»Worauf wartest du denn?«, rief Rudi vom Tor aus.

Liesel drehte sich um und schaute auf die Straße. Gab es eine Möglichkeit, irgendeine, um der Sache aus dem Weg zu gehen? Gab es irgendwo eine Geschichte - oder besser gesagt: eine Lüge -, die sie noch nicht in Erwägung gezogen hatte?

»Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Wieder Rudis Stimme, ein ganzes Stück von ihr entfernt. »Worauf zum Teufel wartest du?«

»Halt die Klappe, Steiner!« Es war ein Schrei, in ein Flüstern gehüllt.

»Was?«

»Ich sagte, halt die Klappe, du dämlicher Saukerl...«

Mit diesen Worten wandte sie sich wieder zur Tür, hob den Türklopfer an und schlug ihn langsam drei Mal gegen die Platte aus Messing. Auf der anderen Seite der Tür näherten sich Schritte.

Zunächst schaute sie die Frau nicht an, sondern behielt den Wäschesack in ihrer Hand im Blick. Sie betrachtete die Kordel, während sie ihn hinüberreichte. Sie nahm das Geld in Empfang und dann... nichts mehr. Die Frau des Bürgermeisters, die niemals sprach, stand einfach in ihrem Morgenmantel da. Ihr weiches Fusselhaar war zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein Luftzug machte sich bemerkbar. So sanft wie das letzte flache Atmen eines Toten. Immer noch kamen keine Worte, und als Liesel den Mut fand aufzuschauen, lag auf dem Gesicht der Frau kein Ausdruck von Vorwurf, sondern von vollkommener Teilnahmslosigkeit. Einen Augenblick lang schaute sie über Liesels Schulter hinweg zu dem Jungen hinüber, dann nickte sie und trat zurück, schloss die Tür.

Eine Zeit lang blieb Liesel noch stehen und betrachtete die aufrecht stehende Fläche aus blankem Holz.

»He, Saumensch!« Keine Antwort. »Liesel!«

Liesel zog sich zurück. Vorsichtig.

Während der ersten Schritte weg vom Haus dachte sie nach.

Vielleicht hatte die Frau ja doch nicht gesehen, wie sie das Buch gestohlen hatte. Es war schon dunkel gewesen. Vielleicht war es einer jener Momente gewesen, in denen es so aussah, als würde eine Person einen direkt anschauen, wenn sie stattdessen zufrieden etwas völlig anderes betrachtet oder einfach in den Tag hineinträumt. Wie auch immer die Antwort lauten mochte, Liesel unternahm keine weiteren Anstrengungen, ihr auf den Grund zu gehen. Sie war davongekommen, und das war genug.

Sie drehte sich um und stieg die Stufen mit normalen Schritten hinunter. Die letzten drei nahm sie mit einem einzigen Satz.

»Gehen wir, Saumensch!« Sie gestattete sich sogar ein Lachen. Die Paranoia einer Elfjährigen war mächtig. Die Erleichterung einer Elfjährigen war übermächtig.

EIN DÄMPFER FÜR DIE ERLEICHTERUNG

Sie war mitnichten davongekommen. Die Frau des Bürgermeisters hatte alles genau mit angesehen. Sie wartete nur auf den richtigen Zeitpunkt.

Ein paar Wochen vergingen.

Fußball auf der Himmelstraße.

Das Schulterzucken zwischen zwei und drei Uhr jeden Morgen, nach dem Albtraum, oder am Nachmittag im Keller.

Ein weiterer Gang zum Haus des Bürgermeisters - mit glücklichem Ausgang.

Alles war herrlich.

Bis.

Bei Liesels nächstem Besuch im Haus des Bürgermeisters, diesmal ohne Rudi, der richtige Zeitpunkt gekommen war. Es war ein Abholtag.

Die Frau des Bürgermeisters öffnete die Tür, und in ihrer Hand hielt sie nicht wie sonst den Wäschesack. Stattdessen trat sie zur Seite und bedeutete dem Mädchen mit ihrer kalkweißen Hand einzutreten.

»Ich will nur die Wäsche abholen.« Liesels Blut war ihr in den Adern getrocknet. Es zerbröselte. Sie wäre beinahe auf der Treppe in Stücke gebrochen.

Da sagte die Frau ihr erstes Wort zu Liesel. Sie streckte die Hand mit den kalten Fingern aus und sagte: »Warte.« Als sie sicher war, dass das Mädchen sich wieder gefasst hatte, drehte sie sich um und ging eilig ins Haus.

»Gott sei Dank«, atmete Liesel aus. »Sie holt sie.« »Sie« war in diesem Fall die Wäsche.

Aber als die Frau wiederkam, hatte sie nichts dergleichen bei sich.

Als sie wiederkam und sich mit einer unglaublich zerbrechlichen Standhaftigkeit vor Liesel aufbaute, hielt sie einen Turm aus Büchern gegen ihren Leib gepresst, von ihrem Bauchnabel aufwärts bis zu ihren Brüsten. Sie wirkte in dem monströsen Türrahmen so verletzlich. Lange, helle Wimpern und nur der leiseste Hauch von Lebendigkeit in ihrem Gesicht. Eine Einladung.

Komm, schau sie dir an, sagte dieses Gesicht.

Sie wird mich foltern, vermutete Liesel. Sie wird mich ins Haus locken, den Kamin anzünden und mich mitsamt den Büchern ins Feuer werfen. Oder sie schließt mich bei Wasser und Brot in den Keller ein.

Aus irgendeinem Grund jedoch - wahrscheinlich erlag sie der Verlockung der Bücher - ging sie hinein. Das Quietschen ihrer Schuhe auf den hölzernen Dielen ließ sie zusammenfahren, und als sie einen weiteren wunden Punkt traf, wo das Holz vernehmlich aufstöhnte, wäre sie beinahe stehen geblieben. Aber die Frau des Bürgermeisters ließ sich nicht aufhalten. Sie schaute nur kurz hinter sich und ging dann weiter, zu einer kastanienbraunen Tür. Jetzt stand in ihrem Gesicht eine Frage.

Bist du bereit?

Liesel reckte ihren Hals ein wenig, als ob sie über die Tür, die ihr im Wege stand, hinwegsehen könnte. Ein deutliches Zeichen, dass sie geöffnet werden sollte.

»Jesus, Maria...«

Sie sprach es aus, und die Worte fanden Eingang in einen Raum, der voller kalter Luft und Bücher war. Überall Bücher! Die Wände waren mit überfüllten, doch ordentlichen Regalen bestückt. Den Wandanstrich konnte man fast nirgends sehen. Die Schrift auf den Buchrücken war überall unterschiedlich, geschwungen und gerade, groß und klein. Die Buchrücken selbst waren nicht nur schwarz, rot und grau; sie wiesen jede vorstellbare Farbe auf. Der Anblick gehörte zu den schönsten, die Liesel Meminger je gesehen hatte.

Erfüllt von diesem Wunder, lächelte sie.

Dass ein solcher Raum existierte!

Sie versuchte, sich das Lächeln mit ihrem Unterarm aus dem Gesicht zu wischen, merkte abei sofort, dass dies ein sinnloses Unterfangen war. Sie fühlte die Augen der Frau über ihren Körper wandern, und als Liesel sie anschaute, ruhte ihr Blick auf dem Gesicht des Mädchens.

Es herrschte ein Maß an Stille, von dem sie nie gedacht hätte, dass es möglich war. Die Stille dehnte sich aus, wie ein Gummiband, das nur zu gerne gerissen wäre. Das Mädchen durchbrach sie.

»Darf ich?«

Die beiden Worte standen auf einem unendlich weiten, mit Holz belegten Feld. Die Bücher waren kilometerweit weg.

Die Frau nickte.

Ja, du darfst.

Der Raum schrumpfte, bis die Bücherdiebin die Regale mit ein paar kleinen Schritten erreichen konnte. Sie fuhr mit dem Handrücken das erste Regal entlang und lauschte dem rhythmischen Ticken, das ihre Fingernägel auf den abgerundeten Buchrücken verursachten. Es klang wie ein Instrument, das Geräusch rennender Füße. Sie nahm beide Hände. Sie veranstaltete ein Wettrennen. Ein Regal gegen das nächste. Und sie lachte.

Ihre Stimme entfaltete sich, hing hoch in ihrer Kehle, und als sie endlich aufhörte und mitten im Raum stehen blieb, verbrachte sie einige Minuten damit, zwischen den Regalen und ihren Fingern hin und her zu schauen.

Wie viele Bücher hatte sie berührt?

Wie viele hatte sie gefühlt?

Sie ging wieder hin und tat es noch einmal, diesmal viel langsamer, diesmal die Handfläche den Büchern zugewandt, ließ sich von der kleinen Hürde eines jeden Buchs das Fleisch ihrer Hand verschieben. Es fühlte sich an wie ein Zauber, wie Schönheit, getaucht in strahlende Linien aus Licht von einem Kronleuchter. Mehr als einmal hätte sie fast ein Buch von seinem Platz genommen, aber sie wagte nicht, sie zu stören. Sie waren einfach vollkommen.

Zu ihrer Linken sah sie wieder die Frau, die neben einem großen Schreibtisch stand und immer noch den kleinen Bücherturm gegen ihren Leib gelehnt hielt. Sie stand da mit einer entzückten Gebeugtheit. Ein Lächeln schien ihre Lippen gelähmt zu haben.

»Wollen Sie, dass ich...?«

Liesel vollendete die Frage nicht, sondern tat, was sie hatte fragen wollen. Sie ging zu der Frau und nahm ihr die Bücher behutsam aus den Armen. Sie stellte sie in das fehlende Stück in einem der Regale, neben dem halb geöffneten Fenster. Von draußen zog Kälte herein.

Einen Augenblick lang spielte sie mit dem Gedanken, es zu schließen, doch dann besann sie sich. Dies war nicht ihr Haus, und der Zauber des Moments durfte nicht zerstört werden. Alles musste so bleiben, wie es war. Stattdessen wandte sie sich zu der Dame um, deren Lächeln nun den Anschein einer Wunde hatte und deren Arme schlank an den Seiten des Körpers herabhingen. Wie die Arme eines Mädchens.

Was nun?

Unbehagen verschaffte sich Zugang zu dem Raum, und Liesel schenkte den Wänden aus Büchern einen letzten, fliehenden Blick. In ihrem Mund zappelten die Worte und kamen dann in einem Schwall heraus: »Ich muss gehen.«

Sie brauchte drei Anläufe, bevor sie den Raum verließ.

In der Diele wartete sie ein paar Minuten, aber die Frau kam nicht nach. Liesel kehrte zu der Tür zurück und sah sie an dem Schreibtisch sitzen, wo sie mit leerem Blick eines der Bücher anstarrte. Liesel beschloss, sie nicht zu stören. Zurück in der Diele, hob sie den Wäschesack vom Boden.

Diesmal umging sie den wunden Punkt in den Bodendielen, durchschritt die gesamte Länge des Korridors, wobei sie sich nahe der linken Wand hielt. Als sie die Haustür hinter sich schloss, traf ein Geräusch von Messing auf Messing ihr Ohr, und mit dem Wäschesack in der einen Hand streichelte sie mit der anderen das hölzerne Fleisch der Tür. »Los jetzt«, sagte sie sich.

Zunächst ging sie wie in Trance.

Das unwirkliche Erlebnis des Raums voller Bücher und der benommenen, gebrochenen Frau ging neben ihr her. Sie konnte das Bild auf den Gebäuden sehen, an denen sie vorbeikam, wie die Szenen eines Theaterstücks. Vielleicht war das, was sie fühlte, vergleichbar mit dem, was Papa in Bezug auf Mein Kampf empfunden hatte. Wo immer sie auch hinschaute, sah Liesel die Frau des Bürgermeisters mit dem Bücherstapel in den Armen. Wenn sie um Ecken bog, hörte sie das Streichen ihrer eigenen Hände, die die Regale aus dem Schlaf holten. Sie sah das offene Fenster, das herrliche Licht des Kronleuchters, und sie sah sich selbst, wie sie ohne ein Wort des Dankes das Haus verließ.

Bald schon wandelte sich ihre Betäubung in Verachtung gegen sich selbst. Sie fing an, sich für ihr Verhalten zu tadeln.

»Du hast nichts gesagt.« Zwischen den eiligen Schritten schüttelte sie ihren Kopf heftig von einer Seite zur anderen. »Nicht >Auf Wiedersehen< Nicht >Danke schön<. Nicht >Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe<. Nichts!« Sie war zwar eine Bücherdiebin, aber das hieß nicht, dass sie keine Manieren hatte. Es hieß nicht, dass sie nicht höflich sein musste.

Sie ging ein paar Minuten lang weiter und kämpfte mit der Unentschlossenheit.

Auf der Münchener Straße war der Kampf zu Ende.

Gerade als sie das Schild ausmachen konnte, auf dem stand »Steiner - Schneidermeister«, drehte sie sich um und rannte zurück.

Diesmal zögerte sie nicht.

Sie hämmerte gegen die Tür und schickte ein Echo aus Messing durch das Holz. Scheiße.

Nicht die Frau des Bürgermeisters, sondern der Bürgermeister selbst stand vor ihr. In ihrer Hast hatte Liesel das Auto übersehen, das vor dem Haus auf der Straße stand.

Angetan mit einem Schnurrbart und einem schwarzen Anzug, fragte der Mann: »Was kann ich für dich tun?«

Liesel konnte nicht sprechen. Noch nicht. Sie krümmte sich, schnappte nach Luft, und glücklicherweise kam die Frau an die Tür, als Liesel sich ein wenig erholt hatte. Ilsa Hermann stand hinter ihrem Mann, etwas abseits.

