unserer Helfer. Ich durfte Euch nicht in seine Hände fallen lassen... manchmal war das alles, was ich noch denken konnte. Aber… irgendwann war ich nicht mehr sicher… ob ich etwas gesagt hatte… oder nicht. Konnte mich nicht mehr erinnern… Ich war nicht mal mehr sicher, ob ich am Leben war... oder schon in den Qualen des Jenseits...“
„Jetzt wird alles gut!“ erwiderte Ghislaine. „Ihr seid in Freiheit und in Sicherheit!“
Aber sie wusste, dass ihre Worte der Festigkeit entbehrten, die sie so gern in diesem Moment in sie gelegt hätte. Nein, nichts war gut! Draußen vor ihrem Refugium zwischen den Felsen spürten königliche Söldner ihnen nach, und sie waren hier so wenig sicher wie ein Fuchs im Bau, wenn die Meute ihn umzingelt hatte!
 
Einige Fetzen der Unterhaltung klangen bis zu Arnaud, der sich auf den Weg nach draußen gemacht hatte. Ein Teil von ihm drängte danach zu sprechen, endlich auszusprechen, was er seit so langen Jahren behütete. Das Verlangen war mächtig genug, ihn innehalten und sich umwenden zu lassen. Doch dann sagte er sich erneut „Jetzt nicht.“ Nein, jetzt  nicht! Es hatte immer dieses ‚jetzt nicht’ gegeben, und er hatte dutzende Gründe gefunden, es vor sich selbst zu rechtfertigen.
Er hatte es fertig gebracht, im Heiligen Land allein gegen eine sarazenische Truppe zu reiten, er hatte den Folterknechten der Inquisition widerstanden – und trotzdem, was DIESE Sache betraf, war er ein erbärmlicher Feigling. Er unterdrückte einen Seufzer und ließ sich vor der Höhle nieder.

Seit drei Wochen tagte nun das Konzil in Vienne. Papst Clemens hatte einen Sonderausschuß berufen, der getrennt von den übrigen Konzilsvätern die Templerangelegenheit beraten sollte. Hinter verschlossenen Türen begutachteten die Delegierten unter dem Vorsitz Erzbischof Gregors von Rouen die Protokolle, die von der Pariser Generalkommission vorgelegt worden waren.
An diesem Tag war man bei der Zusammenfassung der Prozesseinreden, als plötzlich Erzbischof Philipp von Sens in den Saal rauschte.
„Ehrwürdige Väter, mich erreichte soeben eine Nachricht Seiner Majestät. - Der Graf von Montfort hat einem Feind der Krone und der Kirche -“ Mit jedem Wort steigerte sich seine Stimme: “… einem gottlosen Templer zur Flucht verholfen! Behauptet Ihr etwa, nichts davon zu wissen?“ Er deutete mit seinem beringten Finger auf Gregor von Rouen. „Ihr seid doch aus der Familie der Montfort! Einer Familie von Verrätern!“
Der Erzbischof kam nicht dazu, etwas zu entgegnen.
„Meine Herren, ehrwürdige Väter des Konzils“, rief Philipp von Sens“, ich fordere die Absetzung Gregors von Rouen als Vorsitzender dieses Ausschusses! Ich fordere, dass er sich vor dem päpstlichen Gericht verantwortet!“
Doch bei seinem Angriff hatte Philipp de Marigny nicht bedacht, wie sehr die Stimmung sich in den vergangenen Monaten zugunsten der Templer gewandelt hatte. So wurden zahlreiche Stimmen zur Verteidigung laut.
„Ihr betreibt die Absetzung Erzbischof Gregors nur, weil Ihr wisst, dass der Heilige Vater den Templern die Verteidigung vor dem Konzil gestatten wird!“ behauptete ein kastilischer Bischof. „Und das wollt Ihr nicht!“
„Kein Häretiker darf auf einem Konzil sprechen!“ kam die zornbebende Erwiderung. „Jeder, der das zulässt, ist ein Begünstiger der Häresie und selbst ein Häretiker!”
„Wollt Ihr verurteilen aufgrund dessen?“
Die Hand eines Prälaten schwenkte ein Bündel Protokolle. Ein Abgeordneter der Pariser Universität schrie nun, alles sei ein Komplott gegen König Philipp. Rasch hatten sich zwei Parteien gebildet, die sich gegenseitig der Häresie beschuldigten. Nur der Besonnenheit des Kardinals Berengar Fredoli war es zu verdanken, dass es zu keinem Handgemenge kam. Er schlug vor, dass beide Parteien ihre Forderungen schriftlich dem Heiligen Vater unterbreiten sollten. Das konnte keiner ablehnen und – die Gemüter würden Zeit finden, sich zu beruhigen. Mit hochmütigem Gesicht verließ Philipp de Marigny den Sitzungssaal, gefolgt von dem Abgeordneten der Pariser Universität. Dann ging auch Gregor von Rouen, hinunter in den Kreuzgang der Kathedrale. Am Brunnen setzte er sich und lauschte dem leise dahin plätschernden Wasser.
Er wollte allein sein, allein mit diesen üblen Nachrichten. Und gerade jetzt, wo er kurz davor war, die Verteidigung des Ordens auf dem Konzil durchzubringen! Yvo - und einen Gefangenen befreien, und einen solchen noch dazu! War der Junge nicht erst vierzehn Jahre alt? Der Erzbischof seufzte. Welche Sorgen würde das Ghislaine wieder bereiten! Er konnte sich unmöglich für Yvo verwenden, gerade jetzt, nach dieser Anklage des Erzbischofs von Sens! Er ließ den Blick über die sorgfältig gepflegte Kräuterbepflanzung des Kreuzganges schweifen. Ein Kraut gegen jedes Übel... Ein Gedanke, der ihn zu einem bitteren Lächeln veranlasste.
Zwei Tage darauf erreichte Erzbischof Gregor ein päpstliches Schreiben. Es enthielt seine Abberufung als Vorsitzender der Sonderkommission.
Zu entsetzt, um zornig zu sein, ließ Gregor von Rouen sein Pferd satteln und machte sich unverzüglich auf in das Palais, in dem der Papst seit Beginn des Konzils residierte.
Clemens schien es gut zu gehen an diesem Tag. Er spielte mit seinem Kammerherrn Schach, als Erzbischof Gregor gemeldet wurde. Nun wies er den Kardinaldiakon hinaus. Mit gebeugtem Haupt nahm Gregor von Rouen den Segensgruß des Papstes entgegen, aber dann trat er entschlossen vor.
„Das ist eine Intrige Philipp de Marignys!” rief er, die Hand mit dem Brief erhebend.
Als habe er die Worte nicht gehört, blickte Papst Clemens gedankenversunken auf das kostbare Schachbrett mit seinen Bergkristallfiguren.
„In zwei Zügen bin ich schachmatt.”
Er hob den Kopf und sah Erzbischof Gregor an.
„Ich will Euch meine Lage erklären. Heute trafen die Ergebnisse der Provinzialkonzilien von Ravenna, Salamanca und Tarragona ein. Alle haben die Templer ihrer Provinzen für schuldlos erklärt und freigesprochen. Immer mehr Konzilsväter verlangen eine Verteidigung des Ordens, und daran seid Ihr nicht ganz unbeteiligt! Ich muss diese Verteidigung gestatten, andernfalls würde das Ansehen der Kirche schweren Schaden nehmen. Aber wenn die Templer sich verteidigen, erweisen sie ihre Unschuld, das wisst Ihr besser als ich! Doch König Philipp hat mit einer förmlichen Anklage gegen Papst Bonifatius gedroht, wenn der Orden nicht aufgelöst werden sollte! - Ihr seht, ich bin schachmatt, es sei denn...” Clemens griff nach einer der Spielfiguren“, ich opfere diesen hier.”
Erzbischof Gregor begriff. Er begriff nur zu gut.
„Ich bin das Opfer, nicht wahr?”
„Philipp de Marigny verlangt Eure Abberufung.”
„Um meinen Platz selbst einnehmen zu können?! Euer Heiligkeit, ich bitte Euch, ich flehe Euch an, nicht um meinetwillen, sondern um der Kirche willen, gebt dieser Forderung nicht nach! Jetzt verlangt Marigny meine Abberufung, und was dann? Die Eure? Mit einer Marionette wie Marigny auf dem Stuhl Petri, was könnte Seine Majestät aus der Kirche machen?”
Papst Clemens führte den beabsichtigten Spielzug aus und ließ die Figur auf den Teppichboden fallen. Sie rollte ein Stück weiter und blieb unter dem Fenster liegen, im Sonnenlicht glitzernd.
„Ihr vergeudet Eure Zeit. Ihr seid abberufen als Vorsitzender des Templerausschusses.” 

Wieder klangen die Schwerter aufeinander.
