Mitleid.
Auf den Stufen sitzend, betrachtete er den Schlamm, der zu einem krustigen Belag auf seiner Uniform getrocknet war. Dann schaute er Liesel mit verlorenem Blick in die Augen. »Wie war's, Saumensch?«
»Wie wäre was?«
»Du weißt schon ...«
Liesel reagierte wie üblich. »Saukerl!«, lachte sie und ging dann die paar Schritte nach Hause. Eine irritierende Mischung aus Schlamm und Mitleid war eine Sache, aber Rudi Steiner zu küssen war immer noch etwas völlig anderes.
Er blieb mit einem traurigen Lächeln auf den Stufen sitzen, fuhr sich mit der Hand durchs Haar und rief ihr nach: »Eines Tages«, warnte er sie. »Eines Tages, Liesel!«
Etwas mehr als zwei Jahre später, als Liesel in den frühen Morgenstunden im Keller saß und schrieb, wäre sie zu gerne hinübergegangen, um ihn zu sehen. Ihr war klar, dass diese verflixten Zeiten in der Hitlerjugend seine kriminelle Ader - und gleichzeitig auch ihre - gefördert hatten.
Denn endlich fing der Sommer an, trotz der unzeitgemäßen Regenschauer. Die Klaräpfel wurden langsam reif. Zeit für ein paar Diebeszüge.
die verlierer
Was das Stehlen anging, waren Liesel und Rudi der Meinung, dass sie in der Gruppe sicherer waren. Andi Schmeikl sagte ihnen Bescheid, dass sich die Bande am Fluss treffen würde. Unter anderem sollte ein Plan zum Obststehlen entworfen werden.
»Also bist du jetzt der Anführer?«, fragte Rudi, aber Andi schüttelte mit sichtbarer Enttäuschung den Kopf. Er wünschte sich wohl, dass er das Zeug zum Anführer hätte.
»Nein.« Seine kühle Stimme war ungewöhnlich warm. Wie halb durchgebacken. »Das ist jemand anderes.«
DER NEUE ARTHUR BERG
Er hatte windiges Haar und wolkige Augen, und er besaß jene Art von krimineller Energie, die dazu führt, dass man keinen anderen Grund braucht, um zu stehlen - außer schlichten Spaß. Sein Name war Viktor Chemmel.
Anders als die meisten Leute, die sich mit Diebstahl jeglicher Form abgaben, besaß Viktor Chemmel alles. Er lebte in einer der besten Wohngegenden Molchings, hoch oben in einer Villa, die konfisziert worden war, nachdem man die Juden daraus vertrieben hatte. Er besaß Geld. Er besaß Zigaretten. Aber er wollte mehr.
»Es ist doch kein Verbrechen, ein bisschen mehr haben zu wollen«, behauptete er. Er lag auf dem Rücken im Gras, umringt von einigen Jungen. »Mehr zu wollen ist unser fundamentales Recht als Deutsche. Was sagt unser Führer immer?« Er beantwortete sich selbst die rhetorische Frage: »Wir nehmen uns, was rechtmäßig uns gehört.«
Dem ersten Eindruck nach war Viktor Chemmel ein typischer jugendlicher Großkotz. Unglücklicherweise besaß er auch ein gewisses Charisma, eine Art Aufforderung, sich ihm anzuschließen. Und unglücklicherweise gelang es ihm nicht immer, dieses Charisma zu verbergen.
Als Liesel und Rudi sich der Gruppe am Fluss näherten, hörte Liesel ihn eine weitere Frage stellen: »Wo bleiben denn nun diese beiden Trottel, von denen ihr in höchsten Tönen schwärmt? Es ist schon zehn nach vier.«
»Nicht nach meiner Uhr«, sagte Rudi.
Viktor Chemmel stützte sich auf den Ellbogen. »Du hast doch gar keine Uhr an.«
»Wäre ich hier, wenn ich reich genug wäre, um mir eine Uhr zu kaufen?«
Der neue Anführer setzte sich auf und lächelte. Er hatte ebenmäßige, weiße Zähne. »Und wer ist die kleine Hure da?« Liesel, die an Beschimpfungen gewöhnt war, betrachtete lediglich die nebelverhangene Oberfläche seiner Augen.
»Im letzten Jahr«, erklärte sie unverfroren, »habe ich mindestens dreihundert Äpfel gestohlen und Dutzende von Kartoffeln. Stacheldraht macht mir keine Probleme, und ich kann genauso schnell laufen wie die anderen.«
»Tatsächlich?«
»Ja.« Sie wich keinen Zentimeter zurück. »Alles, was ich will, ist ein kleiner Teil unserer Beute. Ein Dutzend Äpfel hier und da. Ein paar Reste für mich und meinen Freund.«
»Nun, ich denke, das lässt sich machen.« Viktor zündete sich eine Zigarette an und hob sie an seine Lippen. Den nächsten Mundvoll Rauch blies er Liesel direkt ins Gesicht.
Liesel hustete nicht.
Es war dieselbe Gruppe wie im letzten Jahr, mit Ausnahme des Anführers. Liesel fragte sich, warum keiner der anderen Jungen sich an die Spitze gestellt hatte, aber als sie von einem zum anderen schaute, erkannte sie, dass sie nicht das Zeug dazu gehabt hätten. Das Stehlen bereitete ihnen keine Probleme, aber man musste ihnen sagen, was sie tun sollten. Sie wollten, dass man es ihnen sagte, und Viktor Chemmel wollte einer sein, der das Sagen hatte. Es war ein Abkommen, das beide Seiten zufriedenstellte.
Einen Augenblick lang wünschte sich Liesel Arthur Berg zurück. Oder hätte auch er sich Viktor Chemmel untergeordnet? Es spielte keine Rolle. Liesel wusste lediglich, dass Arthur Berg nicht den Hauch eines tyrannischen Zuges an sich gehabt hatte, während Viktor Chemmel ordentlich damit aufwarten konnte. Letztes Jahr, da war sie sich sicher, hätte sie in einem Baum feststecken können, und Arthur wäre zurückgekommen, um ihr zu helfen, auch wenn er es immer anders gepredigt hatte. Sie war der festen Überzeugung, dass in diesem Jahr Viktor Chemmel nicht ein Mal zurückblicken würde.
Er stand da und betrachtete den schlaksigen Jungen und das unterernährt wirkende Mädchen. »Ihr wollt also mit mir stehlen gehen?«
Was hatten sie schon zu verlieren? Sie nickten.
Er trat näher und packte Rudi am Haar. »Ich will es hören.«
»Ja, sicher«, sagte Rudi. Mit einem Klaps auf die Stirnfransen schob Chemmel ihn zurück. »Und du?«
»Natürlich.« Liesel reagierte schnell genug, sodass ihr Haar unversehrt blieb.
Viktor lächelte. Er drückte die Zigarette aus, atmete tief ein und kratzte sich an der Brust. »Meine Herren, meine Hure, ich glaube, es ist Zeit, einkaufen zu gehen.«
Während die Gruppe sich in Bewegung setzte, blieben Liesel und Rudi am Ende, so wie stets.
»Magst du ihn?«, fragte Rudi flüsternd.
»Und du?«
Rudi dachte einen Moment lang nach. »Ich halte ihn für einen Mistkerl.« »Ich auch.«
Die Gruppe war schon ein Stück voraus.
»Komm schon«, sagte Rudi, »sonst verlieren wir den Anschluss.«
Nach ein paar Kilometern erreichten sie den ersten Bauernhof, wo sie ein erschreckender Anblick erwartete: Die Bäume, von denen sie gedacht hatten, dass sie prallvoll mit Früchten hingen, sahen dürr und irgendwie verwundet aus. Nur eine kleine Anzahl Äpfel baumelte erbärmlich von den Ästen. Auf dem nächsten Bauernhof war es nicht anders. Vielleicht war es ein schlechtes Jahr, oder sie hatten den falschen Zeitpunkt erwischt.
Am Ende des Nachmittags, als die Beute geteilt wurde, erhielten Liesel und Rudi lediglich einen einzigen Apfel, den sie sich teilen mussten. Gerechterweise muss gesagt werden, dass die Ernte insgesamt ziemlich mager ausgefallen war, aber ein weiterer Grund lag darin, dass Viktor Chemmel ein anderes Regiment führte als Arthur Berg.
»Was soll das denn sein?«, fragte Rudi mit dem Apfel in der offenen Hand.
Viktor drehte sich nicht einmal um. »Wie sieht es denn aus?« Die Worte fielen über seine Schulter.
»Ein lausiger Apfel?«
»Hier.« Eine halb aufgegessene Frucht kam zu ihnen gesegelt und landete mit der angebissenen Seite nach unten im Dreck. »Den könnt ihr auch noch haben.«
Rudi war erbost. »Zum Teufel damit. Wir sind doch keine zehn Kilometer für einen Apfel und einen Apfelkrotzen gelaufen, oder, Liesel?«
Liesel gab keine Antwort.
Sie hatte gar keine Gelegenheit dazu, denn Viktor Chemmel hatte sich auf Rudi gestürzt, bevor sie noch ein Wort sagen konnte. Seine Knie nagelten Rudis Arme auf dem Boden fest, und seine Hände lagen um Rudis Hals. Die Äpfel wurden aufgelesen, von niemand anderem als von Andi Schmeikl.
»Du tust ihm weh«, sagte Liesel.
»Tatsächlich?« Viktor lächelte wieder. Sie verabscheute dieses Lächeln.
»Er tut mir nicht weh.« Rudis Worte drängten sich aneinander, und sein Gesicht war rot vor Anstrengung. Seine Nase fing an zu bluten.
Viktor verstärkte den Druck noch einmal und ließ Rudi dann los, kletterte von ihm herunter und trat gelassen zur Seite. Er sagte: »Steh auf, Junge«, und Rudi tat klugerweise, was ihm gesagt worden war.
Gelassen trat Viktor ganz nah an ihn heran und sah ihm geradewegs ins Gesicht. Er rieb ihm beinahe sanft den Arm. Ein Flüstern. »Wenn du nicht willst, dass dieses Rinnsal aus Blut sich in einen Springbrunnen verwandelt, dann verschwindest du jetzt besser, Kleiner.« Er schaute Liesel an. »Und nimm die kleine Schlampe gleich mit.«
Keiner rührte sich.
»Worauf wartet ihr?«
Liesel nahm Rudi an der Hand, und sie gingen davon. Ein letztes Mal drehte sich Rudi um und spuckte Blut und Speichel vor Viktor Chemmels Füße. Eine Geste, die ihm ein abschließendes Versprechen einbrachte.
VIKTOR CHEMMELS VERSPRECHEN
»Das wirst du mir noch büßen, mein Freund.«
Man kann über Viktor Chemmel sagen, was man will, jedenfalls besaß er Geduld und ein gutes Gedächtnis. Es dauerte etwa fünf Monate, bis er sein Versprechen einlöste.
Liesel nahm Rudi an der Hand, und sie gingen davon. Ein letztes Mal drehte sich Rudi um und spuckte Blut und Speichel vor Viktor Chemmels Füße. Eine Geste, die ihm ein abschließendes Versprechen einbrachte.
Seine Idee war es, über all das zu schreiben, was ihm widerfahren war - und was ihn in den Keller in der Himmelstraße geführt hatte -, doch nicht diese Idee wurde Wirklichkeit. Max' Exil schuf etwas völlig anderes. Es war eine Sammlung von willkürlichen Gedanken, und er beschloss, sich darauf einzulassen. Es fühlte sich wahrhaftig an. Diese Gedanken waren wirklicher als die Briefe, die er an seine Familie und an seinen Freund Walter Kugler schrieb, wohl wissend, dass er sie nie würde abschicken können. Aus den geschändeten Seiten von Mein Kampf entsprangen Skizzen, Seite für Seite, die in Max' Augen die Ereignisse zusammenfassten, die dem Wechsel von seinem früheren in sein jetziges Leben zugrunde lagen. Für einige brauchte er Minuten, für andere Stunden. Er dachte, dass er das fertige Buch Liesel schenken würde, wenn sie alt genug war und dieser ganze Irrsinn hoffentlich hinter ihnen liegen würde.
Von dem Moment an, in dem er die Bleistifte auf den ersten weiß gemalten Seiten ausprobiert hatte, hielt er das Buch stets geschlossen. Oft lag es neben ihm oder immer noch zwischen seinen Fingern, wenn er schlief.
Eines Nachmittags, nach seinen täglichen Körperertüchtigungen, schlief er, an die Kellerwand gelehnt, ein. Liesel kam herunter und sah das Buch neben ihm liegen, leicht gegen seinen Oberschenkel geneigt. Die Neugier übermannte sie. Sie bückte sich und hob es auf, wartete darauf, dass er sich rührte. Er tat es nicht. Max saß mit seinem Kopf und den
Schulterblättern an der Wand. Liesel konnte kaum das Geräusch seines Atems hören, der in hineinströmte und wieder herausfloss. Sie öffnete das Buch und blätterte ein paar Seiten um.
Verängstigt durch das, was sie sah, legte Liesel das Buch zurück, genau so, wie sie es vorgefunden hatte, an Max' Bein gelehnt.
Eine Stimme schreckte sie auf.
»Danke schön«, sagte die Stimme, und als sie mit den Augen der Spur des Klangs zu ihrem Besitzer folgte, erkannte sie einen zufriedenen Ausdruck auf den jüdischen Lippen.
»Meine Güte«, keuchte Liesel, »hast du mich erschreckt, Max.«
Er kehrte zu seinem Schlaf zurück. Hinter ihm zog das Mädchen den Gedanken hinter sich die Treppe hoch.
Du hast mich erschreckt, Max.
der pfeifer und die schuhe
Dieses Muster zog sich bis zum Ende des Sommers und in den Herbst hinein. Rudi tat sein Bestes, um die Hitlerjugend zu überstehen. Max machte Liegestütze und Skizzen. Liesel fand Zeitungen und schrieb Worte an die Kellerwand.
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass jedes Muster zumindest einen kleinen Fehler aufweist und irgendwann über sich selbst stolpert oder kippt. In diesem Fall war Rudi der Auslöser, oder besser gesagt: Rudi und ein frisch gedüngter Sportplatzrasen.
Es war Ende Oktober, und alles schien wie immer zu sein. Ein schmutziger Junge ging durch die Himmelstraße. In ein paar Minuten würde seine Familie seine Heimkehr erwarten, und er würde lügen, dass jeder in der Hitlerjugend einen Extradrill auf dem Sportplatz über sich hätte ergehen lassen müssen. Seine Eltern würden sogar erwarten, dass er darüber lachte. Sie begriffen es nicht.
Heute aber waren Rudi die Lügen und das Gelächter ausgegangen.
An diesem besonderen Dienstag sah Liesel, als sie genauer hinschaute, dass Rudi Steiner kein Hemd trug. Und vor Wut kochte.
»Was ist passiert?«, fragte sie, als er vorübertrottete.
Er kehrte um und hielt ihr sein Hemd entgegen. »Riech mal«, sagte er.
»Was?«
»Bist du taub? Ich sagte, riech mal.«
Zögernd beugte sich Liesel vor und erschnupperte den ekelhaften Hauch, der von dem braunen Kleidungsstück ausging. »Jesus, Maria und Josef. Ist das...?«
Der Junge nickte. »Es klebt auch an meinem Kinn. An meinem Kinn! Ich kann von Glück sagen, dass ich das Zeug nicht geschluckt habe!«
»Jesus, Maria und Josef«.
»Der Sportplatz beim HJ-Haus ist frisch gedüngt.« Er bedachte sein Hemd mit einem weiteren halbherzigen, angeekelten Blick. »Ich glaube, es ist Kuhmist.«
»Hat dieser... wie heißt er doch gleich? ... Hat dieser Deutscher das gewusst?«
»Er sagt Nein. Aber er hat dabei gegrinst«.
»Jesus, Maria und...«
»Könntest du bitte damit aufhören!«
Was Rudi in diesem Moment brauchte, war ein Sieg. Er hatte das Geplänkel mit Viktor Chemmel verloren. Er hatte eine Niederlage nach der anderen bei der Hitlerjugend eingesteckt. Alles, was er wollte, war ein klitzekleiner Triumph, und er war entschlossen, ihn sich zu holen.
Er setzte seinen Heimweg fort, aber als er die Eingangsstufen erreichte, änderte er seine Meinung und ging langsam und entschlossen zu dem Mädchen zurück.
Behutsam und leise fragte er: »Weißt du, was mich aufheitern würde?«
Liesel zuckte zusammen. »Wenn du glaubst, dass ich dich... in diesem Zustand!«
Er schien von ihr enttäuscht zu sein. »Nein, nicht das.« Er seufzte und kam näher. »Etwas anderes.« Nach einem Moment des Nachdenkens hob er den Kopf, nur ein kleines Stück. »Schau mich an. Ich bin dreckig. Ich rieche nach Kuhscheiße oder Hundescheiße oder was auch immer, und wie üblich habe ich einen Bärenhunger.« Er verstummte und sprach dann weiter. »Ich muss mal wieder gewinnen, Liesel. Ehrlich.«
Da verstand Liesel.