»Ich habe vergessen...« Sie hob den Sack und sah die Frau des Bürgermeisters an. Trotz ihres schweren Atems reichte sie die Worte durch die Lücke zwischen dem Bürgermeister und dem Türstock hindurch. Das Atmen machte ihr solche Mühe, dass die Worte ihr nur stoßweise entschlüpften. »Ich habe vergessen... Ich meine, ich wollte... wollte nur«, sagte sie, »nur... Danke sagen.«

Wieder verwundete die Frau ihr Gesicht mit einem Lächeln. Sie trat vor, stellte sich neben ihren Mann, nickte ganz leicht, wartete und schloss dann die Tür.

Es dauerte eine gute Minute, ehe Liesel sich zum Gehen wenden konnte.

Sie lächelte die Treppenstufen an.

der kämpfer betritt den ring

Szenenwechsel.

Wir haben es uns bislang zu leicht gemacht, ihr und ich, meint ihr nicht auch? Wie wäre es, wenn wir Molching für eine Weile den Rücken kehrten?

Es wird uns guttun.

Außerdem ist es wichtig für die Geschichte.

Wir werden ein wenig miteinander gehen, zu einem geheimen Vorratsraum, und wir werden sehen, was wir sehen werden.

EINE FÜHRUNG DURCH DAS LEIDEN

Links von euch, vielleicht auch rechts, vielleicht direkt vor euch entdeckt ihr einen kleinen schwarzen Raum. Darin sitzt ein Jude. Er ist Abschaum. Er ist am Verhungern. Er ist voller Furcht. Bitte, schaut nicht weg.

Ein paar hundert Kilometer nordwestlich, in Stuttgart, weit weg von Bücherdiebinnen, Bürgermeistergattinnen und der Himmelstraße, saß ein Mann im Dunkeln. Es war der beste Ort, entschied er. In der Dunkelheit ist es schwerer, einen Juden zu finden.

Er saß auf einem Koffer und wartete. Wie viele Tage waren es jetzt schon?

Wochen, so kam es ihm vor - seit Wochen hatte er nur den fauligen Geschmack seines eigenen hungrigen Atems zu sich genommen, und immer noch: nichts. Gelegentlich wanderten Stimmen vorbei, und manchmal sehnte er sich danach, dass sie an die Tür klopften, sie öffneten und ihn herauszerrten, ins unerträgliche Licht. Im Augenblick blieb ihm nichts weiter, als auf seinem Koffersofa zu sitzen, mit den Händen unter dem Kinn, die Ellbogen in die Oberschenkel gebohrt.

Da war der Schlaf, der hungervolle Schlaf, der Missmut über den Halbschlaf und die Bestrafung des Bodens.

Achte nicht auf die juckenden Füße.

Kratz nicht an den Sohlen.

Und beweg dich nicht mehr als nötig.

Lass alles so, wie es ist, koste es, was es wolle. Vielleicht ist es bald Zeit zu gehen. Licht wie eine Waffe. Eine Explosion in den Augen. Vielleicht ist es bald Zeit zu gehen. Vielleicht ist es bald Zeit, also wach auf. Wach jetzt auf. Verdammt nochmal, wach auf!

Die Tür wurde geöffnet und geschlossen, und eine Gestalt beugte sich über ihn. Die Hand klatschte auf die kalten Wellen seiner Kleidung und die schmutzigen Strömungen darunter. Eine Stimme floss zu ihm herab.

»Max«, raunte sie. »Max, wach auf.«

Seine Augen verhielten sich nicht so, wie man es gemeinhin bei namenlosem Erschrecken erwartet. Kein Aufreißen, kein Zusammenpressen, kein Blinzeln. Diese Dinge geschehen, wenn man aus einem schlimmen Traum erwacht, nicht wenn man in ihn hinein erwacht. Nein, seine Augenlider zogen sich behäbig zurück, von absoluter Dunkelheit zu grauem Dämmerlicht. Es war sein Körper, der reagierte, der hochschreckte und einen Arm vorschleuderte, der in die Luft packte.

Die Stimme beruhigte ihn jetzt. »Entschuldige, dass es so lange gedauert hat. Ich glaube, man hat mich beobachtet. Und der Mann, der die Papiere besorgen sollte, hat länger gebraucht, als ich dachte, aber...« Eine Pause folgte. »Sie gehören jetzt dir. Sie sind nicht besonders gut, fürchte ich, aber hoffentlich gut genug, um dich ans Ziel zu bringen.« Er kauerte sich nieder und deutete auf den Koffer. In der anderen Hand hielt er etwas Schweres, Flaches. »Komm schon, steh auf.« Max gehorchte, erhob sich und kratzte sich. Er fühlte, wie sich seine Knochen verengten. »Der Ausweis ist hier drin.« Es war ein Buch. »Du solltest auch die Karte und die Wegbeschreibung hineinlegen. Innen im Buchdeckel klebt ein Schlüssel.« Er öffnete den Koffer, so schnell er konnte, und legte das Buch so vorsichtig hinein, als wäre es eine Bombe. »Ich werde in ein paar Tagen wiederkommen.«

Er legte eine kleine Tüte mit Brot, Schmalz und drei verschrumpelten Karotten auf den Boden. Daneben stellte er eine Wasserflasche. Er entschuldigte sich nicht. »Mehr ging nicht.«

Tür auf, Tür zu.

Wieder allein.

Was ihm sofort auffiel, waren die Geräusche.

In der Dunkelheit, wenn er alleine war, war alles so verzweifelt laut. Jedes Mal, wenn er sich bewegte, verursachte er ein Knistern. Er fühlte sich wie ein Mann in einem Anzug aus Papier.

Das Essen.

Max teilte das Brot in drei Stücke und legte zwei zur Seite. Das eine in seiner Hand verschlang er, kaute und keuchte und zwang es den trockenen Korridor seiner Kehle hinab. Das Schmalz war kalt und hart, schabte sich den Weg nach unten und klammerte sich gelegentlich in seiner Speiseröhre fest. Heftiges Schlucken riss es los und schickte es weiter.

Dann die Karotten.

Wieder legte er zwei beiseite und aß die dritte. Der Lärm war erstaunlich. Bestimmt konnte der Führer höchstselbst das Geräusch des gelblichen Knackens in seinem Mund hören. Es zerbrach seine Zähne bei jedem Biss. Als er trank, war er sicher, dass er Zahnsplitter schlucken würde. Das nächste Mal, schwor er sich, werde ich zuerst trinken.

Später, als das Echo ihn verlassen hatte und er den Mut fand, mit seinen Fingern zu tasten, merkte er erleichtert, dass jeder Zahn noch an seinem Platz saß, heil und ganz. Er versuchte ein Lächeln, aber es wollte nicht kommen. Es wurde ein erbärmlicher Versuch, denn vor seinem geistigen Auge sah er immer noch nichts weiter als einen Mund voll zerbrochener Zähne. Stundenlang betastete er sie.

Er öffnete den Koffer und holte das Buch heraus.

Im Dunkeln konnte er den Titel nicht lesen, und das Risiko, ein Streichholz anzuzünden, schien ihm zu groß.

Als er sprach, schmeckte er das Flüstern.

»Bitte«, sagte er. »Bitte.«

Er sprach zu einem Mann, den er noch nie getroffen hatte. Abgesehen von einigen wenigen Fakten, kannte er nur seinen Namen. Hans Hubermann. Wieder sprach er mit ihm, mit dem fernen Fremden. Er flehte.

»Bitte.«

die eigenschaften des sommers

So, da habt ihr es. Jetzt wisst ihr, was Ende 1940 auf die Himmelstraße zukam. Ich weiß es. Ihr wisst es.

Liesel Meminger allerdings gehört derzeit noch nicht zum Kreis der Eingeweihten.

Für die Bücherdiebin war dieser Sommer einfach. Er bestand hauptsächlich aus vier Aspekten oder Eigenschaften. Manchmal fragte sie sich, welche der vier die größte Bedeutung hatte.

UND DIE NOMINIERTEN SIND…

1. die nächtliche Lektüre von Das Schulterzucken und der damit verbundene Lesefortschritt

2. die Bücher, die sie auf dem Fußboden in der Bibliothek des Bürgermeisters las

3. Fußballspielen auf der Himmelstraße

4. die Gelegenheit zu einem Diebstahl anderer Art, die sie ergriff

Das Schulterzucken, so entschied sie, war ausgezeichnet. Jede Nacht, wenn sie sich nach ihrem Albtraum wieder beruhigt hatte, überkam sie schon bald die Freude darüber, dass sie wach war und lesen konnte. »Ein paar Seiten?«, fragte Papa, und Liesel nickte. Manchmal beendeten sie das angefangene Kapitel am folgenden Nachmittag, unten im Keller.

Das Problem, das die Obrigkeit mit diesem Buch hatte, war offensichtlich. Die Hauptperson war ein Jude, er war vorteilhaft beschrieben und in ein gutes Licht gesetzt. Unverzeihlich. Er war ein reicher Mann, der es leid war, dass das Leben an ihm vorbeizog - was er mit einem Schulterzucken angesichts der guten und schlechten Zeiten eines Menschenlebens verglich.

Es war Frühsommer in Molching, als Liesel und Papa durch das Buch gingen und der Mann aus dem Buch geschäftlich nach Amsterdam reiste, während draußen der Schnee zitterte. Das Bild gefiel dem Mädchen - der zitternde Schnee. »Genauso sieht er aus, wenn er vom Himmel fällt«, erklärte sie Hans Hubermann. Sie saßen auf dem Bett beisammen, Papa halb schlafend, das Mädchen hellwach.

Manchmal betrachtete sie Papa, wenn er schlief. Sie wusste weniger und zugleich mehr über ihn, als ihnen beiden klar war. Oft hörte sie ihn und Mama streiten, weil er keine Arbeit hatte, oder sich niedergeschlagen darüber unterhalten, dass Hans versucht hatte, seinen Sohn aufzusuchen, nur um festzustellen, dass dieser seine Wohnung bereits verlassen hatte und höchstwahrscheinlich an die Front gezogen war.

»Schlaf gut, Papa«, sagte das Mädchen dann. Sie rutschte um ihn herum, aus dem Bett heraus, um das Licht auszumachen.

Der nächste Aspekt an diesem Sommer war, wie bereits erwähnt, die Bibliothek des Bürgermeisters.

Um uns diese Situation vor Augen zu führen, sollten wir uns einen kühlen Tag Ende Juni betrachten. Rudi war, gelinde gesagt, erbost.

Was dachte sich diese Liesel Meminger dabei, ihm zu erzählen, dass sie heute die Wäsche allein austragen würde? War er etwa nicht gut genug, um sie zu begleiten?

»Hör auf zu jammern, Saukerl«, wies sie ihn zurecht. »Ich fühle mich einfach nicht gut. Außerdem verpasst du sonst das Spiel.«

Er warf einen Blick über die Schulter. »Tja, wenn ich's recht bedenke...« Ein Schmunzeln überzog sein Gesicht. »Du kannst dich ruhig allein um deine Wäsche kümmern.« Er rannte davon und schloss sich sofort einer der beiden Mannschaften an. Als Liesel das Ende der Himmelstraße erreicht hatte und sich umdrehte, sah sie ihn vor einem der behelfsmäßigen Tore stehen und winken.

»Saukerl«, lachte sie und hob ihre Hand. Sie wusste genau, dass er sie in diesem Augenblick »Saumensch« nannte. Ich denke, näher können Elfjährige der Liebe nicht kommen.

Sie fing an zu rennen, zur Großen Straße und zum Haus des Bürgermeisters.

Sie war schweißgebadet, und zerknitterte Atemzüge erstreckten sich noch immer vor ihr. Aber sie las.

Die Frau des Bürgermeisters, die das Mädchen bereits zum vierten Mal eingelassen hatte, saß am Schreibtisch und sah die Bücher an. Bei ihrem zweiten Besuch hatte sie Liesel die Erlaubnis erteilt, ein Buch herauszuziehen und es durchzublättern. Eins führte zum anderen, bis ein halbes Dutzend Bücher an ihr klebten, entweder unter ihren Arm geklemmt oder auf dem Stapel, der auf ihrer freien Hand in die Höhe kletterte.

Bei dieser Gelegenheit, als Liesel in der kühlen Weite des Raums stand, fing ihr Magen an zu knurren, was bei der stummen, angeschlagenen Frau keinerlei Reaktion auslöste. Wieder war sie in ihren Morgenmantel gekleidet, und ein paar Mal sah sie auch zu dem Mädchen hinüber, aber nie lange. Sie richtete gewöhnlich ihre Aufmerksamkeit auf das, was ihr nahe war, auf das, was fehlte. Das Fenster war weit geöffnet, ein viereckiges Maul, aus dem gelegentlich böige Wellen schwappten.

Liesel saß auf dem Boden. Die Bücher waren um sie herum verstreut.

Nach vierzig Minuten ging sie. Jedes Buch kehrte an seinen Platz zurück.

»Auf Wiedersehen, Frau Hermann.« Die Worte waren wie immer ein Schock. »Danke schön.« Danach nahm sie das Geld für die Wäsche in Empfang und ging. Sie musste über jeden Schritt Rechenschaft ablegen, und so rannte die Bücherdiebin nach Hause.

Der Sommer machte es sich gemütlich, und der Raum voller Bücher wurde wärmer. Mit jedem Besuch, bei dem sie gleichzeitig Wäsche abholte oder ablieferte, kam Liesel der Boden weniger schmerzhaft vor. Sie saß da mit einem kleinen Stapel Bücher neben sich, und in jedem las sie ein paar Absätze, wobei sie versuchte, sich die Worte, die sie nicht kannte, einzuprägen, um später, zu Hause, Papa danach zu fragen. Als sie älter geworden war und über diese Bücher schrieb, konnte sie sich nicht mehr an die Titel erinnern. An keinen einzigen. Wenn sie sie gestohlen hätte, wäre das sicher anders gewesen.

Woran sie sich erinnerte, war, dass in einem der Bilderbücher in ungeschickt geschriebenen Buchstaben ein Name stand.

DER NAME EINES JUNGEN

Johann Hermann

Liesel biss sich auf die Lippe, aber sie konnte nicht lange widerstehen. Auf dem Boden sitzend, drehte sie sich um und schaute auf die Frau im Morgenmantel. »Johann Hermann«, sagte sie. »Wer ist das?«

Die Frau sah zu dem Platz neben Liesel, irgendwo neben ihren Knien.