„He, Ihr seid nicht schlecht!” rief Raimond seinem jungen Gegner zu. Yvo stieß einen grimmigen Kampfschrei aus und stürzte nach vorn. Lachend ließ sich der junge Ordensritter in den Sand fallen. „Ich ergebe mich, Messire! Oho, Ihr werdet die Leute des Königs noch das Fürchten lehren!”
„Das werde ich!” wiederholte Yvo entschlossen, mit der Unbekümmertheit der Jugend. Ghislaine machte sich Sorgen. Wie sollte es weiter gehen mit ihr und ihrem Sohn? Im Augenblick waren sie auf das Wohlwollen der Ordensbrüder hier angewiesen, die doch  kaum genug für sich selbst hatten. Nicht, dass Jean de Saint-Florent, der momentan die kleine Gruppe kommandierte, nicht noch den letzten Brotkrumen mit ihr geteilt hätte – aber sie wollte niemandem zur Last fallen! Und ihre Besitzungen hatte König Philipp natürlich unterdessen eingezogen! Ob es ihrem Onkel noch gelungen war, etwas davon zu retten, wusste sie nicht. Und an Kontakt zu ihm war schon gleich gar nicht zu denken. Sie sah hinüber zu Jocelin. Er saß am Feuer bei den anderen und löffelte langsam die Suppe, die einer der Brüder erfinderisch zusammengebraut hatte. Ein paar mal in den letzten Wochen hatten die Brüder von Fontainebleau befürchtet, er würde aus dem Ringen um sein Leben nicht als Sieger hervorgehen. Oder zumindest sein rechtes Bein verlieren, das angeschwollen war und sich eines Morgens dunkel verfärbt hatte. Bruder Jean hatte kurz entschlossen die kaum verheilten Wunden der Folterungen nochmals geöffnet und den schief zusammen gewachsenen Schienbeinknochen wieder gebrochen.
Ghislaine hatte sich die Hände gegen die Ohren gepresst, aber trotzdem war ihr Jocelins Schreien durch Mark und Bein gegangen. Doch nach dieser Prozedur begann es ihm Tag um Tag besser zu gehen...
Raimond klopfte sich den Staub von der Tunika und wollte sich zu den Brüdern gesellen. Da erhob sich Jocelin. „Wartet, Bruder Raimond! - Yvo, leiht mir Euer Schwert!”
„Jocelin, nein! Ihr seid noch viel zu krank!” Ghislaine war aufgesprungen und es hätte nicht viel gefehlt, dass sie ihn festgehalten hätte. Im letzten Moment bezwang sie sich, hoffend, dass sie ihre Gefühle mit dieser Sorge nicht allzu deutlich nach außen getragen hatte.
„Ich muss üben. Vielleicht sind wir bald gezwungen, um unser Leben zu kämpfen! Wer weiß, wie lang wir hier noch in Sicherheit sind!“
Die Ordensbrüder wussten nur zu gut, dass er Recht hatte. Die Suche nach seinem entflohenen Gefangenen und dessen Helfern hatte sich bei König Philipp zu einer regelrechten Besessenheit gesteigert. Jocelin griff nach Yvos Schwert. Die kleine, leichte Waffe wog ihm schwer wie Blei. Mit zusammengebissenen Zähnen suchte er sie zu heben und in Angriffsstellung zu gehen. Aber sein rechtes Bein knickte unter ihm weg und die Klinge rutschte ihm aus der Hand.
„Ich bin immer noch so schwach wie ein Milchkind!” murmelte er, sich mit Raimonds Hilfe wieder erhebend. Ghislaines besorgten Blick mied er.
„Ah, Sire Jocelin, für einen, der noch vor zwei Monaten dem Tod die Hand geschüttelt hat, geht es Euch schon ganz gut!” entgegnete Raimond.
In diesem Augenblick hallten Hufschläge von den Felswänden wider. Der Posten oben auf dem Rand des Kessels winkte. Also gab es nichts zu befürchten. Es waren Ranulf und Guy, vor einigen Tagen als Kundschafter nach Paris gesandt, die kurz darauf in den Kreis der Brüder ritten.
„Es gibt gute Nachrichten!”
„Komtur Robert?” fragte Jocelin hoffnungsvoll.
„Ja. Er lebt, und es geht ihm gut. Der Bischof von Paris hat vor einem halben Jahr seine Auslieferung durchgesetzt, und so ist er jetzt in einer Kammer des Bischofspalais.”
„Konntet ihr ihn sehen?”
Guy nickte. „Ich sage Euch, das ist ein heiliger Mann! Als ich mit ihm sprach, da hatte ich das Gefühl, es gäbe keine Mauern mehr um uns, sondern alles wäre Licht und Liebe Gottes! Ich sagte, wir würden alles daransetzen, ihn zu befreien, aber er lehnte ab. ‘Ich bin frei, beau frère.’ hat er gesagt, und wir sollten nichts aufs Spiel setzen um seinetwillen.”
„Aber vielleicht wird er doch bald frei sein“, fuhr Ranulf fort. „Papst Clemens hat die Templer vor das Konzil zitiert. Dort will er über unsere Sache entscheiden.“
Zu viele Enttäuschungen hatten die Ordensbrüder erlebt, als dass diese Worte übermäßige Freude auslösen konnten. Ruhig hörten sie zu, was Ranulf von dem Dekret berichtete, dass an Notre Dame angeschlagen worden war.
„Das ist alles?!“ rief Jean de Saint-Florent dann. „Keine Schutzzusage für die Zeugen? Kein freies Geleit? Das ist ein Hohn!“
Enttäuschtes Murmeln gab ihm Recht. Niemand würde sich so vor dem Konzil melden können. Aber was erwarteten sie auch, nachdem Philipp de Marigny die Leitung des Sonderausschusses übernommen hatte?! Jetzt würde er zu Ende führen, was er damals mit der Verbrennung ihrer Brüder in Paris begonnen hatte!
In der Nacht darauf wurde Jocelin vom leisen Rascheln von strohumwickelten Pferdehufen aufgestört. Wer verließ da die Höhle, und offenbar heimlich? Leise Stimmen waren zu hören. Bruder Arnaud und Guy? Er stützte sich hoch und folgte  auf seine Krücke gestützt den Geräuschen aus der Höhle hinaus in den Talkessel. Verwundert erblickte er im ersten matten Schein des Morgens seinen Pflegevater zu Pferde, gekleidet in sein Ordensgewand! Und neben ihm Bruder Guy auf einem zweiten Reittier.
„Arnaud, was habt Ihr vor, bei allen Heiligen?!“ Hatte sich der Verstand des alten Mannes endgültig umnachtet?!
„Ich hatte gehofft, niemand würde uns bemerken. Nun denn…“
„Arnaud!“ So rasch er konnte, legte Jocelin die restliche Wegstrecke zurück und versperrte seinen beiden Ordensbrüdern den Weg hinaus.
„Lass uns passieren, ich bitte dich. Ich reite nach Vienne, vor das Konzil.“ Arnauds Stimme klang ruhig und gefasst, nicht wie die eines Verwirrten. „Ich werde den Orden verteidigen.“
„Was?! Allein? Das ist –“
„Jocelin, lass mich gehen. Es ist das Letzte, was ich tun kann, um meine Verbrechen zu sühnen. Ehe es zu spät ist…“
„Nein!“ Entschlossen griff Jocelin in die Zügel des Pferdes seines Pflegevaters. „Verbrechen? Wovon redet Ihr, Arnaud?“
Der alte Ordensbruder senkte den Kopf und murmelte dann: „Guy, geh zurück zu den anderen! Ich lasse dich rufen, wenn ich soweit bin!“
„Ja, Messire.“ Der ehemalige Landarbeiter aus Etampes schwenkte sein Reittier herum und führte es langsam zurück bis zum Eingang der Höhle.
Arnaud stieg ab und hielt den Arm fest, den sein junger Bruder ihm reichte und fuhr beschwörend fort:
„Lass mich gehen, im Namen Christi! Es ist meine Pflicht, ich bin der Adjutant des Meisters! Und wenn man mich tötet, so ist es die Buße, vor der ich mich all die Jahre feige versteckt habe! Ich habe gesündigt, Jocelin, schwer gesündigt! Ich habe die Regel unseres Ordens gebrochen und die Gebote Gottes! Und… ich muss endlich dafür bezahlen!“
„Wir alle haben gegen die Regeln verstoßen in den letzten Jahren!“
„Nein… nein, du verstehst nicht… Nicht jetzt, Jocelin! Damals!“ Er scheute zurück, ein letztes Mal, aber diesmal war er bereits zu weit gegangen, um den angstvollen Stimmen in seinem Innern zu gehorchen. „Du erinnerst dich, wie ich dir von deinem Vater erzählt habe? Dass er bei einem Angriff der Sarazenen auf sein Haus verbrannte, gemeinsam mit deiner Mutter?“
„Ja“, entgegnete Jocelin verständnislos. Was hatte das plötzlich mit Arnauds Vorhaben, nach Vienne zu ziehen, zu tun?!