Sie wäre näher gekommen, wenn er nicht so schrecklich gestunken hätte.
Stehlen.
Sie mussten etwas stehlen. Nein.
Sie mussten etwas zurückstehlen. Egal was. Es musste nur bald geschehen.
»Diesmal nur du und ich«, sagte Rudi. »Kein Chemmel, kein Schmeikl. Nur du und ich.«
Das Mädchen konnte sich nicht helfen.
Ihre Hände juckten, ihr Puls spaltete sich, und ihr Mund lächelte, alles gleichzeitig. »Hört sich gut an.«
»Also abgemacht.« Und obwohl er es unterdrücken wollte, stahl sich ein frisch gedüngtes Grinsen auf sein Gesicht, das Wurzeln schlug und austrieb. »Morgen?«
Liesel nickte. »Morgen.«
Ihr Plan war perfekt, bis auf eine Kleinigkeit.
Sie hatten keine Ahnung, wie sie es anstellen sollten.
Obst kam nicht infrage. Rudi rümpfte die Nase bei dem Gedanken an Zwiebeln und Kartoffeln, und ein weiterer Anschlag auf Otto Sturm und seinen Korb voll Lebensmittel stand ebenfalls nicht zur Diskussion. Ein Mal war unmoralisch. Zwei Mal wäre der Gipfel der Gemeinheit gewesen.
»Also, was sollen wir tun?«, fragte Rudi.
»Woher soll ich das wissen? Es war deine Idee, oder etwa nicht?«
»Das heißt nicht, dass du nicht auch ein bisschen nachdenken kannst. Ich muss doch nicht immer alle Ideen haben.«
»Du hast ja nicht mal eine.«
Sie stritten sich, während sie durch die Straßen liefen. Am Stadtrand blieben sie am erstbesten Bauernhof stehen und betrachteten die Bäume, die wie ausgemergelte Statuen dastanden. Die Zweige und Äste waren grau, und als sie den Stämmen mit den Blicken nach oben folgten, sahen sie nichts als zerzauste Glieder und einen leeren Himmel.
Rudi spuckte aus. Sie gingen zurück nach Molching und grübelten weiter.
»Was ist mit Frau Lindner?« »Was soll mit ihr sein?«
»Wenn wir >Heil Hitler< sagen und dann was stehlen, kann uns doch nichts passieren, oder?«
Nachdem sie etwa eine Stunde lang durch die Münchener Straße gestrolcht waren, zog sich das Tageslicht langsam, aber sicher zurück, und die beiden standen kurz davor aufzugeben. »Es hat keinen Sinn«, sagte Rudi, »und ich bin jetzt hungriger als je zuvor. Ich bin am Verhungern, verdammt nochmal.« Er ging noch etwa ein Dutzend Schritte; dann blieb er stehen und schaute zurück. »Was ist los mit dir?«, fragte er, denn Liesel war stehen geblieben, und auf ihrem Gesicht machte sich eine Erleuchtung breit.
Warum hatte sie nicht schon früher daran gedacht?
»Was ist los?« Rudi wurde ungeduldig. »Sag schon, Saumensch!«
In diesem Augenblick stand Liesel vor einer Entscheidung. Konnte sie das wirklich durchziehen? Konnte sie tatsächlich an jemandem eine derartige Rache nehmen? Konnte sie jemanden so verachten?
Sie ging in die entgegengesetzte Richtung davon. Als Rudi sie einholte, verlangsamte sie ihren Schritt ein wenig, in der vergeblichen Hoffnung, ein bisschen klarer zu sehen. Sie fühlte sich bereits jetzt schuldig. Die Schuld war feucht. Der Same keimte bereits, wurde zu einer
Blume mit dunklen Blüten. Sie wog ab, ob sie tatsächlich in der Lage war, ihren Plan in die Tat umzusetzen.
An der Kreuzung blieb sie stehen.
»Ich weiß was.«
Sie überquerten den Fluss und stiegen den Hügel hinauf.
In der Großen Straße bewunderten sie die Pracht der Häuser. Die Eingangstüren waren poliert, sodass sie glänzten, und die Dachziegel saßen auf den Gebäuden wie Toupets, die makellos frisiert waren. Die Wände und Fenster wirkten manikürt, und es hätte niemanden verwundert, wenn die Schornsteine vollkommene Rauchkringel ausgeblasen hätten.
Rudi stand breitbeinig da. »Das Haus des Bürgermeisters?«, fragte er.
Liesel nickte ernst. Eine Pause. »Sie haben meine Mama entlassen.«
Als sie darauf zuschlichen, fragte Rudi, wie in Gottes Namen sie ins Haus kommen sollten, aber Liesel wusste es genau. »Ortskenntnis«, sagte sie. »Orts...« Aber als sie das Fenster in der Bibliothek am Ende des Hauses erblickten, erwartete Liesel ein Schock. Das Fenster war geschlossen.
»Nun?«, fragte Rudi.
Langsam drehte sich Liesel um und hastete dann davon. »Heute nicht«, sagte sie.
Rudi lachte. »Wusst ich's doch.« Er holte sie ein. »Wusst ich's doch, Saumensch. Du könntest da nicht reinkommen, selbst wenn du einen Schlüssel hättest.«
»Halt den Mund!« Sie beschleunigte ihre Schritte zusehends und wischte Rudis Kommentar beiseite. »Wir müssen einfach den richtigen Zeitpunkt abwarten.« Innerlich rückte sie von einem Gefühl der Erleichterung ab, das aufgekommen war, als sie gesehen hatte, dass das Fenster geschlossen war. Sie schalt sich im Stillen. Warum, Liesel?, fragte sie sich. Warum nur musstest du so in die Luft gehen, als sie Mama gefeuert haben? Warum hast du nicht deinen Mund gehalten? Wahrscheinlich hast du der Frau des Bürgermeisters so den Kopf gewaschen, dass sie sich besonnen, sich zusammengerissen hat und jetzt wieder völlig normal ist. Vielleicht wird sie nie mehr zulassen, dass sie in diesem Haus friert, und das Fenster wird für immer geschlossen sein. Saumensch, du blödes!
Aber eine Woche später, bei ihrem fünften Besuch im oberen Molching, stand das Fenster offen.
Eine Scheibe Luft wurde ins Haus geatmet. Das war alles, was nötig war.
Es war Rudi, der zuerst stehen blieb. Er versetzte Liesel mit dem Handrücken einen Klaps gegen die Rippen. »Ist dieses Fenster«, flüsterte er, »tatsächlich offen?« Der Eifer in seiner Stimme lehnte sich aus seinem Mund wie ein Unterarm auf Liesels Schulter.
»Jawohl«, antwortete sie, »das ist es.«
Und wie ihr Herz zu hämmern begann!
Bei ihren früheren Besuchen, als sie das Fenster jedes Mal fest verschlossen vorgefunden hatten, hatte Liesels offensichtliche Enttäuschung die heftige Erleichterung in ihrem Herzen verborgen. Hätte sie den Mut gehabt, durch das Fenster zu steigen? Und weswegen wollte sie überhaupt dort hinein? Um Essen zu stehlen?
Nein, die widerwärtige Wahrheit sah folgendermaßen aus:
Lebensmittel waren ihr egal. Rudi spielte bei der ganzen Sache nur eine nebensächliche Rolle, auch wenn sie sich das nur schwer eingestehen konnte. Was sie wollte, war das Buch. Der Pfeifer. Sie konnte es nicht ertragen, dass diese einsame, erbärmliche Frau es ihr schenkte. Es zu stehlen schien ihr akzeptabler zu sein. Wenn sie es stahl, dann hatte sie irgendwie -merkwürdigerweise - das Gefühl, es sich verdient zu haben.
Das Licht wandelte sich zu Blöcken aus Schatten.
Die beiden näherten sich dem prächtigen, klobigen Haus, als würden sie davon angezogen werden. Kurz tauschten sie ihre Gedanken aus.
»Hunger?«, fragte Rudi.
Liesel erwiderte: »Bärenhunger.« Auf ein Buch.
»Schau mal - oben wurde gerade das Licht eingeschaltet.«
»Ich hab's gesehen.«
»Immer noch hungrig, Saumensch?«
Nervös lachten sie kurz auf, ehe sie besprachen, wer hineingehen und wer draußen bleiben und Wache stehen sollte. Als der männliche Teil der Operation meinte Rudi, dass er die Tat ausführen sollte, aber andererseits kannte sich Liesel hier aus. Sie war es, die hineingehen würde. Sie wusste, was sie auf der anderen Seite des Fensters erwartete.
Und sie sagte es auch. »Ich gehe.«
Liesel schloss die Augen. Fest.
Sie zwang sich, sich zu erinnern, zwang Bilder des Bürgermeisters und seiner Gattin vor ihr geistiges Auge. Sie betrachtete ihre zusammengeklaubte Freundschaft mit Ilsa Hermann und sorgte dafür, dass sie auch sah, wie sie in den Staub getreten und in der Gosse liegen gelassen wurde. Es funktionierte. Sie verabscheute diese Leute.
Sie schauten sich prüfend um und überquerten dann den Hof.
Jetzt kauerten sie unter dem Schlitz im Fenster des Erdgeschosses. Das Geräusch ihres Atems verstärkte sich.
»Komm«, sagte Rudi, »gib mir deine Schuhe. Dann machst du nicht so viel Lärm.«
Ohne Widerspruch schnürte Liesel die abgetragenen schwarzen Schuhe auf und ließ sie auf dem Boden stehen. Sie erhob sich, und Rudi öffnete das Fenster, vorsichtig, gerade so weit, das; Liesel hindurchsteigen konnte. Die Geräusche, die sie dabei verursachte, zogen über sie hinweg wie ein niedrig fliegendes Flugzeug.
Liesel hievte sich auf den Sims und schob sich ins Haus. Es war eine gute Idee gewesen, die Schuhe auszuziehen: Sie landete viel heftiger auf dem Holzboden als erwartet. Ihre Fußsohlen dehnten sich schmerzhaft, und die Wucht wanderte bis zu den Kanten ihrer Socken.
Der Raum war so wie immer.
In der staubigen Dämmerung schüttelte Liesel den Anflug von Nostalgie ab. Sie schlich vorwärts und wartete darauf, dass sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnten.
»Was ist los?«, flüsterte ihr Rudi mit scharfer Stimme von draußen zu, aber sie winkte ab, ohne sich umzudrehen, was so viel bedeuten sollte wie: »Halt's Maul!«
»Das Essen«, gemahnte er sie, »such nach dem Essen. Und Zigaretten, wenn s geht.«
Doch weder das eine noch das andere stand auf Liesels Liste. Sie war daheim, zwischen den Büchern des Bürgermeisters, die in allen möglichen Farben und Größen schimmerten, mit ihrer silbernen und goldenen Beschriftung. Sie konnte die Seiten riechen. Sie konnte fast die Worte schmecken, die um sie herum aufgestapelt waren. Ihre Füße trugen sie zu der Wand rechts von ihr. Sie wusste, wo das Buch stand, das sie wollte, kannte seine genaue Position - aber als sie dort ankam, war es nicht da. An seiner Stelle prangte eine Lücke im Regal.
Sie hörte, wie sich von oben Schritte näherten.
»Das Licht!«, flüsterte Rudi. Er schob die Worte durch das offene Fenster. »Es ist aus!«
»Scheiße!«
»Sie kommen runter.«
Den Worten folgte ein ellenlanger Moment, dann die Ewigkeit einer sekundenschnellen Entscheidung. Ihre Augen huschten durch den Raum, und da sah sie es. Der Pfeifer lag geduldig auf dem Schreibtisch des Bürgermeisters.
»Beeil dich!«, warnte Rudi sie. Aber Liesel ging sehr ruhig und gemessenen Schrittes zum Schreibtisch, nahm das Buch und schlüpfte vorsichtig und leise wieder aus dem Haus. Mit dem Kopf zuerst kletterte sie aus dem Fenster, schaffte es trotzdem, auf ihren Füßen zu landen, spürte noch einmal das Brennen in ihren Fußsohlen und in ihren Knöcheln.
»Komm schon!«, flehte Rudi. »Lauf, lauf! Schnell!«
Als sie um die Ecke waren und wieder auf der Straße, die zum Fluss und zur Münchener Straße führte, blieb Liesel stehen, beugte sich nach vorn, stützte die Hände auf die Oberschenkel und schnappte nach Luft. Ihr Körper fühlte sich an wie zusammengefaltet. Die Luft in ihrem Mund war halb erfroren, und ihr Herz schlug wie eine Glocke in ihren Ohren.
Rudi ging es nicht anders.
Als er zu ihr schaute, sah er das Buch unter ihrem Arm. Er kämpfte mit den Worten. »Was...«, keuchte er, »ist das für ein Buch?«
Die Dunkelheit füllte die Welt auf. Liesel japste, und die Luft in ihrer Kehle taute auf. »Das war alles, was ich finden konnte.«
Unglücklicherweise witterte Rudi die Wahrheit. Erkannte die Lüge. Er legte den Kopf schräg und sagte rundheraus: »Du wolltest gar nicht wegen dem Essen da rein, stimmt's? Du hast gefunden, was du gesucht hast...«
Da richtete sich Liesel auf. Die Erkenntnis überzog sie mit einer schlierigen Übelkeit.
Die Schuhe.
Sie schaute Rudis Füße an, seine Hände und dann den Boden um sich herum. »Was?«, fragte er. »Was ist los?«
»Saukerl!«, fauchte sie ihn an. »Wo sind meine Schuhe?« Rudis Gesicht wurde weiß, was auch den letzten Rest von Zweifel beseitigte. »Unter dem Fenster«, sagte sie, »stimmt's?«
Rudi blickte sich verzweifelt suchend um, bettelte entgegen jeder Hoffnung, dass er sie vielleicht doch mitgebracht hatte. Er stellte sich vor, wie er sie aufhob, und wünschte sich, dass es wahr wäre. Aber die Schuhe waren nicht da. Sie standen nutzlos - oder schlimmer noch: verräterisch - neben der Hauswand der Großen Straße 8.
»Dummkopf!«, fuhr sie ihn an und schlug ihn aufs Ohr. Verschämt schaute er auf Liesels Socken, die einen traurigen Anblick boten. »Idiot!« Es dauerte nicht lange, bis er sich entschloss, seinen Fehler wiedergutzumachen. Mit ernster Miene sagte er: »Warte hier«, und eilte dann wieder um die Ecke.
»Lass dich nicht erwischen!«, rief Liesel ihm nach, aber er hörte es schon nicht mehr.
Die Minuten, in denen er weg war, waren schwer.
Die Dunkelheit war mittlerweile vollkommen, und Liesel war sich ziemlich sicher, dass zu Hause eine Abreibung auf sie wartete. »Beeil dich«, murmelte sie, aber von Rudi war immer noch nichts zu sehen. In ihrem Geiste hörte sie schon die Polizeisirenen jaulen.
Immer noch nichts.
Erst als sie auf ihren feuchten, schmutzigen Socken zurück zur Kreuzung lief, sah sie ihn kommen. Rudis triumphierendes Gesicht blickte ihr unbeirrt entgegen, während er sich in leichtem Trott näherte. Seine Zähne waren zu einem Grinsen gebleckt, und von seiner Hand baumelten Liesels Schuhe. »Man hätte mich fast umgebracht«, bemerkte er, »aber ich hab's geschafft.« Er reichte Liesel die Schuhe, und sie ließ sie zu Boden plumpsen.
Dann setzte sie sich und schaute zu ihrem besten Freund hoch. »Danke«, sagte sie.
Rudi verneigte sich. »Es war mir ein Vergnügen.« Er beschloss, sein Glück zu versuchen. »Es hat wohl keinen Sinn, dich um einen Kuss als Belohnung zu bitten, oder?«
»Weil du mir meine Schuhe gebracht hast, die du stehen gelassen hattest?«
»Hast ja recht.« Er hob die Hände und sprach weiter, während sie sich auf den Heimweg machten. Liesel bemühte sich, ihn nicht weiter zu beachten. Nur seinen letzten Satz konnte sie nicht ignorieren. »Ich würde dich wahrscheinlich sowieso nicht küssen wollen - nicht wenn du aus dem Mund so riechst wie deine Schuhe.«
»Du widerst mich an«, erklärte sie und hoffte inständig, dass er nicht den flüchtigen Anflug eines Lächelns sehen konnte, das ihr von den Lippen gefallen war.
In der Himmelstraße schnappte sich Rudi das Buch. Unter einer Straßenlaterne las er den Titel und fragte, wovon es handelte.