Liesel entschuldigte sich. »Es tut mir leid. Ich sollte so etwas nicht fragen...« Sie ließ den Satz einen stummen Tod sterben.

Das Gesicht der Frau veränderte sich nicht, aber irgendwie schaffte sie es zu sprechen. »Er ist nicht mehr...«, stammelte sie. »Er war mein...«

EINE ERINNERUNG

O ja, ich erinnere mich an ihn, ganz genau. Der Himmel war schlammbraun und dick wie Treibsand. Da war ein junger Mann, eingepackt in Stacheldraht, wie eine riesige Dornenkrone. Ich wickelte ihn aus und trug ihn weg. Hoch über der Erde sanken wir gemeinsam auf die Knie. Es war irgendein Tag, 1918.

»Abgesehen von allem anderen«, sagte sie, »ist er erfroren.« Einen Augenblick lang spielte sie mit ihren Händen, und dann sagte sie noch einmal: »Er ist erfroren, da bin ich mir ganz sicher.«

Die Frau des Bürgermeisters war nur eine aus einer weltumspannenden Brigade. Ihr alle seid ihr schon begegnet, ganz bestimmt. In euren Geschichten, euren Gedichten, auf den Bildschirmen, in die ihr so gerne seht. Sie sind überall, warum also nicht auch hier? Warum nicht hier oben, auf einem hübsch anzusehenden Hügel in einer deutschen Kleinstadt? Der Ort ist zum Leiden ebenso gut wie jeder andere.

Der Punkt ist, dass Ilsa Hermann beschlossen hatte, aus ihrem Leiden einen Triumph zu machen. Als die Qual sich weigerte, von ihr zu lassen, ergab sie sich ihr. Sie hieß sie willkommen.

Sie hätte sich erschießen, sich das Gesicht zerkratzen oder sich anderen grausamen Formen der Selbstverstümmelung hingeben können, aber sie wählte diejenige, die möglicherweise die schwächste von allen war - sie entschied, dass sie wenigstens die Unbequemlichkeit des Wetters ertragen müsse. Liesel hätte wetten können, dass sie sich nur kalte und nasse Sommertage wünschte. Und in dieser Beziehung lebte sie genau am richtigen Ort, meistens jedenfalls.

Als Liesel an diesem Tag das Haus des Bürgermeisters verließ, sagte sie etwas, mit großem Unbehagen. Vier große Worte lieferten sich einen Kampf, sprangen auf ihre Schulter und fielen als unordentliches Quartett vor Ilsa Hermanns Füße. Sie purzelten seitlich von Liesel herab, weil sich das Mädchen unter ihrer Last neigte und sie nicht länger halten konnte. Gemeinsam kauerten sie auf dem Boden, groß und laut und ungeschickt.

VIER GROSSE WORTE

Es tut mir leid.

Wieder betrachtete die Frau des Bürgermeisters den Platz neben dem Mädchen. Ihr Gesicht war so leer wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.

»Was denn?«, fragte sie, aber es war zu spät. Das Mädchen hatte den Raum bereits verlassen. Sie war schon fast bei der Haustür. Als sie die Worte hörte, blieb Liesel stehen, aber sie beschloss, nicht zurückzugehen, sondern sich stattdessen geräuschlos aus dem Haus und die Stufen hinab zu entfernen. Sie nahm den Anblick von Molching in sich auf, ehe sie selbst darin versank, und eine Zeit lang bemitleidete sie die Frau des Bürgermeisters.

Manchmal fragte sich Liesel, ob sie die Frau nicht besser in Ruhe lassen sollte, aber Ilsa Hermann war einfach zu interessant und die Anziehungskraft der Bücher zu groß. Früher waren Worte für Liesel nutzlos gewesen, aber jetzt, wenn sie auf dem Fußboden saß und die Frau des Bürgermeisters am Schreibtisch ihres Mannes, verspürte sie ein unwillkürliches Gefühl der Macht. Es kam jedes Mal über sie, wenn sie ein neues Wort entzifferte oder einen Satz zusammentrug.

Sie war ein Mädchen.

In Deutschland, unter Hitler.

Wie passend, dass sie die Macht der Worte entdeckte.

Und wie schrecklich (und doch so erregend!) würde es etliche Monate später sein, wenn sie die Macht dieser neuen Entdeckung in dem Augenblick freisetzte, in dem die Frau des Bürgermeisters sie im Stich ließ. Wie schnell sollte das Mitleid von ihr weichen, und wie schnell sollte es sich in etwas völlig anderes verwandeln!

Aber jetzt, im Sommer 1940, konnte sie nicht sehen, was vor ihr lag, in mehr als einer Hinsicht. Jetzt kannte sie eine trauererfüllte Frau mit einem Raum voller Bücher, den sie gerne aufsuchte. Das war alles. Dies war der zweite Teil ihres Sommerlebens.

Der dritte Teil wurde - Gott sei Dank - mit leichterem Herzen gelebt: Fußball auf der Himmelstraße.

Ich will euch ein Bild malen: Füße kratzen auf der Straße. Der Sturm von jugendlichem Atem. Gebrüllte Worte: »Hier! Hierher! Scheiße!« Das Aufprallen und Schaben des Balls auf Asphalt.

Sie alle waren da, in der Himmelstraße, genauso wie der Klang der Entschuldigungen, während der Sommer voranschritt.

Die Entschuldigungen gehörten Liesel Meminger. Geschenkt wurden sie Tommi Müller.

Anfang Juli gelang es ihr endlich, ihn davon zu überzeugen, dass sie ihn nicht umbringen wollte. Seit den Prügeln, die er im letzten November von ihr bezogen hatte, hatte Tommi Angst, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Während der Fußballspiele auf der Himmelstraße hielt er sich stets von ihr fern. »Man kann nie wissen, wann sie einen Anfall kriegt«, erklärte er Rudi im Vertrauen, halb zuckend, halb sprechend.

Zu Liesels Verteidigung muss gesagt werden, dass sie ihre Versuche, ihn zu beruhigen, nie aufgab. Sie war enttäuscht, dass es ihr zwar gelungen war, mit Ludwig Schmeikl Frieden zu schließen, aber nicht mit dem unschuldigen Tommi Müller. Er duckte sich immer noch leicht, wenn er sie sah.

»Wie hätte ich wissen sollen, dass du mich mit deinem Lächeln ermutigen wolltest?«, fragte sie ihn zum wiederholten Mal.

Sie löste ihn sogar ein paar Mal freiwillig im Tor ab, bis alle in der Mannschaft ihn anflehten, wieder seine Position als Torwart zu beziehen.

»Geh wieder ins Tor!«, befahl ihm ein Junge namens Harald Mollenhauer schließlich. »Du kannst doch überhaupt nicht Fußball spielen!« Kurz zuvor hatte Tommi ihn umgerannt, als Harald gerade ein Tor schießen wollte. Er hätte sich zu gerne einen Elfmeter gegeben, aber leider waren Tommi und er in derselben Mannschaft.

Liesel kam aus dem Tor, und es endete jedes Mal damit, dass sie gegen Rudi spielen musste. Sie rempelten sich an, brachten sich gegenseitig zu Fall und beschimpften sich lautstark. Rudis Kommentar lautete: »Diesmal kommt sie damit nicht durch, das dämliche Saumensch. Arschgrobbier. Nie und nimmer.« Er schien es zu genießen, Liesel einen Arschkratzer zu nennen. Ein Kindheitsvergnügen.

Ein weiteres solches Vergnügen war das Stehlen. Teil vier des Sommers 1940.

Es gab viele Dinge, die Rudi und Liesel miteinander teilten, aber das Stehlen schweißte ihre Freundschaft endgültig zusammen. Es ergab sich bei einer passenden Gelegenheit, getrieben von einem machtvollen Umstand - Rudis Hunger. Der Junge war ständig hinter etwas zu essen her.

Ein Problem war die Rationierung, ein weiteres die Tatsache, dass das Geschäft seines Vaters in letzter Zeit nicht besonders gut lief. (Die jüdischen Konkurrenten waren beseitigt worden, die jüdischen Kunden allerdings auch.) Die Steiners kratzten mühsam jeden Pfennig zusammen, um über die Runden zu kommen. Liesel hätte ihm etwas von sich abgegeben, aber auch im Haushalt der Hubermanns herrschte kein Überfluss. Mama kochte meistens Erbsensuppe. Sie bereitete sie am Sonntagabend zu - und nicht nur für eine oder zwei Mahlzeiten. Sie kochte eine derartige Menge an Erbsensuppe, dass sie bis zum folgenden Samstag reichte. Und am Sonntag kochte sie neue. Erbsensuppe, Brot, manchmal eine kleine Portion Kartoffeln oder Fleisch. Man aß den Teller leer, verlangte keinen Nachschlag und beklagte sich nicht.

Am Anfang unternahmen sie etwas, um den Hunger zu vergessen.

Wenn Rudi Fußball spielte, war er nicht hungrig. Ebenso wenig, wenn sie die Fahrräder von Rudis Bruder und Schwester nahmen und damit zu Alex Steiners Laden fuhren oder Liesels Papa besuchten, wenn er gerade Arbeit hatte. Hans Hubermann setzte sich dann zu ihnen und erzählte ihnen im letzten Licht des Nachmittags Witze.

Mit der Ankunft einiger weniger heißer Tage kam eine neue Möglichkeit zur Ablenkung: Liesel wollte in der Amper schwimmen lernen. Das Wasser war immer noch ein bisschen zu kalt zum Schwimmen, aber sie gingen trotzdem hinein.

»Komm schon«, lockte Rudi. »Genau hier. Hier ist es nicht so tief.« Liesel konnte das riesige tiefe Loch, in das sie watete, nicht sehen und sank geradewegs auf den Grund des Flusses. Wie ein Hund paddelnd, rettete sie ihr Leben, obwohl sie an dem Schwall Wasser, den sie geschluckt hatte, beinahe erstickt wäre.

»Du Saukerl«, schimpfte sie, als sie am Flussufer zusammenbrach.

Rudi hielt sich wohlweislich außerhalb ihrer Reichweite auf. Er hatte erlebt, was sie mit Ludwig Schmeikl angestellt hatte. »Was willst du? Jetzt kannst du doch schwimmen, oder nicht?«

Seine Bemerkung heiterte sie nicht im Mindesten auf. Mit klatschnassen Haaren, die ihr am Gesicht klebten, und rotztriefender Nase marschierte sie davon.

Er rief ihr nach: »Heißt das, ich kriege keinen Kuss dafür, dass ich's dir beigebracht habe?«

»Saukerl!«

So eine Frechheit!

Es war unausweichlich.

Die deprimierende Erbsensuppe und Rudis Hunger trieben sie schließlich zum Diebstahl. Sie schlossen sich einer Gruppe von Jugendlichen an, die von den Bauern stahlen. Obsträuber. Es war nach einem Fußballspiel, als Liesel und Rudi erkannten, wie vorteilhaft es war, beide Augen offen zu halten. Sie saßen auf Rudis Eingangstreppe und sahen Fritz Hammer einen Apfel essen. Es war ein Klarapfel, eine Apfelsorte, die im Juli und August reif wird, und er sah in der Hand des Jungen einfach herrlich aus. Drei oder vier weitere beulten sichtbar seine Jackentaschen aus. Liesel und Rudi schlenderten näher.

»Woher hast du die?«, wollte Rudi wissen.

Der Junge grinste nur und sagte: »Pst!« Dann blieb er stehen. Er zog einen Apfel aus seiner Jacke und warf ihn Rudi zu. »Nur anschauen«, warnte er. »Nicht reinbeißen.«

Das nächste Mal, als sie den Jungen dieselbe Jacke tragen sahen - an einem Tag, an dem es eigentlich zu warm dafür war -, folgten sie ihm. Er führte sie die Amper flussaufwärts, in die Nähe der Stelle, wo Liesel manchmal mit ihrem Papa gesessen und lesen gelernt hatte. Dort wartete eine Gruppe von fünf Jungen, einer davon schlaksig, die anderen klein und drahtig.

Zu dieser Zeit gab es in Molching einige solcher Gruppen, in denen die Mitglieder manchmal erst sechs Jahre alt waren. Der Anführer dieses Haufens hier war ein nicht unfreundlicher fünfzehnjähriger Krimineller namens Arthur Berg. Er schaute sich um und sah die beiden Kinder aus dem Hintergrund treten. »Und?«, fragte er.

»Ich bin am Verhungern«, gab Rudi zurück.

»Und er ist schnell«, ergänzte Liesel.

Berg schaute sie an. »Ich kann mich nicht erinnern, dich um deine Meinung gebeten zu haben.« Er war ein hochgewachsener Junge mit einem langen Hals. Hier und da hatten sich auf seinem Gesicht Pickelhaufen zusammengerottet. »Aber ich mag dich.« Er war, wie gesagt, ganz freundlich, auf eine clevercharmante, halbwüchsige Art. »Ist das nicht die, die deinem Bruder eine Abreibung verpasst hat, Anderl?« Die Schulhofkeilerei hatte in Windeseile die Runde gemacht. Ein solches Ereignis überwindet alle Altersunterschiede. Ein anderer Junge - einer von den kleinen, drahtigen, mit zotteligem blondem Haar und eisfarbener Haut - schaute zu ihnen hinüber. »Ich glaube schon.«

Rudi bestätigte dies. »Sie ist es.«

Andi Schmeikl kam herbei und musterte Liesel von oben bis unten.

Sein Gesicht war nachdenklich, doch dann verzog es sich zu einem breiten Grinsen. »Gut gemacht, Kleine.« Er versetzte ihr sogar einen Schlag auf die Wirbelsäule und traf eine Kante ihres Schulterblattes. »Ich hätte dafür Prügel bezogen.«

Arthur war neben Rudi getreten. »Und du bist der mit der Jesse-Owens-Sache, stimmt's?«

Rudi nickte.