„Nun… das… war eine Lüge“, sagte der alte Ordensbruder jetzt. „Der Herr der Seigneurie von Judäa wurde nicht von Sarazenen erschlagen, er wurde von einem Templer ermordet. In einem Handgemenge … wegen deiner Mutter. Und … er war keineswegs dein Vater.“
„Aber…“
Arnaud ließ ihn den Satz nicht beenden. „ICH bin dein Vater, Jocelin“, flüsterte er, während sich seine Hände um die Schultern seines Ordensbruders klammerten. „Deine Mutter war über zwei Jahre meine Geliebte! Ich habe sie ins Verderben gebracht damit! Und als ihr Gemahl uns eines Tages aufspürte, habe ich ihn getötet. Ich habe gelogen und Meineide geschworen, um dir eine Karriere im Orden zu bahnen… und dabei… dabei habe ich dein Leben ebenso zerstört wie das von Catrina, deiner Mutter…“
Einen Moment lang war Jocelin zu geschockt um zu sprechen. Dann aber nahm er Arnauds Schluchzen wahr und schloss die Arme um ihn, zögernd erst, dann fester.
„Ich habe den Weg nie bereut, den Ihr mich geführt habt“, sagte er. „Alles, was ich bin, was ich kann, habe ich Euch zu verdanken! Nein, Ihr geht nicht nach Vienne! Nicht allein! Wir alle werden vor das Konzil treten, alle, die in Freiheit sind! Wir sind es unseren ermordeten Brüdern schuldig, für die Wahrheit einzutreten! Und wenn wir sterben, Arnaud, dann gemeinsam!“
„Jocelin, du weißt, dass deine Gelübde nicht gültig sind? Dass du ein freier Mann bist?“
„Wir gehen vor das Konzil“, wiederholte er nur. „Ich sage den anderen Bescheid!“
Noch in derselben Nacht begannen die Ordensbrüder ihren Weg nach Vienne zu planen. Wer noch sein Ordensgewand besaß, machte sich eifrig daran, es zu säubern und zu flicken- es galt schließlich, in die letzte Schlacht zu ziehen! Boten wurden ausgeschickt, um die übrigen freien Templer zu benachrichtigen und zusammenzurufen. Nicht nur jene von den alten Gefährten aus Etampes, Provins und der Auvergne, sondern auch jene, mit denen man in den letzten Monaten Kontakte geknüpft hatte. Geflohene, Rekonziliarisierte und Freigelassene, der Jagd Entkommene von jenseits der Grenzen. Während der letzten Jahre hatte sich ein effizientes Netzwerk gebildet, mit geheimen Zeichen zur Verständigung, Schlupfwinkeln und Hilfs-Seilschaften bis hinunter nach Spanien. Ein wenig war es wie einst in Palästina, in den von den Ungläubigen besetzten Gebieten. Nur dass sie sich heute im Territorium Seiner Allerchristlichsten Majestät befanden…
Guillaume de Nogaret beobachtete jede Regung des Vorkosters. Die Speisen, die man aufgetragen hatte, schienen in Ordnung zu sein. Aber der Siegelbewahrer wusste, dass es heimtückische Gifte gab, und so würde er dennoch mit Unbehagen essen. Er hatte Angst, Philipp de Marigny würde versuchen, ihn zu vergiften. Er war überzeugt, dass der Erzbischof von Sens gegen ihn intrigierte. Hinter jedem noch so unbedeutenden Ereignis meinte er dessen Betreiben zu entdecken. Und jetzt, wo König Philipp nach der Befreiung des Templers gegen jeden am Hofe misstrauisch war, mochte er die Gunst der Stunde für sich nutzen!
Zu gern hätte er Philipp de Marigny in den Schlund der Hölle befördert, den jener so gerne in seinen Predigten heraufbeschwor. Aber es war ganz einfach kein Herankommen an den Erzbischof. Er hatte eine exzellente Leibwache und, wie es schien, arbeiteten selbst die Spatzen auf den Dächern für ihn als Spitzel!
Missmutig und appetitlos stocherte er ein wenig in seiner Pastete und trank einige Schluck Wasser, als Schritte auf der Treppe klangen. Einen Moment später ließ der Waffenknecht, den Nogaret seit einiger Zeit vor der Tür seines Privatgemachs postiert hatte, einen Mann mit den Insignien eines königlichen Boten zu ihm vor.
„Seine Majestät wünscht Euch zu sprechen, Sire Guillaume!“ meldete er knapp.
Der Siegelbewahrer wischte sich mit der Serviette über den Mund und stand auf, geradezu dankbar für die Unterbrechung des freudlosen Mals. Doch gleichzeitig nistete sich ein  beunruhigender Gedanke in ihm ein. Was mochte der König zu dieser Stunde von ihm wollen?
König Philipp war zornig. Noch waren die Flüchtlinge nicht aufgegriffen worden, und jeder Tag, den er vergeblich wartete, steigerte seinen Zorn. Hinzu kam, dass das Konzil keine Anstalten machte, die Templer endlich zu verurteilen und ihm die ersehnten Güter zu übertragen. Vielleicht war Philipp de Marigny doch zu sehr an seiner eigenen kirchlichen Karriere als an den Belangen des Reiches interessiert!
„Sire Guillaume“, richtete der König das Wort an seinen Siegelbewahrer. Still hatte Nogaret eine Stunde auf diese Anrede gewartet und nichts von der inneren Qual erkennen lassen, die ihm dieses Ausharren im Ungewissen bereitete. Dieser Kunst zu warten verdankte er einen großen Teil seines Ansehens bei Seiner Majestät.
„Sire Guillaume, Ihr geht nach Vienne. Teilt Papst Clemens mit, ich wünsche, dass der Orden der Templer unverzüglich aufgehoben wird, ohne eine Verteidigung! Man braucht nicht zu hoffen, dass sich  irgendwelche Verteidiger melden! Ich wünsche weiterhin, dass alle bewegliche und unbewegliche Habe des Ordens der französischen Krone zugesprochen wird. Wenn Seine Heiligkeit das tut, so verspreche ich, von der Anklage gegen Papst Bonifatius abzusehen... und einen Kreuzzug zur Befreiung Jerusalems zu führen.“
„Einen … Kreuzzug, Euer Majestät?“
„Nun, warum nicht? Die Heiligen Stätten brauchen einen würdigen Verteidiger, nachdem sie von diesen ketzerischen Hunden der Templer so schmählich im Sticht gelassen wurden, findet Ihr nicht?“ 

Seit das Konzil begonnen hatte, war die Einwohnerzahl der Stadt Vienne um das doppelte gestiegen. Jeder der Prälaten führte eine eigene Truppe Bewaffneter und einen Tross Diener mit sich. Gastwirte und Händler verdienten mit den üblichen Preisaufschlägen Vermögen; Diebe und Huren erlebten goldene Zeiten. Unmöglich war es, innerhalb der Mauern noch ein Quartier zu bekommen, und wäre es der erbärmlichste Verschlag.
Als Jocelin und seine Gefährten ankamen, blieben sie daher im Waldgebiet vor Vienne zurück. Einige Tage sandten sie Brüder in die Stadt, um die Gegebenheiten und die Lage auf dem Konzil zu erkunden. Dann entschieden sie, vorerst nur eine kleine Abordnung vor das Plenum zu schicken, die Sicherheiten für die Zeugen aushandeln sollte.
So ritten Jocelin, Arnaud, Ranulf, Jean und fünf weitere Brüder die Hügel nach Vienne hinunter. Staunend, erschrocken, nicht wissend, was sie davon halten sollten, machten die Leute den Männern im weißen Habit Platz. Selbst die Stadtbüttel und die päpstlichen Gardisten vor dem Portal der Kathedrale wichen zurück wie vor einer Erscheinung, von der noch nicht klar war, ob sie Gottes Wohlwollen oder sein Strafgericht ankündigte. Ungehindert schritten die Ordensbrüder die Treppe zur Kathedrale hinauf.
Ranulf und Jean stießen die Portalflügel auf, und dann marschierten die Templer in den Licht durchfluteten Kirchenraum. Mit einem Schlag waren die Gespräche der Konzilsväter verstummt. Ein Augenpaar nach dem anderen wandte sich ihnen zu. Bestürzt, ungläubig die einen, deutlich verängstigt die anderen.
Jocelins Stimme klang laut und klar durch das Gewölbe: „Heiliger Vater, wir entbieten uns zur Verteidigung des Ordens vom heiligen Tempel!“
Papst Clemens umklammerte die Lehnen seines Thrones. Sie waren also doch gekommen! Allen Erwartungen zum Trotz! Er hätte nicht entsetzter sein können, wenn die himmlischen Heerscharen vor ihm hernieder gestiegen wären.