Verträumt antwortete Liesel: »Nur von einem Mörder.«
»Ist das alles?«
»Es geht auch um einen Polizisten, der den Mörder fangen will.«
Rudi gab ihr das Buch zurück. »Wo wir gerade davon sprechen - ich nehme an, dass wir Prügel beziehen, wenn wir nach Hause kommen. Besonders du.«
»Warum ich?«
»Du weißt schon - wegen deiner Mama.« »Was ist mit ihr?«
Es ist völlig in Ordnung, wenn man sich selbst über Familienmitglieder beklagt, wenn man über sie herzieht und sie kritisiert, aber wehe, es tut jemand anderes! In diesem Moment stellt man sich hin, strafft die Schultern und beweist absolute Loyalität.
»Stimmt irgendwas nicht mit ihr?«, fragte Liesel und berief sich auf ihr uneingeschränktes Recht, zu einer Familie zu gehören.
Rudi machte einen Schritt rückwärts. »Tut mir leid, Saumensch. Ich wollte dich nicht beleidigen.«
Selbst im Schimmer der Nacht sah Liesel, dass Rudi erwachsen wurde. Sein Gesicht wurde länger. Der blonde Haarschopf verdunkelte sich ganz leicht, und seine Züge schienen ihre Form zu verändern. Aber es gab etwas, das sich nie ändern würde. Man konnte ihm unmöglich lange böse sein.
»Gibt's heute Abend bei dir was Gutes zu essen?«, fragte er. »Wohl kaum.«
»Bei mir auch nicht. Schade, dass man Bücher nicht essen kann. Arthur Berg hat mal so was Ähnliches gesagt. Weißt du noch?«
Während des restlichen Heimwegs schwelgten sie in Erinnerungen an die gute alte Zeit. Liesel schaute oft hinunter auf den grauen Einband und den schwarz geprägten Titel des Buches. Der Pfeifer.
Ehe sie in ihren jeweiligen Häusern verschwanden, blieb Rudi einen Augenblick lang stehen und sagte: »Mach's gut, Saumensch.« Er lachte. »Gute Nacht, Bücherdiebin.«
Es war das erste Mal, dass sie so genannt wurde, und sie konnte die Tatsache nicht verbergen dass es ihr sehr gefiel. Wie wir - ihr und ich - wissen, hatte sie schon früher Bücher gestohlen, aber im Oktober 1941 wurde es offiziell. In dieser Nacht wurde Liesel Meminger wahrhaftig zur Bücherdiebin ernannt.
drei dummheiten von rudi steiner
RUDI STEINER, DAS GENIE
1. Er stahl dem Gemüsehändler Mamer die größte Kartoffel.
2. Er legte sich auf der Münchener Straße mit Franz Deutscher an.
3. Er ließ die Hitlerjugend sausen.
Der Anlass zu Rudis erster Tat war die reine Gier. Es war ein ganz normaler trüber Nachmittag Mitte November 1941.
Er hatte sich geschickt unter die Frauen mit den Lebensmittelmarken gemischt, mit einer gewissen kriminellen Begabung, würde ich sagen. Er blieb fast völlig unbemerkt.
Dann entschied er sich ausgerechnet für die größte Kartoffel in der Kiste - diejenige, auf die etliche Leute in der Schlange ihr Augenmerk gerichtet hatten - und bemächtigte sich ihrer. Alle schauten zu, wie eine dreizehnjährige Faust die Kartoffel packte. Ein Chor aus schwergewichtigen Helgas und Mariannes zeigte mit den Fingern auf ihn, und Thomas Mamer stürzte sich auf das Früchtchen.
»Meine Erdäpfel!«
Die Kartoffel befand sich immer noch in Rudis Händen (sie war so groß, dass er beide Hände brauchte, um sie festzuhalten), und die Frauen versammelten sich um ihn wie eine Schar Ringkämpfer. Jetzt war Geistesgegenwart gefragt.
»Meine Familie«, erklärte Rudi. Ein Strom aus klarer Flüssigkeit begann günstigerweise genau in diesem Moment aus seiner Nase zu tropfen. Er wischte ihn bewusst nicht weg. »Wir sind am Verhungern. Meine Schwester braucht einen neuen Mantel. Der letzte wurde uns gestohlen.«
Mamer war kein Narr. Er hielt Rudi am Kragen gepackt und fragte: »Und du wolltest ihr einen Mantel aus Kartoffelschalen nähen, was?«
»Nein, mein Herr.« Rudi schaute schräg in Mamers eines Auge, das er von seiner gequetschten Position aus sehen konnte. Mamer war ein Fass von einem Mann, und seine Augen wirkten wie zwei kleine Einschusslöcher. Seine Zähne waren bissig wie um einen Ball rangelnde Fußballspieler. »Wir haben alle unsere Marken vor drei Wochen gegen einen neuen Mantel eingetauscht, und jetzt haben wir nichts zu essen.«
Der Gemüsehändler hielt nun Rudi in der einen Hand und die Kartoffel in der anderen. Er rief das gefürchtete Wort seiner Frau zu. »Polizei.«
»Nein«, flehte Rudi, »bitte.« Später erzählte er Liesel, dass er kein bisschen Angst gehabt hätte, aber in Wirklichkeit stand in diesem Augenblick sein Herz kurz vor dem Zerspringen, da bin ich mir sicher. »Keine Polizei. Bitte, keine Polizei.«
»Polizei.« Mamer blieb unbeeindruckt, obwohl der Junge sich wand und sich mit der Luft einen Boxkampf lieferte.
An diesem Nachmittag stand auch ein Lehrer in der Schlange. Herr Link gehörte zu den Personen an der Schule, die weder Nonnen noch Priester waren. Rudi entdeckte ihn und verschränkte seinen Blick mit dessen Augen.
»Herr Link.« Das war seine letzte Chance. »Herr Link, sagen Sie's ihm, bitte. Sagen Sie ihm, wie arm wir sind.«
Der Gemüsehändler schaute den Lehrer fragend an.
Herr Link trat vor. »Es stimmt, Herr Mamer. Der Junge ist arm. Er wohnt in der Himmelstraße.« Die Kundenschar, die hauptsächlich aus Frauen bestand, fing an, leise miteinander zu murmeln. Alle wussten, dass die Himmelstraße nicht gerade der Inbegriff des idyllischen Molchinger Lebens war. Im Gegenteil: Es war eine ärmliche Gegend. »Er hat acht Geschwister.«
Acht!
Rudi musste sich ein Lächeln verkneifen, obwohl er immer noch nicht aus dem Schneider war. Wenigstens hatte er den Lehrer so weit gebracht, dass er für ihn log. Er hatte es geschafft, die Steiner-Familie um drei Kinder zu bereichern.
»Er kommt oft ohne Pausenbrot in die Schule.« Und wieder murmelten die Frauen. Ihre säuselnden Stimmen waren wie ein Anstrich, der der Situation mehr Wirksamkeit und Atmosphäre verlieh.
»Darf er deshalb meine Kartoffeln stehlen?«
»Und noch dazu die größte!«, mischte sich eine der Frauen schrill ein. »Seien Sie still, Frau Metzing«, warnte Mamer, und sie verstummte.
Zuerst war alle Aufmerksamkeit auf Rudi und die Faust in seinem Nacken gerichtet. Dann wechselte sie hin und her - von dem Jungen zu der Kartoffel zu dem Gemüsehändler. (Vom attraktivsten Anblick zum hässlichsten ...) Was genau Herrn Mamer dazu veranlasste, Rudi laufen zu lassen, wird auf ewig ein Rätsel bleiben.
War es der jammervolle Ausdruck im Gesicht des Jungen?
Die würdevolle Haltung von Herrn Link?
Die schrille Stimme von Frau Metzing?
Was immer es auch war, Mamer ließ die Kartoffel in die Kiste fallen und schob Rudi aus derr Laden. Draußen verpasste er ihm einen Tritt mit seinem rechten Stiefel und sagte: »Lass dich hier nicht mehr blicken.«
Von draußen schaute Rudi zu, wie Mamer sich hinter die Theke stellte und seine nächste Kundin bediente, mit Gemüse und Sarkasmus gleichermaßen: »Ich bin neugierig, welche Kartoffel Sie haben wollen«, sagte er und beobachtete gleichzeitig mit einem Auge den Jungen vor dem Laden.
Für Rudi war es eine weitere Niederlage. Die zweite Dummheit war ähnlich gefährlich, allerdings aus einem anderen Grund.
Rudi ging aus dieser Situation mit einem blauen Auge, angeknacksten Rippen und einem neuen Haarschnitt hervor.
Tommi Müller hatte bei einem Hitlerjugend-Treffen mal wieder Probleme, und Franz Deutscher wartete nur darauf, dass Rudi sich einmischte. Er musste nicht lange warten.
Rudi und Tommi wurden zu einem weiteren außerplanmäßigen Drill verdonnert, während die anderen nach drinnen gingen und in militärischer Taktik unterwiesen wurden. Während sie durch die Kälte rannten, sahen sie die warmen Köpfe und Schultern durch das Fenster. Selbst als sie sich wieder zu dem Rest der Gruppe gesellten, war die Strafmaßnahme noch nicht vorbei. Rudi ließ sich in eine Ecke fallen und schnippte Schlamm von seinem Ärmel gegen die Fensterscheibe. Franz feuerte die beliebteste Hitlerjugend-Frage auf ihn ab.
»Wann wurde unser Führer Adolf Hitler geboren?«
Rudi schaute hoch. »Wie bitte?«
Die Frage wurde wiederholt, und der sehr, sehr dumme Rudi Steiner, der genau wusste, dass es der 20. April 1889 war, antwortete mit dem Geburtsdatum von Jesus Christus. Er warf sogar den Ort, Bethlehem, als zusätzliche Information ein.
Franz rieb sich die Hände.
Ein sehr schlechtes Zeichen.
Er kam zu Rudi und befahl ihn nach draußen, wo er weitere Runden laufen sollte.
Rudi absolvierte sie alleine, und nach jeder Runde fragte ihn Franz wieder nach dem Geburtstag des Führers.
Es dauerte sieben Runden, bis Rudi die richtige Antwort gab.
Doch so richtig ging der Ärger erst einige Tage nach diesem Treffen los.
Rudi entdeckte Deutscher in der Münchener Straße, wie er mit ein paar Freunden den Bürgersteig entlangschlenderte, und verspürte das unbändige Verlangen, einen Stein nach ihm zu werfen. Ihr könnt ruhig fragen, was zum Teufel er sich dabei dachte. Die Antwort lautet: Wahrscheinlich gar nichts. Er würde vermutlich sagen, dass er sich seine von Gott gegebene Freiheit herausnahm, eine Dummheit zu begehen. Entweder das, oder der Anblick von Franz Deutscher verleitete ihn zu dem Wunsch, Selbstmord zu begehen.
Der Stein traf sein Ziel mitten auf dem Rückgrat, allerdings nicht so fest, wie Rudi gehofft hatte. Franz Deutscher wirbelte herum und schaute glücklich drein, als er ihn da stehen sah, mit Liesel, Tommi und Tommis kleiner Schwester Kristina.
»Lass uns weglaufen«, drängte Liesel, aber Rudi rührte sich nicht.
»Wir sind nicht bei der Hitlerjugend«, erklärte er ihr. Die älteren Jungen waren schon näher gekommen. Liesel blieb bei ihrem Freund, genauso wie der zuckende Tommi und die zarte Kristina.
»Herr Steiner«, ließ sich Franz vernehmen, ehe er Rudi packte und aufs Pflaster warf.
Die Tatsache, dass Rudi aufstand, erboste Deutscher noch mehr. Er schickte ihn ein weiteres Mal zu Boden, gefolgt von einem Tritt in die Rippen.
Wieder stand Rudi auf, und die Gruppe der älteren Jungen fing an, ihren Freund auszulachen. Keine rosigen Aussichten für Rudi. »Lass es ihn doch mal richtig spüren«, sagte der Größte von ihnen zu Deutscher, »oder bringst du das etwa nicht fertig?« Seine Augen waren so blau und kalt wie der Himmel, und seine Worte waren genau die Ermutigung, die Franz Deutscher brauchte. Er wollte, dass Rudi zu Boden ging und auch dort blieb.
Eine größere Gruppe bildete sich um sie, als Rudi einen Schlag auf Franz Deutschers Bauch richtete und ihn vollkommen verfehlte. Gleichzeitig spürte er ein Brennen, als ihn eine Faust in seiner linken Augenhöhle traf. Damit einher ging ein Funkenregen, und er lag unten, bevor er sich dessen überhaupt bewusst war. Wieder erhielt er einen Schlag, auf genau dieselbe Stelle, und er fühlte förmlich, wie die Schwellung gelb, blau und schwarz wurde, alles auf einmal. Drei Lagen aus unbändigem Schmerz.
Die wachsende Menge wartete gierig darauf, ob Rudi noch einmal aufstehen würde. Er tat es nicht. Diesmal blieb er auf dem kalten, nassen Boden liegen, fühlte die klamme Kälte durch seine Kleidung dringen und sich auf seinem Körper ausbreiten.
Die Funken sprühten immer noch vor seinen Augen, und er merkte erst, als es schon zu spät war, dass Franz jetzt mit einem nagelneuen Taschenmesser über ihm stand. Er beugte sich über ihn und ließ das Messer aufblitzen.
»Nein!«, schrie Liesel, aber der große Kerl hielt sie fest. In ihren Ohren klangen seine Worte tief und alt.
»Keine Sorge«, versicherte er ihr. »Er tut's nicht. Er hat nicht den Mut dazu.« Er irrte sich.
Franz ließ sich auf die Knie nieder, beugte sich näher zu Rudi und fragte: »Wann wurde unser Führer geboren?« Jedes Wort wurde mit Sorgfalt erschaffen und in sein Ohr geschoben. »Komm schon, Rudi, wann wurde er geboren? Du kannst es mir sagen, alles in Ordnung, keine Angst.«
Und Rudi?
Was erwiderte er?
Antwortete er besonnen, oder ließ er zu, dass ihn seine Dummheit noch tiefer in den Schlamassel zog?
Er blickte Franz Deutscher in die blassblauen Augen und flüsterte.
»Ostermontag.«
Innerhalb weniger Sekunden hatte das Messer seine Schuldigkeit in Rudis Haaren getan. Es war der zweite kostenlose Haarschnitt, den Liesel erlebte. Die Haare des Juden waren mit einer rostigen Schere geschnitten worden. Ihrem besten Freund wurden sie mit einem schimmernden Messer abgesäbelt. Liesel fiel in diesem Augenblick niemand ein, der je für einen Haarschnitt bezahlt hätte.
Was Rudi betraf, so hatte er in diesem Jahr Schlamm geschluckt, in Dung gebadet, war von einem Jung-Kriminellen fast erwürgt worden und erlebte nun das, was man als i-Tüpfelchen bezeichnen könnte - eine öffentliche Demütigung auf der Münchener Straße.
Seine Stirnfransen ließen sich größtenteils widerspruchslos abtrennen, aber bei jedem Schnitt waren auch ein paar Haare dabei, die um ihr Leben kämpften und als Dank dafür ausgerissen wurden. Bei jedem Ruck zuckte Rudi zusammen. Sein blaues Auge pochte, und seine Rippen brannten vor Schmerz.
»Zwanzigster April achtzehnhundertneunundachtzig!«, belehrte ihn Deutscher. Dann führte er sein Gefolge davon. Auch das Publikum verschwand, und zurück blieben nur Liesel, Tommi und Kristina. Und Rudi.
Er lag still auf dem Boden, aus dem Feuchtigkeit aufstieg.
Was uns zur dritten Dummheit führt - sein Fernbleiben von der Hitlerjugend.
Er hörte nicht sofort auf hinzugehen. Er wollte Deutscher beweisen, dass er keine Angst vor ihm hatte. Aber nach ein paar Wochen beendete Rudi seine Teilnahme gänzlich.
Stolz gewandet in seine Uniform ging er hinaus auf die Himmelstraße, ließ sie hinter sich und lief immer weiter, stets gefolgt von seinem Getreuen, Tommi.
Statt dem HJ-Treffen beizuwohnen, spazierten sie aus der Stadt hinaus und die Amper entlang, ließen Kiesel übers Wasser hüpfen, wuchteten große Steine platschend hinein und stellten noch allerlei anderen Unfug an. Er sorgte dafür, dass seine Uniform schmutzig genug wurde, um seine Mutter zu täuschen - bis der erste Brief ins Haus flatterte. An diesem Tag kam es zu der gefürchteten Aussprache in der Küche.
Zunächst drohten ihm seine Eltern. Er weigerte sich.
Dann flehten sie ihn an. Er verneinte.