»Du bist eindeutig ein Idiot«, sagte Arthur, »aber die Art von Idiot, die wir mögen. Kommt mit.«

Sie waren aufgenommen.

Als sie den Bauernhof erreichten, bekamen Liesel und Rudi einen Sack zugeworfen. Arthur Berg hatte eine Tasche aus Sackleinen dabei. Er fuhr mit der Hand durch die zarten Strähnen seines Haars. »Habt ihr schon mal was gestohlen?«

»Klar«, brüstete sich Rudi. »Schon oft.« Er spielte seine Rolle nicht sehr überzeugend.

Liesel war präziser. »Ich habe zwei Bücher gestohlen«, woraufhin Arthur drei Mal kurz schnaubend lachte. Seine Pickel wanderten dabei über sein Gesicht.

»Bücher kann man nicht essen, Süße.«

Sie begutachteten die Apfelbäume, die in langen, kurvigen Reihen standen. Arthur Berg gab die Befehle. »Erstens«, sagte er. »Verfangt euch nicht im Zaun. Wenn euch das passiert, bleibt ihr zurück. Kapiert?« Alle nickten oder sagten Ja. »Zweitens: Einer klettert in den Baum, der andere bleibt unten. Einer muss die Äpfel ja aufsammeln.« Er rieb sich die Hände. Offensichtlich genoss er das alles. »Drittens: Wenn ihr jemanden kommen seht, schreit ihr so laut, dass selbst die Toten wach werden - und dann nichts wie weg. Alles klar?«

»Alles klar!«, erklang es im Chor.

ZWEI NEU ERNANNTE APFELDIEBE IN GEFLÜSTERTEM GESPRÄCH

»Liesel, bist du sicher? Willst du immer noch mitmachen?« »Schau dir mal den Stacheldraht an, Rudi. Der ist so hoch!« »Nein, nein, guck mal: Du wirfst einfach den Sack drüber. Siehst du? So machen es die anderen auch.« »Also gut.« »Dann komm jetzt!« »Ich kann nicht.« Zögern. »Rudi, ich...« »Beweg dich, Saumensch!«

Er schob sie auf den Zaun zu, warf den leeren Sack über den Stacheldraht, und sie kletterten hinüber und liefen dann den anderen hinterher. Rudi steuerte den am nächsten stehenden Baum an, kletterte hinauf und fing an, die Äpfel hinunterzuwerfen. Liesel stand unten und steckte sie in den Sack. Als er voll war, standen sie vor einem weiteren Problem.

»Wie kommen wir jetzt wieder über den Zaun?«

Die Antwort bekamen sie von Arthur Berg, der direkt neben einem Zaunpfosten hinüberkletterte. »Der Draht ist hier straffer«, bemerkte er. Rudi deutete auf Liesel. Er warf den Sack hinüber, schob Liesel über den Zaun und landete kurze Zeit später neben ihr, auf einem Berg von Äpfeln, die aus dem Sack gerollt waren.

Neben ihnen standen die langen Beine von Arthur Berg. Er amüsierte sich.

»Nicht schlecht«, landete die Stimme von oben zwischen ihnen. »Gar nicht schlecht.«

Nachdem sie zum Fluss zurückgekehrt waren, nahm er Liesel und Rudi den Sack ab und gab ihnen insgesamt ein Dutzend Äpfel, die sie untereinander aufteilen sollten.

»Gute Arbeit«, lautete sein abschließender Kommentar zu der Sache.

Bevor sie an diesem Nachmittag nach Hause gingen, aßen Liesel und Rudi jeweils sechs Äpfel in einer halben Stunde. Zunächst spielten sie mit dem Gedanken, das Obst mit ihren Familien zu teilen, aber das erschien ihnen zu gefährlich. Sie waren nicht gerade erpicht darauf, erklären zu müssen, woher sie die Äpfel hatten. Liesel überlegte, ob sie nicht wenigstens Papa einweihen sollte, doch er sollte nicht glauben, dass er eine Gewohnheitsverbrecherin an seinem Busen nährte. Und so aß sie.

Am Ufer, wo sie Schwimmen gelernt hatte, wurde jeder einzelne Apfel verspeist. Sie waren eine solche Schlemmerei nicht gewohnt, und ihnen war klar, dass ihnen wahrscheinlich schlecht werden würde.

Sie aßen trotzdem.

»Saumensch!«, schimpfte Mama am Abend. »Warum musst du denn kotzen?« »Vielleicht liegt es an der Erbsensuppe«, sagte Liesel.

»Bestimmt«, erklärte Papa. Er saß wieder am Fenster. »Woran denn sonst? Mir ist auch schon ganz übel.«

»Wer hat dich denn gefragt, Saukerl?« Schnell wandte sie sich wieder dem kotzenden Saumensch zu. »Na? Sag schon. Nun rede schon, du Dreckschwein.«

Und Liesel?

Sie sagte nichts.

Die Äpfel, dachte sie glücklich, die Äpfel, und sie erbrach sich ein weiteres Mal, der guten Ordnung halber.

die arische ladenbesitzerin

Sie standen vor Frau Lindners Eckladen an die weiß getünchte Wand gelehnt. In Liesel Memingers Mund steckte ein Bonbon. In ihren Augen stand die Sonne.

Trotz dieser Hindernisse war sie dennoch in der Lage zu sprechen und zu streiten.

NOCH EIN GESPRÄCH ZWISCHEN RUDI UND LIESEL

»Mach schon, Saumensch, das waren schon zehn Mal.« »Stimmt nicht, es waren erst acht - ich habe noch zwei.«

»Na, dann beeil dich gefälligst. Ich sag's ja, wir hätten ein Messer holen und es in zwei Hälften sägen sollen. - Komm schon, das waren jetzt noch zwei Mal!« »Also gut. Hier. Und schluck's bloß nicht runter!« (Eine kurze Pause.) »Das ist klasse, was?« »Darauf kannst du wetten, Saumensch.«

Sowohl der August als auch der Sommer gingen bald zu Ende, da fanden sie einen Pfennig auf dem Boden. Helle Aufregung.

Er steckte halb verrottet im Dreck, auf dem Weg, den Liesel mit der Wäsche ging. Eine einsame, verrostete Münze.

»Schau dir das an!«

Rudi stürzte sich darauf. Die Erregung stach in ihrem Innern, während sie zu Frau Lindners Laden zurücksausten. Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, dass sie mit einem einzigen Pfennig nicht besonders weit kommen würden. Sie stolperten durch die Tür und standen vor der arischen Ladenbesitzerin, die voller Verachtung auf sie niederblickte.

»Ich warte«, sagte sie. Ihr Haar war straff zurückgekämmt, und ihr schwarzes Kleid würgte ihren Körper. Von der Wand aus hielt das gerahmte Foto des Führers Wache.

»Heil Hitler«, sagte Rudi.

»Heil Hitler«, erwiderte sie und richtete sich hinter der Theke zu voller Größe auf. »Und du?« Sie funkelte Liesel an, die mit einem prompten »Heil Hitler« reagierte.

In Windeseile fischte Rudi die Münze aus der Hosentasche und legte sie entschlossen auf die Theke. Er schaute geradewegs in Frau Lindners bebrillte Augen und sagte: »Gemischte Bonbons, bitte.«

Frau Lindner lächelte. Ihre Zähne drängelten in ihrem Mund, um Platz zu finden, und ihre unerwartete Freundlichkeit brachte auch Liesel und Rudi zum Lächeln. Aber es währte nicht lange.

Frau Lindner bückte sich, kramte einen Moment lang herum und tauchte dann wieder hinter der Theke auf. »Hier«, sagte sie und warf ein einzelnes Bonbon auf die Theke. »Mischen könnt ihr es selbst.«

Draußen wickelten sie das Bonbon aus und versuchten, es in zwei Hälften zu beißen, aber der Zucker war so hart wie Glas. Er war sogar zu hart für Rudis Reißzähne. Stattdessen mussten sie das Bonbon in Lutschportionen aufteilen. Zehn Mal Lutschen für Rudi, zehn Mal für Liesel. Hin und her, bis das Bonbon verschwunden war.

»So«, verkündete Rudi irgendwann mit einem bonbonverklebten Lächeln, »gefällt mir das Leben.« Liesel konnte ihm nur zustimmen. Als sie fertig waren, leuchteten ihre Münder feuerrot, und auf dem Heimweg schärften sie sich gegenseitig ein, nach weiteren verlorenen Münzen Ausschau zu halten.

Natürlich fanden sie nichts mehr. Niemand kann zwei Mal in einem Jahr so viel Glück haben, geschweige denn zwei Mal an einem Nachmittag.

Trotzdem spazierten sie mit roten Zungen und roten Zähnen über die Himmelstraße und suchten voller Glück den Boden ab.

Der Tag war großartig gewesen, und Deutschland war ein wundersamer Ort.

der kämpfer: zweite runde

Wir eilen jetzt voraus, zu einem Kampf in kalter Nacht. Die Bücherdiebin wird uns später wieder einholen.

Es war der 3. November, und der Boden des Zugwagons hielt seine Füße fest. Er hatte eine Ausgabe von Mein Kampf vor sich und las darin. Schweiß troff aus seinen Händen. Fingerabdrücke umklammerten das Buch.

BÜCHERDIEBIN VERLAGS GMBH

präsentiert Mein Kampf von Adolf Hitler

Hinter Max Vandenburg breitete Stuttgart spöttisch die Arme aus.

Er war hier nicht willkommen, und er versuchte, nicht zurückzuschauen, während sich der faulige Atem in seinem Bauch auflöste.

Ein paar Mal rutschte er hin und her und sah, wie die Lichter spärlicher wurden und dann ganz verschwanden.

Du musst stolz blicken, ermahnte er sich. Du darfst nicht ängstlich wirken. Lies das Buch. Lächle. Es ist ein großartiges Buch - das beste, das du je gelesen hast. Beachte die Frau dir gegenüber nicht. Sie schläft ohnehin. Komm schon, Max, du brauchst nur noch ein paar Stunden lang durchzuhalten.

Die versprochene Rückkehr in den Raum voller Finsternis hatte nicht Tage gedauert, sondern anderthalb Wochen. Dann noch eine Woche bis zum nächsten Mal und eine weitere, bis Max schließlich jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Er wurde weggebracht, in eine andere kleine Vorratskammer, wo es heller war, die Besuche häufiger kamen und mit ihnen mehr Essen. Nur die Zeit lief ihm davon.

»Ich muss bald gehen«, sagte sein Freund Walter Kugler zu ihm. »Du weißt schon - an die Front.«

»Es tut mir leid, Walter.«

Walter Kugler, Max' Freund aus Kindertagen, legte die Hand auf die Schulter des Juden. »Es könnte schlimmer sein.« Er schaute seinem Freund in die Augen. »Es könnte dich treffen.«

Dies war ihr letztes Beisammensein. Ein letztes Mal wurde ein Beutel in die Ecke gelegt. Und diesmal war eine Fahrkarte dabei. Walter schlug Mein Kampf auf und legte sie hinein, zu der Karte, die er zusammen mit dem Buch mitgebracht hatte. »Seite dreizehn.« Er lächelte. »Das bringt Glück.«

»Das bringt Glück«, wiederholte Max, und die beiden umarmten sich.

Die Tür schloss sich. Max öffnete das Buch und betrachtete die Fahrkarte. Stuttgart über Ulm nach München. Der Zug fuhr übermorgen, gerade noch früh genug, um den letzten Anschlusszug nach Pasing zu erreichen. Von Pasing aus würde Max laufen. Die Karte befand sich bereits in seinem Kopf. Der Schlüssel klebte immer noch innen im Buchdeckel.

Er blieb eine halbe Stunde lang sitzen. Erst dann stand er auf, ging zu dem Päckchen und öffnete es. Abgesehen von etwas zu essen, lagen noch ein paar andere Gegenstände darin.

WALTER KUGLERS ZUSÄTZLICHE GABEN

Ein kleiner Rasierer. Ein Löffel - als Ersatz für einen Spiegel. Rasiercreme. Eine Schere.

Als Max ging, war die Vorratskammer leer. Bis auf den Boden. »Auf Wiedersehen«, flüsterte er.

Das Letzte, was er sah, war der kleine Hügel aus Haaren, der lässig gegen die Wand gelehnt dalag.

Auf Wiedersehen.

Mit einem frisch rasierten Gesicht und leicht schräg geschnittenen, aber ordentlichen Haaren war er als neuer Mensch aus dem Haus gegangen. Er ging hinaus als Deutscher. - Wartet mal! Er war doch ein Deutscher. Oder besser gesagt: Er war mal einer gewesen.

In seinem Bauch rumorten die Nahrung und die Übelkeit.

Er ging zum Bahnhof.

Er zeigte seine Fahrkarte und seinen Ausweis vor und setzte sich in ein kleines Abteil, geradewegs ins Scheinwerferlicht der Gefahr.

»Papiere.«

Das war es, wovor er sich gefürchtet hatte.

Es war schlimm genug gewesen, als man ihn auf dem Bahnsteig angehalten und überprüft hatte. Er war sich sicher, dass er es kein zweites Mal überstehen würde.

Die zitternden Hände.

Der Geruch - nein, der Gestank - von Schuld. Er konnte es einfach nicht mehr ertragen.

Glücklicherweise kamen die Kontrolleure früh auf ihrem Rundgang zu ihm und wollten lediglich die Fahrkarte sehen. Es blieben das Fenster auf kleine Städte hinaus, Gemeinschaften aus Lichtern, und die Frau, die ihm gegenüber im Abteil saß und schnarchte.

Die meiste Zeit der Reise kämpfte er sich durch das Buch und versuchte, nicht aufzuschauen.

Die Worte lümmelten sich in seinem Mund, während er sie las.

Doch obwohl er unentwegt die Seiten umschlug und ein Kapitel nach dem anderen las, waren es merkwürdigerweise nur zwei Worte, die er schmecken konnte.

Mein Kampf.