„...Wir verlangen einen neuen, einen rechtmäßigen Prozess, wie er uns nach Euren Privilegien zusteht! Wir sind nicht die Einzigen, die für die Unschuld unseres Ordens bereit sind zu sprechen! Noch viele andere Brüder warten -”
„Sie wollen das Konzil überfallen!“ rief einer der königlichen Parteigänger und sprang in Panik auf. „Sie wollen das Konzil überfallen, sie haben sich zusammengerottet! Hört doch! Heiliger Vater, Ihr müsst handeln!“
Es war der Vorwand, den Papst Clemens brauchte. Verzweifelt griff er danach. „Verhaftet diese Männer!“ befahl er mit einem Wink zu den Wachposten. Jean de Saint-Florent zog sein Schwert, ein anderer tat es ihm nach.
„Die Waffen weg!“ schrie Jocelin sie an und warf er sich vor dem Papst nieder. Er wollte nicht glauben, dass Clemens sie wieder verriet!
„Heiliger Vater, hört uns an! Bei der Liebe Christi-“
Drei Söldner stürzten sich auf ihn, zerrissen seine Tunika, während sie ihn fortzerrten.
„Clemens, Ihr kreuzigt Christus noch einmal!!!“
Noch lange schien der Schrei durch die Kathedrale zu hallen, als werde er von den Statuen an den Säulen und den Fratzen auf den Kapitellen wiederholt.
Ghislaine schritt unruhig im Kreuzgang der Kathedrale von Vienne auf und ab. Sie wartete auf  Gregor von Rouen. Am Morgen, als die Templer beunruhigt über das Ausbleiben ihrer Ordensbrüder einen Kundschafter in die Stadt schicken wollten, hatte sie sich erboten, zu ihrem Onkel zu gehen. Endlich erschien der Erzbischof.
Seine sorgenvolle Miene erhellte sich etwas, als er die Besucherin in der Tracht einfacher Landfrauen erkannte. „Ghislaine, mein Kind! Ich bin so froh, dich gesund zu sehen nach allem, was geschehen ist!“ Die näheren Umstände wagte er kaum anzusprechen. „Du bist hier wegen Yvo, nicht wahr? Wo ist der kleine Tunichtgut? Was für Sorgen macht er dir nur immer...“
„Yvo ist bei - bei guten Freunden“, antwortete sie im letzten Moment ausweichend. „Sorgen? Ja, aber trotzdem bin ich stolzer auf ihn jetzt als zu der Zeit, als er Knappe am Königshof war. Gott vergebe mir!“
Gregor von Rouen seufzte. „Ich kann nichts für den Jungen tun, Ghislaine. Schon deshalb nicht, weil ich selbst keine sonderlich gern gesehene Person mehr am Hof bin. Mit Philipp de Marigny als bösem Geist am Ohr Seiner Majestät zählt das Wort jedes Bänkelsängers mehr als das meinige.“
„Es geht mir nicht um Yvo, Vater Gregor!“ Allen Mut zusammennehmend sprach sie weiter: „Gestern sind neun Brüder des Templerordens vor das Konzil gegangen. Ist Euch bekannt, was mit ihnen geschehen ist?“
„Meine Tochter!“ murmelte der Erzbischof erschrocken. Unwillkürlich sah er sich um, ob irgendwer die Worte hatte hören können.
„Ich war nicht anwesend bei dieser Sitzung“, flüsterte er dann. „Soviel ich weiß, hat man die Templer verhaftet, weil sie drohten, das Konzil zu überfallen.“
„Das ist nicht wahr! Das kann nicht wahr sein! Jocelin war bei ihnen! Nie würde er so etwas zulassen!“
„Jocelin?! Er ist am Leben?! Der Bischof von Mende redete wirres Zeug von einer Auferweckung der Toten und Dämonen - jetzt begreife ich! War er es, den Yvo  befreit hat?“ Die Stimme des Erzbischofs hatte sich zu einem kaum noch hörbaren Hauch gesenkt.
„Ja“, antwortete Ghislaine ebenso leise und ergriff die Hände ihres Onkels. „Fast umgebracht hatte ihn der König! Und jetzt ist er wieder im Kerker? Das dürft Ihr nicht zulassen! Ihr müsst uns helfen!”
Der Erzbischof legte ihr beruhigend die Hand auf den Kopf. „Ghislaine, höre mir zu: Ich will für Jocelin und seine Ordensbrüder tun, was ich kann. Aber das ist nicht so leicht, wie du vielleicht glaubst! König Philipp ist mit einem Heer nach Lyon unterwegs. Gewiss denkt keiner der Konzilsväter, ein Häuflein Templer könnte dem Konzil gefährlich werden, aber sehr wohl kann das König Philipp, wenn wir ihm nicht willfährig genug sind.”
Der Kerkermeister drehte die Münze zwischen den Fingern. „Geh!“ befahl Ghislaine. „Ich will allein mit ihnen sprechen, sagte ich!“
Der kahlköpfige Mann rührte sich nicht von der Stelle. Bedeutungsvoll ließ er den Blick von der Münze zur Tür des Verlieses wandern. Zornig presste Ghislaine die Lippen zusammen, riss ihren Ring vom Finger und warf sie in die gierigen Hände. „Reicht das jetzt?“
„Zehn Vaterunser lang!“
Gemächlich stapfte der Kerkermeister die Treppe hinauf. Ghislaine öffnete die kleine Klappe in der Tür und drückte das Gesicht gegen die Gitterstäbe.
„Jocelin! Jocelin, hört Ihr mich?“
Aus dem Halbdunkel schälte sich eine Gestalt und eine leise Stimme fragte:
„Ghislaine, was sucht Ihr hier?“
„lch komme von Erzbischof Gregor. - Wie behandelt man Euch und die anderen?”
„Wir nehmen unser Schicksal an in Gottes Namen. Betet, dass man uns einen raschen Tod gönnt!“
Gütiger Himmel, sie wollte so etwas nicht von ihm hören! „Nein, gebt noch nicht auf! Ich habe mit meinem Onkel gesprochen. Er sagte, viele der Konzilsväter, fast das ganze Kardinalskollegium und auch Clemens selbst seien für eine Verteidigung des Ordens. Aber König Philipp ist mit Truppen nach Lyon unterwegs!“
Diese Erwähnung ließ Jocelin schaudern. Von einem Augenblick zum anderen waren die Schreckensstunden in den Händen der Folterknechte wieder so deutlich präsent, dass seine Knie zitterten. „Ich habe nicht die Kraft, es noch einmal auszuhalten“, dachte er.
„...Man fürchtet, er könne Vienne angreifen, falls dem Orden die Verteidigung gestattet wird. Aber wenn Philipp abzieht, dann -“
„Ah, Madame“, rief Bruder Jean aus der Dunkelheit. „Philipp und das Feld räumen? Seine Majestät wird keinen Fuß zurücknehmen! Das sind vergebliche Wünsche! Eher fließen die Flüsse aufwärts und die Bäume wurzeln in der Luft!“
„Vielleicht nicht...“ sagte Arnaud plötzlich nachdenklich. „Stünden die Templer Papst Clemens bei, vielleicht...?“
„Ja.“ Jocelin hob den Kopf, kämpfte mit seiner eigenen Stimme gegen sein wild pochendes Herz und die Beklemmung an. „Ja, Ihr habt recht, Sire Arnaud! - Ghislaine, richtet dem Erzbischof von Rouen aus, die Schwerter des Tempels stehen dem Heiligen Vater zur Verfügung! Und sagt Bruder Louis, er möge sich bereithalten, dem Befehl Papst Clemens‘ zu folgen!“
Arnaud streifte den Ring von seinem Finger.
„Madame, hier habt Ihr unser Siegel!“
„Ghislaine, Ihr dürft nicht noch einmal zu uns kommen!“ flüsterte Jocelin, während er ihr das Unterpfand reichte. „Bleibt bei unseren Brüdern vor der Stadt! Ganz egal was geschieht! Kommt nicht noch einmal zu uns!”
Er streckte eine Hand durch das Gitter, berührte ihr Gesicht. Für einen Moment überlegte er, ob er ihr sagen sollte, wie schön sie war… so viel schöner als in all seinen Fieberträumen im Kerker… und wie viel sie ihm bedeutete. Aber was würde das bringen in dieser Stunde? Was außer Leid? Er wollte ihr das nicht antun. Sie schmiegte eine tränennasse Wange in seine Hand.
Da klangen die Schritte des Kerkermeisters auf den Stufen.
„Schluss!” erklärte er barsch, schob Ghislaine zur Seite und schlug das Fensterchen zu.