Schließlich war es die Gelegenheit, sich einer anderen Gruppe anzuschließen, die Rudi wieder auf den rechten Pfad zurückbrachte. Das war ein Glück, denn wenn er sich nicht bald wieder hätte blicken lassen, hätten die Steiners ein Bußgeld für seine Abwesenheit zahlen müssen. Sein älterer Bruder Kurt fragte Rudi, ob er Lust hätte, sich der Fliegereinheit anzuschließen, die sich auf Flugzeuge und den Luftkampf spezialisiert hatte. Die meiste Zeit bauten sie Modellflugzeuge, und es gab dort keinen Franz Deutscher. Rudi akzeptierte, und auch Tommi trat bei. Es war das erste und einzige Mal, dass Rudis dämliches Verhalten eine Veränderung zum Besseren provoziert hatte.
Wenn ihm jemand in der neuen Einheit die berühmt-berüchtigte Führer-Geburtstagsfrage stellte, lächelte Rudi und antwortete: »20. April 1889.« Dann flüsterte er Tommi ein anderes Datum zu, etwa Beethovens Geburtstag oder den von Mozart oder Strauss. Sie hatten die Komponisten in der Schule durchgenommen, wo Rudi - trotz seiner augenscheinlichen Dummheit - zu den besten Schülern gehörte.
das treibende buch (Teil 2)
Anfang Dezember errang Rudi endlich einen Sieg, wenn auch einen ungewöhnlichen. Es war ein kalter Tag, aber sehr still. Beinahe hätte es geschneit.
Nach der Schule schauten Liesel und Rudi in Alex Steiners Geschäft vorbei, und auf dem Heimweg sahen sie Rudis alten Freund Franz Deutscher um die Ecke biegen. Liesel hatte, wie immer dieser Tage, den Pfeifer dabei. Sie genoss es, das Buch in ihrer Hand zu fühlen. Den glatten Rücken oder die harten Kanten des Papiers. Sie war es, die Franz zuerst bemerkte.
»Schau mal.« Sie zeigte mit dem Finger. Deutscher schlenderte beschwingt in Gesellschaft eines anderen Hitlerjugend-Anführers auf sie zu.
Rudi sank in sich zusammen. Er betastete sein heilendes Auge. »Nicht heute.« Er suchte die Straßen ab. »Wenn wir an der Kirche vorbeigehen, können wir dem Fluss folgen und dann da vorne wieder auf die Straße zurückkehren.«
Ohne ein weiteres Wort folgte Liesel ihm, und es gelang ihnen, Rudis Feind zu umgehen - nur um geradewegs einem anderen in den Weg zu laufen.
Zunächst dachten sie sich nichts dabei.
Die Kerle, die von der Brücke kamen und Zigaretten rauchten, hätten irgendwelche Jungen sein können. Es war zu spät zum Umkehren, als beide Seiten einander erkannten.
»O nein, sie haben uns gesehen.«
Viktor Chemmel lächelte.
Er sprach sehr freundlich. Was nichts anderes bedeutete, als dass er umso gefährlicher war. »Schau an, wenn das mal nicht der Rudi Steiner mit seiner kleinen Hure ist.« Mit federnden Schritten kam er auf sie zu und entwand Liesel das Buch. »Was lesen wir denn da?«
»Das ist doch eine Sache zwischen uns beiden.« Rudi versuchte es mit Vernunft. »Mit ihr hat das nichts zu tun. Komm schon, gib es ihr zurück.«
»Der Pfeifer.«. Er sprach jetzt zu Liesel. »Ist es gut?«
Sie räusperte sich. »Nicht schlecht.« Unglücklicherweise verriet sie sich. Mit ihren Augen. Sie waren in Aufruhr. Sie konnte den genauen Moment benennen, in dem Viktor Chemmel erkannte, dass das Buch einen unschätzbaren Besitz darstellte.
»Ich sag dir was«, erklärte er. »Für fünfzig Mark kannst du es wiederhaben.«
»Fünfzig Mark!« Das war Andi Schmeikl. »Komm schon, Viktor, für fünfzig Mark kann man tausend Bücher kaufen.«
»Habe ich dich gefragt?«
Andi verstummte. Sein Mund klappte zu.
Liesel versuchte es mit einem gelassenen, unbeteiligten Gesicht. »Du kannst es behalten. Ich habe es schon gelesen.«
»Wie geht es denn aus?«
Verdammt!
So weit war sie noch nicht gekommen.
Sie zögerte, und Viktor Chemmel durchschaute sie sofort.
Rudi bekniete ihn. »Ach komm, Viktor, tu ihr das nicht an. Du bist doch hinter mir her. Ich tue alles, was du willst.«
Der ältere Junge schob ihn einfach zur Seite, das Buch hoch in der Luft am Ende des ausgestreckten Arms. Und er korrigierte Rudis Aussage.
»Nein«, sagte er. »Ich tue alles, was ich will.« Und mit diesen Worten ging er aufs Ufer zu. Alle folgten ihm, begierig, ihn einzuholen. Halb laufend, halb rennend. Einige protestierten, andere feuerten ihn an.
Es war so rasch und so entspannt. Eine Frage und eine spöttisch-freundliche Stimme.
»Wer«, sagte Viktor Chemmel, »war der letzte Olympiasieger im Diskuswurf, bei der Olympiade in Berlin?« Er drehte sich um und schaute sie an. Er wärmte die Muskeln in seinem Arm auf. »Wer war das doch gleich? Herrgott nochmal! Es liegt mir auf der Zunge. Es war dieser Amerikaner, nicht wahr? Carpenter oder so ähnlich...«
»Bitte!« - Rudi.
Das Wasser kippte.
Viktor Chemmel wirbelte um die eigene Achse.
Ruhmreich löste sich das Buch aus seiner Hand. Es öffnete sich und flatterte. Die Seiten raschelten, als es in der Luft an Fahrt gewann. Jäher als erwartet hielt es inne und schien vom Wasser angezogen zu werden. Klatschend traf es auf die Oberfläche und wurde flussabwärts getrieben.
Viktor schüttelte den Kopf. »Nicht genug Höhe. Ein schlechter Wurf.« Er lächelte wieder. »Aber gut genug, um zu gewinnen, was?«
Liesel und Rudi verweilten nicht, um sich das Gelächter anzuhören.
Rudi lief schon am Flussufer entlang und versuchte, das Buch auszumachen.
»Kannst du es sehen?«, rief Liesel ihm zu.
Rudi rannte.
Er trat ans Wasser und zeigte ihr, wo das Buch an der Oberfläche trieb. »Da!« Er blieb stehen und deutete und rannte dann weiter, um es zu überholen. Kurz darauf schälte er sich aus dem Mantel, sprang ins Wasser und watete mitten in den Fluss hinein.
Liesel, die ihre Schritte verlangsamte, sah, wie ihm jeder Schritt wehtat. Diese schmerzhafte Kälte.
Als sie nahe genug war, erkannte sie, dass das Buch an ihm vorbeitrieb, aber er holte es ein. Seine Hand schoss nach vorn und sammelte den tropfnassen Klotz aus Pappe und Papier ein. »Der Pfeifer«, rief der Junge aus. Es war das einzige Buch, das an diesem Tag in der Amper schwamm. Er hatte dennoch das Bedürfnis, den Titel zu verkünden.
Nebenbei bemerkt - für alle, die es interessiert -, stieg Rudi nicht sofort aus dem Wasser, nachdem er das Buch herausgefischt hatte. Er blieb noch etwa eine Minute dort stehen. Er lieferte Liesel keine Erklärung für sein Verhalten, aber ich glaube, sie wusste, dass es zwei Gründe dafür gab.
DIE ERFRIERENDEN MOTIVE DES RUDI STEINER
1. Nach Monaten voller Niederlagen war dieser Moment die einzige Gelegenheit für ihn, sich in einem Sieg zu sonnen.
2. Ein Ort, an dem er einen solchen Akt der Selbstlosigkeit begangen hatte, war bestens geeignet, um Liesel die übliche Frage zu stellen. Wie sollte sie ihn da noch abweisen?
»Wie wär's mit einem Kuss, Saumensch?«
Er stand bis zur Hüfte im Wasser, verweilte noch ein paar Augenblicke und kletterte dann hinaus und reichte ihr das Buch. Seine Hose klebte an seiner Haut, trotzdem ging er weiter. In Wahrheit hatte er wohl Angst. Rudi Steiner hatte Angst vor dem Kuss der Bücherdiebin. Er sehnte sich so sehr danach. Er liebte sie so unbändig. So unbändig, dass er niemals wieder um ihre Lippen bat und ohne sie ins Grab gehen würde.
TEIL 6
DER TRAUMTRÄGER
Es wirken mit: das Tagebuch des Todes - der Schneemann - dreizehn Geschenke - das nächste Buch - der Albtraum von der jüdischen Leiche - ein Zeitungshimmel - ein Besucher - ein Schmunzler - und ein letzter Kuss auf vergiftete Wangen
das tagebuch des todes: 1942
Es war ein denkwürdiges Jahr, wie 79 nach Christus oder 1346, um nur zwei zu nennen. Vergesst die Sense - ich hätte einen Besen oder einen Wischmopp gebraucht. Oder Urlaub.
EIN KLEINES STÜCK WAHRHEIT
Ich habe keine Sense. Ich trage nur dann einen schwarzen Kapuzenmantel, wenn es kalt ist. Ich habe auch kein Totenschädelgesicht, das ihr mir so gerne andichtet. Wollt ihr wissen, wie ich wirklich aussehe? Ich sage es euch. Schaut in einen Spiegel.
Ich fühle mich regelrecht ein bisschen maßlos und selbstzufrieden, wenn ich euch so viel von mir erzähle. Über meine Reisen, was ich im Jahr 1942 gesehen habe... Andererseits seid ihr Menschen; ihr dürftet Selbstsucht kennen. Aber es gibt einen Grund, warum ich euch erzähle, was ich in dieser Zeit erlebte. Vieles davon würde später Einfluss auf Liesel Memingers Leben haben. Der Krieg rückte näher auf die Himmelstraße zu und zog mich dabei mit sich.
In diesem Jahr musste ich etliche Runden drehen, von Polen nach Russland nach Afrika und wieder zurück. Ihr könntet jetzt behaupten, dass ich diese Reisen ohnehin machen müsste, egal welches Jahr gerade ist, aber manchmal neigt die menschliche Rasse dazu, die Dinge ein wenig zu beschleunigen. Sie erhöht die Anzahl der Leichen und ihrer entschwindenden Seelen. Ein paar Bomben reichen gewöhnlich aus. Oder ein Dutzend Gaskammern oder das Knattern von Gewehrfeuer. Wenn die Menschen trotz dieser Umstände überleben, so sind sie doch meist ihrer Behausungen beraubt. Dann begegnen mir überall die Heimatlosen. Sie kommen mir nach, wenn ich durch die Straßen der misshandelten Städte gehe. Sie flehen mich an, sie mitzunehmen, und merken nicht, dass ich ohnehin schon genug zu tun habe. »Eure Zeit wird kommen«, versichere ich ihnen dann und versuche, nicht zurückzuschauen. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte ihnen erklären, wie viel Arbeit ich schon habe, aber das tue ich nicht. Niemals. Ich beklage mich nur im Stillen, während ich meine Aufgabe erledige. In bestimmten Jahren kann man jedoch nicht mehr davon sprechen, dass sich die Toten lediglich summieren; ihre Zahl steigt ins Unermessliche.
EINE VERKÜRZTE AUFZÄHLUNG FÜR DAS JAHR 1942
1. Die verzweifelten Juden - ihre Seelen in meinem Schoß, während wir auf dem Dach sitzen, neben den rauchenden Schornsteinen.
2. Die russischen Soldaten - nur mit wenig Munition im Gepäck und zuversichtlich, die Kugeln der Gefallenen aufsammeln zu können.
3. Die durchtränkten Körper an der französischen Küste - angespült auf Kies und Sand.
Ich könnte so weitermachen, aber ich denke, dass für den Moment drei Beispiele reichen. Sie sollen genügen, um euch einen Eindruck von dem Geschmack nach Asche zu vermitteln, der in diesem Jahr mein Dasein begleitete.
So viele Menschen. So viele Farben.
Sie lösen sich beständig in mir auf. Sie piesacken meine Erinnerung. Ich sehe sie in hohen Haufen aufeinanderliegen. Die Luft ist wie Plastik, der Horizont wie angetrockneter Kleister. Himmel, die von Menschen gemacht sind, durchstochen und leck, und die weichen, kohlefarbenen Wolken, die wie schwarze Herzen schlagen.
Und dann.
Ist da der Tod.
Der sich seinen Weg durch alles bahnt. Äußerlich: unerschütterlich, unbeirrt. Innerlich: zermürbt, zerfahren, zunichtegemacht.
Um die Wahrheit zu sagen (und mir ist klar, dass ich jetzt wirklich anfange zu jammern), war ich noch nicht über Stalin in Russland hinweg. Über die sogenannte Zweite Revolution - den Mord an seinem eigenen Volk.
Dann kam Hitler.
Man sagt, dass der Krieg der beste Freund des Todes ist, aber da muss ich euch berichtigen. Für mich ist der Krieg wie ein neuer Vorgesetzter, der Unmögliches von einem erwartet. Er steht hinter einem und wiederholt immer nur das eine: »Erledige dies, erledige das.« Also arbeitet man härter. Man erledigt dies und das. Aber der Vorgesetzte dankt es einem nicht. Er verlangt nur noch mehr.
Oft versuche ich, mich an die verstreuten Eindrücke von Schönheit zu erinnern, die ich manchmal in dieser Zeit sah. Ich durchforsche meine Bibliothek der Geschichten.
Genau in diesem Augenblick greife ich nach einer.
Ich denke, die Hälfte der Geschichte kennt ihr bereits, und wenn ihr mich begleitet, werde ich euch auch noch den Rest zeigen. Ich zeige euch die zweite Hälfte der Bücherdiebin.
Ahnungslos wartet sie auf die zahlreichen Ereignisse, die ich euch gerade angedeutet habe, aber sie wartet auch auf euch.
Sie bringt Schnee in den Keller, ausgerechnet dorthin.
Ein Haufen gefrorenes Wasser kann beinahe jeden zum Lächeln bringen, aber nicht dazu zu vergessen.
Hier kommt sie.
der schneemann
In Bezug auf Liesel Meminger konnten die Anfänge des Jahres 1942 wie folgt zusammengefasst werden:
Sie wurde dreizehn Jahre alt. Ihre Brust war immer noch flach. Sie hatte noch nicht ihre Periode bekommen. Der junge Mann aus dem Keller lag jetzt in ihrem Bett.
FRAGE UND ANTWORT
Wie landete Max Vandenburg in Liesels Bett?
Er fiel.
Die Meinungen hierzu gingen auseinander, aber Rosa Hubermann behauptete, dass die Ursache an Weihnachten zu suchen war.
Der 24. Dezember war hungrig und kalt gewesen, aber er brachte auch Erleichterung - nämlich keine ausgedehnten Besuche. Hans junior schoss auf die Russen und bewahrte gleichzeitig seine Distanz zur Familie. Trudi konnte nur für ein paar Stunden am Wochenende vor Weihnachten vorbeikommen. Sie fuhr mit der Familie, für die sie arbeitete, weg. Urlaub, ein Ereignis, das nur eine ganz bestimmte Klasse Deutschlands erleben durfte.
An Heiligabend brachte Liesel ein paar Handvoll Schnee in den Keller, als Geschenk. »Mach die Augen zu«, sagte sie. »Streck die Hände aus.« Sobald der Schnee darauf abgelegt war, zitterte Max und lachte, aber er machte die Augen nicht auf. Er schmeckte nur kurz den Schnee und ließ ihn in die Haut auf seinen Lippen sinken.
»Ist das der heutige Wetterbericht?«
Liesel stand neben ihm.
Sanft berührte sie ihn am Arm.
Wieder hob er den Schnee an den Mund. »Danke, Liesel.«
Es war der Beginn des großartigsten Weihnachtsfestes überhaupt. Wenig zu essen. Keine Geschenke. Aber im Keller stand ein Schneemann.
Nachdem sie die erste Portion Schnee abgeliefert hatte, versicherte sich Liesel, dass niemand in der Nähe war, und schleppte dann so viele Eimer und Töpfe nach draußen, wie sie finden konnte. Sie füllte sie mit den Hügeln aus Schnee und Eis, die den schmalen Streifen Welt bedeckten, der Himmelstraße genannt wurde. Als die Behälter voll waren, brachte sie sie ins Haus und trug sie in den Keller.
Zugegeben - als Erstes warf sie einen Schneeball auf Max und steckte ihrerseits einen Wurf in den Bauch ein. Max warf sogar einen Schneeball auf Hans Hubermann, der gerade die Kellertreppe herunterkam.
»Saukerl!«, japste Papa. »Liesel, gib mir mal eine Handvoll Schnee. Nein, gleich einen ganzen Eimer!« Ein paar Minuten lang vergaßen sie. Es wurde zwar nicht geschrien oder gerufen, aber die kleinen Lachsalven, die herausplatzten, konnte keiner der drei unterdrücken. Sie waren nur Menschen, die im Schnee spielten. Im Innern eines Hauses.