Der Titel, immer wieder der Titel, während der Zug weiterratterte, von einer deutschen Stadt zur nächsten.

Mein Kampf.

Ausgerechnet das sollte ihn retten.

schwindler

Man könnte behaupten, dass Liesel Meminger es leicht hatte. Das stimmte auch, verglichen mit Max Vandenburg. Sicher, ihr Bruder war in ihren Armen gestorben. Ihre Mutter hatte sie verlassen.

Aber alles war besser, als Jude zu sein.

In der Zeit kurz vor Max' Ankunft ging ein weiterer Wäschekunde verloren. Diesmal waren es die Weingartners. Die Küche der Hubermanns vernahm die obligatorische Schimpferei, und Liesel tröstete sich damit, dass immer noch zwei übrig waren. Glücklicherweise war einer der Kunden der Bürgermeister, mit seiner Frau und den Büchern.

Was Liesels andere Aktivitäten betraf, so zog sie immer noch mit Rudi Steiner um die Häuser. Ich würde sogar behaupten, dass die beiden ungeniert ihre niederträchtigen Vorlieben pflegten.

Sie unternahmen einige weitere Raubzüge mit Arthur Berg und seinen Freunden, begierig darauf, ihre Qualitäten unter Beweis zu stellen und ihr Repertoire in Sachen Diebstahl zu erweitern. Von einem Bauernhof klauten sie Kartoffeln, von dem anderen Zwiebeln. Ihr größter Coup allerdings gelang ihnen zu zweit.

Ein Vorteil davon, dass man ständig durch die Stadt lief, war - wie sich zuvor schon einmal erwiesen hatte - die Möglichkeit, Dinge auf dem Boden zu finden. Ein weiterer war die Gelegenheit, Leute zu beobachten beziehungsweise bestimmte Leute zu bespitzeln, die Woche für Woche einer ganz bestimmten Tätigkeit nachgingen.

Otto Sturm, einer ihrer Schulkameraden, war so jemand. Jeden Freitagnachmittag fuhr er mit dem Fahrrad zur Kirche, um dem Pfarrer Lebensmittel zu bringen.

Einen ganzen Monat lang beobachteten die beiden Otto, während sich das gute Wetter verabschiedete. Besonders Rudi hatte sich fest vorgenommen, dass Otto an einem ungewöhnlich frostigen Freitag sein Ziel nicht erreichen würde.

»Diese ganzen Pfaffen«, erklärte Rudi, als sie durch die Stadt gingen. »Die sind doch sowieso zu fett. Die können es eine Woche lang ohne Essen aushalten.« Liesel konnte ihm nur zustimmen. Zunächst einmal war sie nicht katholisch. Außerdem nagte der Hunger an ihr. Wie immer trug sie die Wäsche. Rudi schleppte zwei Eimer voll kaltem Wasser oder - wie er es ausdrückte - zwei Eimer mit zukünftigem Eis.

Kurz vor zwei Uhr nachmittags ging er ans Werk.

Ohne zu zögern, goss er das Wasser auf die Straße, genau dort, wo Otto um die Ecke geradelt kommen würde.

Liesel musste es eingestehen.

Nachdem ihr anfängliches leises Schuldgefühl verflogen war, musste sie zugeben, dass der Plan perfekt war, oder wenigstens so perfekt, wie es nur möglich war. Jeden Freitagnachmittag kurz nach zwei Uhr bog Otto Sturm in die Münchener Straße ein. Die Lebensmittel hingen in einem Korb vor ihm an der Lenkstange. An diesem Freitag würde er nicht weiter kommen als bis hierher.

Die Straße war schon eisig, aber Rudi fügte ihr einen zweiten Belag hinzu. Er konnte sich das Grinsen kaum verkneifen. Es glitt ihm übers Gesicht wie ein Rodelschlitten.

»Komm jetzt«, sagte er, »dort hinein, in den Busch.«

Nach etwa fünfzehn Minuten trug ihr diabolischer Plan Früchte - im wahrsten Sinne des Wortes.

Rudi deutete mit seinem Finger durch eine Lücke im Laub des Büschs. »Da ist er.« Otto kam um die Ecke, so ahnungslos wie ein Lamm.

In Sekundenschnelle hatte er die Kontrolle über sein Fahrrad verloren, rutschte über das Eis und blieb mit dem Gesicht nach unten auf der Straße liegen.

Als er sich nicht mehr bewegte, schaute Rudi Liesel erschrocken an. »Christus steh uns bei«, sagte er, »glaubst du, wir haben ihn umgebracht?« Er kroch langsam aus seinem Versteck. Dann schnappte er sich den Korb, und die beiden gaben Fersengeld.

»Hat er geatmet?«, fragte Liesel, als sie ein gutes Stück entfernt waren.

»Keine Ahnung«, sagte Rudi und umklammerte den Korb.

Am Fuß des Hügels drehten sie sich um und sahen zu, wie Otto aufstand, sich zuerst am Kopf und dann im Schritt kratzte und überall nach dem Korb suchte.

»Dämlicher Scheißkopf.« Rudi grinste. Dann begutachteten sie ihre Beute. Brot, zerbrochene Eier, Äpfel und - Volltreffer! - Speck. Rudi hielt die fettige Schwarte an seine Nase und sog genüsslich das Aroma ein. »Herrlich.«

So verlockend der Wunsch auch war, ihren Sieg für sich zu behalten, empfanden sie doch eine überwältigende Loyalität Arthur Berg gegenüber. Sie gingen zu seiner ärmlichen Mietswohnung in der Kempfstraße und zeigten ihm, was sie ergattert hatten. Arthur konnte nicht umhin, ihnen Lob zu zollen.

»Wem habt ihr das geklaut?«

Es war Rudi, der antwortete. »Otto Sturm.«

»Tja«, nickte Arthur, »wer immer das ist, ich bin ihm dankbar.« Er ging hinein und kehrte mit einem Brotmesser, einer Bratpfanne und einer Jacke wieder. Gemeinsam verließen sie das Haus. »Wir trommeln die anderen zusammen«, erklärte Arthur Berg. »Wir mögen zwar Kriminelle sein, aber wir sind keine Stinker.« Genauso wie bei der Bücherdiebin gab es auch bei ihm Grenzen.

Sie klopften an ein paar Türen, riefen von der Straße aus Namen zu Fenstern hinauf, und schon bald war die ganze Horde von Arthur Bergs Obst- und Gemüsedieben auf dem Weg zur Amper. Sie wateten zur anderen Uferseite, entzündeten auf der ersten Lichtung ein Feuer und brieten, was von den Eiern noch zu verwenden war. Dann wurden Brot und Speck aufgeschnitten. Mit Händen und Messern wurde jeder Krümel von Otto Sturms Lieferung verspeist. Weit und breit war kein Pfarrer in Sicht.

Erst gegen Ende erhob sich ein Streit, und er betraf den Korb. Die Mehrheit der Jungen wollte ihn verbrennen. Fritz Hammer und Andi Schmeikl hätten ihn gerne behalten, aber einmal mehr stellte Arthur Berg seine außerordentliche moralische Einstellung unter Beweis.

»Ihr beide«, sagte er zu Rudi und Liesel. »Ihr solltet diesem Sturm den Korb zurückbringen. Ich bin der Meinung, dass der arme Kerl wenigstens das verdient.«

»Ach, komm schon, Arthur.«

»Ich will nichts davon hören, Andi.«

»Herrgott nochmal!«

»Der will auch nichts davon hören.«

Die Meute lachte, und Rudi Steiner nahm den Korb. »Ich bringe ihn zurück und hänge ihn bei den Sturms an den Briefkasten.«

Er war keine zwanzig Meter weit gekommen, da schloss das Mädchen zu ihm auf. Sie würde zwar später nach Hause kommen, als gut für sie war, aber sie war sich der Tatsache bewusst, dass sie Rudi Steiner begleiten musste, bis zum Hof der Sturms auf der anderen Seite der Stadt.

Eine geraume Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinanderher.

»Hast du ein schlechtes Gewissen?«, fragte Liesel endlich. Sie waren bereits auf dem Heimweg.

»Weswegen?«

»Du weißt schon.«

»Natürlich habe ich das, aber immerhin habe ich keinen Hunger mehr, und ich wette, er auch nicht. Du glaubst doch nicht etwa, dass die Pfaffen etwas zu essen bekämen, wenn die Sturms nicht mehr als genug davon hätten, oder?«

»Er ist so schlimm hingefallen.«

»Erinnere mich bloß nicht daran.« Aber Rudi Steiner konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. In den Jahren, die folgten, würde er ein Geber sein, einer, der Brot verteilte, nicht einer, der es stahl - ein Beweis mehr für die widersprüchliche Natur des Menschen. Ein bisschen gut, ein bisschen böse. Man muss nur einen Schuss Wasser dazugeben und umrühren.

Fünf Tage nach ihrem bittersüßen Sieg über Otto Sturm tauchte Arthur Berg wieder auf und lud sie zu einem neuen Raubzug ein. Sie trafen ihn auf der Münchener Straße, auf dem Heimweg von der Schule. Es war ein Mittwoch. Arthur trug seine HJ-Uniform. »Wir ziehen morgen Nachmittag wieder los. Seid ihr dabei?«

Sie konnten nicht widerstehen. »Wo?« »Bei den Kartoffeln.«

Vierundzwanzig Stunden später überwanden Liesel und Rudi wieder einmal einen Stacheldrahtzaun und füllten ihren Sack.

Das Problem tauchte auf, als sie den Rückzug antreten wollten.

»Herr Jesus!«, brüllte Arthur. »Der Bauer!« Aber es war sein nächstes Wort, das Angst und Schrecken auslöste. Er schrie es heraus, als ob er bereits damit angegriffen würde. Sein Mund brach auseinander. Das Wort flog heraus, und das Wort lautete: »Axt!«

Und tatsächlich - als sie sich umdrehten, kam der Bauer auf sie zugerannt, mit hoch erhobener Waffe.

Der ganze Haufen rannte auf den Zaun zu und kletterte in Sekundenschnelle darüber. Rudi, der am weitesten entfernt gewesen war, hatte sie schnell eingeholt. Trotzdem war er der Letzte. Er zog sein Bein hoch.

Es verhakte sich.

»Ah!«

Der Aufschrei des Gestrandeten.

Die Meute blieb stehen.

Instinktiv rannte Liesel zurück.

»Beeil dich!«, rief Arthur. Seine Stimme schien von weit her zu kommen, als ob er sie verschluckt hätte, bevor sie seinen Mund verlassen konnte.

Weißer Himmel.

Die anderen rannten.

Liesel hatte Rudi erreicht und zerrte an dem Stoff seiner Hose. Rudis Augen waren vor Angst weit aufgerissen. »Schnell«, sagte er. »Er kommt.«

Aus weiter Ferne konnten sie immer noch die sie zurücklassenden Schritte hören, als plötzlich eine weitere Hand den Stacheldraht packte und ihn von Rudi Steiners Hose wegriss. Ein Stück Stoff blieb an dem Stahlstachel hängen, aber der Junge war frei und konnte entkommen.

»Jetzt bewegt euch«, befahl Arthur. In diesem Moment erreichte der Bauer den Zaun. Er fluchte und rang nach Atem. Die Axt klebte - mit letzter Kraft, wie es schien - an seiner Seite. Er schrie ihnen die nutzlosen Worte des Beraubten hinterher.

»Ich lasse euch einsperren! Ich finde euch! Ich finde heraus, wer ihr seid!«

Da drehte sich Arthur um und gab Auskunft.

»Sein Name ist Owens!« Er sprang davon und rannte hinter Liesel und Rudi her. »Jesse Owens!«

Endlich waren alle in Sicherheit und kämpften darum, wieder zu Atem zu kommen. Arthur Berg trat zu Liesel und Rudi. Rudi konnte ihm nicht in die Augen sehen. »Das ist uns allen schon mal passiert«, sagte Arthur, der Rudis Enttäuschung spürte. Sagte er die Wahrheit? Sie wussten es nicht und würden es nie herausfinden.

Ein paar Wochen später zog Arthur Berg nach Köln.

Ein Mal sahen sie ihn noch, auf einer von Liesels Wäschetouren. In einer Seitengasse der Münchener Straße überreichte er Liesel eine braune Papiertüte mit einem Dutzend Esskastanien Er grinste. »Ich habe Beziehungen.« Dann verkündete er seinen Weggang, schenkte ihnen ein letztes, pickliges Lächeln und verpasste beiden einen Klaps auf die Stirn. »Esst nicht alle auf einmal.« Sie sahen Arthur Berg nie wieder.

Was mich betrifft - ja, ich begegnete ihm noch ein Mal.

EINE KLEINE VERBEUGUNG VOR ARTHUR BERG, DER IMMER NOCH UNTER DEN LEBENDEN WEILT

Der Himmel über Köln war gelb und faulig, franste an den Kanten aus. Er saß mit dem Rücken an eine Mauer gelehnt, mit einem Kind in den Armen. Seine Schwester. Als sie aufhörte zu atmen, blieb er bei ihr, und ich spürte, dass er sie noch stundenlang halten würde. In seiner Tasche steckten zwei gestohlene Äpfel.

Diesmal machten sie es besser. Sie aßen jeder eine Kastanie. Dann gingen sie von Tür zu Tür und verkauften den Rest.

»Wenn Sie ein bisschen Kleingeld übrig haben«, sagte Liesel an jeder Haustür, »dann können Sie ein paar Esskastanien bekommen.« Am Ende besaßen sie sechzehn Pfennige.

»Und jetzt«, grinste Rudi, »lass uns Rache nehmen.«

Am selben Nachmittag noch kehrten sie bei Frau Lindner ein, heilhitlerten brav und warteten.

»Schon wieder gemischte Bonbons?«, schmunzelte sie, woraufhin sie nickten. Das Geld spritzte auf die Theke, und Frau Lindners Schmunzeln fiel auseinander.

»Ja, Frau Lindner«, sagten sie im Chor. »Gemischte Bonbons, bitte.«

Der gerahmte Führer blickte stolz auf sie hinab.