Über eine Woche verhinderte Papst Clemens‘ schlechter Gesundheitszustand, dass die Konzilsväter zu einer allgemeinen Sitzung zusammentrafen. Als man sich endlich wieder in der Kathedrale einfand, brach augenblicklich der Streit über den Templerorden los. Gestärkt durch die Nähe König Philipps wechselte die Partei des Bischofs von Mende zwischen Forderungen, die Templer zu verurteilen, und Anklagen gegen Papst Bonifatius und Papst Clemens. Schließlich drohte sie sogar, das Konzil zu verlassen. Erst Kardinal Berengars Ankündigung, die Betreffenden in diesem Fall zu exkommunizieren, brachte die Anhänger des Königs dazu, ihre Plätze einzunehmen.
Erzbischof Gregor erhob sich im Plenum der Konzilsväter. Er hatte die ganze vergangene Nacht mit sich gerungen, ob er tatsächlich in die Tat umsetzen wolle, woran er dachte. Aber nun hatte er keinen Zweifel mehr. Er musste sprechen, mochte ihm das möglicherweise auch recht bald sein Amt und sein Leben kosten!
„Von unserer Versammlung, dem ökumenischen Konzil, erwartet die Christenheit Gerechtigkeit und Erbauung, die Kirche neuen Ruhm und die Zukunft ein großes Beispiel“, begann er. „Wir haben über das Schicksal eines Ordens zu entscheiden, der berühmt und mächtig ist diesseits und jenseits der Meere. Ihr kennt die Hauptanklagen; man hat Euch die Ergebnisse der Untersuchungen vorgelesen. Nun! Wer von uns glaubt jetzt noch an die Schuld des Ordens und der Ritter? Es heißt, sie hätten Götzenbilder angebetet. Mehrere Zeugen sagten aus, es habe solche Bilder in England, Frankreich, in Italien und Spanien gegeben. Wie kam es, dass diese Bilder an dem Tag verschwunden waren, als man sich der Ritter und der Güter des Ordens bemächtigte? Ist es an uns, diese plumpen Lügen der Anklage blind zu übernehmen? Haben wir vergessen, dass die Templer vom Altar, dem Zeugen ihrer heiligen Verpflichtung, zum Kampf eilten, und dass sie nur in Gefahr und Tod gingen, um unsere Religion zu verteidigen? Ich wage zu sagen, je mehr das Unglück und die Vorurteile auf dem Orden lasten, um so mehr halte ich es für eine Pflicht, nicht endgültig über sein Schicksal zu entscheiden, ohne die Verteidiger zu hören! Ein feierliches Versprechen des Heiligen Vaters erklärte, diese letzte Zuflucht solle ihnen nicht verwehrt werden. Sie haben die Hoffnung, dass Euer endgültiges Urteil sie für die Fesseln, die Foltern, die Scheiterhaufen, die sie bis zum Tode beim Verfechten der Unschuld des Ordens erduldeten, entschädigen wird. Ihr allein, Heiliger Vater, bleibt ihnen auf Erden, und Gott im Himmel!“
Clemens senkte den Kopf, als sei die päpstliche Krone eine zu schwere Last geworden.
Gregor von Rouen sprach weiter: „Ich schlage vor, dass man die Fesseln sprengt, mit denen man in so unwürdiger Weise die neun Ritter gebunden hat, und dass man sie anhört. Ich sage noch mehr: den Meister, den man zum Unheil verdammt zu haben scheint, zur Qual, seine tapferen Brüder zu überleben, suche ich unter uns. Ich verlange, dass er am Konzil teilnehme -“
„Euer Heiligkeit, den Prozess gegen den Meister habt Ihr Euch reserviert!” schrie der Bischof von Mende dazwischen, im Versuch, den Papst auf seine Seite zu ziehen. ”Wie sollte das Konzil es wagen, sich darüber ein Urteil anzumaßen? Es ist mir unverständlich, wie Seine Ehrwürden Gregor eine solche Sache fordern kann!“
Doch der Erzbischof von Rouen bewahrte die Ruhe. „Der Heilige Vater hat sich sein Urteil vorbehalten, sagt Ihr mir. Aber der Meister hat unaufhörlich um dieses Urteil gebeten! Er hat stets verkündet, er werde sich vor dem Papst verantworten. Warum also hat man ihn noch nicht angehört? Einen Unglücklichen nicht zu richten, den eine feierliche Anklage vor der ganzen Christenheit verleumdet, wenn er seit so langer Zeit verlangt, man möge über sein Schicksal urteilen, ist vielleicht ein größeres Unrecht, als wenn man ihn unschuldig verurteilt. Nahezu 500 Templer hatten sich zur Verteidigung gemeldet; was ist aus ihnen geworden? Die Scheiterhaufen oder die Kerker haben sie verschlungen. Welcher Christ, welcher auch nur vernunftbegabte Mensch hätte sich nicht entrüstet und empört bei der Nachricht von dem, was bei mehreren Provinzialkonzilien in Frankreich vorging?
Ich wende mich an die Prälaten, die ihnen vorstanden. Wo findet man in den verschiedenen Untersuchungen gegen den Orden und die Brüder den Beweis dafür, dass die Templer der Ketzerei verfielen, wo findet man vor allem den Beweis, dass sie ihr wieder verfielen? Indessen hat man sie verurteilt, wie wenn sie rückfällige Ketzer gewesen seien. Unter welchem Vorwand? Weil sie bezeugten, sie hätten nur der Folter nachgegeben und vor der göttlichen und menschlichen Justiz nichtige Geständnisse widerrufen. Welches Gesetz aber gestattet eine so außerordentliche Verurteilung? Meiner Ansicht nach ist dies die schlimmste Ketzerei, die jemals der Kirche Ärgernis bereitete, dass man Kämpfer, die allesamt öffentlich unsere Religion bekannten und es für ihre vornehmste Pflicht hielten, für sie zu sterben, zu rückfälligen Ketzern stempelte! Die meisten französischen Templer sind in der Folter und in den Flammen umgekommen, andere, die man in den Gefängnissen unmenschlich behandelte, sind dort gestorben als Opfer ihrer Ergebenheit an die Pflicht und an die Wahrheit. Die Wächter dieser Unglückseligen bezeugen, dass der letzte Schrei der Sterbenden ein Schwur der Unschuld war! Trotzdem behandelte man sie wie Exkommunizierte, sie starben verabscheut von den Menschen!“
Als er einen Augenblick lang schwieg, herrschte vollkommene Stille. Selbst das verhaltene Murren der königlichen Partei war verstummt.
„Es ist an der Zeit, diesen Märtyrern Recht zuteil werden zu lassen. Hier, in dieser und in der jenseitigen Welt!” rief Erzbischof Gregor dann, beschwörend die Hände ausgebreitet. „Ja, ich rufe Gott selbst zum Zeugen auf, um die Rechte und Ansprüche der unterdrückten Ordensbrüder zu wahren und sie vor Unheil zu schützen!“
Noch während der Rede hatte Papst Clemens die Kathedrale verlassen. Von zwei Bediensteten ließ er sich in seine Gemächer führen. Er fühlte sich sterbensmatt. Er fiel in einen unruhigen Schlummer, aus dem ihn jedoch schon bald der Kammerdiener weckte.
„Erzbischof Gregor ist hier, wollt Ihr ihn sprechen, Euer Heiligkeit?“
„Ja, er möge eintreten“, gewährte der Papst und brachte sein Gewand in Ordnung.
„Heiliger Vater, ich bringe Euch das Ergebnis der Konzilsabstimmung. Vier Fünftel der Konzilsväter haben sich für eine Verteidigung der Templer ausgesprochen.“
Der Papst legte die Liste des Erzbischofs zur Seite, ohne sie anzusehen. Stattdessen reichte er Gregor von Rouen ein Pergament, an dem noch das zertrennte Siegelband hing.
„Lest das!“
„Zeugen, die beschwören, dass Papst Bonifatius Zwiesprache mit den Dämonen betrieb... Zeugen, die beschwören, dass er der Unzucht ergeben war... Zeugen, dass er seine Amtsvorgänger ermorden ließ, um auf den Stuhl Petri zu gelangen...“
„Das brachte mir heute morgen ein Bote Seiner Majestät“, fügte Clemens erklärend hinzu.
Gregor von Rouen ließ das Blatt sinken.