Papa schaute auf die mit Schnee gefüllten Behältnisse. »Was machen wir mit dem Rest?«
»Einen Schneemann«, antwortete Liesel. »Wir bauen einen Schneemann.«
Papa rief Rosa herbei.
Wie üblich wurde ihm aus der Ferne ihre Stimme entgegengeschleudert. »Was ist, Saukerl?« »Komm mal bitte her.«
Als seine Frau erschien, riskierte Hans Hubermann Kopf und Kragen und zielte mit einem vollkommen runden Schneeball auf sie. Er verfehlte sie um Haaresbreite, und das Wurfgeschoss löste sich auf, als es auf die Wand traf. Mama hatte nun einen Grund, lange und ausgiebig zu fluchen, ohne Atem zu holen. Nachdem sie sich wieder erholt hatte, half sie den anderen. Sie holte sogar Knöpfe für die Augen und die Nase und etwas Schnur für ein Schneemann-Lächeln. Selbst ein Schal und ein Hut wurden herbeigezaubert für den Schneemann, der gerade mal sechzig Zentimeter hoch war.
»Ein Zwerg«, sagte Max.
»Was machen wir, wenn er schmilzt?«, fragte Liesel.
Rosa hatte die Antwort parat. »Dann wischst du hier auf, Saumensch, aber dalli!«
Papa schüttelte den Kopf. »Der schmilzt nicht.« Er rieb sich die Hände und blies dagegen. »Hier unten ist es eiskalt.«
Doch die Schmelze setzte ein - allerdings im Innern der vier Menschen. Der Schneemann stand unverändert da. Es war wohl das Letzte, was sie vor sich sahen, als sie an diesem Weihnachtsabend einschliefen. Das Akkordeon war in ihren Ohren, der Schneemann in ihren Augen, und Liesels Gedanken galten den letzten Worten von Max, ehe sie ihn am Kamin zurückließ und in ihr Zimmer ging.
DIE WEIHNACHTSWORTE VON MAX VANDENBURG
»Ich habe mir oft gewünscht, dass dies alles vorbei wäre, Liesel, aber dann kommst du die Kellertreppe herunter und hältst einen Schneemann in deinen Händen.«
Unglücklicherweise läutete diese Nacht eine dramatische Verschlechterung von Max' Gesundheit ein. Die ersten Anzeichen schienen harmlos und waren doch so typisch. Das ständige Gefühl von Kälte. Schwimmende Hände. Immer häufiger Visionen des Boxkampfs mit dem Führer. Erst als er selbst nach seinen Liegestützen und den anderen Übungen nicht mehr warm wurde, fing er an, sich Sorgen zu machen. Und egal wie nahe er sich ans Kaminfeuer setzte, sein Zustand verbesserte sich nicht. Tag für Tag floh das Gewicht von seinem Körper.
Seine Übungseinheiten zerstreuten sich und desertierten, ließen ihn mit der Wange auf dem übel gesinnten Kellerboden allein zurück.
Den ganzen Januar hindurch schaffte er es, sich irgendwie aufrecht zu halten, aber Anfang Februar wurde seine Lage ernst. Er hatte Mühe, am Morgen aufzuwachen und in den Keller zu gehen, und verschlief oft. Sein Mund war verzerrt, und seine Wangenknochen begannen anzuschwellen. Wenn man ihn fragte, behauptete er, es ginge ihm gut.
Mitte Februar, ein paar Tage vor Liesels dreizehntem Geburtstag, kam er zum Kamin und war einer Ohnmacht nahe. Er fiel fast ins Feuer.
»Hans«, flüsterte er, und sein Gesicht verkrampfte sich. Seine Beine gaben nach, und sein Kopf schlug gegen den Akkordeonkasten.
Ein Holzlöffel fiel in die Suppe, und in Sekundenbruchteilen war Rosa Hubermann neben ihm. Sie hielt Max' Kopf und kläffte Liesel quer durch den Raum an: »Steh nicht einfach so da! Geh, hol ein paar Decken! Bring sie in dein Zimmer, auf dein Bett damit. Und du!« Papa war als Nächstes dran. »Hilf mir, ihn hochzuheben und ihn zu Liesel zu tragen. Schnell!«
Papas Gesicht war vor Sorge verzerrt. Seine grauen Augen klirrten, und er hob Max ganz alleine hoch. Der Jude war so leicht wie ein Kind. »Kann er nicht hierbleiben, in unserem Bett?«
Rosa hatte bereits daran gedacht. »Nein. Wir müssen die Vorhänge tagsüber offen lassen, sonst schöpft jemand Verdacht.«
»Du hast recht.« Hans trug ihn hinaus.
Mit den Decken in der Hand schaute Liesel zu.
Schlaffe Füße und baumelndes Haar im Flur. Ein Schuh war ihm vom Fuß gefallen. »Beeil dich!«
Mama marschierte mit ihrem Watschelgang hinter ihnen her.
Max lag im Bett und wurde unter Decken begraben, die fest um seinen Körper gelegt wurden. »Mama?«
Mehr brachte Liesel nicht heraus.
»Was?« Der Knoten, zu dem Rosa Hubermann ihre Haare am Hinterkopf festgesteckt hatte, war straff genug, um einem Angst einzujagen. Er schien sich noch stärker festzuziehen, als sie die Frage wiederholte. »Was, Liesel?«
Sie trat näher und fürchtete sich vor der Antwort. »Ist er am Leben?«
Rosa drehte sich zu ihr um und sagte mit größter Bestimmtheit: »Hör mal zu, Liesel. Ich habe diesen Mann nicht unter meinem Dach aufgenommen, um ihn sterben zu lassen. Verstanden?«
Liesel nickte.
»Jetzt raus mit dir.«
Im Flur umarmte Papa sie. Das hatte sie nötig gehabt.
Später in der Nacht hörte sie Hans und Rosa miteinander sprechen. Rosa wollte, dass Liesel bei ihnen schlief, und sie lag neben dem Bett ihrer Pflegeeltern auf dem Boden, auf der Matratze, die sie aus dem Keller geholt hatten. (Zunächst hatten sie sich Sorgen gemacht, ob von der Matratze eine Ansteckungsgefahr ausging, aber sie kamen zu dem Schluss, dass solche Befürchtungen unbegründet waren. Max litt nicht an einer Virusinfektion, und so trugen sie die Matratze hinauf und wechselten lediglich das Laken.)
Mama glaubte, Liesel würde schlafen, und so sprach sie frei heraus.
»Dieser verdammte Schneemann«, raunte sie. »Ich wette, damit hat es angefing und Schnee unten im Keller Unfug zu treiben, wo es ohnehin schon so kalt ist!«
Im Laufe der Nacht erhielt Max sieben Mal Besuch.
MAX VANDENBURGS BESUCHERLISTE
Hans Hubermann: 2 x Rosa Hubermann: 2 x Liesel Meminger: 3 x
Am nächsten Morgen holte Liesel sein Skizzenbuch aus dem Keller und legte es auf den Nachttisch. Sie hatte ein fürchterlich schlechtes Gewissen, weil sie damals unerlaubt hineingeschaut hatte, und hielt es diesmal aus Respekt fest verschlossen.
Papa kam herein, aber sie drehte sich nicht um, sondern sprach stattdessen über Max Vandenburg hinweg gegen die Wand. »Warum habe ich bloß den ganzen Schnee nach unten gebracht?«, fragte sie. »Damit hat alles angefangen, nicht wahr, Papa?« Sie faltete die Hände, als wollte sie beten. »Warum musste ich nur diesen Schneemann bauen?«
Ehre, wem Ehre gebührt: Papa blieb unerschütterlich. »Liesel«, sagte er, »du musstest es tun.«
Stundenlang saß sie bei ihm, während er zitterte und schlief. »Stirb nicht«, flüsterte sie. »Bitte, Max, stirb nur nicht.«
Er war der zweite Schneemann, der vor ihren Augen dahinschmolz, aber dieser war anders. Er war ein Paradox.
Je kälter er wurde, desto mehr schmolz er.
dreizehn geschenke
Es war, als würde Liesel Max' Ankunft noch einmal erleben, nur in umgekehrter Reihenfolge.
Federn verwandelten sich wieder in Geäst. Ein weiches Gesicht wurde rau und kratzig. Das war der Beweis, den sie haben wollte: Er war am Leben.
Während der ersten paar Tage war sie bei ihm und redete mit ihm. An ihrem Geburtstag erzählte sie ihm, dass in der Küche ein riesiger Kuchen auf ihn wartete, wenn er nur aufwachen würde.
Es gab kein Aufwachen.
Es gab keinen Kuchen.
ES WAR EINMAL IN EINER NACHT
Viel später wurde mir klar, dass ich während dieser Zeit die Himmelstraße 33 aufgesucht haben muss. Es muss in einem der wenigen Momente gewesen sein, als das Mädchen nicht bei ihm war, denn alles, was ich sah, war ein Mann in einem Bett. Ich kniete nieder. Ich machte mich bereit, meine Hände in die Decken einzutauchen. Dann spürte ich ein starkes Wiederaufleben -einen kraftvollen Kampf gegen mein Gewicht. Ich zog mich zurück. Bei der ganzen Arbeit, die auf mich wartete, war es ein Genuss, dass ich in diesem kleinen, dunklen Raum abgewehrt worden war. Ich hielt kurz inne, schloss die Augen und gab mich einem Moment der Gelassenheit und Ruhe hin, ehe ich wieder ging.
Am fünften Tag war die Aufregung groß, als Max - wenn auch nur für einen Moment - die Augen öffnete. Sein Blickfeld wurde fast gänzlich - ein erschreckender Gedanke, noch dazu so nahe - von Rosa Hubermann ausgefüllt, die praktisch einen ganzen Armvoll Suppe in seinen Mund schüttete. »Schlucken«, befahl sie ihm. »Nicht nachdenken. Nur schlucken.« Sobald Mama ihr die Suppentasse gereicht hatte, wollte Liesel einen Blick auf sein Gesicht erhaschen, aber der Rücken der Suppenfütterin war ihr im Weg.
»Ist er noch wach?«
Rosa drehte sich um. Eine Antwort war nicht nötig.
Nach fast einer Woche wachte Max zum zweiten Mal auf. Diesmal waren Liesel und Papa im Zimmer. Beide betrachteten den Körper im Bett, als sich ein leises Stöhnen vernehmen ließ. Papa fiel fast aus dem Stuhl in die Höhe, wenn das möglich gewesen wäre.
»Schau doch«, keuchte Liesel. »Max, bleib wach! Bleib wach!«
Er schaute sie kurz an, aber ohne sie zu erkennen. Die Augen studierten sie, als wäre sie ein Rätsel. Dann waren sie wieder fort.
»Papa, was ist passiert?«
Hans ließ sich wieder in den Stuhl fallen.
Später schlug er vor, dass sie ihm vorlesen solle. »Na komm, Liesel, du bist mittlerweile so gut im Lesen - selbst wenn keiner von uns eine Ahnung hat, woher du dieses Buch hast.«
»Ich hab's dir doch gesagt, Papa. Eine der Nonnen aus der Schule hat es mir gegeben.«
Papa hob in gespielter Abwehr die Hände. »Ich weiß, ich weiß.« Er seufzte aus der Höhe zu ihr hinab. »Nur...« Er wählte seine Worte mit Bedacht. »Lass dich nicht erwischen.« Und das von einem Mann, der einen Juden gestohlen hatte.
Von diesem Tag an las Liesel Max aus dem Pfeifer vor, während er ihr Bett mit Beschlag belegte. Ärgerlich war nur, dass sie manchmal ganze Kapitel überspringen musste, weil die Seiten fest aneinanderklebten. Das Buch war zwar getrocknet, aber es befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Trotzdem kämpfte sie sich weiter, bis zu dem Moment, wo sie fast drei Viertel hinter sich gebracht hatte.
Das Buch hatte 396 Seiten.
Jeden Tag eilte Liesel von der Schule nach Hause, in der Hoffnung, dass es Max besser gehe. »Ist er aufgewacht? Hat er etwas gegessen?«
»Geh wieder raus«, bat Mama. »Du fragst mir ja noch ein Loch in den Bauch. Mach schon. Geh raus, und spiel Fußball, um Himmels willen.«
»Ja, Mama.« Sie war schon an der Tür. »Aber du sagst mir gleich Bescheid, wenn er aufwacht, nicht wahr? Erfinde irgendwas. Schrei herum, als ob ich etwas angestellt hätte. Schimpf mit mir. Jeder wird es glauben, keine Sorge.«
Selbst Rosa musste bei diesen Worten lächeln. Sie legte ihre Fingerknöchel gegen die Hüften und erklärte, dass Liesel noch nicht zu alt für eine ordentliche Abreibung wäre, wenn sie nicht aufpasse, was sie sagte. »Und schieß gefälligst ein Tor«, verlangte sie, »oder du musst gar nicht erst heimkommen.«
»Klar, Mama.«
»Besser noch zwei Tore, Saumensch.« »Ja, Mama.«
»Und versuch nicht ständig, das letzte Wort zu haben!«
Liesel wollte schon den Mund aufmachen, überlegte es sich aber anders und rannte hinaus, um Rudi auf der schlammigen Straße zu beweisen, wer von ihnen besser Fußball spielte.
»Wurde auch Zeit, Arschkratzer.« Er hieß sie auf die übliche Art willkommen, während er gleichzeitig um den Ballbesitz kämpfte. »Wo warst du so lange?«
Eine halbe Stunde später wurde der Ball von einem der wenigen Wagen platt gewalzt, die ihren Weg in die Himmelstraße fanden. Liesel hatte gerade ihr erstes Geschenk für Max Vandenburg gefunden.
Nachdem sich alle davon überzeugt hatten, dass der Ball ein für alle Mal das Zeitliche gesegnet hatte, gingen sie empört davon und ließen ihn zuckend auf der kalten, mit Blasen übersäten Straße liegen. Liesel und Rudi blieben zurück und beugten sich über den Kadaver. An der Seite gähnte ein Loch, wie ein Mund.
»Willst du ihn haben?«, fragte Liesel.
Rudi zuckte mit den Schultern. »Was soll ich mit diesem platten Scheißhaufen von einem Ball anfangen? Den kann man im Leben nicht mehr aufpumpen.«
»Willst du ihn oder nicht?«
»Nein danke.« Rudi stupste ihn vorsichtig mit dem Fuß an, als wäre er ein totes Tier. Oder ein Tier, das nur vielleicht tot war.
Bevor sie sich auf den Heimweg machte, hob Liesel den Ball auf und steckte ihn sich unter den Arm. Sie hörte ihn rufen. »He, Saumensch!« Sie wartete. »Saumensch!«
Sie gab nach. »Was ist?«
»Ich hab auch noch ein Fahrrad ohne Räder, wenn du das haben willst.«
»Steck dir dein Fahrrad sonst wo hin.«
Von dort, wo sie stand, war das Letzte, was sie hörte, das Lachen von Rudi Steiner, diesem Saukerl.
Sie ging ins Haus und geradewegs in ihr Zimmer. Sie nahm den Ball und legte ihn an das Fußende des Bettes.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Er ist nichts Besonderes. Aber wenn du aufwachst, werde ich dir alles darüber erzählen. Ich werde dir erzählen, dass es der graueste Nachmittag war, den du dir vorstellen kannst, und dieses Auto ist ohne Licht direkt über den Ball gefahren. Dann ist der Fahrer ausgestiegen und hat uns angebrüllt. Und stell dir vor: Dann hatte er uns nach dem Weg gefragt. Der hatte vielleicht Nerven...«
Wach auf!, wollte sie schreien.
Oder ihn schütteln.
Sie tat es nicht.
Alles, was ihr zu tun blieb, war, den Ball zu betrachten und seine zertrampelte, schuppige Haut. Es war das erste Geschenk von vielen.
GESCHENKE NUMMER 2 BIS 5
Ein Band, ein Tannenzapfen. Ein Knopf, ein Stein.
Der Fußball hatte sie auf eine Idee gebracht.
Immer wenn sie zur Schule oder von der Schule nach Hause ging, hielt Liesel Ausschau nach weggeworfenen Gegenständen, die möglicherweise für einen sterbenden Mann von Wert waren. Sie fragte sich erst, warum es so bedeutsam war. Wie konnte etwas so scheinbar Unwichtiges jemandem Trost und Behaglichkeit spenden? Ein Band im Rinnstein. Ein Tannenzapfen auf der Straße. Ein Knopf, der lässig an der Wand des Klassenzimmers lehnte. Ein flacher, runder Stein aus dem Fluss. Abgesehen von allem anderen zeigte es, dass sie sich sorgte, dass er ihr etwas bedeutete, und wenn Max aufwachte, hatten sie etwas, worüber sie reden konnten.
Im Stillen malte sie sich diese Gespräche aus. »Was ist das für ein Zeug?«, fragte Max.