Es war der Triumph vor dem Sturm.

der kämpfer: letzte runde

Mit der Spielerei hat es nun bald ein Ende, nicht aber mit dem Spektakel. Ich halte Liesel Meminger in einer Hand und Max Vandenburg in der anderen. Bald schon werde ich sie zusammenprallen lassen. Lasst mir noch ein paar Seiten Zeit.

Der Kämpfer.

Wenn sie ihn heute Nacht umbrächten, würde er wenigstens lebendig sterben.

Die Zugfahrt war nun Vergangenheit. Die schnarchende Frau hatte sich vermutlich in dem Abteil ausgestreckt, das heute Nacht ihr Bett sein würde. Jetzt lagen nur noch Schritte zwischen Max und der Rettung. Schritte und Gedanken. Und Zweifel.

In seinen Gedanken folgte er dem Weg auf der Karte, von Pasing nach Molching. Es war schon spät, als er die Kleinstadt vor sich sah. Seine Beine taten schrecklich weh, aber er war fast da - an dem gefährlichsten Ort, an dem er sich befinden konnte. Nah genug, um ihn zu berühren.

Wie beschrieben, fand er die Münchener Straße und betrat den Bürgersteig.

Alles versteifte sich.

Glühende Taschen aus Straßenbeleuchtung. Dunkle, untätige Gebäude.

Das Rathaus stand wie ein riesiger Junge da, der die Hand zur Faust geballt hatte, zu groß für sein Alter. Die Kirche verschwand in der Dunkelheit, je weiter sein Auge nach oben wanderte.

Alles betrachtete ihn.

Er zitterte.

Er warnte sich: »Halt die Augen offen.«

(Deutsche Kinder hielten Ausschau nach verlorenen Münzen. Deutsche Juden waren auf der Hut vor einer möglichen Gefangennahme.)

Er hielt sich weiterhin an die Zahl dreizehn, die ihm Glück bringen sollte, und so zählte er seinen Weg in Abschnitten von je dreizehn Schritten ab. Nur noch dreizehn Schritte, sagte er sich. Komm schon, noch dreizehn Schritte. Schätzungsweise neunzig Dreizehnerabschnitte machte er, bis er endlich an der Ecke der Himmelstraße stand.

In einer Hand hielt er seinen Koffer.

Die andere umklammerte immer noch Mein Kampf.

Beides war schwer, und beides wurde von einer sanften Schweißabsonderung liebkost.

Jetzt bog er in die Seitenstraße ein und ging auf das Haus Nummer 33 zu. Er unterdrückte das Verlangen zu lächeln, unterdrückte das Verlangen zu schluchzen oder sich auch nur die Geborgenheit vorzustellen, die ihn möglicherweise erwartete. Er gemahnte sich daran, dass dies nicht die richtige Zeit für Hoffnung war. Sicher, er konnte sie beinahe berühren. Er konnte sie fühlen, gerade außerhalb seiner Reichweite. Statt dieses Gefühl anzuerkennen, beschäftigte er sich wieder mit der Frage, was er tun sollte, wenn er im letzten Moment geschnappt oder die falsche Person hinter der Haustür auf ihn warten würde.

Natürlich empfand er auch ein kratzendes Empfinden von Sünde.

Wie konnte er das tun?

Wie konnte er hier auftauchen und diese Leute bitten, ihr Leben für ihn zu riskieren? Wie konnte er so selbstsüchtig sein?

33.

Sie schauten einander an.

Das Haus war bleich, wirkte beinahe kränklich, mit einem eisernen Gartentor und einer braunen, mit Spuckeflecken übersäten Haustür.

Aus seiner Tasche zog er den Schlüssel. Er funkelte nicht, sondern lag trüb und müde in seiner Hand. Eine Sekunde lang drückte er ihn und erwartete fast, dass er in seiner Hand schmelzen und sein Handgelenk hinabtropfen würde. Er tat es nicht. Das Metall war fest und flach, mit einer gesunden Zahnreihe, und er drückte sie so lange, bis sie ihn biss.

Langsam beugte sich da der Kämpfer vor, lehnte seine Wange gegen das Holz und holte den Schlüssel aus seiner Faust.

TEIL 4

DER ÜBERSTEHMANN

Es wirken mit:

der Akkordeonspieler - ein Versprechen, das gehalten wird - ein gutes Mädchen - ein jüdischer Faustkämpfer - Rosas Zorn - eine Mahnung - ein Schläfer - der Austausch von Albträumen - und einige Seiten aus dem Keller

der akkordeonspieler (Das geheime Leben des

Hans Hubermann)

Ein junger Mann stand in der Küche. Der Schlüssel in seiner Hand fühlte sich an, als würde er in seine Haut hineinrosten. Er sagte nicht »Hallo« oder »Bitte helfen Sie mir« oder was man sonst noch hätte erwarten können. Er stellte zwei Fragen.

ERSTE FRAGE

»Hans Hubermann?«

ZWEITE FRAGE

»Spielen Sie immer noch Akkordeon?«

Unbehaglich betrachtete der junge Mann die menschliche Gestalt vor sich. Er schabte seine Stimme hervor und reichte sie durch die Dunkelheit, als ob das alles wäre, was von ihm übrig geblieben war.

Papa, wachsam und entgeistert, trat näher.

Zur Küche gewandt, flüsterte er: »Natürlich spiele ich noch.«

Alles begann vor vielen Jahren, im Ersten Weltkrieg.

Sie sind seltsam, diese beiden Kriege.

Voller Blut und Gewalt - aber auch voller Geschichten, die genauso schwer zu begreifen sind »Es stimmt«, murmelt so mancher. »Es ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht. Es war dieser Fuchs, der mir das Leben rettete.« Oder: »Rechts und links von mir krepierten sie, und ich blieb stehen. Ich bekam als Einziger keine Kugel zwischen die Augen. Warum ich? Warum ich und nicht sie?«

Hans Hubermanns Geschichte war diesen nicht unähnlich. Als ich sie mir in den Worten der Bücherdiebin zu Gemüte führte, wurde mir klar, dass Hans und ich in dieser Zeit ein paar Mal aneinander vorbeigegangen waren, aber von Angesicht zu Angesicht getroffen hatten wir uns nie. Ich selbst hatte damals viel zu tun. Was Hans betrifft, so denke ich, dass er sein Möglichstes tat, um mir aus dem Weg zu gehen.

Als ich mich das erste Mal in seiner Nähe befand, war Hans zweiundzwanzig Jahre alt und kämpfte in Frankreich. Die Mehrzahl der jungen Männer in seiner Einheit war begierig auf die Schlacht. Hans war unsicher. Ich hatte ein paar von ihnen unterwegs aufgelesen, kann aber guten Gewissens sagen, dass ich Hans Hubermann niemals zu nahe kam. Er hatte entweder zu viel Glück, oder er verdiente es zu leben. Oder er hatte einen guten Grund, am Leben zu hängen.

In der Armee fiel er nicht auf, weder positiv noch negativ. Er konnte mittelmäßig schnell laufen, mittelmäßig klettern, und er schoss gerade anständig genug, um seine Vorgesetzten nicht zu empören. Aber er war auch nicht so gut, dass er zu den Auserwählten gehört hätte, die mir an vorderster Front direkt in die Arme liefen.

EINE KURZE, ABER BEMERKENSWERTE BEOBACHTUNG

In all den Jahren habe ich so viele junge Männer gesehen, die der Meinung waren, auf andere junge Männer zuzulaufen. Aber das stimmt nicht. Sie alle liefen mir zu.

Er war fast sechs Monate im aktiven Dienst, ehe er nach Frankreich kam, wo ein denkwürdiges Ereignis sein Leben rettete. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, könnte man behaupten, dass in all dem Irrsinn des Krieges dieses Ereignis tatsächlich einen Sinn ergab.

Insgesamt hatte ihn die Zeit, die er bislang im Großen Krieg verbracht hatte, über alle Maßen erstaunt, von dem Moment an, in dem er in die Armee eingetreten war. Es war wie eine Fortsetzungsgeschichte. Tag für Tag für Tag. Für Tag:

Die Gespräche der Kugeln.

Ruhende Männer.

Die besten schmutzigen Witze der Welt.

Kalter Schweiß - dieser bösartige kleine Freund, der sein Verweilen in den Achselhöhlen und Hosen über Gebühr in die Länge zieht.

Am meisten genoss er die Kartenspiele, gefolgt von der einen oder anderen Partie Schach, obwohl er armselig spielte. Und die Musik. Immer die Musik.

Es gab da einen Mann, der etwa ein Jahr älter war als er selbst, ein deutscher Jude namens Erik Vandenburg, der ihm das Akkordeonspielen beibrachte. Die beiden wurden allmählich zu Freunden, auch aufgrund des Umstands, dass keiner der beiden sonderlich am Kämpfen interessiert war. Sie zogen es vor, sich Zigaretten zu drehen statt sich selbst in Schnee und Schlamm. Sie übten lieber das Akkordeonspielen als das Schießen. Eine feste Freundschaft wurde auf Glücksspiel, Zigaretten und Musik erbaut, von dem gemeinsamen Wunsch zu überleben ganz zu schweigen. Das einzig Ärgerliche bei der Sache war, dass man Erik Vandenburg später in etliche Stücke zerschossen auf einem grasbewachsenen Hügel finden würde. Seine Augen waren offen, und sein Ehering war gestohlen worden. Ich schaufelte seine Seele und die einiger anderer zusammen, und wir zogen ab. Der Horizont hatte die Farbe von Milch. Kalt und frisch. Herausgelaufen zwischen den Leichen.

Alles, was von Erik Vandenburg übrig blieb, waren ein paar persönliche Gegenstände und das mit Fingerabdrücken übersäte Akkordeon. Alles außer dem Instrument schickte man heim. Das Akkordeon hielt man für zu groß. Es stand auf dem Behelfsbett im Hauptquartier und sah aus, als würde es sich Vorwürfe machen. Man überließ es dem Freund, Hans Hubermann, der zufällig der einzige Mann war, der überlebt hatte.

UND DAS KAM SO

An diesem Tag zog er nicht in die Schlacht.

Das hatte er Erik Vandenburg zu verdanken. Oder genauer gesagt Erik Vandenburg und der Zahnbürste des Feldwebels.

An diesem Morgen, kurz bevor sie ausrücken mussten, trat Feldwebel Stephan Schneider in die Unterkunft und ließ die Soldaten strammstehen. Er war beliebt bei den Männern, denn er besaß Sinn für Humor und für Streiche, wurde aber besonders geschätzt, weil er niemals jemandem in eine Schlacht folgte. Er ging stets voran.

Manchmal kam er in das Quartier der Männer und stellte Fragen wie »Wer kommt aus Pasing?« oder »Wer kann gut rechnen?« oder, an jenem schicksalhaften Morgen: »Wer von euch hat eine schöne Handschrift?«

Niemand meldete sich mehr freiwillig, seit er beim ersten Mal, als sich ein eifriger junger Soldat namens Philipp Schlink stolz gemeldet und gesagt hatte: »Ich komme aus Pasing!«, den armen Tropf dazu verdonnert hatte, das Scheißhaus mit einer Zahnbürste zu schrubben.

Ihr könnt euch sicher vorstellen, warum niemand die Hand hob, als der Feldwebel nach einem Schönschreiber verlangte. Die Soldaten dachten, dass sie sich möglicherweise einer gründlichen Hygieneinspektion unterziehen oder die dreckverkrusteten Stiefel irgendeines Leutnants putzen müssten.

»Also bitte«, tadelte Schneider seine Männer. Sein Haar war mit jeder Menge Pomade am Kopf angeklebt und glänzte, wobei wie üblich an seinem Scheitel eine kleine Haarsträhne wachsam in die Höhe ragte. »Wenigstens einer von euch Mistkerlen ist doch bestimmt in der Lage, anständig zu schreiben.«

In der Ferne ertönte Kanonendonner. Das führte zu einer leichten Unruhe.

»Hört zu«, sagte Schneider, »diesmal ist es anders. Es wird den ganzen Morgen dauern, wenn nicht länger.« Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Schlink hat das Scheißhaus geschrubbt, während ihr anderen Karten gespielt habt. Aber diesmal geht ihr da raus.«

Leben oder Stolz.

Er hatte offensichtlich die Hoffnung, dass einer seiner Männer so klug war, das Leben zu wählen.

Erik Vandenburg und Hans Hubermann wechselten einen Blick. Wenn jetzt jemand vortrat, würde ihm seine Einheit später das Leben zur Hölle machen. Niemand schätzte einen Feigling. Andererseits, wenn einer einen anderen vorschlug ...

Immer noch meldete sich niemand, aber eine Stimme trat heraus und schlenderte auf den Feldwebel zu. Sie blieb vor seinen Stiefeln hocken und wartete auf einen kräftigen Fußtritt. Sie sagte: »Der Hubermann, Herr Feldwebel.« Die Stimme gehörte Erik Vandenburg. Er glaubte ganz offensichtlich, dass für seinen Freund noch nicht der Tag gekommen sei, um zu sterben.

Der Feldwebel schritt durch das Spalier aus Soldaten.

»Wer war das?«

Er war ein hervorragender Schreiter, dieser Stephan Schneider - ein klein gewachsener Mann, der alles in Eile tat, egal ob er sprach, sich bewegte oder handelte. Während er zwischen den beiden Reihen aus Soldaten auf und ab ging, schaute Hans geradeaus und wartete darauf, dass Schneider verkündete, um was es ging. Vielleicht war eine der Krankenschwestern unpässlich, und man brauchte jemanden, der die entzündeten Wunden verletzter Soldaten neu verband.

Oder aber es warteten Tausende von Briefumschlägen darauf, abgeleckt zu werden, damit sie Todesnachrichten nach Hause tragen konnten.