„Die Verurteilung der Templer mag ein schweres Unrecht sein“, sprach der Papst weiter. „Aber ein schweres Unrecht zerschlägt nicht die Kirche! Doch wenn ich Bonifatius verurteilen muss, und wenn Philipp diese Aussagen an die Öffentlichkeit bringt, würde mir nichts anderes übrig bleiben, dass würde bedeuten, die von ihm gespendeten Bischofsweihen sind ungültig, auch die meinige! Und die Bischöfe haben Priester geweiht, Sakramente gespendet, all das wäre dann ungültig! Hunderte Christen wären nicht getauft, nicht gültig verheiratet! Die Kirche würde im Chaos versinken!“
„Seine Majestät hat kein Recht, entsprechende Verurteilungen von Euch zu fordern, weder die eine noch die andere!“ entgegnete Gregor von Rouen mit der Entschiedenheit, deren Notwendigkeit ihn die vergangenen Wochen gelehrt hatten. „König Philipp hat die Mitglieder eines geistlichen Instituts gefangen genommen, sie in schwerster Weise misshandeln lassen und ihre Güter an sich gerissen. Taten, für die mehrere Eurer Vorgänger Bann und Interdikt verhängt haben, Heiliger Vater.“
„Ach, meine Vorgänger! Soll ich Philipp exkommunizieren? Ich würde nicht mehr lang genug in Freiheit sein, die Sentenz zu veröffentlichen! Auch Bonifatius hat damals in Anagni die Exkommunikation König Philipps vorbereitet, als Nogaret ihn überfiel, wisst Ihr das nicht mehr?“
„Bonifatius hatte keine Armee, die ihm ergeben war! Ihr schon! An die 100 Templer sind bereits in den Wäldern ringsum versammelt! Stellt ihnen einen gerechten Prozess in Aussicht, und sie werden für Euch kämpfen bis zum letzten Atemzug! König Diniz von Portugal hat Euch ebenfalls Hilfe und Schutz zugesagt!“
Aber Papst Clemens besaß kein Vertrauen in eine Armee, deren Stärke er nicht mit eigenen Augen sah. Nach Portugal fliehen? Das eine Gefängnis mit einem anderen tauschen? Im war nicht nach Abenteuern dieser Art zumute! Mit einer matten Handbewegung befahl er lediglich, den Erzbischof wieder hinauszuführen.
„König Philipp ist da!“
Der Schrei riss die im erzbischöflichen Palais wohnenden Prälaten in der  kommenden Nacht zu ungewohnt früher Stunde aus dem Schlaf.
„Heiliger Vater, König Philipp -“
Clemens schob die Vorhänge seines Bettes zur Seite, starrte den Kammerdiener entsetzt an.
„Philipp? Wo?“
„In Vienne! Vor der Kathedrale, Heiliger Vater!“
Der Papst stand auf, kleidete sich in aller Hast an. Seine Finger waren plötzlich so kalt und steif, dass er den Gürtel zweimal fallen ließ, aber er wollte sich nicht helfen lassen. Kurz darauf in der Galerie des Palais angelangt sah er das Schreckliche. Im Schein dutzender Fackeln stand Seine Majestät auf dem Kathedralplatz, begleitet von zweien seiner Söhne, eine große Zahl Bewaffneter hinter sich.
Genügend, um das Konzil gefangen zu nehmen... Die Kälte kroch höher in den Papst hinauf und legte sich wie eine unsichtbare Schlinge um seinen Hals.
„Euer Heiligkeit, wünscht Ihr wieder in Euer Gemach zu gehen?“
„Nein, hinunter in die Kathedrale!“ erwiderte Clemens, gegen seine Übelkeit ankämpfend.
Schnell rief der Kammerdiener ein paar Kerzenträger herbei, die die finsteren Treppen und Gänge vom Palais zum Gotteshaus erleuchten sollten. Auf dem Weg gesellten sich noch einige aufgeregte Prälaten und Bedienstete zu der seltsamen Prozession. Noch im Nachtgewand huschte der Ostiarius mit den Kirchenschlüsseln an ihnen vorbei. Einen Augenblick später öffneten sich die Flügel des Kathedralportals und Papst Clemens trat hinaus. Im selben Moment glitt König Philipp aus dem Sattel, lief die Stufen hinauf und neigte sich zu einem eleganten Fußkuss vor dem Heiligen Vater.
„Euer ergebenster Diener, Euer Heiligkeit! - Wir sind froh, Euch wohlauf zu sehen! Nachdem Uns Gerüchte erreichten, dass eine Bande Templer hier ihr Unwesen treibe, hielten Wir es für Unsere Pflicht, zu Eurem Schutz zu eilen.“
Unbewusst wich Clemens einen Schritt zurück.
Im Wald vor Vienne saßen die Brüder um ein nur noch glimmendes Feuer. Wieder war ein Tag vergangen, ohne dass sie etwas von Jocelin und den anderen in Vienne Gefangenen gehört hatten. Bruder Louis vernahm einen kurzen Wortwechsel Ghislaines mit dem Posten und sah sich erstaunt um.
„Ihr seid schon zurück, Madame?”
„König Philipp ist in Vienne.”
„Philipp in Vienne?”
Ghislaine nickte. Die Schreckensnachricht stand ihr noch ins Gesicht geschrieben. „Gestern Nacht ist er gekommen, mit beinahe 200 Söldnern und Rittern. Ein Teil lagert vor der Kathedrale.”
„Dann ist alles verloren“, murmelte einer der Ordensbrüder resigniert.
„Verdammt!” stieß Raimond hervor. „Dann holen wir Clemens doch einfach raus! UND unsere Kameraden!“
„Ohne ausdrückliche Billigung Seiner Heiligkeit können wir nichts, GAR NICHTS tun!“ rief Louis. „Es würde aussehen, als wollten wir den Papst entführen, ihn mit Waffengewalt zwingen! Das wäre das endgültige Todesurteil für den Orden! Clemens muss uns wenigstens EIN Zeichen geben, so lautet der letzte Befehl von Komtur Jocelin.”
Raimond seufzte. „Ich kann nur das verfluchte Warten nicht mehr aushalten! Sollten wir nicht versuchen, unsere Brüder zu befreien?”
Daran hatte Louis mindestens ebenso oft gedacht. Ghislaine hatte ihnen beschrieben, wo Jocelin und die anderen acht festgehalten wurden. Aber unterdessen konnte man sie längst an einen anderen Ort gebracht haben. Er schüttelte den Kopf.
„Das ist zu riskant! Und falls der König bisher noch nichts von den Gefangenen weiß, wird er es dann mit Sicherheit herausbekommen!“
„Ihr glaubt, die Prälaten haben es ihm nicht längst geflüstert?“
„Wir können nur hoffen, Bruder Raimond. Und beten! Und uns bereithalten, wenn die Nachricht kommt.”
Noch bevor er ausgesprochen hatte, sah er, dass Ghislaine niedergekniet war und sich ihre Hände um den Rosenkranz schlossen.
„Betet!“ wiederholte er laut. „Betet! Alle!“ 

Obwohl später Vormittag, war es noch düster. Kein Lichtstrahl erweckte die Szenen in den farbigen Fenstern der Kathedrale von Vienne zum Leben. Von irgendwo blies ein heftiger Luftzug durch das Gewölbe und löschte die Kerzen der Akolythen aus, die Papst Clemens zu seinem Thron begleiteten. Verärgert ruhten die Blicke einiger Konzilsväter auf Clemens. Zwei Wochen hatte er mit König Philipp außerhalb des Konzils verhandelt. Und strengste Geheimhaltung lag über all diese Unterredungen gebreitet. Heute saß Seine Majestät neben Papst Clemens. Hinter dem Thron Philipps stand, ungeachtet der noch immer nicht gelösten Exkommunikation, Guillaume de Nogaret. Der Papst hatte sich erhoben. Während er das Eröffnungsgebet sprach, näherte sich ihm sein Notar. Auf einem Samtkissen trug er feierlich eine Pergamentrolle mit dem großen päpstlichen Bleisiegel. Erzbischof Gregor von Rouen bemerkte, wie Clemens‘ Hand zitterte, als er die Bulle entgegennahm. Ebenso unsicher klang auch die Stimme des Heiligen Vaters.
„Bischof Clemens, Diener der Diener Gottes, zum ewigen Gedenken…“ Die Bulle gab eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Verfahren gegen die Templer und ihrer Ergebnisse. Einige Konzilsväter hüstelten gelangweilt.
„...erschien es der Mehrheit der auf dem Konzil anwesenden Prälaten, dass dem Orden eine Verteidigung eingeräumt werden müsse, und dass der Orden ohne Beleidigung Gottes und in gerechter Weise allein aufgrund der erhaltenen Beweise für die Häresien, die Gegenstand der Ermittlungen gewesen waren, nicht verurteilt werden kann...”
„Er spricht sie frei!“ dachte Erzbischof Gregor, im Stillen jubelnd. Doch nur einen Augenblick währte seine Freude.
„...es ist zutreffend, dass aufgrund der bisher unternommenen Schritte der besagte Orden kanonisch nicht durch definitiven Urteilsspruch als häretisch verurteilt werden kann... aber den Skandal, den so viele Geständnisse, und besonders das Bekenntnis des Meisters, verursacht haben, können Wir um des Wohles der Kirche willen nicht übergehen... Folglich lösen Wir durch apostolische Verfügung und nicht durch richterlichen Entscheid besagten Orden des Tempels mit ewiger Gültigkeit auf, beseitigen seine Regel, sein Ordensgewand und seinen Namen.“
Erzbischof Gregor schloss entsetzt die Augen.