»Zeug?« In ihrer Vorstellung saß sie auf der Bettkante. »Das ist kein Zeug, Max. Das sind die Dinge, die dafür gesorgt haben, dass du aufwachst.«
GESCHENKE NUMMER 6 BIS 9
Eine Feder, zwei Zeitungen. Ein Bonbonpapier. Eine Wolke.
Die Feder war wunderschön und hing gefangen am Türpfosten der Kirche in der Münchener Straße, im Scharnier. Geknickt ragte sie daraus hervor, und Liesel eilte hinzu, um sie zu retten. Auf der linken Seite lagen die Fasern flach am Schaft an, aber die rechte Seite bestand aus zarten Kanten und zerklüfteten Dreiecken. Es gab keine anderen Worte, um sie zu beschreiben.
Die Zeitungen kamen aus den eisigen Tiefen eines Abfalleimers (darauf muss ich wohl nicht eingehen), und das Bonbonpapier war platt gedrückt und verblichen. Sie fand es in der Nähe der Schule und hob es ins Licht. Etliche Schuhabdrücke hatten sich darauf niedergelassen.
Dann die Wolke.
Wie schenkt man jemandem ein Stück Himmel?
Ende Februar stand sie in der Münchener Straße und betrachtete eine einzige riesige Wolke, die wie ein weißes Ungeheuer über die Hügel gezogen kam. Sie stieg die Berge empor. Die Sonne wurde ausgelöscht, und an ihrer Stelle blickte ein weißes Biest mit einem grauen Herzen auf die Stadt nieder.
»Schau dir das mal an«, sagte sie zu Papa.
Er hob den Kopf und sprach das Offensichtliche aus: »Du solltest sie Max schenken, Liesel. Vielleicht kannst du sie auf den Nachttisch legen, wie all die anderen Sachen.«
Liesel schaute ihn an, als ob er den Verstand verloren hätte. »Wie soll das gehen?«
Er klopfte sanft mit seinen Fingerknöcheln gegen ihren Schädel. »Präge sie dir ein. Und dann schreibe sie auf.«
»Sie war wie ein großes weißes Tier«, sagte sie bei ihrer nächsten Wache neben seinem Bett, »und sie kam über die Berge.«
Als der Satz etliche Veränderungen und Ergänzungen erfahren hatte, hatte Liesel das Gefühl, es vollbracht zu haben. Sie stellte sich vor, wie die Wolke von ihrer Hand in seine glitt, durch die Decken hindurch, und sie schrieb es auf ein Stück Papier, auf das sie den runden, flachen Stein legte.
GESCHENKE NUMMER 10 BIS 13
Ein Zinnsoldat. Ein wundersames Blatt. Ein ausgelesener Pfeifer. Eine Scheibe Kummer.
Der Soldat lag im Dreck vergraben, nicht weit von Tommi Müllers Haus entfernt. Er war zerkratzt und zertreten, was ihn für Liesel noch wertvoller machte. Selbst mit seinen Wunden und Blessuren stand er immer noch aufrecht.
Das Blatt stammte von einem Ahorn, und sie fand es in der Besenkammer der Schule, zwischen Eimern und Staubwedeln. Die Tür hatte einen Spalt offen gestanden. Das Blatt war trocken und hart, wie geröstetes Brot, und auf seiner Haut wölbten sich Hügel und Täler. Irgendwie hatte es sich erst in den Flur und später in die Besenkammer verirrt. Wie ein halber Stern mit einem Stiel. Liesel nahm es und drehte es zwischen ihren Fingern hin und her.
Anders als die anderen Gegenstände legte sie das Blatt nicht auf den Nachttisch. Sie befestigte es mit einer Stecknadel an den geschlossenen Vorhängen, kurz bevor sie die letzten vierunddreißig Seiten des Pfeifers las.
An diesem Tag aß sie kein Abendessen und ging nicht auf die Toilette. Sie trank keinen Tropfen. In der Schule schwor sie sich, dass sie heute das Buch zu Ende lesen und dass Max Vandenburg zuhören würde. Er würde aufwachen.
Papa saß auf dem Boden in der Ecke, ohne Beschäftigung, wie immer. Glücklicherweise würde er sich schon bald mit seinem Akkordeon auf den Weg zum »Knoller« machen. Sein Kinn ruhte auf den Knien, und er lauschte dem Mädchen, dem er mühsam das Alphabet beigebracht hatte. Stolz las sie Max Vandenburg die letzten, beängstigenden Worte des Buches vor.
DAS ENDE VOM PFEIFER
An diesem Morgen vernebelte die Wiener Luft die Fenster des Zuges, und während die Menschen ahnungslos zur Arbeit fuhren, pfiff ein Mörder fröhlich seine Weise.
Er kaufte sich eine Fahrkarte. Er tauschte Höflichkeiten mit dem Schaffner und Mitreisenden aus. Er bot sogar einer älteren Dame seinen Sitzplatz an und unterhielt sich angeregt mit einem Glücksspieler, der von amerikanischen Pferden erzählte. Der Pfeifer liebte die Unterhaltung.
Er redete mit den Menschen und narrte sie, indem er sie dazu brachte, ihn zu mögen, ihm zu vertrauen. Er redete mit ihnen, während er sie tötete, sie folterte und das Messer umdrehte. Nur wenn er niemanden zum Reden hatte, pfiff er, was auch der Grund war, warum er es so häufig nach einem Mord tat.
»Also glauben Sie, dass Nummer sieben die Rennbahn liegen wird, ja?«
»Natürlich.« Der Glücksspieler grinste. Schon war das Vertrauen erschaffen. »Er wird von hinten kommen und den anderen das Fell über die Ohren ziehen!« Er musste schreien, um den Lärm des Zuges zu übertönen. »Wenn Sie meinen.« Der Pfeifer grinste ebenfalls. Dann dachte er ausgiebig darüber nach, wann man wohl die Leiche des Inspektors in dem brandneuen BMW finden würde.
»Jesus, Maria und Josef.« Hans konnte sich einen ungläubigen Ton nicht verkneifen. »Eine Nonne hat dir das geschenkt?« Er stand auf, ging zu ihr und küsste sie auf die Stirn. »Mach's gut, Liesel, der >Knoller< wartet.«
»Mach's gut, Papa.«
»Liesel!« Sie achtete nicht darauf. »Komm, und iss etwas!«
Jetzt antwortete sie. »Ich komme, Mama.« Sie sprach die Worte zu Max. Sie kam näher und legte das fertig gelesene Buch auf den Nachttisch, zu allen anderen Dingen. Über ihn gebeugt, konnte sie nicht anders. »Komm schon, Max«, flüsterte sie. Selbst als sie merkte, dass Mama hinter sie trat, hörte sie nicht auf, lautlos zu weinen. Sie hörte nicht auf. Sie ließ einen Klumpen Salzwasser aus ihrem Auge fallen und fütterte damit Max Vandenburgs Gesicht.
Mama nahm sie.
Ihre Arme verschluckten sie.
»Ich weiß«, sagte sie.
Sie wusste es.
frische luft, ein alter albtraum und die frage, was man mit einer jüdischen leiche anstellen soll
Sie saßen an der Amper, und Liesel hatte Rudi gerade erklärt, dass sie gerne ein weiteres Buch aus der Bibliothek des Bürgermeisters stehlen würde. Nach dem Pfeifer hatte sie, an Max' Seite sitzend, mehrmals den Überstehmann gelesen. Das dauerte jeweils nur wenige Minuten. Sie versuchte es auch mit dem Schulterzucken und sogar mit dem Handbuch für Totengräber, aber nichts davon schien geeignet zu sein. Ich brauche etwas Neues, dachte sie.
»Hast du denn das letzte Buch überhaupt gelesen?«
»Natürlich habe ich das.«
Rudi warf einen Stein ins Wasser. »War es gut?«
»Natürlich war es das.«
»Natürlich habe ich das, natürlich war es das«, äffte er sie nach. Er versuchte, einen neuen Stein aus dem Boden zu graben, schnitt sich dabei aber in den Finger.
»Das wird dir hoffentlich eine Lehre sein.«
»Saumensch.«
Wenn das letzte Wort, das jemand zu erwidern hat, »Saumensch« oder »Saukerl« ist, weiß man, dass man gewonnen hat.
Die Bedingungen für einen Diebeszug waren perfekt. Es war ein trüber Nachmittag Anfang März und nur ein paar Grad über dem Gefrierpunkt - irgendwie unangenehmer als zehn Grad minus. Nur wenige Leute waren unterwegs. Regen wie Bleistiftspäne.
»Machen wir's?«
»Wir nehmen die Räder«, sagte Rudi. »Du kannst eins von uns haben.«
Rudi bestand darauf, dass diesmal er es war, der einstieg. »Heute bin ich dran«, sagte er, während seine Finger am Lenker festfroren.
Liesel dachte schnell nach. »Vielleicht besser nicht, Rudi. Da steht überall Zeug herum. Und es ist dunkel. Ein Depp wie du fällt bestimmt über irgendwas oder wirft etwas um.«
»Herzlichen Dank.« Rudi ließ sich nicht beirren.
»Und dann musst du springen. Es ist tiefer, als man denkt.«
»Glaubst du vielleicht, ich könnte das nicht?«
Liesel stellte sich in den Pedalen auf. »Nein, ganz und gar nicht.«
Sie überquerten die Brücke und schlängelten sich den Hügel zur Großen Straße hinauf. Das Fenster stand offen.
Wie beim letzten Mal nahmen sie das Haus genau unter die Lupe. Sie konnten ein wenig ins Innere sehen, dort wo im Erdgeschoss ein Licht brannte, wahrscheinlich in der Küche. Ein Schatten bewegte sich hin und her.
»Wir fahren ein paar Mal um den Block«, sagte Rudi. »Wie gut, dass wir die Fahrräder mitgenommen haben.«
»Pass bloß auf, dass du daran denkst, deins wieder mit heimzunehmen.«
»Sehr witzig, Saumensch. Immerhin ist es ein bisschen größer als deine verdreckten Schuhe.«
Sie fuhren etwa eine Viertelstunde lang hin und her. Immer noch befand sich die Frau des Bürgermeisters im Erdgeschoss, ein bisschen zu nah an der Bibliothek, als dass sie es gewagt hätten einzusteigen. Es war beinahe unverschämt, mit welcher Ausdauer sie sich in der Küche aufhielt. Rudi betrachtete die Küche als eigentliches Ziel. Er wäre hineingegangen, hätte so viele Lebensmittel eingepackt, wie er tragen konnte, und dann - und nur dann - hätte er sich, wenn er noch Zeit gehabt hätte, auf dem Weg nach draußen irgendein Buch in den Hosenbund gestopft.
Aber Rudis Schwäche war seine Ungeduld. »Es wird spät«, sagte er und wollte wegfahren. »Kommst du?«
Liesel kam nicht.
Es gab nichts, worüber sie nachdenken musste. Sie hatte sich mit diesem rostigen Fahrrad der ganzen Hügel hinaufgeschleppt, und sie würde nicht ohne ein Buch gehen. Sie legte den Lenker in den Rinnstein, schaute sich nach den Nachbarhäusern um und ging dann zum Fenster. Sie ging zügig, aber ohne Eile. Sie zog die Schuhe aus, wobei sie mit der Fußspitze den jeweils anderen Absatz nach unten trat.
Ihre Finger umschlossen das Holz, und sie schob sich ins Haus.
Diesmal fühlte sie sich ruhiger, wenn auch nur ein wenig. In nur wenigen kostbaren Momenten huschte sie durch das Zimmer und hielt nach einem Titel Ausschau, der sie fesselte. Drei oder vier Mal hätte sie beinahe zugegriffen. Sie überlegte sogar, ob sie mehr als ein Buch mitnehmen sollte, aber sie wollte ihr System nicht durchbrechen. Im Augenblick war nur ein Buch nötig. Sie betrachtete die Regale und wartete.
Mehr Dunkelheit kam durch das Fenster hinter ihr geklettert. Der Geruch nach Staub und Diebstahl hing im Hintergrund, und dann sah sie es.
Das Buch war rot und hatte auf dem Rücken eine schwarze Schrift. Der Traumträger. Sie dachte an Max Vandenburg und an seine Träume. Von Schuld. Überleben. Verlassen. Kämpfen. Sie dachte auch an ihre eigenen Träume - von ihrem Bruder, tot im Zug -, und sie dachte an sein Auftauchen auf den Stufen dieses Hauses. Die Bücherdiebin sah sein blutiges Knie. Er war gefallen, weil sie ihn gestoßen hatte.
Sie zog das Buch aus dem Regal, steckte es sich unter den Arm, kletterte auf den Fenstersims und sprang hinunter, alles mit einer einzigen, fließenden Bewegung.
Rudi hatte ihre Schuhe. Er hielt ihr Fahrrad bereit. Sie zog die Schuhe an, und sie fuhren los.
»Jesus, Maria und Josef, Meminger.« Er hatte sie noch nie Meminger genannt. »Du hast einen Knall. Weißt du das?«
Liesel nickte, während sie wie wahnsinnig in die Pedale trat. »Ich weiß.«
Auf der Brücke fasste Rudi die Ereignisse des Nachmittags in wenigen Worten zusammen. »Diese Leute sind entweder völlig verrückt«, sagte er, »oder sie können nicht genug Frischluft kriegen.«
EINE ALTERNATIVE
Oder vielleicht gab es da eine Frau in der Großen Straße, die das Fenster der Bibliothek aus einem anderen Grund offen ließ. Aber das ist nur meine persönliche zynische - oder hoffnungsvolle - Meinung. Oder beides.
Liesel kam heim, legte den Traumträger neben ihre Jacke und fing sofort an zu lesen. Sie setzte sich auf den Holzstuhl neben ihrem Bett, öffnete das Buch und flüsterte: »Es ist ein neues Buch,
Max. Nur für dich.« Sie fing an: »Kapitel 1. Es war nur recht, dass die ganze Stadt schlief, als der Traumträger geboren wurde ...«
Jeden Tag las Liesel zwei Kapitel aus dem Buch vor. Am Morgen, bevor sie zur Schule ging, und sobald sie wieder nach Hause kam. Manchmal konnte sie nachts nicht schlafen und las noch die Hälfte eines dritten Kapitels. Manchmal schlief sie dabei ein, sackte nach vorn auf die Bettkante.
Sie hatte eine Mission.
Sie schenkte Max das Buch, als ob allein die Worte ihn ernähren könnten. An einem Dienstag glaubte sie, eine Bewegung wahrzunehmen. Sie hätte schwören können, dass sich seine Augen geöffnet hätten. Wenn es so war, war es eine Sache von Sekunden. Aber die Wahrscheinlichkeit war groß, dass es sich nur um Wunschdenken und Einbildung handelte.
Mitte März zeigten sich erste Risse.
Rosa Hubermann, die Frau, die eine Krise meistern konnte, war eines Nachmittags in der Küche einem Zusammenbruch nahe. Sie hob ihre Stimme und senkte sie dann schnell wieder. Liesel hörte auf zu lesen und schlich sich leise in den Flur. Obwohl sie ganz nah vor der Küche stand, konnte sie die Worte ihrer Mama kaum verstehen. Dann wünschte sie sich, sie hätte sie tatsächlich nicht verstanden, denn was sie hörte, war schrecklich. Es war die Wirklichkeit.
DER INHALT VON MAMAS STIMME
»Was, wenn er nicht mehr aufwacht? Was, wenn er hier stirbt, Hansi? Sag's mir. Was in Gottes Namen sollen wir mit der Leiche machen? Wir können ihn nicht hierlassen. Der Gestank bringt uns um. Und wir können ihn nicht hinaustragen und durch die Straße schleppen. Wir können nicht einfach sagen: Ihr werdet nie erraten, was wir heute Morgen in unserem Keller gefunden haben. Die holen uns weg.«
Sie hatte völlig recht.
Eine jüdische Leiche war ein großes Problem. Die Hubermanns mussten Max wiederbeleben, nicht nur um seinetwillen, sondern auch um ihretwillen. Selbst Papa, der stets ruhig blieb, fühlte die Anspannung.
»Hör zu.« Seine Stimme war leise, aber schwer. »Wenn es passiert - wenn er stirbt -, dann müssen wir einfach einen Weg finden.« Liesel glaubte, ihn schlucken zu hören. Ein Würgen, als hätte er einen Schlag gegen die Luftröhre bekommen. »Mein Karren. Ein paar Lumpen ...«
Liesel kam in die Küche.
»Nicht jetzt, Liesel.« Es war Papa, der das sagte, wobei er sie nicht anschaute. Er betrachtete sein verformtes Gesicht in der Rückseite eines Löffels. Seine Ellbogen bohrten sich in die Tischplatte.
Die Bücherdiebin trat nicht den Rückzug an. Sie machte ein paar Schritte nach vorn und setzte sich hin. Ihre kalten Hände tasteten nach ihren Ärmeln, und sie ließ einen Satz aus ihrem Mund fallen. »Noch ist er nicht tot.« Die Worte landeten auf dem Tisch und schoben sich in die Mitte. Alle drei schauten sie an. Leise Hoffnung, die nicht höher zu steigen wagte. Noch ist er nicht tot. Noch ist er nicht tot.