In diesem Moment wurde die Stimme noch einmal nach vorne getragen und zog ein paar weitere mit sich. »Der Hubermann«, ertönte ein vielfältiges Echo. Erik fügte sogar hinzu: »Tadellose Handschrift, Herr Feldwebel, tadellos.«

»Dann ist es also abgemacht.« Ein schmales, rundes Grinsen. »Hubermann, Sie sind mein Mann.«

Der schlaksige junge Soldat trat vor und erkundigte sich, worin seine Pflicht bestehen werde.

Der Feldwebel seufzte. »Der Hauptmann muss einigen Schriftverkehr erledigen, ein paar Dutzend Briefe, und er hat schlimmes Rheuma in den Fingern, oder Arthritis. Sie werden diese Briefe schreiben.«

Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu beklagen, besonders wenn man bedenkt, dass Schlink die Toiletten hatte putzen und ein anderer Soldat, Pflegger, tatsächlich Briefumschläge hatte ablecken müssen, und zwar so viele, dass sich zunächst seine Zunge und später seine ganze Mundhöhle entzündete.

»Jawohl, Herr Feldwebel.« Hans nickte, und damit war es beschlossene Sache. Seine Schreibqualitäten waren, gelinde gesagt, recht zweifelhaft, aber er hielt sich für vom Glück gesegnet. Er schrieb die Briefe, so gut er konnte, während seine Kameraden in die Schlacht zogen.

Keiner von ihnen kehrte zurück.

Das war das erste Mal, dass Hans Hubermann mir entwischte. Im Ersten Weltkrieg. Das zweite Mal würde es 1943 in Essen passieren. Zwei Kriege, zwei Entkommen. Einmal jung, einmal in den besten Jahren.

Nicht viele Menschen haben das Glück, mir zwei Mal ein Schnippchen zu schlagen.

Während des ganzen restlichen Krieges schleppte er das Akkordeon mit sich herum.

Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg machte er Erik Vandenburgs Familie in Stuttgart ausfindig. Vandenburgs Frau erklärte ihm, dass er das Akkordeon behalten könne. Ihre Wohnung war voll mit Instrumenten, und es würde sie zu sehr aufregen, dieses besondere Akkordeon anschauen zu müssen. Die anderen reichten ihr als Erinnerung, genauso wie ihr Beruf, den sie einstmals mit ihrem Mann geteilt hatte. Sie gab Musikunterricht.

»Er hat mir beigebracht zu spielen«, sagte Hans zu ihr, als ob das etwas helfen würde.

Vielleicht tat es das wirklich, denn die am Boden zerstörte Frau bat ihn, etwas für sie zu spielen. Sie weinte still vor sich hin, während er ungeschickt auf die Knöpfe und Tasten drückte. Er spielte einen Walzer: »An der schönen blauen Donau«. Es war Erik Vandenburgs Lieblingsstück gewesen.

»Wissen Sie«, sagte Hans Hubermann, »er hat mir das Leben gerettet.« Der Raum war nur spärlich mit Licht und Luft gesegnet. »Er... Wenn es jemals irgendetwas gibt, was Sie brauchen...«

Er legte einen Zettel mit seinem Namen und seiner Adresse auf den Tisch.

»Ich bin Anstreicher von Beruf. Ich kann Ihre Wohnung anstreichen, umsonst, wann immer Sie möchten.«

Er wusste, dass sein Angebot einen völlig unzureichenden Ersatz darstellte, aber er unterbreitete es dennoch.

Die Frau nahm den Zettel, und kurz darauf kam ein kleines Kind herein und kletterte auf ihren Schoß.

»Das ist Max«, sagte die Frau. Der Junge war zu klein und zu schüchtern, um etwas zu sagen. Er war hager, mit weichem Haar, und seine runden, schlammfarbenen Augen schauten zu, als der Fremde in dem schweren Raum ein weiteres Lied spielte. Er schaute von einem zum anderen, auf den Mann, der spielte, und auf die Frau, die weinte. Die Noten griffen nach ihren Augen. So viel Traurigkeit.

Hans ging.

»Du hast mir nie etwas gesagt«, sprach er zu dem toten Erik Vandenburg und der Kulisse von Stuttgart. »Du hast mir nie gesagt, dass du einen Sohn hast.«

Nach einem Moment des Innehaltens und Kopfschüttelns kehrte Hans nach München zurück. Nie hätte er erwartet, jemals wieder von diesen Leuten zu hören.

Was er nicht wusste, war, dass seine Hilfe eines Tages dringend nötig sein würde, allerdings nicht in seiner Funktion als Anstreicher. Doch bis dahin sollten rund zwanzig Jahre vergehen.

Es dauerte einige Wochen, bevor er wieder arbeitete. In den Monaten mit gutem Wetter schuftete er nach Leibeskräften, und selbst im Winter sagte er ein ums andere Mal zu Rosa, dass die Kunden zwar nicht bei ihm Schlange standen, aber hin und wieder schneite doch der eine oder andere herein.

Mehr als zehn Jahre lang ging alles gut.

Hans junior und Trudi kamen zur Welt. Sie wuchsen auf, besuchten ihren Papa auf der Arbeit, klatschten Farbe auf Wände und reinigten Pinsel.

Als Hitler 1933 an die Macht kam, geriet Hans Hubermanns Arbeitsleben in Schieflage. Die meisten Deutschen traten in die NSDAP ein. Hans nicht. Er hatte diese Entscheidung gründlich überdacht.

WAS SICH HANS HUBERMANN DABEI DACHTE

Er war weder gebildet noch politisch engagiert, aber er war ein Mann, dem Gerechtigkeit am Herzen lag. Ein Jude hatte einst sein Leben gerettet, und das hatte er nicht vergessen. Er konnte keiner Partei beitreten, die andere Menschen derart zu Feindbildern verzerrte.

Ähnlich wie bei Alex Steiner waren auch viele seiner Kunden Juden. Wie viele Juden, so glaubte auch Hans, dass der Hass nicht andauern würde. Es war eine bewusste Entscheidung, sich nicht hinter Hitler zu stellen. In vielerlei Hinsicht war es eine katastrophale Entscheidung.

Als die Verfolgung begann, wurde die Auftragslage merklich schlechter. Am Anfang war es nicht so schlimm, aber bald schon verlor er einen Kunden nach dem anderen. Die Auftragszettel schienen von dem sich erhebenden Nazisturm davongeweht zu werden.

Eines Tages traf er einen alten Bekannten, Herbert Bollinger, in der Münchener Straße. Bollinger war ein Mann mit einem schier unermesslichen Körperumfang, der Hochdeutsch sprach. (Er kam aus Hamburg.) Zunächst schaute der Mann vor sich zu Boden, soweit es sein ausladender Bauch erlaubte, aber als sein Blick zu dem Anstreicher zurückkehrte, bereitete ihm die Frage, die er im Gesicht des anderen las, sichtlich Unbehagen. Es gab für Hans eigentlich keinen Grund, diese Frage zu stellen, aber er tat es trotzdem.

»Was ist nur los, Herbert? Mir laufen die Kunden schneller weg, als ich gucken kann.«

Bollinger hatte sich wieder gefasst. Aufrecht stehend, formulierte er die Antwort als Gegenfrage: »Hans, bist du inzwischen Mitglied?«

»Von was?«

Aber Hans Hubermann wusste genau, wovon Bollinger sprach.

»Ach, komm schon, Hansi«, gab Bollinger zurück. »Stell dich doch nicht so dumm.«

Der hochgewachsene Anstreicher winkte ab und ging weiter.

Die Jahre vergingen, und die Juden wurden nach Belieben im ganzen Land terrorisiert. Im Frühjahr 1937 hätte Hans Hubermann beinahe Schande über sich gebracht und nachgegeben. Er stellte einige Erkundigungen an und gab seinen Antrag auf Aufnahme in die Partei ab.

Sein Antragsformular lag bereits im Parteibüro in der Münchener Straße, da wurde er Zeuge, wie vier Männer Steine in das Schaufenster eines Bekleidungsgeschäftes warfen, das einem gewissen Kleinmann gehörte. Er führte einen der wenigen jüdischen Läden, die in Molching noch geöffnet hatten. Im Verkaufsraum stotterte ein schmächtiger Mann vor sich hin und lief knirschend über zerbrochenes Glas, während er aufräumte. Ein senffarbener Stern war auf die Tür geschmiert worden. In schlampigen Buchstaben standen die Worte »Jüdischer Abschaum« darüber geschrieben. Die hektischen Bewegungen im Innern des Ladens verlangsamten sich zu einem verdrießlichen Schlurfen und verharrten dann gänzlich.

Hans kam näher und steckte den Kopf zur Tür herein. »Brauchst du Hilfe?«

Herr Kleinmann schaute auf. Ein Besen hing nutzlos in seiner Hand. »Nein, Hans. Bitte. Geh weg.«

Hans hatte im vorigen Jahr Joel Kleinmanns Haus neu angestrichen. Er erinnerte sich an die drei Kinder. Er sah ihre Gesichter vor sich, konnte sich aber nicht an die Namen erinnern.

»Ich komme morgen vorbei«, sagte er, »und streiche dir die Tür neu an.« Was er tat.

Das war der zweite Fehler.

Den ersten beging er direkt nach dem eben beschriebenen Vorfall.

Er kehrte dorthin zurück, woher er gekommen war, und schlug mit der Faust zuerst gegen die Tür und dann gegen das Fenster des NSDAP-Büros. Das Glas erschauerte, aber niemand antwortete. Alle waren schon nach Hause gegangen. Ein Mitglied ging gerade in die entgegengesetzte Richtung davon. Als er das Glas klirren hörte, kehrte er um und erkannte den Anstreicher.

Er fragte, was los sei.

»Ich kann nicht beitreten«, verkündete Hans. Der Mann war schockiert. »Warum nicht?«

Hans betrachtete die Knöchel seiner rechten Hand und schluckte. Er konnte bereits jetzt seinen Fehler schmecken, wie eine Tablette aus Metall in seinem Mund. »Vergessen Sie's einfach.«

Und damit ging er nach Hause.

Worte folgten ihm nach.

»Denken Sie nochmal darüber nach, Herr Hubermann. Lassen Sie uns wissen, wie Sie sich entscheiden.«

Er beachtete sie nicht.

Am folgenden Morgen stand er früher als gewöhnlich auf, aber nicht früh genug.

Die Tür von Kleinmanns Bekleidungsgeschäft war noch feucht vom Tau. Hans versuchte sein Bestes. Er schaffte es, die ursprüngliche Farbe anzumischen, und verlieh der Tür einen anständigen Anstrich.

Ein harmlos wirkender Mann ging vorbei.

»Heil Hitler«, sagte er.

»Heil Hitler«, erwiderte Hans.

DREI KLEINE, ABER WESENTLICHE TATSACHEN

1. Der Mann, der da an Hans Hubermann vorbeiging, war Rolf Fischer, ein überzeugter Nazi.

2. Innerhalb von sechzehn Stunden standen neue Hetzworte auf der Tür.

3. Hans Hubermann wurde die Aufnahme in die NSDAP bis auf Weiteres verweigert.

Im darauffolgenden Jahr war Hans froh, dass er seinen Mitgliedsantrag nicht offiziell zurückgezogen hatte. Während die Mehrzahl der Anträge umgehend bewilligt wurde, stand sein Name noch immer auf einer Warteliste, und er selbst wurde misstrauisch beobachtet. Gegen Ende des Jahres 1938, nachdem die Juden im Zuge der Kristallnacht endgültig vertrieben worden waren, erhielten die Hubermanns Besuch von der Gestapo. Sie durchsuchten das Haus, und als man nichts Verdächtiges fand, konnte Hans Hubermann sich glücklich schätzen.

Er durfte bleiben.

Möglicherweise rettete ihn die Tatsache, dass er immerhin einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hatte und noch auf eine Entscheidung wartete. Aufgrund dessen - vielleicht auch, weil er ein guter Anstreicher war - wurde er geduldet.

Dann war da noch sein anderer Retter.

Es war das Akkordeon, das ihm vermutlich die Ächtung ersparte. Denn Anstreicher gab es überall in der Gegend, aber dank der kurzen Ausbildung, die Hans bei Erik Vandenburg genossen hatte, und dank zweier Jahrzehnte konsequenten Übens gab es in Molching niemanden, der so spielen konnte wie er. Es lag an seiner Art zu spielen - sie war nicht vollkommen, aber voller Wärme. In seinem Spiel vermittelten selbst falsche Noten ein gutes Gefühl.

Er heilhitlerte, wenn es von ihm verlangt wurde, und er hisste an den entsprechenden Tagen die Hakenkreuzfahne. Er bereitete niemandem irgendwelche Schwierigkeiten.

Dann, am 16. Juni 1939 (das Datum hatte sich in sein Gedächtnis zementiert), etwas mehr als sechs Monate nach Liesels Ankunft in der Himmelstraße, geschah etwas, das Hans Hubermanns Leben unwiderruflich veränderte.

Es war ein Tag, an dem er Arbeit hatte.

Er verließ das Haus um Punkt sieben Uhr morgens.

Er zog seinen Karren mit den Farbeimern und seinem Werkzeug hinter sich her und ahnte nicht, dass er verfolgt wurde.

Als er seine Arbeitsstelle erreichte, kam ein fremder junger Mann auf ihn zu. Er war blond und groß, und ernst.

»Sind Sie Hans Hubermann?«

Hans antwortete mit einem einsamen Nicken. Er griff nach einem Pinsel. »Der bin ich.« »Spielen Sie zufällig noch Akkordeon?«

Diesmal hielt Hans in der Bewegung inne und ließ den Pinsel, wo er war. Wieder nickte er.