„Gott sei uns gnädig!“ murmelte er. Wie aus nebelhafter Ferne vernahm er die übrigen Entscheide:
„Wir verbieten ausdrücklich, dass fernerhin irgendjemand in besagten Orden eintrete, sein Ordensgewand annehme, es trage und sich als Templer bezeichne. Handelt jemand dieser Verfügung zuwider, so sei er exkommuniziert...“
Ein Lächeln verzerrte die Lippen Nogarets. Dies war seine Stunde, der Sieg, den er eingebracht hatte, und nicht Philipp de Marigny! Dies war die Vollendung seiner Rache an der Kirche! Welch ein Triumph! Von ihrem eigenen Haupt war der Kirche ihr Schwertarm abgeschlagen worden! Zugrundegehen würde sie an dieser Wunde, langsam zugrunde gehen! Und nie wieder würde einer der Weißmäntel einen wehrlosen alten Mann in den Dreck stoßen!
Die Ordensbrüder waren überrascht, als Gregor von Rouen ihr Verlies betrat. Nie war der Erzbischof selbst zu ihnen gekommen.
„Messires, ich habe Euch den Erlass des Heiligen Vaters mitzuteilen“, sagte Gregor von Rouen, ein Pergament entrollend. Er las schnell, versuchte, sich hinter den trockenen Rechtsformeln zu verstecken.
„Der Orden ist... aufgelöst?“ wiederholte Jean de Saint-Florent fassungslos die letzten Worte des Erzbischofs. „Clemens hat es nicht gewagt, den Orden zu verurteilen, und trotzdem löst er ihn auf?!“
„Sagt mir...“ fragte Jocelin, „was hat Philipp dem Papst für diesen Verrat gegeben?“
„Die Anklage gegen Papst Bonifatius wurde zurückgenommen.“ Gregor von Rouen vermied, die Brüder anzusehen.
„Ich habe Befehl vom Heiligen Vater, Euch freizulassen.”
„Was nützt uns nun diese Freiheit? Ist Clemens zu feige, uns zu richten? Hat er Angst, unser Blut könne auf seiner Seele lasten? - Ich werde nicht gehen!“
Zwei andere der Gefangenen stimmten Jean zu.
„Nein. Wir werden gehen! Unsere Brüder warten auf uns“, erwiderte Jocelin leise, aber bestimmt. „Es ist unsere Pflicht, uns um sie zu kümmern.“
Der Prälat nickte ihm zu. Er führte die Templer aus dem Kerker in eine angrenzende Kammer. Hier lag ein Bündel weltlicher Kleider bereit. Schweigend kamen die Ordensbrüder der Aufforderung nach, sich umzuziehen. Erzbischof Gregor wies unter ein schmales Dach, das sich an der Mauer entlang zog.
„Dort sind Eure Pferde. - Geht mit Gott, Messires!“
Jocelin machte einen Schritt, doch dann wandte er sich noch einmal um. „Ehrwürdiger Vater, ich möchte Euch um etwas bitten. Es geht um Ghislaine, Eure Nichte...“
Mit einem Nicken lauschte der Erzbischof den rasch geflüsterten Worten.
Jocelins Augen glitten über die versammelten Ordensbrüder. Das Entsetzen über das eben  Gehörte lastete auf ihnen. Sie waren gekommen, um in die Entscheidungsschlacht zu ziehen. Und nun hatte man sie vernichtet, bevor sie die Waffen hatten ergreifen können. Fünf Jahre lang hatten sie um einen gerechten Prozess gekämpft, und jetzt war alles umsonst gewesen.  Der Orden war aufgelöst. Mit einem einfachen Federstrich ausgelöscht. Das war genug, einen Mann loderndem Zorn auf Gott und die Menschen anheim fallen zu lassen. In den Gesichtern mancher seiner Brüder sah Jocelin das Feuer dieses Aufbegehrens, hörte die stummen Schreie nach Vergeltung.  So viele brauchten Orientierung… Nahrung und Kleidung nicht nur für den Leib, sondern auch für die Seele. Sie mussten sich um sie kümmern. Sie mussten Wege finden!
„Brüder“, begann er und erhob sich. „Papst Clemens hat eine schwere Sünde begangen, für die der Herr Rechenschaft von ihm fordern wird. Niemals dürfen WIR unsere Hände zu einer Rache erheben! Niemals, sage ich, und ich beschwöre einen jeden von Euch, dies zu halten! Solange Clemens lebt, haben wir nichts zu hoffen, aber eines Tages wird ein neuer Papst kommen, ein neues Konzil, frei von König Philipp. Bis dahin können wir das Kreuz unseres Ordens nicht mehr auf unseren Gewändern tragen. Aber wir werden es auf dem Herzen tragen! Das, was immer der Geist unseres Ordens gewesen ist, wird uns Kraft geben, auszuharren, bis die Wahrheit offenbar gemacht wird: die Liebe zu Christus bis zum Tod!”
„Aber wie sollen wir leben, Sire? Wohin sollen wir gehen? Hier in Frankreich können wir nicht bleiben!”
„Wir können ins Reich gehen,” riet einer der Brüder, ehe Jocelin antworten konnte. „Dort war man uns freundlich gesinnt.”
„Nein, ziehen wir nach Spanien oder Portugal! Dort haben die Provinzialkonzilien den Orden freigesprochen.”
„Ja! Und außerdem habe ich gehört, bereitet der König von Aragon einen neuen Kreuzzug vor!”
Ein Kreuzzug? Das war eine Nachricht, die in manchen der verzweifelten, zornigen Herzen, den gedemütigten und verstörten Seelen, wieder den Funken der Hoffnung entzündete.
Jocelin wandte kurz den Kopf Richtung Vienne. Von der Stadt mit ihrer Kathedrale nur noch ein dunkelgrauer Schemen vor dem Nachthimmel zu erkennen. Der Wind trug die Silben des Nachtwächter-Singsangs bis zu ihnen. Und dazwischen war immer wieder das vereinzelte Klirren von Waffen und Rüstungen zu hören, die einem geübten Ohr sagten, dass König Philipps Truppen keinesfalls daran dachten, untätig auf das Ende des Konzils zu warten. Sie waren unterwegs, um endgültig zu tilgen, was das Dekret des Papstes gerade entwurzelt hatte.
„Wir müssen fort von hier! An einen Ort, der nicht so leicht einzunehmen ist! Louis, gebt den Befehl zum Aufbruch, Richtung Süden, zum Pass!“ Er wollte zu seinem Pferd, aber Jean de Saint-Florent hielt ihn zurück.
„Wartet! Was ist mit Ghislaine?“
Jocelin drehte sich um, konnte in der Dunkelheit noch ihre Gestalt neben einem der Pferde ausmachen. Sie unterhielt sich mit ihrem Sohn, der damit beschäftigt war, die Packtaschen am Sattel zu befestigen. „Ich habe mit Erzbischof Gregor gesprochen, ehe wir Vienne verlassen haben. Er hat mir versprochen, sich für sie zu verwenden und ihre Sicherheit zu garantieren.“
Noch während er sprach, kamen Jocelin diese Worte hohl wie Getreidespelzen vor. Welche Sicherheit konnte Gregor von Rouen garantieren? Der Papst hatte die Sicherheit ihres Ordens ebenso wenig ‚garantieren’ können! Dennoch fuhr er fort: „Er wird versuchen, sie inkognito in einem Kloster in den Pyrenäen unterzubringen.“
„Jocelin…“ Jean schüttelte den Kopf und rang sichtlich mit sich, vorzubringen, was er vorbringen wollte. Er konnte sich aber einfach nicht länger zurückhalten. „Das könnt Ihr nicht machen! Das könnt Ihr doch einfach nicht fertig bringen!“
„Bruder?“
„Ghislaine liebt Euch, seit Jahren! Sagt mir nicht, Ihr habt keine Ahnung davon! Eure Gelübde sind nicht gültig und –“
Von einer Sekunde zur anderen veränderte sich Jocelins Gesichtsausdruck; er starrte seinen Ordensbruder entgeistert an. „Woher wisst ihr das?“ fragte er flüsternd.