Rosa sprach als Nächste.
»Wer hat Hunger?«
Die einzige Zeit, in der Max' Krankheit nicht schmerzte, war während des Essens. Diese Tatsache ließ sich nicht leugnen, am allerwenigsten, wenn die drei am Küchentisch saßen, mit einer Extraportion Brot, Suppe oder Kartoffeln. Sie alle dachten es, aber keiner sprach es aus.
In der Nacht, nur wenige Stunden später, wachte Liesel auf und wunderte sich, wieso ihr Herz im Himmel hing. (Diesen Ausdruck hatte sie aus dem Traumträger gelernt, der das vollkommene Gegenteil des Pfeifers war - es ging um einen verlassenen Jungen, der Priester werden wollte.) Liesel setzte sich auf und saugte tief die Nachtluft ein.
»Liesel?« Papa drehte sich um. »Was ist los?«
»Nichts, Papa. Alles in Ordnung.« Doch in dem Moment, in dem sie den Satz aussprach, sah sie vor sich, was in ihrem Traum geschehen war.
EIN KLEINES BILD
Das meiste ist so wie immer. Der Zug fahrt mit derselben Geschwindigkeit. Ihr Bruder hustet ausgiebig. Diesmal allerdings kann Liesel sein zu Boden gerichtetes Gesicht nicht sehen. Langsam beugt sie sich vor. Ihre Hände heben sanft sein Kinn, und da, vor ihr, ist das großäugige Gesicht von Max Vandenburg. Er starrt sie an. Eine Feder fällt zu Boden. Der Körper ist jetzt größer, passend zum Umfang des Gesichts. Der Zug kreischt.
»Liesel?«
»Ich sagte, alles in Ordnung.«
Zitternd kletterte sie von der Matratze. Benommen vor Angst, ging sie durch den Flur zu Max. Nach ein paar Minuten an seiner Seite, als sich alles wieder etwas beruhigt hatte, versuchte sie, den Traum zu deuten. War es eine Vorahnung von Max' Tod? Oder war es nur die Folge des Gesprächs in der Küche? Nahm Max jetzt die Stelle ihres Bruders ein? Und wenn es so war, wie konnte sie sich dann solcherart ihres eigenen Fleisches und Blutes entledigen? Vielleicht hegte sie tief in ihrem Innern den Wunsch, dass Max sterben möge. Immerhin war der Tod gut genug für ihren Bruder gewesen. Warum also nicht auch für einen Juden?
»Denkst du das wirklich?«, wisperte sie über das Bett gebeugt. »Nein.« Sie konnte es nicht glauben. Ihre Antwort hielt stand, während die Taubheit der Nacht wich und die verschiedenen Formen - groß und klein - auf dem Nachttisch sichtbar wurden. Die Geschenke.
»Wach auf«, sagte sie.
Max wachte nicht auf.
Es dauerte noch weitere acht Tage.
In der Schule knirschten Knöchel an der Tür.
»Herein«, sagte Frau Olendrich.
Die Tür öffnete sich, und ein ganzes Klassenzimmer voller Kinder schaute voller Überraschung auf Rosa Hubermann, die im Türrahmen stand. Einige keuchten bei dem Anblick auf - ein Kleiderschrank von einer Frau mit einem Hohnlächeln aus Lippenstift und ätzenden Augen. Sie. War eine Legende. Sie trug ihre besten Kleider, aber ihre Haare waren gelöst und völlig durcheinander. Und sie sahen tatsächlich aus wie ein Tuch aus elastischen grauen Strähnen.
Die Lehrerin fürchtete sich ganz offensichtlich. »Frau Hubermann...« Ihre Bewegungen rutschten durcheinander. Suchend blickte sie in die Runde. »Liesel?«
Liesel schaute Rudi an, stand auf und ging, so schnell sie konnte, zur Tür, um der Peinlichkeil baldmöglichst ein Ende zu bereiten. Die Tür schloss sich hinter ihr, und jetzt war sie allein im Flur, mit Rosa.
Rosa schaute zur Seite.
»Was ist los, Mama?«
Rosa drehte sich um. »Tu bloß nicht so unschuldig, du Saumensch!« Liesel fühlte sich von der Geschwindigkeit der Worte wie aufgespießt. »Meine Bürste!« Ein Lachen tröpfelte unter der Tür hindurch, zog sich jedoch umgehend zurück.
»Mama?«
Ihr Gesicht war ernst und froh zugleich. »Was zum Teufel hast du mit meiner Bürste angestellt, Saumensch, dreckiges? Ich habe dir schon hundert Mal gesagt, dass du deine Finger davon lassen sollst. Gehorchst du etwa? Nein, natürlich nicht!«
Die Tirade ging noch etwa eine Minute so weiter, während Liesel verzweifelt einen oder zwei Vorschläge einwarf, wo sich die gesuchte Bürste befinden konnte. Alles endete unvermittelt, als Rosa Liesel an sich zog, nur für ein paar Sekunden. Ihr Flüstern war kaum hörbar, obwohl sie so nah beieinander standen. »Du hast mir doch gesagt, ich soll dich anschreien. Du hast gesagt, dass dann keiner Verdacht schöpfen würde.« Sie schaute nach rechts und nach links. Ihre Stimme war so dünn wie Nadel und Faden. »Er ist aufgewacht, Liesel. Er ist wach.« Aus ihrer Tasche zog sie den Zinnsoldaten mit der zerkratzten Haut. »Er sagte, ich soll dir das hier geben. Das Geschenk hat er am liebsten.« Sie gab es Liesel, hielt ihre Arme fest und lächelte. Ehe Liesel noch antworten konnte, hob Rosa wieder ihre Stimme. »Na? Antworte mir! Hast du noch eine Idee, wo du die Bürste liegen gelassen haben könntest?«
Er lebt, dachte Liesel. »Nein, Mama... tut mir leid, Mama. Ich ...«
»Du bist aber auch zu gar nichts zu gebrauchen.« Sie ließ Liesel los, nickte und ging davon.
Ein paar Augenblicke blieb Liesel einfach stehen. Der Flur war riesig. Sie betrachtete den Zinnsoldaten in ihrer Handfläche. Instinktiv wollte sie sofort nach Hause rennen, aber die Vernunft gestattete es nicht. Stattdessen steckte sie den zerschundenen Soldaten in ihre Tasche und kehrte ins Klassenzimmer zurück.
Alle warteten.
»Dumme Kuh«, sagte sie leise.
Wieder lachten alle. Außer Frau Olendrich. »Was hast du gesagt?«
Liesel war so gut gelaunt, dass sie sich unangreifbar fühlte. »Ich sagte«, strahlte sie, »dumme Kuh.« Es dauerte keine halbe Sekunde, da klebte ihr die Hand der Lehrerin im Gesicht.
»Sprich gefälligst nicht so über deine Mutter«, sagte sie, aber ihre Handlung zeigte kaum Wirkung. Das Mädchen stand einfach nur da und versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken. Heute hätte sie hundert Watschen ertragen.
»Jetzt setz dich wieder auf deinen Platz.«
»Ja, Frau Olendrich.«
Neben ihr wagte Rudi zu sprechen.
»Jesus, Maria und Josef«, flüsterte er. »Ich kann ihre Hand auf deinem Gesicht sehen. Eine große, rote Hand. Fünf Finger.«
»Gut«, sagte Liesel, denn Max war am Leben.
Als sie an diesem Nachmittag nach Hause kam, saß er im Bett und hatte den schlaffen Fußball auf dem Schoß liegen. Sein Bart juckte, und seine schlammigen Augen hatten Mühe, offen zu bleiben. Neben den Geschenken stand eine leere Suppentasse.
Sie sagten nicht Hallo.
Sie fühlten sich durch eine unsichtbare Grenze getrennt.
Die Tür hatte geknarrt, als das Mädchen hereingekommen war und sich vor ihn hingestellt hatte. Nun schaute sie auf die Tasse. »Hat Mama dir die Suppe eingeflößt?«
Er nickte, zufrieden, müde. »Aber sie war sehr gut.«
»Mamas Suppe? Wirklich?«
Es war kein Lächeln, das er ihr schenkte. »Danke für die Geschenke.« Vielmehr ein schmaler Spalt in seinem Mund. »Danke für die Wolke. Dein Papa hat mir die Sache näher erklärt.«
Nach einer Stunde versuchte es Liesel mit der Wahrheit. »Wir wussten nicht, was wir hätten machen sollen, wenn du gestorben wärst, Max. Wir...«
Es dauerte nicht lange. »Du meinst, wie ihr mich losgeworden wärt?«
»Es tut mir leid.«
»Nein.« Er fühlte sich nicht beleidigt. »Ihr habt ja recht.« Mit schwachen Fingern spielte er mit dem Ball. »Ihr hattet recht, so zu denken. In eurer Situation ist ein toter Jude genauso gefährlich wie ein lebendiger, wenn nicht noch schlimmer.«
»Ich habe auch geträumt.« In allen Einzelheiten erzählte sie ihren Traum, wobei sie den Zinnsoldaten fest umklammert hielt. Sie wollte sich schon wieder entschuldigen, als Max sie unterbrach.
»Liesel.« Er bat sie, ihn anzuschauen. »Du darfst dich nie bei mir entschuldigen. Ich bin derjenige, der sich entschuldigen müsste.« Er zeigte auf die Dinge, die sie ihm gebracht hatte. »Schau dir das an. Diese Geschenke.« Er nahm den Knopf in die Hand. »Und Rosa sagt, du hast mir zwei Mal am Tag vorgelesen, manchmal sogar drei Mal.« Jetzt schaute er die Vorhänge an, als ob er durch sie hindurch nach draußen sehen könnte. Er setzte sich ein bisschen aufrechter hin und verstummte ein Dutzend lautloser Sätze lang. Beklommenheit schlich sich in sein Gesicht, und er legte ein Geständnis ab. »Liesel?« Er rückte leicht nach rechts. »Ich habe Angst«, sagte er. »Ich habe Angst, wieder einzuschlafen.«
Liesel fasste einen Entschluss. »Dann lese ich dir vor. Und ich gebe dir eine Ohrfeige, wenn du anfängst einzudösen. Ich klappe das Buch zu und schüttele dich, bis du wieder wach bist.«
An diesem Nachmittag und bis in die Nacht hinein las Liesel Max Vandenburg vor. Er saß im Bett und absorbierte die Worte, diesmal im Wachzustand, bis kurz nach zehn Uhr. Als Liesel mit dem Traumträger eine kurze Pause machte, schaute sie über den Buchrand und sah, dass Max eingeschlafen war. Ängstlich stupste sie ihn an. Er wachte auf.
Noch drei Mal schlief er ein. Zwei Mal weckte sie ihn.
In den nächsten vier Tagen wachte er jeden Morgen in Liesels Bett auf, dann neben dem Kamin und schließlich, Mitte April, im Keller. Seine Gesundheit hatte sich verbessert, der Bart war weg, und er hatte wieder etwas mehr Fleisch auf den Rippen.
In der Himmelstraße 33 herrschte große Erleichterung. Draußen begann die Situation unsicher zu werden. Ende März wurde Lübeck von einem Bombenhagel getroffen. Als Nächste; war Köln an der Reihe und schon bald viele andere deutsche Städte, auch München.
Ja, mein Vorgesetzter schaute mir über die Schulter.
Erledige dies, erledige das.
Die Bomben kamen - und ich mit ihnen.
das tagebuch des todes: köln
Die gefallenen Stunden des 30. Mai.
Ich bin sicher, dass Liesel Meminger tief und fest schlief, als mehr als tausend Bomber auf Köln zuflogen. Für mich waren etwa fünfhundert Menschen das Ergebnis. Fünfzigtausend weitere taumelten obdachlos durch die geisterhaften Schutthaufen, versuchten herauszufinden, wo welche Straße gewesen war und wem welche zersplitterte Häuserruine gehört hatte.
Fünfhundert Seelen.
Ich trug sie wie Koffer, warf sie mir über die Schulter. Lediglich die Kinder nahm ich in die Arme.
Als ich schließlich fertig war, färbte sich der Himmel gelb, wie brennende Zeitungen. Wenn ich genau hinsah, konnte ich Worte erkennen, Überschriften, Kommentare über den Fortgang des Krieges. Wie gerne hätte ich das alles niedergerissen, hätte den zeitungsgelben Himmel zusammengeknüllt und weggeworfen. Meine Arme schmerzten, und ich konnte es mir nicht leisten, mir die Finger zu verbrennen. Ich hatte noch so viel zu tun.
Wie man erwarten konnte, starben etliche Menschen sofort. Bei anderen dauerte es länger. Es gab viele Orte, die ich aufsuchen musste, viele Himmel, die ich betrachtete, viele Seelen, die ich einsammelte, und als ich später nach Köln zurückkehrte, nicht lange nachdem die letzten Bomber davongeflogen waren, sah ich etwas Außergewöhnliches.
Ich trug die verkohlte Seele einer jungen Frau, als ich mit ernstem Blick in einen jetzt sulfurfarbenen Himmel hinaufschaute. Eine Gruppe von etwa zehnjährigen Mädchen hielt sich in der Nähe auf. Eines davon rief etwas.
»Was ist das?«
Ein Arm streckte sich aus, und ein Finger deutete auf den schwarzen Gegenstand, der langsam aus dem Himmel fiel. Er sah aus wie eine schwarze Feder, beschwingt, schwebend. Oder ein Stück Asche. Dann wurde er größer. Dasselbe Mädchen - ein Rotschopf mit Sommersprossen - fragte noch einmal, diesmal drängender: »Was ist das?«
»Eine Leiche«, meinte ein anderes Mädchen. Schwarze Haare, Rattenschwänze und Hohlkreuz.
»Noch eine Bombe!«
Für eine Bombe war es zu langsam.
Mit dem jugendlichen Geist, der immer noch schwach in meinen Armen glomm, ging ich gemeinsam mit den anderen ein paar hundert Meter weiter. Wie die Mädchen hielt ich den Blick unverwandt in den Himmel gerichtet. Das Letzte, was ich wollte, war, in das gestrandete Gesicht meiner Last zu schauen. Eine hübsche Frau. Ihr ganzer Tod lag nun vor ihr.
Wie die anderen schreckte auch ich zurück, als eine Stimme nach vorn stürmte. Es war ein verärgerter Vater, der seine Kinder zu sich rief. Der Rotschopf drehte sich um. Ihre Sommersprossen verlängerten sich zu Kommas. »Papa, schau doch mal!«
Der Mann machte ein paar kleine Schritte und fand schnell die Lösung des Rätsels. »Es ist der Treibstoff«, sagte er.
»Was meinst du damit?«
»Der Treibstoff«, wiederholte er. »Der Tank.« Er war ein kahlköpfiger Mann in einem aus dem Schlaf geschreckten Pyjama. »Sie haben den leeren Tank abgeworfen. Schau, da ist noch einer.«
»Und da!«
Wie Kinder so sind, suchten sie jetzt alle eifrig den Himmel ab und schauten, ob sie einen weiteren Treibstofftank zu Boden schweben sehen konnten.
Der erste landete mit einem hohlen Aufprall.
»Können wir ihn behalten, Papa?«
»Nein.« Er war ausgebombt und geschockt, dieser Papa, und nicht in der Stimmung für fröhliche Spielchen. »Wir können ihn nicht behalten.«
»Warum nicht?«
»Ich gehe und frage meinen Papa, ob ich ihn behalten kann«, sagte ein anderes Mädchen. »Ich auch.«
In den Trümmern von Köln sammelte eine Horde Kinder leere Treibstofftanks auf, die der Feind abgeworfen hatte. Ich sammelte wie so oft Seelen ein. Ich war müde. Und das Jahr war noch nicht einmal zur Hälfte vorbei.
der besucher
In der Himmelstraße war ein neuer Fußball gefunden worden. Das war die gute Neuigkeit. Beunruhigender war, dass eine Einheit der NSDAP auf sie zukam.
Die Männer waren durch alle Straßen Molchings gelaufen, an allen Häusern vorbei, und jetzt standen sie vor Frau Lindners Eckladen und rauchten eine Zigarette, bevor sie mit ihrer Arbeit fortfuhren.
Es gab bereits vereinzelte Luftschutzräume in Molching, aber kurz nach der Bombardierung von Köln hatte man überlegt, dass ein paar mehr nicht schaden konnten. Die NSDAP besuchte jedes einzelne Haus, um nachzuschauen, ob der Keller geeignet war.
Aus der Ferne schauten die Kinder zu.
Sie sahen Rauch aus der Meute aufsteigen.
Liesel war gerade erst herausgekommen und ging nun zu Rudi und Tommi. Harald Mollenhauer tänzelte mit dem Ball.