Der Fremde rieb sich das Kinn, schaute sich um und sprach dann ganz leise, doch überdeutlich verständlich: »Und sind Sie ein Mann, der ein Versprechen hält?«

Hans nahm zwei Farbeimer aus dem Karren und lud den Fremden ein, sich zu ihm zu setzen. Ehe er die Einladung annahm, streckte der junge Mann seine Hand aus und stellte sich vor. »Mein Name ist Walter Kugler. Ich komme aus Stuttgart.«

Sie saßen etwa eine Viertelstunde lang da und unterhielten sich leise. Dann verabredeten sie, sich später am Abend wieder zu treffen.

ein gutes mädchen

Im November 1940, als Max Vandenburg in die Küche der Himmelstraße 33 trat, war er vierundzwanzig Jahre alt. Seine Kleidung schien ihn zu Boden zerren zu wollen, und seine Müdigkeit war so vollkommen, dass ein Zusammenzucken ihn hätte zerreißen können. Er stand zitternd und erschüttert auf der Türschwelle.

»Spielen Sie immer noch Akkordeon?«

Aber in Wirklichkeit lautete die Frage: »Werden Sie mir helfen?«

Liesels Papa ging zur Haustür und öffnete sie. Vorsichtig streckte er den Kopf hinaus und schaute nach rechts und links. Dann kam er wieder ins Haus. Das Urteil lautete: »Alles ruhig.«

Max Vandenburg, der Jude, schloss die Augen und sank ein wenig tiefer in die Geborgenheit hinein. Die bloße Vorstellung eines sicheren Hafens war lachhaft, aber er gab sich ihr dennoch hin.

Hans versicherte sich, dass die Vorhänge ordentlich zugezogen waren. Kein Spalt durfte zu sehen sein. Während er sich an den Fenstern zu schaffen machte, hielt es Max nicht länger aus. Er kauerte sich nieder und faltete die Hände.

Die Dunkelheit streichelte ihn. Seine Finger rochen nach Koffer, Metall, Mein Kampf und Überleben.

Erst als er seinen Kopf hob, drang das schwache Licht des Flurs in seine Augen. Er bemerkte ein Mädchen in einem Schlafanzug, das dort in voller Größe stand.

»Papa?«

Max stand auf, als hätte man ihn mit einem Ruck an Schnüren hochgezerrt. Die Dunkelheit um ihn herum schwoll an.

»Alles in Ordnung, Liesel«, sagte Papa. »Geh wieder ins Bett.«

Sie zögerte noch einen Moment, ehe ihre Füße sie wieder davontrugen. Als sie noch einmal stehen blieb und sich einen letzten Blick auf den Fremden erlaubte, sah sie die Kontur eines Buches auf dem Tisch liegen.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, hörte sie Papa wispern. »Sie ist ein gutes Mädchen.«

Eine Stunde lang lag das gute Mädchen hellwach im Bett und lauschte dem leisen Gerangel von Stimmen in der Küche.

Es gab da noch eine unbekannte Größe.

ein kurzer lebenslauf eines jüdischen faustkämpfers

Max Vandenburg wurde 1916 geboren. Er wuchs in Stuttgart auf.

Als er jung war, liebte er nichts mehr auf der Welt als einen guten Boxkampf.

Seine erste Prügelei bestand er im Alter von elf Jahren. Damals war er so hager wie ein angespitzter Besenstiel.

Wenzel Gruber.

Das war der, gegen den er kämpfte.

Dieser Gruber hatte ein Schandmaul und drahtige Locken. Die Anwesenden auf dem Spielplatz forderten einen Kampf, und keiner der beiden Jungen steckte zurück.

Sie kämpften wie Champions. Etwa eine Minute lang.

Gerade als die Sache interessant wurde, zog ein wachsames Elternteil die Jungen an den Kragen auseinander.

Ein Rinnsal aus Blut tropfte aus Max' Mund.

Er leckte es ab, und es schmeckte gut.

Nicht viele Leute aus seiner Nachbarschaft waren Kämpfer, und wenn doch, so kämpften sie nicht mit ihren Fäusten. In jenen Tagen sagte man, dass ein Jude es vorzog, einfach dazustehen und alles einzustecken, die Schimpfworte zu überhören und sich still und leise nach oben zu arbeiten. Offenbar waren nicht alle Juden gleich.

Er war fast zwei Jahre alt, als sein Vater starb, als er auf einem grasbewachsenen Hügel in Stücke geschossen wurde.

Als er neun war, war seine Mutter bankrott. Sie verkaufte die Musikschule, in der sie gleichzeitig wohnten, und zog mit ihrem Sohn ins Haus des Onkels. Dort wuchs er mit sechs Vettern auf, die ihn ärgerten, verprügelten und liebten. Die Prügeleien mit Isaak, dem Ältesten, waren das frühe Training für seine späteren Faustkämpfe. Er wurde beinahe jeden Abend verdroschen.

Mit dreizehn traf ihn die nächste Tragödie: Sein Onkel starb.

Sein Onkel entsprach, anders als Max, dem Klischee: Er war kein Heißsporn, sondern ein stiller Mensch, der hart arbeitete und wenig verdiente. Er war in sich gekehrt und opferte sich für seine Familie auf. Er starb an etwas, das in seinem Bauch wucherte. Etwas wie eine giftige Kegelkugel.

Wie so oft in solchen Fällen, stand die Familie um das Bett herum und schaute zu, wie er kapitulierte.

Zwischen Traurigkeit und Verlustgefühl war Max Vandenburg, der jetzt ein Jugendlicher mit harten Händen, blau geschlagenen Augen und einem entzündeten Zahn war, auch ein wenig enttäuscht. Sogar verstimmt. Er sah seinen Onkel langsam in dem Bett versinken und schwor sich, dass er nicht so sterben würde.

Das Gesicht des Mannes war so nachgiebig.

So gelb und friedlich, trotz der gewalttätigen Architektur seines Schädels - die schier endlosen Kieferkanten, die spitzen Wangenknochen und die höhlenartigen Augen. So friedlich, dass der Junge sich wunderte.

Wo bleibt der Kampf?, fragte er sich. Wo der Wille weiterzuleben?

Natürlich war er mit dreizehn Jahren ein bisschen zu hart in seinem Urteil. Er hatte bisher nichts und niemandem ins Gesicht geschaut, was sich mit mir vergleichen ließ. Noch nicht.

Mit dem Rest der Familie stand er am Bett und schaute dem Mann beim Sterben zu - ein sicheres Hinübergleiten vom Leben in den Tod. Das Licht im Fenster war grau und orange, die Farben der Sommerhaut, und sein Onkel schien erleichtert, als das Atmen endgültig aufhörte.

Wenn der Tod mich einfängt, schwor sich der Junge, wird er erst meine Fäuste zu spüren bekommen.

Ich persönlich mag diese Einstellung. Welch törichte Tapferkeit. Ja.

Ich mag sie sehr.

Von diesem Moment an begann er, mit größerer Regelmäßigkeit zu kämpfen. Eine Gruppe von hartgesottenen Freunden und Feinden traf sich auf einem kleinen Platz in der Steberstraße, und sie kämpften im ersterbenden Licht des Tages. Bilderbuchdeutsche, der eine oder andere Jude,

die Jungs aus dem Osten. Es spielte keine Rolle. Es gab nichts Besseres als eine gute Prügelei, um die jugendliche Energie auszutreiben. Selbst die Feindschaften waren nur hauchdünn von einer Freundschaft entfernt.

Er genoss die engen Kreise und das Unbekannte. Die Bittersüße der Unsicherheit: Siegen oder verlieren.

Es war ein Gefühl in seinem Magen, das brodelte und kochte, bis er dachte, er könne es nicht mehr länger aushalten. Die einzige Erlösung war der Schritt nach vorn und der Schlag, der ihm folgte. Max war nicht der Typ Junge, der sich mit Grübeln aufhielt.

Rückblickend war seine liebste Prügelei seine fünfte gegen einen großen, starken und langgliedrigen Jungen namens Walter Kugler. Da waren sie fünfzehn. Walter hatte die vier vorhergehenden Begegnungen für sich entschieden, aber diesmal, das spürte Max, war etwas anders. Da war neues Blut in ihm - das Blut des Siegers -, und es war ein beängstigendes und zugleich erregendes Gefühl.

Wie immer hatte sich ein enger Kreis aus Jungen um sie gebildet. Unter ihnen befand sich der Schmutz des Bodens. Auf die Gesichter der Zuschauer hatte sich ein einmütiges Grinsen gelegt. Dreckige Finger hielten Geld umklammert, und die Rufe und Schreie waren mit solcher Vitalität erfüllt, dass es nichts auf der Welt gab außer diesem Kreis.

Herrgott, welch unbändige Freude, welch unglaubliche Angst, welch herrlicher Tumult!

Die beiden Kämpfer wurden von der Gewalt des Augenblicks gepackt. Ihre Gesichter waren geladen, verzerrt vor Erregung. Großäugige Konzentration.

Nach etwa einer Minute, in der sie sich gegenseitig belauert hatten, rückten sie näher aufeinander zu und gingen mehr Risiken ein. Immerhin war dies eine Straßenschlägerei, kein Titelkampf in einem Boxring. Sie hatten nicht den ganzen Tag Zeit.

»Los jetzt, Max!«, rief einer seiner Freunde. Zwischen den Worten war kein Atemhauch zu spüren. »Mach schon, Max, du hast ihn jetzt, du hast ihn jetzt, Judenjunge, du hast ihn, du hast ihn.«

Max war klein gewachsen, hatte weiche Haarbüschel, eine zerschlagene Nase und schlammige Augen. Er war einen guten Kopf kleiner als sein Gegner. Sein Kampfstil war bar jeder Eleganz. Er stand gebückt da, schob sich vor und zielte mit schnellen Schlägen auf Kuglers Gesicht. Der andere Junge, der deutlich stärker und geschickter war, blieb aufrecht stehen und warf mit Hieben um sich, die beständig auf Max' Wangen und Kinn landeten.

Max hielt ihm stand.

Trotz des Hagels aus Schlägen und Knüffen ging er Kugler immer wieder an. Blut färbte seine Lippen. Bald schon würde es auf seinen Zähnen getrocknet sein.

Ein Brüllen erhob sich, als er niedergeschlagen wurde. Beinahe hätte das Geld schon die Besitzer gewechselt.

Max stand auf.

Er wurde ein zweites Mal zu Boden geschickt, ehe er seine Taktik änderte. Er lockte Walter Kugler ein Stück näher an sich heran, als der andere eigentlich kommen wollte. Als er da war, wo Max ihn haben wollte, gelang ihm ein kurzer, heftiger Stoß mitten ins Gesicht. Er traf. Genau auf die Nase.

Kugler, plötzlich blind, taumelte zurück, und Max ergriff die Gelegenheit. Er rückte nach, sprang nach rechts und versetzte ihm noch einen Schlag ins Gesicht, gefolgt von einem Hieb in die Rippen. Die Rechte, die den Kampf beendete, landete auf dem Kinn. Walter Kugler ging zu Boden. Sein blondes Haar war mit Dreckkrumen gesprenkelt. Seine Beine lagen lang und abgespreizt da. Tränen wie Kristalle flössen über seine Haut, obwohl er gar nicht weinte. Die Tränen waren aus ihm herausgeprügelt worden.

Der Kreis zählte.

Sie zählten immer, nur für den Fall. Stimmen und Zahlen.

Die Tradition verlangte, dass der Verlierer am Ende des Kampfes die Hand des Siegers erhob. Als Kugler endlich wieder aufstand, ging er auf wackeligen Beinen zu Max Vandenburg und hob seinen Arm in die Höhe.

»Danke«, sagte Max zu ihm.

Kugler antwortete mit einer Warnung. »Das nächste Mal bringe ich dich um.«

Im Verlauf der Jahre kämpften Max Vandenburg und Walter Kugler insgesamt dreizehn Mal gegeneinander. Walter dürstete stets nach Rache für diesen ersten Sieg, den Max ihm gestohlen hatte, und Max versuchte, seinen Augenblick des Triumphs zu wiederholen. Am Ende stand es 10: 3 für Walter.

Die Kämpfe gegeneinander dauerten bis 1933 an - bis sie beide siebzehn waren. Widerstrebender Respekt wandelte sich in echte Freundschaft, und das Verlangen, gegeneinander zu boxen, fiel von ihnen ab. Beide hatten Anstellungen, bis Max Ende 1935 gemeinsam mit allen anderen jüdischen Angestellten seine Arbeit in der Maschinenbaufabrik Jedermann verlor. Kurz zuvor waren die Nürnberger Gesetze in Kraft getreten, die es Juden untersagten, die deutsche Staatsbürgerschaft innezuhaben, und die Ehen zwischen Deutschen und Juden verboten.

»Herrgott nochmal«, sagte Walter eines Abends, als sie sich auf dem kleinen Platz trafen, wo sie früher gekämpft hatten. »Das waren noch Zeiten, nicht wahr? Damals gab es diesen Irrsinn noch nicht. Heutzutage könnten wir niemals so kämpfen.«

Max widersprach. »Doch, könnten wir. Du darfst zwar keine Jüdin heiraten, aber es gibt kein Gesetz, das dich daran hindert, einen Juden zu verprügeln.«

Walter grinste. »Wahrscheinlich gibt es sogar eine Belohnung dafür - natürlich nur, wenn man gewinnt.«

In den nächsten paar Jahren sahen sie sich nur noch gelegentlich. Max wurde wie alle Juden ständig abgewiesen und geschmäht, während Walter sich in seine Arbeit in der Druckerei vergrub.

Wenn es euch interessiert: Ja, es gab auch Mädchen, die in diesen Jahren eine Rolle spielten. Eine hieß Tania, die andere Hildi. Keine von ihnen blieb lange. Die Unsicherheit und der wachsende Druck auf die jüdischen Gemeinden ließ ihnen keine Zeit. Max war ständig auf

Arbeitssuche. Was konnte er einem Mädchen schon bieten? Als das Jahr 1938 anbrach, konnte er sich kaum vorstellen, dass das Leben noch schwieriger werden könne.

Dann kam der 9. November. Kristallnacht. Die Nacht, in der alles zerbrach.

Es war ein Ereignis, das für viele seiner jüdischen Kameraden Vernichtung bedeutete. Für Max Vandenburg allerdings bot sich die Gelegenheit zur Flucht. Er war zweiundzwanzig.