Jean hob seufzend die Hände. „Ich habe Wache gestanden oben auf den Felsen. Ich habe nicht gelauscht. Es war ganz einfach jedes Wort zu verstehen, die Wände haben es nach oben getragen wie in einem Kathedralgewölbe. Ich wollte immer darüber schweigen, aber… verdammt noch mal, Ihr könnt Ghislaine doch nicht einfach im Stich lassen! Oh, ich weiß,  SIE würde bereit sein, in irgendeinem maroden Konvent zu verschwinden, wenn Ihr das wollt – aber bei allen Heiligen Gottes, ich kann nicht so zusehen, wie Ihr -“
„Ja? WAS? Wie ich sie vor einem Leben in Armut und Elend bewahre? Was soll ICH ihr bieten, sagt mir das, Jean?!“ Jocelin senkte seine Stimme etwas, als er merkte, dass sich einige Augen in ihre Richtung bewegten. „Ein Leben in Furcht und Flucht, am Bettelstab? An der Seite eines exkommunizierten, hinkenden Krüppels, den jede Nacht Albträume von den Folterungen plagen? Eine schöne Zukunft für sie, findet Ihr das?“
„Habt Ihr sie gefragt? Oder seid Ihr zu feige -“
„Was?!“ Jocelins Gesicht war weiß vor Zorn. „Was maßt Ihr Euch an? Mein Bruder! Mein Waffengefährte! Und Ihr verratet mich, JETZT?!“
„Ich verrate Euch nicht! Ihr selbst tut es! Ihr seid ein verbohrter –“ Ein zischendes Geräusch unterbrach Jean und er fuhr herum. „Was war das?“
Ein Pfeil, der knapp neben ihm in einen Baumstamm fuhr, beantwortete die Frage. Hinter dem Blattwerk waren jetzt auch zahlreiche kleine Feuer zu sehen. Die Söldner hatten Fackeln angezündet, um ihre Beute heraus zu treiben.
„Rasch! Auf die Pferde und los!“ rief Jocelin und Jean nickte. Der Streit von eben war bedeutungslos und vergessen angesichts des nahen Feindes. „Sie versuchen, uns den Weg zum Pass abzuschneiden! Wenn wir uns beeilen, können wir ihnen über die Westroute entkommen, über das Köhlerdorf!“
„Das ist verdammt gefährlich in der Nacht. Die Pferde könnten sich die Beine brechen oder wir im Dickicht stecken bleiben!“
„Aber was sonst? Einen Kampf können wir nicht riskieren, die anderen sind schon zu weit weg, unsere Gruppen sind zu weit auseinander gezogen; wir haben keine Zeit, uns zu organisieren!“ Fünf Jahre lang waren er und seine Brüder dem König entkommen, sollte er jetzt noch Erfolg haben? Als Krönung seines teuflischen Triumphs?!
„Auf die Pferde!“ wiederholte Jocelin entschlossen. „Jean, Ihr werdet voran reiten! Ghislaine, Yvo, Ihr in die Mitte! Lasst alle Satteltaschen, alles, was irgendwie hinderlich sein könnte, zurück! Schnell! Ich nehme Arnaud vor mich!“
Die Fackeln zwischen den Bäumen tanzten näher, die Stimmen der Söldner waren deutlicher zu verstehen. Unter ihnen eine Stimme, die Jocelin bis ans Ende seines Lebens nicht vergessen würde: König Philipp! Seine Majestät selbst war hier, auf der Jagd, um das Wild endlich zur Strecke zu bringen, das sich ihm so widerspenstig bisher entzogen hatte...
„Vorwärts!“ flüsterte er, gerade laut genug, dass die anderen ihn noch hören konnten. Der Feuerschein der Fackeln huschte wieder durch dunkle Nadelholzstämme und nachtschwarzes Blattwerk. Sie mussten froh sein über jeden, der in dieser Nacht aus Vienne entkam! So rasch der unebene, wurzelübersäte Untergrund es zuließ, ritten die Flüchtlinge vorwärts, tiefer in den Wald, in dem sich irgendwann in westlicher Richtung die Köhlersiedlung öffnen sollte. Steine klapperten unter den Hufen, stachlige Ranken rissen an Gewändern und peitschten über die ungeschützten Flanken der Tiere. Fort, nur fort von den Stimmen der Jäger und dem Feuerschein!
Ein erschrockenes Wiehern. Jocelin sah schemenhaft, wie sich eines der Pferde aufbäumte und seinen Reiter abwarf. Zweige knackten, dann hörte er einen leisen Schrei. Ghislaine! Er zog die Zügel an, starrte in das Gewirr aus Buschwerk und glitt aus dem Sattel. Eben riss das Mondlicht ihr erschrockenes Gesicht aus der Finsternis. „Ghislaine, seid Ihr verletzt?“
„Nein, ich glaube nicht! Jocelin, kümmert Euch nicht um mich! Reitet weiter! Flieht, um Gottes Willen!“
Schon klangen die Jäger wieder nah, bedrohlich nah.
„Ich kann Euch nicht einfach hier zurücklassen!“ Er beugte sich zu ihr, griff sie unter den Armen und zog sie hoch.
„Jocelin... geh!“ flüsterte sie jetzt. „Sie werden mir nichts tun! Und wenn, sterbe ich lieber jetzt und hier, als... als nach Jahren der Einsamkeit in irgendeinem Konvent! Ich kann nicht leben ohne dich... und ich will es nicht!“
Er nahm ihr Gesicht in seine Hände, versank in ihrem Anblick, den silbrigen Reflexen, die das Mondlicht in ihren Augen zauberte. „Ghislaine, niemals! Niemals lasse ich dich hier zurück!“ Mit einem Mal war ihm alles gleichgültig, nur diese Worte zählten und die Wärme ihres Körpers, die er durch das Gewand spürte. „Ich liebe dich, ich liebe dich, Ghislaine...“
Ihre Lippen berührten sich, gerade als ein Feuerschein durch das Blattwerk brach und ihrer beider Gestalten in flammendes Orange tauchte.
Jocelin wandte sich um.
Vor ihnen stand ein Reiter auf einem unruhig aufstampfenden Pferd. Das Fackelleuchten irrlichterte hinter den Baumstämmen, huschte über ein ebenmäßiges Gesicht, glänzte auf goldenen Lilienapplikationen, einer florentinischen Rüstung  und einem blanken Schwert.
„Gräfin Ghislaine de Montfort, was für ein unerwartetes Wiedersehen“, sagte der König als befände er sich auf der Promenade des Louvre. „Und wen haben wir da? Eure ketzerische Buhlschaft?“ Er ritt ein paar Schritte näher. „Hast du geglaubt, du könntest meinem Richtschwert entgehen, Templer?“
Jocelins Hand fuhr zu seiner Waffe, als er das schleifende Geräusch eines anderen Schwertes hörte, das aus der Scheide gerissen wurde. Im Spiel von Licht und Nacht sah er entsetzt, wie Arnaud seinem Pferd die Sporen in die Seite schlug und mit gezogener Klinge auf den König zusetzte.
„Arnaud!“
Die Waffen des blinden Ordensbruders und König Philipps trafen klirrend aufeinander.
„Vater!!!“
Der nächste Hieb Seiner Majestät schlug Arnaud das Schwert aus der Hand, zerfetzte das Kreuz auf seinem Gewand und die ungeschützte Brust darunter.
„Christus...hilf...“ war das Letzte, was er über die Lippen brachte. Als der alte Templer aus dem Sattel rutschte, war er bereits tot.
Die eigene Klinge jetzt in der Hand suchte Jocelin einen sicheren Stand zu bekommen und den König abzuwehren. Doch die Hufe von Philipps sich aufbäumenden Reittier waren drohend über ihm. Ghislaine schrie. Ihre Stimme hallte ihm wie splitterndes Glas in den Ohren.
Und dann... ein kaum hörbares Klacken. Eine Armbrust! Jocelin rollte sich zur Seite, entging den schlagenden Hufen und sah aus dem Augenwinkel einen weiteren Reiter. Seine kleine Statur machte ihn deutlich erkennbar, noch ehe er ein Wort gesprochen hatte. Yvo!
„Lasst sie gehen, oder ich töte Euch!“ schrie der Junge jetzt.
Philipp erkannte seinen ehemaligen Schildträger, ebenso wie er die Entschlossenheit in seiner Stimme als einen Widerschein der eigenen wahrnahm. Nein, das waren keine leeren Worte! Der junge Montfort würde ihn umbringen, ohne Zweifel! Der König ließ sein Schwert sinken und drängte sein Pferd einige Schritt rückwärts, Yvo mit tödlichem Hass fixierend. Doch der Junge hielt die Armbrust schussbereit, während Jocelin und Ghislaine sich in den Sattel des Pferdes zogen. Schon schimmerten die Helme und Panzerungen der königlichen Begleiter durch die Bäume; es fehlte nicht mehr viel, und sie würden die Flüchtlinge eingekreist haben...
Einen raschen, verzweifelten, ungläubigen Blick warf Ghislaine noch ihrem Sohn zu, während sie sich an den Hals von Jocelins Reittier klammerte. Dann schlug das Dickicht hinter ihnen zusammen, legte sich wie eine Mauer zwischen sie und die Verfolger. Gedämpft vernahm sie das Wiehern eines Pferdes und menschliche Schreie.