»Was ist hier los?«
Rudi steckte die Hände in die Taschen. »Die Partei.« Er schaute zu, wie sein Freund mitsamt dem Ball in der Hecke von Frau Holzinger verschwand. »Sie überprüfen alle Häuser.«
Trockenheit breitete sich in Liesels Mund aus. »Warum?«
»Hast du denn von nichts eine Ahnung? Sag's ihr, Tommi.«
Tommi war perplex. »Na, ich weiß es doch auch nicht.«
»Ihr seid mir ja zwei Versager! Sie brauchen mehr Luftschutzräume.«
»Was - Keller?«
»Nein, Dachböden. Natürlich Keller! Herrgott, Liesel, du bist ja wirklich schwer von Begriff.«
Der Ball war wieder da.
»Rudi!«
Er nahm ihn an und dribbelte, während Liesel stehen blieb. Wie konnte sie wieder ins Haus kommen, ohne sich verdächtig zu machen? Der Rauch vor Frau Lindners Laden löste sich auf und die kleine Gruppe von Männern ebenso. Panik griff in vertrauter Weise um sich. Kehle und Mund. Luft wurde zu Sand. Denk nach, dachte sie. Mach schon, Liesel, denk nach, denk nach.
Rudi schoss ein Tor.
Stimmen aus weiter Ferne jubelten.
Denk nach, Liesel.
Dann hatte sie es.
Das ist es, dachte sie. Aber es muss echt aussehen.
Die Nazis näherten sich und malten an einige Türen die Buchstaben
LSR Luftschutzraum
Der Junge drehte sich mit dem Ball herum, gerade als Liesel ihn erreichte, und sie stießen mit solcher Wucht zusammen, dass das Spiel unterbrochen wurde. Der Ball rollte davon, und Spieler liefen herbei. Liesel hielt sich mit einer Hand ihr aufgeschürftes Knie und mit der anderen ihren Kopf. Klaus Behrig hielt sich lediglich das rechte Schienbein und schnitt eine Grimasse. Er fluchte. »Wo ist sie?«, stieß er hervor. »Ich bring sie um.«
Aber dazu kam es nicht.
Es kam schlimmer.
Ein freundliches Parteimitglied hatte den Vorfall mit angesehen und kam pflichteifrig herbeigetrabt. »Was ist hier passiert?«, fragte er.
»Das ist eine Irre!«, erklärte Klaus und deutete auf Liesel, woraufhin der Mann ihr aufhalf. Sein Tabakatem bildete einen geräucherten Hügel vor ihrem Gesicht.
»Ich glaube nicht, dass du in diesem Zustand weiterspielen kannst, Mädchen«, sagte er. »Wo wohnst du?«
»Mir geht's gut!«, antwortete sie. »Wirklich, ich schaffe das schon allein.« Lass mich in Ruhe, lass mich bloß in Ruhe!
In diesem Moment trat Rudi vor, der ewige Vortreter. »Ich bring dich nach Hause«, sagte er. Warum konnte er sich nicht wenigstens dieses eine Mal um seine eigenen Angelegenheiten kümmern?
»Wirklich«, sagte Liesel, »spiel ruhig weiter, Rudi. Ich schaffe das schon.«
»Nein, nein.« Er ließ sich nicht beirren. Diese Sturheit! »Es dauert doch nur zwei, drei Minuten.«
Wieder musste sie nachdenken, und wieder konnte sie es. Als Rudi sie stützen wollte, ließ sie sich erneut zu Boden fallen, diesmal auf den Rücken. »Mein Papa«, krächzte sie. Der Himmel, so sah sie, war gänzlich blau. Nicht einmal der Hauch einer Wolke. »Holst du bitte meinen Papa, Rudi?«
»Bleib hier.« Seine Stimme erklang rechts von ihr. »Tommi, pass auf sie auf, ja? Sorg dafür, dass sie sich nicht bewegt.«
Tommi stand stramm. »Klar, Rudi.« Er stand über ihr, zuckend und verzweifelt bemüht, nichl zu lächeln. Liesel behielt den Nazi im Auge.
Eine Minute später stand Hans Hubermann über ihr. Er war die Ruhe selbst.
»Papa.«
Ein trauriges Lächeln bemächtigte sich seiner Lippen. »Na, das musste ja eines Tages passieren.«
Er hob sie auf und brachte sie nach Hause. Das Spiel ging weiter, und der Nazi hatte schon die Tür einige wenige Häuser weiter erreicht. Niemand öffnete. Rudi rief ihnen nach.
»Brauchen Sie Hilfe, Herr Hubermann?«
»Nein, nein, spielen Sie nur weiter, Herr Steiner.« Herr Steiner. Man musste Liesels Papa einfach lieben.
Sie waren kaum im Haus, da informierte ihn Liesel über die Gefahr. Sie versuchte, den Mittelweg zwischen Schweigen und Verzweiflung zu finden. »Papa.«
»Nicht sprechen.«
»Die Partei«, flüsterte sie. Papa blieb stehen. Er unterdrückte das Verlangen, die Tür zu öffnen und auf die Straße zu schauen. »Sie schauen sich die Keller an, wegen der Luftschutzräume.«
Er setzte sie ab. »Kluges Mädchen«, sagte er und rief dann nach Rosa.
Ihnen blieb eine Minute, um einen Plan zu entwickeln. Eine Keilerei um Gedanken. »Wir bringen ihn einfach in Liesels Zimmer«, war Mamas Vorschlag. »Unters Bett.« »Und dann? Was, wenn sie auch unsere Zimmer durchsuchen?« »Hast du eine bessere Idee?«
Ich muss mich korrigieren: Ihnen blieb nicht einmal mehr eine Minute.
Ein siebenteiliges Klopfen wurde gegen die Tür der Himmelstraße 33 gehämmert. Es war zu spät, um irgendjemanden irgendwohin zu bringen.
Die Stimme.
»Aufmachen!«
Ihre Herzschläge kämpften gegen sich selbst, ein Durcheinander aus Rhythmen. Liesel versuchte, ihr Herz herunterzuschlucken. Es schmeckte nicht fröhlich.
Rosa flüsterte: »Jesus, Maria ...«
An diesem Tag war es Papa, der sich zu ungeahnter Größe aufschwang. Er eilte zur Kellertür und warf eine Warnung die Treppe hinunter. Als er wiederkam, sprach er schnell und ohne Stocken. »Hört zu. Wir haben keine Zeit für irgendwelche Tricks. Wir könnten ihn auf hundert verschiedene Arten ablenken, aber es gibt nur eine einzige Möglichkeit.« Er warf einen Blick auf die Tür und sagte: »Wir tun nichts.«
Das war nicht die Antwort, die Rosa hören wollte. Ihre Augen weiteten sich. »Nichts? Bist du verrückt?«
Das Klopfen ging weiter.
Papa blieb hart. »Nichts. Wir gehen nicht einmal mit nach unten - als ob es uns überhaupt nicht kümmert.«
Alles passierte in Zeitlupe.
Rosa nahm den Vorschlag an.
Verkrampft vor Angst, schüttelte sie den Kopf und ging, um die Tür zu öffnen. »Liesel.« Papas Stimme schnitt sie in Stücke. »Bleib einfach nur ruhig, verstehst du?« »Ja, Papa.«
Sie versuchte, sich auf ihr blutendes Knie zu konzentrieren.
»Aha!«
Rosa fragte gerade nach dem Grund des Eindringens, als der freundliche Nazi Liesel bemerkte.
»Die irre Fußballspielerin!« Er grinste. »Wie geht's dem Knie?« Man stellt sich Nazis normalerweise nicht vergnügt vor, aber dieser war es. Er kam herein und tat so, als ob er sich niederkauern und die Wunde begutachten wollte.
Weiß er Bescheid?, fragte sich Liesel. Kann er riechen, dass wir einen Juden verstecken?
Papa kam mit einem feuchten Tuch von der Spüle und hielt es auf Liesels Knie. »Brennt es sehr?« Seine silbrigen Augen waren fürsorglich und ruhig. Die Angst darin konnte leicht als Sorge um die Verletzung missverstanden werden.
Rosa rief quer durch die Küche: »Es kann gar nicht genug brennen. Vielleicht wird ihr das eine Lehre sein.«
Der Nazi stand auf und lachte. »Ich glaube nicht, dass dieses Mädchen da draußen irgendetwas lernt, Frau ...«
»Hubermann«, entgegnete das Pappegesicht.
»Frau Hubermann - ich glaube, dass sie es ist, die anderen eine Lehre erteilt.« Er reichte Liesel ein Lächeln. »Und zwar den Jungs da draußen. Habe ich recht junge Dame?«
Papa schob das Tuch über die Schürfwunde, und Liesel wimmerte, statt zu antworten. Es war Hans, der etwas sagte: »Entschuldige.« Leise, zu dem Mädchen.
Dann folgte die Ungemütlichkeit des Schweigens, und der Nazi erinnerte sich an den Grund seines Kommens. »Wenn Sie nichts dagegen haben«, erklärte er, »dann würde ich mir gerne Ihren Keller ansehen, nur für ein, zwei Minuten, um zu überprüfen, ob er als Luftschutzraum geeignet ist.«
Papa tupfte Liesels Knie noch einmal ab. »Das ist ein ziemlicher Kratzer, Liesel.« Beiläufig wandte er sich an den Mann über ihm. »Aber sicher. Die erste Tür rechts. Bitte entschuldigen Sie die Unordnung.«
»Machen Sie sich keine Sorgen - schlimmer als das, was ich heute schon zu sehen bekommen habe, kann es kaum sein. - Diese Tür?«
»Richtig.«
DIE LÄNGSTEN DREI MINUTEN, DIE FAMILIE HUBERMANN JE ERLEBTE
Papa saß am Tisch. Rosa betete in der Ecke, stumm. Liesel kochte: ihr Knie, ihre Brust, die Muskeln in ihren Armen. Ich glaube nicht, dass einer von ihnen die Dreistigkeit besaß, darüber nachzudenken, was sie tun würden, wenn ihr Keller zu einem Luftschutzraum ernannt werden würde. Zunächst einmal mussten sie die Prüfung überstehen.
Sie lauschten auf die Nazi-Schritte im Keller. Das Geräusch eines Maßbandes war zu hören, das an der Wand entlangschabte. Liesel konnte den Gedanken an Max nicht loswerden, wie er hinter den Stufen saß, um sein Skizzenbuch gerollt, das er eng an die Brust drückte.
Papa stand auf. Noch eine Idee.
Er ging in den Flur und rief: »Alles in Ordnung da unten?«
Die Antwort stieg die Stufen empor, über Max Vandenburg hinweg. »Ich brauche noch etwa eine Minute.«
»Möchten Sie einen Kaffee trinken, oder vielleicht einen Tee?« »Nein danke.«
Als Papa wiederkam, befahl er Liesel, sich ein Buch zu holen, und Rosa, mit dem Kochen anzufangen. Er entschied, dass herumsitzen und besorgt aussehen das Letzte war, was sie tun sollten. »Na, macht schon«, sagte er laut, »beweg dich, Liesel. Es ist mir egal, ob dein Knie wehtut. Du musst dieses Buch zu Ende lesen, wie du gesagt hast.«
Liesel versuchte, nicht zusammenzubrechen. »Ja, Papa.«
»Worauf wartest du dann noch?« Er musste sich anstrengen, ihr zuzuzwinkern, und sie merkte es.
Im Flur stieß sie fast mit dem Nazi zusammen.
»Hast du Ärger mit deinem Papa? Mach dir nichts draus. Ich bin genauso, wenn es um meine Kinder geht.«
Sie gingen ihrer Wege, und als Liesel ihr Zimmer erreicht hatte, schloss sie die Tür und fiel auf die Knie, trotz des stechenden Schmerzes. Sie hörte zunächst das Urteil, dass der Keller zu niedrig sei, und dann die Verabschiedung, die teilweise auch ihr galt: »Auf Wiedersehen, du irre Fußballspielerin!«
Sie riss sich zusammen. »Auf Wiedersehen!«
Der Traumträgerköchelle in ihren Händen.
Papa behauptete später, dass Rosa neben dem Herd dahingeschmolzen sei, sobald der Nazi gegangen war. Sie sammelten Liesel ein und gingen gemeinsam in den Keller, wo sie die strategisch günstig positionierten Lumpen und Farbeimer beiseiteräumten. Max Vandenburg saß unter den Stufen und hielt seine rostige Schere in der Hand wie ein Messer. Seine Achseln waren durchnässt, und die Worte platzten wie Wunden aus seinem Mund.
»Ich hätte sie nicht benutzt«, sagte er leise. »Ich ...« Er presste die rostige Schneide flach gegen die Stirn. »Es tut mir so leid, dass Sie das meinetwegen durchmachen müssen.«
Papa zündete sich eine Zigarette an. Rosa nahm die Schere.
»Sie sind am Leben«, sagte er.
der schmunzler
Minuten später klopfte es erneut an die Haustür. »Herrgott, noch einer!« Unvermittelt kam die Angst zurück. Max wurde wieder versteckt.
Rosa stapfte die Kellertreppe hinauf, aber als sie die Tür öffnete, stand diesmal kein Nazi vor dem Haus. Es war niemand anderes als Rudi Steiner. Er stand da, mit gelben Haaren und besten Absichten. »Ich wollte nur fragen, wie es Liesel geht.«
Als sie die Stimme hörte, ging Liesel ebenfalls hinauf. »Das übernehme ich.«
»Ihr Liebster«, bemerkte Papa zu den Farbeimern. Er blies einen Mundvoll Rauch aus.
»Er ist nicht mein Liebster«, gab Liesel zurück, aber sie war nicht wütend. Es war unmöglich Wut zu empfinden, nachdem sie gerade so knapp einer Katastrophe entkommen waren. »Ich gehe nur hoch, weil Mama sonst gleich anfängt zu schreien.«
»Liesel!«
Sie war auf der fünften Stufe. »Siehst du?«
An der Tür trat Rudi von einem Fuß auf den anderen. »Ich wollte nur mal sehen ...« Er verstummte. »Was ist denn das für ein Geruch?« Er schnüffelte. »Hast du geraucht?«
»Oh. Ich habe nur neben Papa gesessen.«
»Hast du Zigaretten? Vielleicht können wir welche verkaufen.«
Liesel war für solcherlei nicht in Stimmung. Sie sprach so leise, dass Mama es nicht hören konnte. »Ich bestehle meinen Papa nicht.«
»Aber andere Leute bestiehlst du.«
»Rede noch ein bisschen lauter, damit jeder es hört.«
Rudi schmunzelte. »Siehst du, wohin dich das Stehlen bringt? Man kriegt Angst.« »Als ob du noch nie was gestohlen hättest.«
»Aber du stinkst förmlich danach.« Rudi kam jetzt richtig in Fahrt. »Vielleicht ist das gar kein Zigarettenrauch.« Er beugte sich näher und lächelte. »Es ist der Verbrecher, den ich riechen kann. Du solltest mal ein Bad nehmen.« Er rief über die Schulter hinweg zu Tommi Müller: »Tommi, komm mal her, riech mal!«
»Was hast du gesagt?« Typisch Tommi. »Ich kann dich nicht hören.«
Rudi schüttelte seinen Kopf und schaute Liesel an. »Zwecklos.«
»Verschwinde, Saukerl, du bist der Letzte, den ich jetzt gebrauchen kann.« Dann schloss sie die Tür.
Sehr zufrieden mit sich selbst strolchte Rudi zurück auf die Straße. Am Briefkasten fiel ihm wieder ein, was er ursprünglich hier gewollt hatte. »He, Saumensch! Alles in Ordnung? Mit dem Knie, meine ich.«
Es war Juni. Es war Deutschland.
Die Dinge standen kurz vor dem Abgrund.
Liesel war sich dessen nicht bewusst. Alles, was für sie zählte, war die Tatsache, dass der Jude in ihrem Keller nicht entdeckt worden war. Ihren Pflegeeltern würde kein Leid geschehen, und sie selbst hatte viel dazu beigetragen, dies zu erreichen.
»Alles in Ordnung«, erwiderte sie, und sie meinte damit nicht irgendeine Schramme.
Ihr ging es gut.
das tagebuch des todes: die pariser juden
Der Sommer kam.
Im Leben der Bücherdiebin lief alles glatt.
In meinem Leben hatte der Himmel die Farbe von Juden.
Ihre Körper gaben die Suche nach Spalten in der Tür auf. Ihre Seelen erhoben sich. Ihre Fingernägel hatten sich in das Holz gekrallt, waren manchmal in der Kraft der Verzweiflung wie hineingenagelt. Dann kamen ihre Seelen zu mir, in meine Arme, und gemeinsam kletterten wir aus den »Duschen« hinauf aufs Dach und höher, in den sicheren Atem der Ewigkeit. Sie fütterten mich unentwegt. Minute um Minute. Eine Dusche nach der anderen.